Judentum in der Sowjetunion bis 1953


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

27 Seiten, Note: 1,3

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

I. Vorgeschichte: Antisemitismus im Zarenreich vor 1881

II. Juden in der russischen Transformation zur Sowjetunion (1881-1924)
1) „An allem sind die Juden schuld“
2) Die Situation nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges
3) Das Scheitern einer liberalen „Judenpolitik“ in den Bürgerkriegen

III. Juden unter Stalins Diktatur
1) Die Jahre der neuen ökonomischen Politik
2) Territoriale Konzentration als Lösung der „Judenfrage“
3) Die Entwicklungen in den 30er Jahren
4) Juden in den Jahren des Terrors

IV. Die Entwicklungen von Anfang des zweiten Weltkriegs bis zum Tod Stalins
1) Die Gründung des Jüdischen Antifaschistischen Komitees
2) Der Beginn der Verfolgungspolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs
3) Die Auflösung des JAFK
4) Der Höhepunkt der antisemitischen Kampagne Stalins:

Terror in Birobidjan und die „Ärzteverschwörung“

Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Das Thema dieser Arbeit ist die Situation der Juden in der Sowjetunion bis zum Tod Stalins im Jahre 1953. Um diese Lage aufschlussreich beurteilen zu können werden historische Faktoren des Antisemitismus bis ins Zarenreich zurückverfolgt. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf der Herrschaftszeit Stalins. Ziel dieser Arbeit soll es sein, die unterschiedlichen Strömungen der Integration jüdischer Bevölkerung und verschiedener Formen des Antisemitismus, die in der Sowjetunion bis 1953 zu finden waren zu betrachten. Es sollen mögliche Ursachen und Hintergründe des Antisemitismus dargestellt werden und dabei auch auf die teilweise unterschiedlichen und widerstrebenden Tendenzen staatlicher Politik und gesellschaftlicher Positionen sowie auf die internationale Dimension der Lage der Juden in der Sowjetunion eingegangen werden.

In der modernen russischen Geschichtswissenschaft wird seit Zusammenbruch der Sowjetunion mit besonderer Intensität die Herrschaftszeit Stalins erforscht und darüber publiziert.1 Nach der Auflösung des Sowjetstaates sind viele Informationen zugänglich geworden, die viele Details aus diesem Abschnitt der sowjetischen Geschichte ans Tageslicht brachten, da seit der Öffnung der sowjetischen Archive auch die internationale historische Forschung verstärkt dieses Thema aufgenommen hat. Wie verschiedene in der russischen Gesellschaft vorgezeichneten Konfliktlinien und Tendenzen, die in der Auseinandersetzung mit jüdischer Bevölkerung bestanden, sich in der Ära Stalin entwickelt haben, soll in dieser Arbeit betrachtet werden.

Zunächst wird in einem ersten Teil auf die Vorgeschichte des Antisemitismus im Zarenreich vor 1981 eingegangen (Teil I). Sozialstrukturelle Voraussetzungen der Konfrontation und Versuche der Integration werden hier vorgezeichnet. In Teil II werden die Gründe für eine massive Verstärkung des Antisemitismus nach der Ermordnung des Zaren 1881, die Kulmination in Wellen der antijüdischen Pogrome (II.1) und die Verschlechterung der Situation nach dem Ende des Ersten Weltkrieges (II.2) beschreiben. Nach dem Scheitern einer liberalen Judenpolitik in den Bürgerkriegen (II.3) waren die Voraussetzungen für Juden in der Sowjetunion zu Beginn von Stalins Diktatur schwierig (Teil III). Die Problematik der „Neuen ökonomischen Politik“ (III.1), Lösungsversuche durch territorialen Konzentration (III.2) und die Entwicklungen in den 30er Jahren (III.3) hin zu den Höhepunkten der Jahre des Terrors (III.4) werden hier beschrieben. In Teil IV wird die ausgesetzte Konfrontation im Zweiten Weltkrieg mit der Gründung des jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAFK) (IV.1) und die schrittweise Radikalisierung und Irrationalisierung der anti-jüdischen Politik unter Stalin dargestellt. Der Beginn einer erstarkenden Verfolgungspolitik über die Anti-Nationalistische und Anti-Kosmopolitische Kampagne (IV.2) im Zuge des Versuches der Wahrung und Konstruktion einer sowjetischen Einheit und Identität, führte über die Auflösung des JAFK (IV.3) zu dem Höhepunkt der antisemitischen Politik kurz vor dem Tod Stalins (IV.4). Die beschriebenen Prozesse und die Lage der Situation der Juden in der Sowjetunion werden in einer Schlussbetrachtung abschließend zusammengefasst und ein kurzer Ausblick auf die weitere Entwicklung gegeben.

I. Vorgeschichte: Antisemitismus im Zarenreich vor 1881

Bis ins 18. Jahrhundert lebten im russischen Zarenreich nur sehr wenige Juden. Nach der Teilung des polnisch-litauischen Großreichs 1792, die in drei weiteren Eta]ppen beendet wurde, 1793 1795 und 1815 unter den Großmächten Preußen, Österreich und Russland,2 sah sich das Zarenreich mit einem starken Zuwachs des jüdischen Bevölkerungsanteils konfrontiert. Das Zarenreich annektierte ein Territorium in dem Ende des 18. Jahrhunderts die größte jüdische Minderheit der Welt lebte. Die Juden, deren Zahl nach dieser Teilung stark erhöht war, mussten zu hunderttausenden möglichst rasch in die eigene Bevölkerung integriert werden.3 Die russische Gesellschaft hatte bis 1772 fast keine Erfahrung mit Juden gesammelt und es gab auch keine antijüdische Stimmung in der russischen Gesellschaft. Die Regierung von Katharina II. verfolgte am Anfang eine Politik nach der die neue Minderheit in die Gesellschaft integriert werden sollte, ohne ihre Religion und Kultur zu unterdrücken. Russlands Gesellschaft war nun gezwungen diese neue, sich in Kultur, Tradition, Religion und Sprache von der russischen Bevölkerung unterscheidenden Minderheit zu sich aufzunehmen. Als problematisch erwies sich dabei die Tatsache, dass die spezifische sozio-ökonomische Struktur der Juden, die zum Großteil im Handel und Handwerk beschäftigt waren, schwer in die russische sozio-ökonomische Strukturen zu integrieren waren. In Russland gehörte der Bereich des Handels fast ausschließlich dem Adel und der wirtschaftliche Schwerpunkt für die restliche Bevölkerung lag fast ausschließlich im Bereich der Landwirtschaft.4

Zunächst galt für die Regierung Katharina II. die Gleichstellung der Juden mit allen anderen Bevölkerungsgruppen ohne einschränkende Sonderbestimmungen. So erließ die Zarin im Jahre 1772 ein Manifest, dass die Gleichstellung der Juden garantierte. Das Ziel der Politik Katharina II. war es, zunehmend die Juden durch administrative und rechtliche Gleichstellung in das russische Städtegefüge zu integrieren, um die spezifischen ökonomische Kapazitäten der Juden für die Modernisierung des Reiches zu nutzen.5 So blieb der Besitz und die Religion der Juden zunächst unangetastet. Auch der Kahal, das Selbstverwaltungsorgan der jüdischen Gemeinden konnte beibehalten werden. Da bei den Juden keine dem Adel vergleichbare Elite existierte, mit der die Regierung zusammenarbeiten konnte, versuchte die Führung des Kahal als Partner der Regierung und als Kontrollorgan für sich zu gewinnen.6

In den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts schien eine Integration der Juden ohne größere antisemitische Vorurteile im russischen Reich noch zu gelingen. Ein sehr wichtiger Faktor der aber zur Entflechtung von Juden und nicht-Juden auf dem Lande beigetragen hat, waren polnische-litauische antijüdische Vorurteile die sich im Laufe von Jahrhunderten im Polnisch-Litauischen Großreich gebildet hatten und nach dessen Okkupation von der russischen Gesellschaft übernommen wurden. Typisch waren der Vorwurf des Wuchers, der Ausbeutung und Übervorteilung der Juden. Die Integrationspolitik des aufgeklärt-absolutistischen Zarenreichs unter Katharina II. änderte sich kurze Zeit später von Grund auf. Zunächst hatten die Behörden eine Zwangsausiedlung der Juden abgelehnt. 1782 wurde schon eine Anordnung über die Residenzpflicht der Juden in den Städten eingeführt. Im Zuge der Strukturreformen, die nach der Neugliederung des vergrößerten Staatsterritoriums erforderlich waren, wurden einzelnen Bevölkerungsgruppen bestimmte Tätigkeitsfelder und ein fester Lebensraum zugeordnet. Die Juden wurden dabei als Handwerker und Händler eingestuft, die in den Städten leben sollten. Im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts kam es dann wiederholt zu brutalen Massenumsiedlungen. Als Motiv für ihre Maßnahmen nannte die Regierung, dass es notwendig sei die Bauern von der „jüdischen Ausbeutung“ zu schützen und die traditionelle Stellung der Juden auf dem Dorf, die als Verwalter und Pächter Macht über ostslawische Bauern ausübten, zu beseitigen.7

Bald traten auch in den Städten Probleme auf. Besonders große Feindseligkeit gegenüber den Juden hatten die Moskauer Kaufleute. Sie beschwerten sich über die wachsende Konkurrenz in den Städten. Auf deren Petition ging auch das so genannten Ansiedlungsrayon8 zurück, das durch ein Statut von Alexander I. im Jahre 1804 eingeführt worden war und nach der Februarrevolution von 1917 wieder abgeschafft wurde9. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verschärften sich diese antisemitische Tendenzen. Sie waren jedoch nicht rassistisch, sondern vor allem wirtschaftlich10 und religiös motiviert.

II. Juden in der russischen Transformation zur Sowjetunion (1881-1924)

1) „An allem sind die Juden schuld“

Mit dem Ermordung des Zaren Alexander II. im Jahr 1881 bekam der russische Antisemitismus eine ganz neue und grausame Qualität, die bis zum Jahr 1906 andauerte. Diese Phase der Geschichte der russischen Juden ist durch so genannte Pogrome11 gekennzeichnet. Die regierungsnahen Kreise machten die Juden für das Attentat verantwortlich.12 In diesem Jahr entlud sich in unglaublichem Ausmaß der Antisemitismus der Russen, was zu blutigen Ausschreitungen mit tausenden Todesopfern führte. Dabei kann man zwei Phasen dieser Pogrom-Wellen unterscheiden. Die ersten Pogromwellen ereigneten sich zwischen 1881-1884, danach folgte eine Phase der scheinbaren Ruhe, die im Frühjahr 1903 mit weiteren Gewaltausbrüchen beendet wurde und bis zum Jahr 1906 andauerte. Bei der ersten Welle des Gewaltausbruches, zwischen 1881 bis 1884, fanden etwa 250 Pogrome statt. Diese Welle ging aus von einer vermeintlichen jüdischen Verschwörung, die der Bevölkerung in einer antisemitischen Kampagne der Regierung vorgetäuscht wurde. Selbstverständlich gab es auch andere Faktoren die dabei ebenfalls eine sehr wichtige Rolle gespielt haben. Ein wichtiger Punkt war die Tatsache, dass der exklusive Nationalismus im Europa und auch im Russland des 19. Jahrhunderts, vor allem ab dem 70er Jahren, einen verstärkten Fremdenhass und somit Antisemitismus mit sich brachten.13 In der Forschung werden als weitere Ursachen für die nicht ständig niederlassen. Dieses Territorium bestand aus ehemals polnischen Gebiete, der linksufrigen Ukraine und Neurussland, sowie Astrachan und dem Kaukasusgebiet. Innerhalb dieser Gebiete war es den Juden ohne Einschränkungen erlaubt zu siedeln oder umzuziehen, sie durften Immobilien und Landbesitz erwerben, aber keine Leibeigene. Vgl. Kappeler 1992, S. 84 .

Pogrome wirtschaftliche, sozioökonomische, religiöse, politische, demographische und geographische Aspekte berücksichtigt.14 Im 19. Jahrhundert befanden sich große Teile der Bevölkerung, bedingt durch die beschleunigte Industrialisierung und Modernisierung, wofür die Juden von der Regierung ab 1772 gezielt eingesetzt wurden, in einer ökonomisch schwierigen Lage. Dies wurde auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden zurückgeführt. Der wirtschaftlich bedingte Antisemitismus verschärfte sich in der zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts so stark, das er sich, ergänzt durch durch weitere Ursachen, in Form von gewalttätigen Ausschreitungen gegen die Juden entlud. Dass die russische Regierung diese Pogrome selbst veranlasst hat, so die konventionelle Historiographie, scheint ausgeschlossen. Ein potentielles Zuspitzen dieser Ausschreitungen wäre eine zu große Gefahr für die Regierung selbst gewesen.

Die zweite Phase der Pogromwellen, zwischen 1903/1906 (Etwa 600 Pogrome), unterschied sich wesentlich von der ersten Welle. In diesem Fall wurde in der Geschichtsschreibung, die Verstrickung der lokaler Behörden und Militärs in der Pogromen nicht mehr ausgeschlossen. Diese Gewaltausschreitungen waren wesentlich blutiger als die Pogrome von 1881/1884. Träger der Pogrome war nun vor allem die städtische Mittel- und Unterschicht. Neben der wirtschaftlichen Krise die bereits bei der ersten Pogromwelle erwähnt wurde, spielten hier aktiven antisemitische Agitationen in der Presse eine entscheidende Rolle. Außerdem auch die Tatsache, dass sich unverhältnismäßig (im Vergleich zum Anteil an der Bevölkerung) viele Juden in sozialrevolutionären Parteien organisierten. Juden und linke Gruppierungen sowie Parteien wurden infolgedessen sehr häufig als identisch angesehen. Zu den vielen Vorurteilen gegenüber den Juden, kam so nun auch das des Revolutionärs dazu15. Auch nach dem Jahr 1906 verbesserte sich die Situation für Juden im Zarenreich nicht. Die bereits bestehenden Einschränkungen blieben bestehen. Die antisemitische Propaganda wurde weiterhin aktiv betrieben, vor allem vor Dumawahlen (seit 1905), um die „jüdische Linke“ zu diskriminieren. Die Politik des Zarenreichs war durch Gegensätze geprägt. In diesen angespannten Situation kam es zum ersten Weltkrieg, der jüdisches Leben nochmals erschwerte, sowohl in Zarenreich als auch im restlichen Teil Europas.

2) Die Situation nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges

Die Situation der russischen Juden verschlechterte sich nach dem Ausbruch des ersten Weltkrieges. Die Kriegshandlungen an der Ostfront, also an der russischen Front, spielten sich in einem Gebiet ab, das dicht von Juden (etwa 4 Millionen) bewohnt waren.16 So wie auch in anderen kriegsführenden Nationen, wurden den russischen Juden im Verlauf des Konfliktes Drückerbergerei17 und Profitmachung, Sympathie zu den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn) und Spionage mit dem Feind vorgeworfen. Infolgedessen, sobald der Vormarsch auf österreichische Gebiet einsetzte, begannen die russische Militärkräfte auf Weisung des Generalstabs die Juden aus frontnahen Gebieten zu vertreiben, um sich der Loyalität der ganzen Volksgruppe zu versichern.18

Als deutsche Erfolge an der Ostfront zu verzeichnen waren, wurde die Situation für die Juden noch schlimmer. Denn die jüdische Bevölkerung empfand die deutsche Truppen nicht als Besatzer sondern als Befreier von der zaristischen Unterdrückundgspolitik. Diese Haltung wurde auch von allen internationalen jüdischen Institutionen geteilt. Aus diesem Grund bekundeten sie Sympathie für die Mittelmächte. Solche Sympathiebekundungen der Juden für Deutschland, Österreich-Ungarn, hatten zur Folge, dass die russische Regierung die Juden der Kollaboration mit dem Feind beschuldigte. Etwa 600000 Juden wurden aus ihren Heimstätten, an den frontnahen Gebieten, zwangsumgesiedelt.19 Unter diesen Umständen brach im Februar20 1917 die Revolution aus, die zum Sturz des Zaren und einem fundamentalen Wandel in Russlands Wirtschaft, Gesellschaft und politischen System führte.

3) Das Scheitern einer liberalen „Judenpolitik“ in den Bürgerkriegen

Die Februarrevolution brachte zunächst eine allgemeine Liberalisierung der Nationalitätenpolitik in Russland. Alle Bürger Russlands durften nun gleiche bürgerliche Rechte und Freiheiten sowie individuelle national-kulturelle Rechte genießen. Das Prinzip des Selbstbestimmungsrecht wurde ersetzt durch das der Gleichheit der Völker innerhalb der Sowjetstaates. Die Eliten, die durch Krieg, Revolution, Emigration und Bürgerkrieg verloren gingen, mussten durch nicht russische parteiloyale verschiedenste Diasporagruppen ausgeglichen werden, da nicht genügend russische Kader vorhanden war. In erste Linie kamen hierfür Juden in Frage. Die nach dem Sturz des Zaren neu eingesetzte provisorische Regierung beseitigte, zumindest offiziell, den Antisemitismus und gewährte den Juden Gleichberechtigung. Juden begrüßten die Februarrevolution und die provisorische Regierung, die ihnen endlich die Gleichberechtigung brachte. Im Oktober 1917 wurde diese Gleichstellung jeglicher Minderheiten (darunter auch der Juden) von der Bolschewiki bestätigt.21 Das kulturelle und politische Leben der Juden belebte sich wieder. Die jüdischen politischen Parteien wurden aktiver und gewannen starken politischen Einfluss in der jüdischen Welt.22. Das von meisten Parteien verlangte Selbstbestimmungsrecht für ein bestimmtes Gebiet wurde ihnen jedoch nicht zugestanden. Von den neu belebten politischen Parteien, waren die wichtigsten die „Zionisten“ und der „sozialdemokratische Bund“.23 Die Ziele der jüdischen politischen Parteien, die sie von Anfang an verfolgten, waren die Wiederherstellung des Gemeindelebens (als Kern der Autonomie der Volksgruppe) und die Schaffung einer jüdischen Vertretung für ganz Russland. Im Jahr 1917 fanden tatsächlich demokratische Wahlen für Gemeinderäte und für eine gesamtrussische jüdische Konferenz statt. Diese Konferenz (im Juli 1917) hatte zur Aufgabe die Vertretung des russischen Judentums vorzubereiten und dessen Forderungen der gesamtrussischen verfassunggebenden Versammlung vorzutragen, die zur gleichen Zeit statt fand. Bei den Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung traten die jüdischen Parteien mit einer gemeinsamen nationaljüdischen Liste auf. Die gewählten Deputierten einigten sich auf die Bildung einer eigenen Fraktion, deren Arbeit von den Beschlüssen der gesamtrussischen jüdischen Konferenz bestimmt sein sollte.24 Im Juli 1918 trafen sich in Moskau Vertreter der jüdischen Gemeinden und wählten ein Zentralbüro mit der Aufgabe, die Aktivitäten der jüdischen Institutionen zu koordinieren. Die Oktoberrevolution der Bolschewiki ließ jedoch alle diese Pläne scheitern. Lenin und anderen bolschewistischen Führer betrachteten zwar die Sonderstellung der Juden unter dem zaristischen Regime als staatliche Diskriminierungpolitik und forderten deshalb Gleichberechtigung für Juden aber die Realität der ersten Jahre nach der Revolution zeigte, dass dieses Ziel nicht so leicht durch wurden nach dem Ende des zweiten Weltkrieges mit der Vermengung der großen Anti-Politiken (Anti-Nationalismus, Anti-Kosmopolitismus) mit explizit antisemitischer Politik im Rahmen des nie abgeschlossenen Projekts der „sowjetischen Selbstfindung“, beendet.

Die internationale Dimension der jüdischen Situation in der Sowjetunion – zwischen notwendiger Unterstützung und Propagandaziel im zweiten Weltkrieg, als Verdachtsmoment internationaler Verschwörungen und später in der Israel-Frage war von wechselndem Einfluss auf die tatsächliche Lage der Juden.

[...]


1 Als möglichen Grund hierfür kann man die neu eingesetzte Aufarbeitung der eigenen Geschichte nennen, um vor allem auch die Verbrechen die unter Stalins Diktatur begangen wurden zu untersuchen.

2 Vgl. Kappeler, Andreas: Russland als Vielvölkerreich. Entstehung. Geschichte. Zerfall, München, 2001, S. 71.

3 Vgl. Haumann, Heiko: Geschichte des Ostjuden, München, 1991, S. 66.

4 Vgl. Kappeler 2001, S. 82.

5 Vgl. Kappeler 2001, S. 84.

6 Vgl. Hildermeier, Manfred: Die rechtliche Lage der Jüdischen Bevölkerung im Zarenreich und in Polen; Rhode, Gerd: Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg, Marburg, 1989, S. 190.

7 Vgl. Hildermeier 1989, S. 335.

8 Vgl. Ettinger, Shmuel: Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Neuzeit, in: Haim-Hillel Ben-Sasson (Hrsg.): Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 3, München, 1980, S. 197.

9 In dem Statut wurden die Ansiedlungsrayone für Juden festgelegt, Außerhalb dieser Gebiete durften sie sich

10 Fast drei Viertel aller Handeltreibenden in Siedlungsrayonen waren Juden. Die von der Regierung ihnen aufgezwungene wirtschaftliche Funktion förderte die Ausbreitung der üblichen judenfeindlichen Klischees unter den Russen (Ausbeuter, Wucherer usw.).

11 Das russisches Wort Pogrom bedeutet Gewitter, wurde zu ersten mal im Jahr 1871 verwendet, als die in Odessa lebenden Juden Opfer eines Übergriffes der griechischen Minderheit wurden, Vlg. Bartal, Israel: Staatliche Antisemitismus in Osteuropa, in: Stern, Frank (Hrsg.): Universalgeschichte der Juden. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, Wien 1993, S. 190.

12 In Wirklichkeit gab es eine einzige an diesem Attentat beteiligte Jüdin, Gesila Helfman (1855-1882), sie hatte für die Attentäter eine konspirative Wohnung angemietet. Vgl. Haberer, Erich: Jews and Revolution in Nineteenth Century Russia, Cambridge, 1995, S. 198 ; Boysen, Iris: Die revisionistische Historiographie zu den russischen Judenpogromen von 1881 bis 1906, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.) Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Frankfurt/Main, 1994, S. 14.

13 Vgl. Bergmann, Werner: Geschichte des Antisemitismus, München, 2002, S. 59.

14 In der Forschung gibt es Uneinigkeit bei der Frage nach den Ursachen der Pogrome, die in solchem Ausmaß Gewalt und Hass gegen Juden verursacht haben. Dabei unterscheidet sich die so genannte konventionelle und revisionistische Historiographie. Bei der ersteren wird fast ausnahmslos argumentiert, dass die zaristische Regierung die Pogrome aktiv geplant oder begrüßt haben, so fanden sie mit dem Juden ein idealer Sündenbock für die revolutionäre Gewalt, um die anti-zaristischen Proteste der Bevölkerung gegen die Juden umleiten zu können. Demzufolge wurden die Pogrome als offizielle oder auch inoffizielle Regierungspolitik Russlands betrachtet. Demgegenüber steht die revisionistische Historiographie. Sie versucht mit der Untersuchung der beteiligten Gesellschaftsschichten und sozialen und rechtlichen Stellung der Opfer eine Antwort auf die Grunde der Pogrome zu finden. Vgl. Boysen, Iris: Die revisionistische Historiographie zu den russischen Judenpogromen von 1881 bis 1906, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Jg. 8 (1999), 15-17.

15 Vgl. Boysen, 1999, S. 22.

16 Vgl. Engel, David: Die Juden im Ersten Weltkrieg, in: Stern, Frank (Hrsg.): Universalgeschichte der Juden. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, Wien, 1993, S. 210.

17 Offizielle Untersuchungen haben nie statt gefunden, denn analog zu Untersuchungen anderer Nationalitäten, stellte sich heraus, dass der prozentuale Anteil an Juden in der Armee keineswegs geringer war als der prozentuale Anteil an der Gesamtbevölkerung. Vgl. Engel 1993, S. 22.

18 Die polnische Seite beschwerten sich bei den Russen, dass die Juden für Österreicher spionierten. Nach der Niederlage der Russen und ihrem Rückzug im Jahre 1915, beschuldigten dieselben Polen die Juden der Spionage für die Russen. Derartige Beschuldigungen der Juden führten zu Todesurteilen, die vom Kriegsgericht ausgesprochen wurden. So waren die Juden nicht nur von Krieg betroffen, die in ihrem Wohngebiet statt fand, sondern mussten auch die bewusst antisemitische Politik der russischen Militärbehörden ertragen. Vgl. Ettinger, 1980, S. 25-28

19 Vgl. Engel, 1993, S. 210-211.

20 Nach dem Julianischen Kalender.

21 Vgl. Bergmann, 2002, S. 87.

22 Sie forderten fast alle für die Juden extraterritoriale Kulturautonomie. Von vielen Parteien wurde die Forderung nach Autonomie ausgedehnt auf Gebiete, Fürsorgewesen, gegenseitige wirtschaftliche Hilfe und mehr. Vgl. Ettinger, 1980, S. 297.

23 Vgl. Lustiger, Arno: Rotbuch: Stalin und die Juden. die tragische Geschichte des jüdischen Antifaschistischen Komitees und der Sowjetischen Juden, Berlin, 1998, S. 32.

24 Vgl. Lustiger, 1998, S. 57-57.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Judentum in der Sowjetunion bis 1953
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Note
1,3
Jahr
2007
Seiten
27
Katalognummer
V125943
ISBN (eBook)
9783640324972
ISBN (Buch)
9783640325832
Dateigröße
535 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Judentum, Sowjetunion
Arbeit zitieren
Anonym, 2007, Judentum in der Sowjetunion bis 1953, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/125943

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