Parlamentarisierung als Option für die Europäische Union


Hausarbeit (Hauptseminar), 2008

25 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Warum ist eine Parlamentarisierung notwendig?
1) Das Demokratiedefizit der EU
a) Indikatoren für ein demokratisches Defizit
b) Kritik an der Idee des demokratischen Defizits
c) Verteidigung der Idee eines demokratischen Defizits
2) andere Vorschläge
a) direkte Demokratie
b) deliberative Demokratie

III. Warum ist eine Parlamentarisierung der EU sinnvoll?

IV. Praktische Umsetzung
1) das Europäische Parlament
2) die nationalstaatlichen Parlamente
3) die tatsächlichen Änderungen durch den Lissabon-Vertrag

V. Schluss

VI. Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Am 19.März 2008 feierte das Europäische Parlament (EP) den fünfzigsten Jahrestag seines Bestehens unter diesem Namen.[1] Obwohl das EP also inzwischen auf eine mehr als fünfzigjährige Geschichte zurückblicken kann, wird es in Wissenschaft und Öffentlichkeit oftmals noch als zu schwach angesehen, um auf europäischer Ebene gleichwertig mit der EU-Kommission und dem Europäischen Rat zu agieren.[2] Gerade die (scheinbare) Schwäche des EP wird häufig als der Kern des demokratischen Defizits der Europäischen Union (EU) benannt und seine deutliche Stärkung wird als Allheilmittel zur Auflösung dieses Defizits und zur Wiederherstellung der Legitimität Europas in den Augen seiner Bürger gefordert. In der folgenden Hausarbeit möchte ich mich genauer mit den Möglichkeiten, Chancen und Risiken einer Stärkung des EP, sprich einer „Parlamentarisierung“ der Europäischen Union beschäftigen.[3]

Zunächst werde ich die Notwendigkeit einer Parlamentarisierung deutlich machen, indem ich das bestehende Demokratiedefizit der EU beschreibe. Hierbei werde ich auch auf kritische Autoren wie Majone und Moravcsik eingehen, die die Existenz eines solchen Defizits bestreiten; ich werde deutlich machen, dass dieses Defizit trotz ihrer Einwände besteht und behoben werden muss. Zudem werde ich im Vergleich einige andere Vorschläge zur Behebung des Demokratiedefizits vorstellen, um dann deutlich zu machen warum gerade eine Parlamentarisierung der richtige Weg ist. Hierbei werde ich dann erläutern, warum eine Parlamentarisierung durchaus sinnvoll ist und die angestrebten Ziele erreicht werden können; zur Verdeutlichung werde ich hier primär auf die entgegengesetzten Meinungen von Peter Graf Kielmansegg und Klaus Eder eingehen. Schließlich werde ich auf die praktische Umsetzung einer Parlamentarisierung eingehen, sowohl in Hinsicht auf das EP als auch die nationalen Parlamente; ich werde darstellen was im Vergleich dazu der Lissabon-Vertrag wirklich leistet. Abschließend werde ich feststellen, dass trotz vieler Hindernisse und Probleme eine Parlamentarisierung eine veritable Handlungsoption für die Zukunft der EU darstellt.

II. Warum ist eine Parlamentarisierung notwendig?

1) Das Demokratiedefizit der EU

a) Indikatoren für ein demokratisches Defizit

Um die Notwendigkeit einer Parlamentarisierung bejahen zu können, muss zunächst einmal die Existenz eines demokratischen Defizits im politischen System der EU konstatiert werden. Im Allgemeinen wird das Demokratiedefizit der EU an fünf Punkten festgemacht: Erstens der Bedeutungsverlust der nationalen Parlamente zugunsten der Exekutive(n). Im Europäischen Rat treffen die Abgesandten der nationalen Regierungen die Entscheidungen, zumeist jenseits effektiver Kontrolle nationaler Parlamente. In der Kommission treffen von den nationalen Regierungen ernannte Kommissare die Entscheidungen, die weder nationalen Parlamenten noch dem EP gegenüber verantwortlich ist. Unterstütz werden beide Organe durch eine ebenfalls parlamentarischer Kontrolle weitgehend entzogene Bürokratie.

Zweitens, damit zusammenhängend, die Schwäche des Europaparlaments. Nur in einer der Entscheidungsprozeduren der EU, dem Mitentscheidungsverfahren, verfügt das EP über eine entscheidende Stimme, jedoch existieren weiter parallel das Konsultationsverfahren oder die offene Methode der Koordination, die das EP komplett außen vorlässt. Hinzu kommt die schon beschriebene mangelnde Rückbindung der Kommission an das EP.

Drittens das Fehlen von europäischen Wahlen. Nationale Wahlen bestimmen die Zusammensetzung des Ministerrats und auch die Wahlen zum EP werden von nationalen Parteien mit nationalen Themen bestritten.

Viertens ein intransparentes, für den „einfachen Bürger“ nicht zu durchschauendes politisches System, in dem kaum klare Verantwortlichkeiten erkennbar sind und Organe mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen.

Fünftens, v.a. als Folge dieser vier Faktoren, ein ‚policy drift’ weg von den Präferenzen der Wähler hin zu einer integrations- und wirtschaftsfreundlichen[4] Politik (Follesdal/Hix 2006: 534-537).

b) Kritik an der Idee des demokratischen Defizits

Trotz dieser scheinbar glasklaren demokratischen und legitimatorischen Defizite der EU, wird bereits diese grundlegende Frage jedoch in der Wissenschaft keinesfalls einhellig beantwortet; eine Reihe von Politikwissenschaftlern bestreitet die Existenz eines solchen Defizits. Zwei prominente Vertreter dieser Meinung sind Andrew Moravcsik und Giandomenico Majone; im Kern argumentieren sie, dass der Eindruck eines demokratischen Defizits durch den Vergleich der EU sowohl mit etablierten nationalstaatlichen Demokratien wie demokratietheoretischen Konzepten idealtypischer Demokratien entstehe, was sie als unzuverlässigen Vergleich ansehen, da die EU sich primär mit wenig salienten Fragen oder „technischen Details“ beschäftige, die dem demokratischen Prozess weder unterworfen werden sollten noch die europäischen Bürger wirklich interessierten. „Lack of Salience, not lack of opportunity, may impose the binding constraint on European political participation” (Moravcsik 2002: 616). Die in der EU primär entschiedenen Politikfelder – sehr häufig im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Markt stehend- würden für die Bürger kaum eine Rolle spielen, während die für diese wichtigen Themen wie Steuern, Gesundheit oder Bildung weiterhin bei den Nationalstaaten lägen. Dies, gekoppelt mit der Notwendigkeit von autonomen, erfahrenen und unparteiischen Beamten, Richtern u.ä., mache es unnötig und sogar gefährlich, diese Politikfelder dem „normalen“ demokratischen Prozess zu unterziehen (Moravcsik 2002: 613-617). Ähnlich argumentiert Majone, der die EU als „regulatory state“ bezeichnet (Majone 1998: 18). Die EU ist für ihn kein eigenes politisches System, sondern eine Art Behörde, die wenn sie optimal arbeiten soll, nicht dem demokratischen Prozess unterworfen werden darf, denn dies würde unweigerlich zu einer Politisierung führen. Die EU ist für ihn in einer Glaubwürdigkeitskrise, die durch prozedurale Änderungen in Bereichen wie Transparenz, Professionalisierung oder Kontrolle behoben werden könne, aber nicht durch eine stärkere Anwendung von demokratischen Prinzipien[5] (Majone 1998: 15-27).

Moravcsik analysiert weiterhin, dass entgegen dem oftmals erweckten Eindruck die EU auch in den Bereichen, in denen sie Kompetenzen besitzt, gerade aufgrund ihrer komplexen Entscheidungsprozesse, konkurrierenden Gremien und umfassenden Rechtsgrundlagen „clean, transparent, effective and politically responsive“ auf die Bedürfnisse der EU-Bürger reagiert (Moravcsik 2002: 605). Die in der Struktur der EU selbst angelegten politischen, fiskalen, prozeduralen und rechtlichen Beschränkungen verhinderten die Entstehung eines europäischen „Superstaates“ (Moravcsik 2002: 606-610). Diese beiden Argumente mit der Unzulässigkeit von Vergleichen mit Nationalstaaten verbindend, schlussfolgert er dann auch „[…] we cannot draw negative conclusions about the legitimacy of the EU […]“ (Moravcsik 2002: 622).

c) Verteidigung der Idee eines demokratischen Defizits

Dagegen bejahen Autoren wie Follesdal/Hix eindeutig die Existenz eines demokratischen Defizits der EU und bestreiten einige zentrale Punkte von Majones und Moravcsiks Argumentation. Gegen Majone wird argumentiert, dass die EU keinesfalls nur regulierend tätig ist, sondern im Gegenteil der Großteil der EU-Politik redistributiv ist, auch die scheinbar „technischen“ Bestimmungen im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Markt. Zudem ist die regulatorische Politik der EU keinefalls pareto-effizient, sondern kennt Gewinner und Verlierer, trotz ihrer weitgehenden Isolierung vom demokratischen Prozess. Sie schlussfolgern daher „Majone’s argument does not diminish the need for democratic, responsive and accountable decision-makers“ (Follesdal/Hix 2006: 542-544). Moravcsik wird zwar teilweise zugestimmt, dass das System der EU viele Hürden für ungehemmte Machtausübung besitzt, Follesdal/Hix betonen jedoch dass ein politischer Wettbewerb in einem demokratischen Prozess durchaus andere Politikinhalte produzieren würde und auch wenig saliente issues durch einen politischen Diskussionsprozess bedeutend werden würden[6] (Follesdal/Hix 2006: 544-546). Ein tatsächliches Demokratiedefizit begründen sie ferner damit, dass durch fehlenden demokratischen Wettbewerb auf europäischer Ebene politische Alternativen zu den letztendlich produzierten policies der EU fehlen, so dass (entgegen Majone und Moravcsik) es keinesfalls gesichert sei, dass wirklich stets die besten Ergebnisse erzielt würden; auch gäbe es ohne einen solchen Wettbewerb keine breiten öffentlichen Debatten, mithin mangelhafte Responsivität durch die EU (Follesdal/ Hix 2006: 548-551). Die Autoren schlussfolgern dann auch, dass die EU ein Demokratiedefizit besitzt, da sie keine Chance für politischen Wettbewerb und öffentliche Debatte liefert, was es ihr deutlich erschwert den Willen der EU-Bürger zu erkennen und dementsprechend zu handeln[7] ; sie sehen allerdings Tendenzen hin zu einer solchen stärkeren Politisierung, gerade in Hinblick auf das EP (Follesdal/Hix 2006: 556-557).

Zusammenfassend denke ich, dass sich die Existenz eines demokratischen Defizits für das politische System der EU eindeutig feststellen lässt. Majones Hauptargument, dass die EU nur regulativ tätig werde ist nicht zu halten. Zwar liegt rein monetär betrachtet der Umfang des Gemeinschaftshaushalts tatsächlich im fast vernachlässigbaren Bereich: im Jahr 2000 war dieser nur wenig größer als derjenige Finnlands und lag damit bei weniger als 2,5% der Gesamtausgaben der Mitgliedsstaaten bzw. knapp über 1% des kombinierten BIP der Mitglieder (Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2004: 156). Weit bedeutender in dieser Hinsicht sind aber die Rechtssetzungs- und Kontrollbefugnisse der EU; bekannte Aussagen wie „80% der deutschen Gesetze werden in Brüssel gemacht“ werden zwar manchmal in apologetischer oder populistischer Absicht genutzt, haben aber doch einen erheblichen Wahrheitsgehalt. Viele in den letzten Jahren in Deutschland stark umstrittenen Gesetze basierten auf EU-Richtlinien, bspw. im Bereich Feinstaub oder Gleichstellung; ein wahrscheinlich noch dramatischeres Beispiel wäre die gescheiterte Dienstleistungsrichtline gewesen. All dies fand auf europäischer Ebene im (nach Majone) regulativen, technischen- daher unpolitischen- Bereich des Gemeinsamen Marktes statt, gewann auf nationaler Ebene jedoch erhebliche Salienz. Auch solche nationalstaatlichen Kernbereiche wie die Sozialpolitik werden zudem bspw. in grundlegender Weise durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt bzw. die diesen überwachende Kommission beeinflusst (Kohler-Koch/Konzelmann/Knodt 2004: 200). Wenn nicht unmittelbar, dann mittelbar ist die EU in jedem Falle Akteur im Bereich (re-)distributiver Politik. Hieraus folgend, muss sich die EU durchaus dem Vergleich mit anderen (nationalstaatlichen) politischen Systemen und demokratischen Idealtypen stellen. Die Argumentation, ein Defizit zu bestreiten, da die Mitgliedsstaaten auch nicht alle theoretischen Anforderungen erfüllen ist wider sinnig; viele der demokratietheoretisch bedenklichen Entwicklungen in den EU-Mitgliedsstaaten werden durch die Einbindung in die EU erzeugt, die dann aber nicht durch demokratische Entwicklung auf europäischer Ebene aufgefangen werden (Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2004: 200).

Die am Anfang genannten institutionellen Schwächen und Gegebenheiten werden auch von Majone und Moravcsik im Kern nicht bestritten, sie bestreiten die Begründung eines demokratischen Defizits aus diesen Strukturen heraus[8] ;

nach der Entkräftung ihrer Argumente denke ich, dass die gegenwärtigen Entscheidungsstrukturen der EU keine ausreichende demokratische Legitimität erzeugen, um die schwerwiegenden Eingriffe in die Rechte der Nationalstaaten und der Bürger zu rechtfertigen.

Maßnahmen zur Behebung dieses Defizits sind also dringend geboten. Die meisten der zu Beginn genannten Schwächen beschäftigen sich mit der schwachen Rolle des EP bzw. einer Dominanz der Exekutiven auf allen Ebenen. Eine Parlamentarisierung scheint daher die logischste und am häufigsten vorgeschlagene Option zu sein. Bevor ich auf diese auch von mir bevorzugte Option darstellen, werde ich im Folgenden auf einige andere Vorschläge zur Bekämpfung des demokratischen Defizits eingehen.

[...]


[1] Bereits am 10.September 1952 traf sich das erste Mal die „gemeinsame Versammlung“ der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Am 19.3.1958 traf man sich, nach der Unterzeichung der Römischen Verträge, das erste Mal als Europäisches Parlament. Die Zusammensetzung aus entsandten Mitgliedern der Nationalparlamente blieb jedoch erhalten bis zur ersten Direktwahl 1979.

[2] “For much of its life, the European Parliament could have been justly labelled a 'multi-lingual talking shop”, sagt bspw. David Farrell von der University of Manchester (http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?language=EN&type=IM-PRESS&reference=20070615IPR07837)

[3] Obwohl sich der Fokus dieser Arbeit auf das EP richtet wird auch auf die nationalen Parlamente eingegangen. Ausgeklammert werden hingegen Kommission und Rat, obwohl auch diese teilweise über legislative Kompetenzen verfügen, jedoch handelt es sich bei ihnen offensichtlich um keine Parlamente.

[4] Dieser Punkt bildet einen zentralen Baustein der Kritik bei sozialdemokratisch orientierten Autoren wie bspw. Fritz Scharpf.

[5] Majone spricht hierbei vom‚majoritarian’ Prinzip, sprich der Anwendung der Mehrheitsregel

[6] Ein ähnlich angelegtes Problem stellt sich in Kapitel III bei der Frage, ob eine Parlamentarisierung einer europ. Öffentlichkeit bedarf oder ob eine Parlamentarisierung diese Öffentlichkeit fördern würde.

[7] Das muss keine zwangsläufig negativen Auswirkungen auf die produzierten policies haben; eine reine output-Legitimation wie Majone lehnen sie aber eben ab.

[8] So bestreitet Moravcsik denn bspw. auch nicht die Existenz eines wirtschaftsfreundlichen ‚policy drift’, kontrastiert ihn aber mit einem wohlfahrtsstaatlichen ‚bias’ der Mitgliedsstaaten (Moravcsik 2002: 618).

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Parlamentarisierung als Option für die Europäische Union
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald
Note
2,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
25
Katalognummer
V126693
ISBN (eBook)
9783640324118
ISBN (Buch)
9783640322008
Dateigröße
469 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Parlamentarisierung, Option, Europäische, Union
Arbeit zitieren
Ivo Sieder (Autor:in), 2008, Parlamentarisierung als Option für die Europäische Union, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/126693

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