Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
1.1 Unzureichende Schmutzdefinition und Vorgehen
2. Schmutzkommunikation und die Verwandlung in Schmutz
3. Die verwehrte Beschmutzung des Beamten Klamm
4. Vernichtende Reinheit: In Schloß, Proceß und Verwandlung
5. Fazit
Literaturverzeichnis
Figuren als Schmutz
Eine Analyse ausgewählter Werke Franz Kafkas
1. Einleitung
Die erste These dieser Arbeit offenbart sich bereits in ihrem Titel; sie zu verifizieren, wird Teil der Analyse der ausgewählten Werke Franz Kafkas sein. Die These lautet, dass es Figuren in seinen Werken gibt, die nicht nur als schmutzig gelten, sondern innerhalb der Texte den Status von Schmutz zugeschrieben bekommen und sich teilweise selbst zuschreiben. Diese vorsichtige Formulierung weist schon auf die Konkretion der Annahme hin. Denn es wird nicht behauptet, dass die Figuren, die zum Gegenstand der Analyse werden, Schmutz sind. Diese Arbeit identifiziert keine Figuren als Schmutz, sondern zeigt auf, dass andere Figuren in den Texten dies tuen, oder, dass aufgrund der in den Texten entworfenen Ordnungen und Gesetze, Figuren als Schmutz gelten. Daraus, dass Figuren in Kafkas Werken als Schmutz eingeordnet werden, ergeben sich dann weitreichende Implikationen. Die Auswirkungen des Schmutzes auf die Kommunikation, die Funktion der Hierarchie und die Gefahr der Befleckung sind zentrale Themen für diese Arbeit, die vor allem im Schloß untersucht und mit dem Proceß und der Verwandlung verglichen werden. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Reinigung gelegt. Sie markiert einen gewichtigen Unterschied zwischen einer schmutzigen und einer Schmutzfigur. Denn es kann nur eine Reinigung von dem Schmutz geben, hingegen ist die Reinigung des Schmutzes unmöglich. Ein Fleck kann entfernt und somit der Befleckte gereinigt werden, doch der Fleck selbst ist damit vernichtet. Reinigung bedeutet für den Schmutz also Vernichtung und Verschwinden. Zu Beginn wird der Einfluss des Schmutzes auf die Kommunikation untersucht. Wie Martin Walser schreibt, bestehen die Aktionen K.s im Schloß vor allem aus Diskussionen.1 Von großem Interesse für diese Arbeit ist jedoch gerade das vermiedene Gespräch zwischen K. und Klamm (das sich K. nicht als Diskussion vorstellt). Von diesem leitet das erste Kapitel dann zu der Verwandlung der sogenannten Familie Barnabas in Schmutz über. Dies ist thematisch konsistent, da der Ausgangspunkt dieser Verwandlung ein scheinbar schmutziger Brief (für wen er als schmutzig gilt, wird zu diskutieren sein) ist. Anschließend wird K.s Versuch, in die Ordnung des Schlosses vorzudringen und Klamm zu beflecken, besprochen und im letzten Kapitel die Reinigung, das heißt die Entfernung von Schmutzfiguren, in den Mittelpunkt gerückt.
1.1 Unzureichende Schmutzdefinition und Vorgehen
Mit einer Definition des Schmutzes zu beginnen ist nötig, damit präzise beschrieben werden kann, wonach diese Arbeit sucht. Ohne sie kann nicht gesichert dargestellt werden, dass Figuren als Schmutz identifiziert werden, wenn diese in den Texten nicht explizit als Schmutz benannt werden. Um nachzuweisen, dass Figuren in den Texten als Schmutz gelten, ist aber jede Schmutzdefinition unzureichend. Fremde Schmutzdefinitionen einfach auf Kafkas Texte anzuwenden, hieße, sie lediglich mit fremden Ordnungen abzugleichen. Diese Arbeit bemüht sich aber zu belegen, aus welcher Perspektive und auf Grundlage welcher textinhärenten Ordnungen Figuren als Schmutz betrachtet werden. Für wen eine Figur als Schmutz gilt, ab wann und wo, sind Fragen, die diese Arbeit beschäftigen. Christian Enzensberger definiert den Schmutz wie folgt: „Er werde nun [.] das grundlegende Gesetz vom Schmutz formulieren. In der Tat sei der Schmutz ein allgemeiner Struktur- und Ordnungsbegriff. Mit jeder Ordnung sei zugleich auch ihre Negation gesetzt, und zwar als Unordnung oder Ordnung anderer Art. Dazwischen aber, an den Rändern, am Übergang, da trete nun auf der Grenzfall; die marginale Verletzung; das nach der Ordnung übel Definierte: der Schmutz.“2 Dass Schmutz die „marginale Verletzung“ einer Ordnung darstellt, wird vor allem relevant, wenn die Verwandlung behandelt wird. Die Bezeichnung des Ungeheuers steht dieser Definition entgegen, da das Ungeheuer eine schwerwiegende und monströse Verletzung der geheuren Ordnung darstellt. Daneben ist diese Bedingung, die Enzensberger für den Schmutz benennt, auch bei Mary Douglas enthalten. Und sie schreibt weiter über den Schmutz: „If we can abstract pathogenicity and hygiene from our notion of dirt, we are left with the old definition of dirt as matter out of place.“3 Daraus resultiert für Douglas „a set of ordered relations and a contravention of that order. [.] Dirt is the by-product of a systematic ordering and classification of matter, in so far as ordering involves rejecting inappropriate elements.”4 Douglas subsumiert unter ihrem Schmutzbegriff alle Elemente, die von einer Ordnung ausgeschlossen werden. Der Schmutz vereint also jene Eigenschaften in sich, die aus der Ordnung aussortiert wurden. Demnach ist der Schmutz je nach Ordnung, die er negiert, vollständig wandelbar. Davon geht auch Enzensberger aus. Weitere für diese Arbeit wichtigen Aspekte, in denen Enzensberger und Douglas übereinstimmen, sind, dass die Existenz des Schmutzes mit den Rändern und bei Enzensberger speziell mit Oberflächen zusammenhängt.5 Doch der Bereich, auf den sich Enzensbergers Schmutzbegriff bezieht, ist weiter gefasst als der von Douglas. Gesellschaftliche Randgruppen und Personen fallen unter seinen Begriff. Aber auch Douglas bezieht den Schmutzbegriff nicht nur auf Dinge. „[O]ur pollution behaviour is the reaction which condemns any object or idea likely to confuse or contradict cherished classifications.”6 Sie wendet den Schmutzbegriff also auf Gegenstände und Vorstellungen an. Aber mit seiner Ausweitung des Schmutzbegriffs ist der Ausgangspunkt dieser Arbeit immer noch näher bei Enzensberger als bei Douglas. Denn diese Arbeit behandelt Figuren, die innerhalb der Fiktion der Texte den Status von Personen einnehmen und Enzensberger führt verschiedene Beispiel an, in denen Personen als Schmutz aufgefasst werden, indem er etwa die Ansichten von amerikanischen Rassisten referiert: „Der Angehörige der Minderheit sei eine sehr typische Randstörung der gesellschaftlichen Ordnung. [.] Das Beispiel der amerikanischen Neger zeige, wie oft er sich wasche, ohne je als sauber zu gelten. Säubern könne er sich nur, indem er sich entferne oder umbringe.“7 Hier stellt Enzensberger den gewichtigen Unterschied bei der Reinigung zwischen einem Menschen, der als Schmutz gilt, und einem lediglich schmutzigen Menschen am Beispiel der Ausgrenzung der Afroamerikanern dar. Die Unterscheidung von schmutzig als einer akzidentiellen und Schmutz als einer essenziellen Zuschreibung wird im Folgenden am Schicksal der sog. Familie Barnabas zu beobachten sein. Was aber alle Begriffsdefinitionen gemein haben, ist, dass Schmutz eine negative Bezeichnung ist.8 Douglas spricht davon, dass die Einordnung von Dingen als Schmutz einer Verdammung („condemn“) gleichkommt. Schmutz ist also kein neutraler Begriff. Das, was er bezeichnet, wird innerhalb der Ordnung, die ihn ausgrenzt, negativ bewertet. Wenn im Zuge der Arbeit Positionen von Autoren kritisiert werden, die ihr persönliches Schmutzverständnis auf Kafkas Texte übertragen, indem sie Figuren oder Handlungen als schmutzig bezeichnen, so liegt die Kritik darin, dass sie etwas als negativ werten, was sich in den dominierenden Ordnungen der Texte als positiv herausstellt. Was außerhalb der Texte Kafkas als Schmutz oder schmutzig gilt, muss es nicht innerhalb dieser Texte sein. Dass es in diesen eigene Schmutzordnungen gibt, bedeutet aber nicht, dass eine Definition des Schmutzbegriffs sinnlos ist. Denn diese Schmutzordnungen sind vor allem in der Hinsicht eigen, dass sie aufnehmen, was außerhalb der Texte intuitiv als Schmutz ausgestoßen wird - gründend auf historischen, kulturellen, religiösen, hygienischen Schmutzordnungen. Douglas schreibt einleitend: „There is no such thing as absolute dirt: it exists in the eye of the beholder.“9 Jedoch sind die erörterten Aspekte des Schmutzes von der Perspektive des Beobachters unabhängig - wo die Ränder verlaufen, verändert sich zwar mit der Perspektive, aber, dass Ränder den Schmutz bedingen, nicht. Das Prinzip der Abwehr von marginalen, ordnungsverunsichernden Figuren, Dingen usw. ist nicht aufgehoben; es wird nur der Automatismus aufgelöst, nach dem es dem Leser intuitiv verständlich scheint, was zur Ordnung und was zur Unordnung gerechnet werden kann. Er befindet sich ebenso wie die Protagonisten Kafkas in fremde Ordnungen versetzt, deren Gesetzte er nicht überblicken kann. Eine qualitative Abweichung von dem in der Einleitung erörterten Schmutzbegriff Enzensbergers wird aber im letzten Kapitel dieser Arbeit anhand des Proceßes und des Reinigungsbefehls, den Josef K. gegen seine ehemaligen Wächter richtet, nachgewiesen. Wichtig ist noch auf Douglas Ausgangspunkt hinzuweisen. Douglas unterscheidet bei ihren Untersuchungen zwischen „unseren Schmutzvorstellungen“ und denen von „primitiven Kulturen“.10 In einer ähnlichen Methodik und mit der Annahme, dass „unsere Schmutzvorstellungen“ mit denen in Kafkas Texten kollidieren und nicht zwingend übereinstimmen, soll die Analyse betrieben werden. Natürlich ohne davon auszugehen, dass Kafkas Texte eine primitive Ordnung verkörperten.
2. Schmutzkommunikation und die Verwandlung in Schmutz
Für die Behandlung der Themen, mit denen sich dieses Kapitel beschäftigt, wird K. erst einmal aus dem Mittelpunkt gerückt und dessen Schmutzdasein im nächsten Kapitel erörtert. Denn es sind mitnichten nur die Protagonisten Kafkas, die zu Schmutz erklärt werden. Die Verwandlung in Schmutz, auf die sich hier bezogen wird, betrifft die sogenannte Familie Barnabas11 und im Kontext der Schmutzkommunikation ist K. nur ein störendes Element, der Grund, warum auf die zu analysierende Art kommuniziert wird. Beginnt man also mit den Sekretären und Boten, die in Kafkas Texten eine große Rolle spielen, wird eine wichtige Funktion von ihnen ersichtlich. Diese in Erscheinung tretenden Vertreter der Hierarchie, haben die Aufgabe, diejenigen, an deren Stelle sie auftreten, zu verdecken. Sie sind im Schloß eine von zwei angeführten Arten von Schutzvorrichtungen für die Beamten, die es ihnen erlaubt, mit außerhalb der Hierarchie Stehenden gefahrreduziert zu kommunizieren.12 Eine Gefahr, vor der die Beamten geschützt werden, besteht darin, von dem für sie Abstoßenden und Schmutzigem affiziert zu werden. Die andere Form der institutionalisierten Vorrichtung sind die Nachtverhöre,13 die den Beamten den direkten Kontakt mit ihren Klienten durch die Verschleierung ihres Aussehens erleichtern. Klamm jedoch führt keine Nachtverhöre durch, er vermeidet selbst diese Art des Kontakts. Über die herrschenden Verhältnisse belehrt die Wirtin K.: „Weiter sage ich, daß dieses Protokoll die einzige wirkliche amtliche Verbindung ist, die er mit Klamm haben kann“.14 K., der auf der Suche nach einem Zugang zu Klamm ist, will nicht über Papier mit Klamm kommunizieren, sondern strebt die direkte Konfrontation an. Aber die einzige amtliche Verbindung zu Klamm, also die einzige, die institutionell vorgesehen ist, kann laut der Wirtin für K. nur in schriftlicher Form bestehen. Eine direkte Begegnung von K. und Klamm wird damit vermieden und auf eine reinlichere Form zurückgegriffen, bei der keine Befleckung Klamms durch K. möglich ist. Neben der Unterbindung der verbalen Kommunikation ist auch kein Briefverkehr zwischen K. und Klamm vorgesehen.15 Ebenso wie K.s Spuren im Schnee vor Klamm verheimlicht und verwischt werden,16 wird damit vermieden, dass Klamm K.s Schrift zu sehen bekommt oder über das Papier eine Berührung von Klamm und K. erfolgt. Dass K.s Schriftzeichen auf dem weißen Papier, das in dieser Hinsicht der Schneedecke ähnelt, für die Schlossbehörde als Zeichen des Schmutzes gelten, wird durch die Funktion des Sekretärs deutlich. Der Sekret är nimmt das Sekret K.s auf, um es auf dem Papier zu fixieren. Die gewonnene Reinheit besteht nun darin, dass Klamm nicht mit dem Sekret K.s in Berührung kommt, sondern nur mit dem des Sekretärs, der der Hierarchie der Behörde angehört und somit über K. steht. Die schmutzreduzierende Funktionsweise der Hierarchie wird dabei deutlich. Durch die Aufnahme von Niedrigem wird das Niedrige aufgewertet auf die Stufe desjenigen, der dieses Schmutzige zu sich erhebt. So kann es wiederum an einen in der Hierarchie Höherstehenden weitergeben werden, der dann mit etwas vergleichsweise Schmutzreduziertem in Berührung kommt. Das von dem Sekretär Momus Festgehaltene kann im Schloß aber nicht an die Reinheit Klamms17 heranreichen und gilt für Klamm immer noch als schmutzig. Denn er schützt seinen Körper vor der Verschmutzung durch die Protokolle, dieser soll von den Auswürfen der Sekretäre unberührt bleiben.18 „Klamm kann doch nicht alle Protokolle lesen, er ließt sogar überhaupt keines, >Bleibt mir vom Leib mit Eueren Protokollen^ pflegt er zu sagen.“19 Durch diese von Momus beschriebene Gewohnheit erhält Klamm die Unbeflecktheit seines Körpers. Er geht damit über die institutionellen Vorkehrungen hinaus und schützt sich durch seine persönliche Pflege vor der Beschmutzung. Hier zeigt sich ein Problem, das die Hierarchie in der Auseinandersetzung mit dem Schmutz hat. Denn den Schmutz, den die Hierarchie vermeidet, produziert sie gerade durch den Versuch Reinheit herzustellen.20 Durch das Prinzip, Figuren oder alles Erdenkliche über und untereinander zu ordnen, werden die oberen Angehörigen der Hierarchie erhoben und die dabei entstehende Differenz zwischen den Oberen und den Unteren führt dazu, dass die Oberen empfindlich gegenüber dem Schmutz werden.21 Wenn sich diese dann vor dem Schmutz der Unteren oder der außerhalb der Hierarchie Stehenden schützen wollen, benötigen sie Vermittler.22 Da aber Klamm die Distanz zwischen sich und seinem Sekretär als zu groß befindet und daraufhin dessen Protokolle nicht liest, bräuchte er, um diese Lücke zu verringern, weitere Vermittler, Höherstehende als sein Sekretär, die zwischen dem Sekretär und Klamm vermitteln. Doch dass weitere Stufen in der Hierarchie anzulegen, zu einer weiteren Schmutzvermeidung führen könnte, muss bezweifelt werden, da sich mit jedem Beamten oder Vermittler, der unter Klamm steht - das ist das Prinzip der Hierarchie - dessen Stellung erhöht und selbst mit unendlich vielen weiteren Vermittlern zwischen ihnen könnte diese Lücke nie geschlossen werden.23 Die Hierarchie im Schloß ist damit höchst dysfunktional und es lässt sich schließlich feststellen, dass mit ihr keine schmutzfreie Kommunikation möglich ist. Der Schutz vor dem Schmutz geht mit der Einschränkung der Kommunikation einher. Im Schloß wird dieses Prinzip bis auf die
Spitze getrieben und führt dazu, dass alle amtlichen Verbindungen vom Dorf zum Schloss ins Leere laufen. Private Verbindungen über die Geliebten bestehen daneben jedoch, nur findet auch zwischen Klamm und seinen Geliebten keine Kommunikation statt.24
Die Vorsicht Klamms vor einer Befleckung bleibt dabei nicht kontextlos. Das, wovor sich Klamm zu schützen sucht, realisiert sich im Verlauf des Romans. Jedoch sind es Amalia und die sog. Familie Barnabas, die über ein Schriftstück beschmutz werden, und nicht Klamm, wie Amalias Schwester Olga berichtet. Denn der Beamte Sortini wendet sich mit einem Brief an Amalia. „Wer Amalia nicht kannte und nur diesen Brief gelesen hatte, mußte das Mädchen, an das jemand so zu schreiben gewagt hatte, für entehrt halten, auch wenn sie gar nicht berührt worden sein sollte.“25 Olga weist hier explizit darauf hin, dass die Befleckung nicht der Berührung bedürfe und die Schrift allein genüge, um Amalia ihre Integrität zu nehmen. Auf die Schmutzigkeit des Briefes rekurriert K. noch einmal. „Frieda hat keinen solchen sauberen Brief, wie Amalia von Sortini bekommen“.26 Die Formulierung von dem sauberen Brief soll eingehender betrachtet werden, denn sie verweist auf die unterschiedlichen Schmutzordnungen, die das Schloss vom Dorf und K. von beiden trennt. So übersteigt das Potential dieser Formulierung eine bloß ironische Auslegung. Unter dem sauberen Brief kann mehr verstanden werden als dessen bloßes Gegenteil. Es handelt sich nicht nur um einen schmutzigen Brief, sondern um einen, der von Sortini mit der Intention verschickt wurde, sauber zu sein. Das heißt, dass er versuchte zu antizipieren, was für Amalia als sauber gilt. Dies bestätigt sich in der Aussage von Olga: „Auch muß man doch bedenken, daß zwischen einem Beamten und einer Schusterstochter doch ein großer Abstand besteht, der irgendwie überbrückt werden muß, Sortini versuchte es auf diese Art“.27 Sortini verschätzt sich. Die Brücke, die er zu bauen versucht, reicht zu weit nach unten, weil er die Sprache, in der er mit Amalia kommuniziert, weiter unten ansiedelt, als sie sich selbst verortet. Sortini antizipiert die Dorfsprache als zu niedrig - was wiederum darauf verweist, dass die Beamten die Dorfbewohner und ihre Sprache als schmutzig betrachten. Als schmutzig vermuten, muss man korrigieren, denn es zeigt sich gerade hierin, dass die Beamten die Dorfbewohner und ihre Sprache nicht kennen. Die Ausführungen zu Klamm, der die Protokolle nicht liest, bestätigen das. Es besteht keine amtliche Verbindung zwischen ihm und dem Dorf. Die einzig mögliche amtliche Verbindung, die es zu ihm gibt, durchtrennt er. Die dysfunktionale Brücke aus schmutzigen Worten, die Sortini zu bauen versucht, weist also auch auf getrennte Schmutzordnungen von Schloss und Dorf hin. Zumindest belegt der Versuch der Überbrückung, dass beide Parteien davon ausgehen, dass sie in unterschiedlichen Ordnungen leben, deren Differenz eine Brücke erst notwendig macht. Olgas Erzählung ergänzt das Bild der versperrten Kommunikationswege. Ihren Ausführungen zufolge ahmt auch das Dorf die Verhaltensweise des Schlosses nach. Sortini kommuniziert, indem er antizipiert, und ebenso antizipiert das Dorf den Willen des Schlosses,28 indem es die Lesart des Schlosses bezüglich des Vorgangs zwischen Amalia und Sortini übernimmt. Das Dorf versteht den Brief nicht als einen schmutzigen Brief, dessen Annahme Beschmutzung bedeutet, sondern wie Sortini als einen sauberen. Somit wird der Brief nicht als Befleckung Amalias gewertet, sondern die Zurückweisung Sortinis als schandhaft betrachtet.29
Das Dorf, das die Familie anfangs nur in vorauseilendem Gehorsam und aus Angst von ihr beschmutz zu werden, geächtet hat, geht schließlich dazu über, die sog. Familie Barnabas von sich aus, als Schmutz einzuordnen.30 An diesem Punkt werden sie zu Figuren des Schmutzes und zum eigentlichen Gegenstand dieser Arbeit. Dass das Dorf die Familie schließlich aus der dörfischen Ordnung heraus als Schmutz betrachtet und nicht nur nach der vermuteten Schmutzordnung des Schlosses handelt, wird beim Vergleich der zwei Phasen, die in der Haltung des Dorfes gegenüber der Familie auszumachen sind, erkennbar. Es stellt sich darin die Transition von befleckten Figuren zu Figuren, die als Schmutz wahrgenommen werden, dar. In der ersten Phase wurden ihre Mitglieder vom Dorf verstoßen und geächtet, um den vermuteten Regeln des Schlosses zu folgen. In der zweiten Phase, nachdem sich die Familie nicht aus ihrer prekären Situation befreien konnte, und ihnen die Geldmittel ausgingen, setzt die Verachtung der Dorfbewohner ein, wie Olga K. berichtet. „Die Zuschüsse der Verwandten hörten auf, unsere Mittel waren fast zu Ende und gerade zu jener Zeit begann die Verachtung für uns“.31 Von diesem Zeitpunkt an, arbeitslos und einkunftslos, gilt die Familie dem Dorf als parasitär. Zudem ist der Familie ihre Reinigung missglückt,32 was wiederum darauf schließen lässt, dass sie den Status von Schmutz erreicht hat, der eine Reinigung verhindert bzw. das Überleben der Reinigung - damit beschäftigt sich das letzte Kapitel ausführlich. Die Rückkehr zu einem Status der Sauberkeit ist versperrt und die Rehabilitation damit unmöglich. Wie später anhand des Proceßes oder der Verwandlung beschrieben wird, bleibt den Betroffenen dann nur noch das Verschwinden. Auch in dieser Familie stellt sich die vernichtende Komplizenschaft ein, die die Reinigung und somit das Verschwinden zum Ziel hat. Die Kinder der Familie Barnabas, Amalia, Olga und Barnabas, unterstützen den Vater und die Mutter bei ihrer Selbstvernichtung.33 Die Komplizenschaft hat den Zweck, die Familie von ihrer Schmutzexistenz zu befreien, doch das bedeutet auch, sie von ihrer Existenz zu befreien.34 Der Weg der Reinigung führt über den Verfall des Vaters und der Mutter. Nach der Vergebung des Schlosses trachtet die Familie aber vergeblich und die Wiederaufnahme in das Dorf wird ihnen durch die Suche nach ihr, die das Vergessen ihrer Schmutzigkeit unmöglich macht und die Befleckung an ihnen sichtbar erhält, ebenfalls verwehrt.35 Die Bewohner des Dorfes können zwar die Ordnung des Schlosses nur antizipieren und deshalb nur vermuten, dass die sog. Familie Barnabas in dieser als schmutzig gilt, doch die Ordnung des Dorfes ist ihnen intuitiv bekannt; schließlich empfinden die Dorfbewohner nach den Prinzipien der dörflichen Ordnung und nehmen ein Abweichen von dieser mit ihren Sinnen wahr. „[S]päter als wieder Leute manchmal zu uns kamen, rümpften sie die Nase über ganz belanglose Dinge [...] Alles was wir waren und hatten, traf die gleiche Verachtung.“36 Alles, was die Familie war, wurde verachtet und anrüchig. Das anfängliche Gerücht hat sich festgesetzt und ist zum Gestank mutiert, der die Familie nicht mehr verlässt.37 Das heißt, ihr Schmutzdasein ist total; aus Sicht der Dorfbewohner gibt es keine sauberen Stellen mehr an der Familie. Und selbst die Gegenstände in ihrem Besitz gelten als kontaminiert. Der Versuch der Reinigung kann daher nur zu einem Verbrauch der Körper führen, denn Reinigung bedeutet Abrieb von Schmutz und Schmutz ist nach den Ordnungen, die den Angehörigen der Familie gegenüberstehen, „alles was [sie] waren“.38
Diese Ausführungen führen wieder zurück zu dem Boten, denn mit ihm und der Nachricht, die er überbrachte, begann der Abstieg der Familie. Der Bote hat eine Funktion inne, die der des Sekretärs nicht unähnlich ist. Nur führt sie hier in die entgegengesetzte Richtung. Er nimmt nicht das Sekret von Fremden auf, um es seinem Vorgesetzten zu bringen, sondern überbringt dessen Absonderungen. Dass bei dieser Art der Kommunikation (wie beim Sekretär) die Gefahr der Beschmutzung für den Sender des Boten reduziert, aber nicht ausgeschlossen werden kann, zeigt sich deutlich. Sortini schützt sich durch den Boten vor einer Berührung mit dem Sekret (der Antwort) Amalias, doch beschmutzt er sich selbst. Dabei muss aber festgehalten werden, dass Sortini aus der Sicht des Dorfes zu keiner Zeit als Beschmutzter gilt. K. hingegen betrachtet Sortini zu Beginn von Olgas Erzählung aus der Perspektive des Fremden, als den eigentlich Erniedrigten: „Sortini hat nicht Amalia bloßgestellt, sondern sich selbst“.39 In der fremden Ordnung, aus der K. stammt und die K. anfangs in seinen Ansichten vertritt (bis sie sich im Zuge von Olgas Erzählung der örtlichen Ordnung anpassen)40, ist der Schaden für Sortinis Ansehen nachgewiesen und ebenso die Befleckung, die Sortini durch die vermeintlich saubere Kommunikation über den Boten davonträgt.
[...]
1 „Obwohl der Prozeß ununterbrochen läuft, haben die Aktionen Josef K.s gewissermaßen noch mehr Profil, als die K.s im »Schloß«. Hier wird alles in einem viel größeren Maße zur Diskussion.“ Martin Walser: Beschreibung einer Form. Versuch über Franz Kafka, Frankfurt/Main, 1973, S. 80.
2 Christian Enzensberger: Größerer Versuch über den Schmutz. 1970, S. 30.
3 Mary Douglas: Purity and Danger. An analysis of the concepts of pollution and Taboo, London 1984, S. 35.
4 Ebd.
5 „[A]ll margins are dangerous. [.] Any structure of ideas is vulnerable at its margins.” Mary Douglas: Purity and Danger. S. 121. „[B]ei der Analyse sei von der Person, der Erzeugerin allen Schmutzes, auszugehen. Was sich innerhalb ihrer befinde, sei sauber, oder vielmehr der Kategorie von rein oder unrein entzogen. [.] Schmutzzeugung finde mithin an der Außenseite der Person statt”. Enzensberger. Größerer Versuch über den Schmutz. S. 9. Enzensberger unterscheidet also zwischen Rändern. Nur jene, die eine Grenze zu einer fremden Ordnung bilden, seien für die Schmutzerzeugung relevant.
6 Douglas: Purity and Danger. S. 36. Indem Douglas über die Kaste der „Unberührbaren“ schreibt, verweist sie zwar auf ein System, in dem Menschen als Schmutz gelten - diese können durch Reinigung niemals sauber werden - doch sie benennt dies nicht. Vgl. S. 34.
7 Enzensberger: Größerer Versuch über den Schmutz. S. 73.
8 Auch Enzensberger, der im Lauf seines Essays den Schmutz seiner negativen Zuschreibung zu entheben sucht, etwa mit seiner Kurzadaption der Verwandlung, verwandelt ihn damit in etwas Unschmutziges. Weil er den Schmutz in die Ordnung, die er schafft, integriert, ist er nicht länger ein Randphänomen und somit nicht länger Schmutz.
9 Douglas: Purity and Danger. S. 2.
10 Ebd. vgl. etwa S. 1.
11 Der ursprüngliche Name der Familie ist dermaßen beschmutz, dass die Mitglieder des Dorfes ihn nicht mehr in den Mund nehmen, und auch der Text nennt ihn nicht. Um nicht Partei zu ergreifen und die Perspektive der Dorfbewohner zu übernehmen, wird fortlaufend von der sogenannten Familie Barnabas die Rede sein. „Nun sprach man von uns nicht mehr wie von Menschen, unser Familienname wurde nicht mehr genannt; wenn man von uns sprechen mußte, nannte man uns nach Barnabas, dem Unschuldigsten von uns.“ Franz Kafka: Das Schloß. Frankfurt am Main 2007, S. 257.
12 Die Gefahr der Beschmutzung kann durch die Schmutzvorrichtungen, wie im Folgenden erläutert wird, nicht gänzlich ausgeschlossen werden.
13 „Die Nachtverhöre [.] hätten doch nur den Zweck, Parteien, deren Anblick den Herren bei Tag völlig unerträglich wäre, abzuhören, schnell, in der Nacht, bei künstlichem Licht, mit der Möglichkeit, gleich nach dem Verhör alle Häßlichkeit im Schlaf zu vergessen. Das Benehmen K.'s aber habe aller Vorsichtsmaßregeln gespottet.“ Ebd. S. 340.
14 Ebd. S. 141.
15 Obwohl K. Briefe von Klamm erhält, kann er keinen Brief, den er verfasst hat, an Klamm überbringen lassen. Bei dem Brief, den Klamm an K. schickt, handelt es sich nach der Einschätzung des Vorstehers jedoch um „keine amtliche Zuschrift, sondern ein Privatbrief“, einen Brief, der innerhalb der Institution nicht vorgesehen ist. Kafka: Das Schloß. S. 89.
16 Von K. „war ja nichts mehr zu sehen, der Kutscher hatte auch die Fußspuren im Schnee glattgekehrt.“ Ebd. S. 136.
17 Die Reinheit Klamms erkennt K. etwa im Gespräch mit Frieda an, als er die Spuren Klamms in Relation zu den unnützen und schmutzigen Gehilfen setzt. „und wenn sie [die Gehilfen] Dich auch mit Hilfe dieser Täuschung so bezaubern konnten, daß Du selbst in ihrem Schmutz und ihrer Unzucht Spuren von Klamm zu finden meintest, so wie jemand in einem Misthaufen einen einst verlorenen Edelstein zu sehen glaubt [.] so sind es doch nur Burschen von der Art der Knechte im Stall“. Ebd. S. 306. Für K. kommen Klamms vermeintliche Spuren Edelsteinen gleich. Es sind für ihn reine Gegenstände in einem Umfeld von Schmutz, die Frieda sucht.
18 Dass die Protokolle für Klamm schmutzig sind, vernichtet ihre vermittelnde Funktion zwischen unten und oben und zwischen außerhalb und innerhalb der Hierarchie. Auch in seinem Tagebuch behandelt Kafka die Schmutzigkeit, die beim Diktieren, beim Ausscheiden und Aufnehmen von Wörtern entsteht. Die Wörter, die er an das „Maschinenfräulein K.“ zur Verschriftlichung richtet, beschreibt Kafka als mit „Ekel und Schamgefühl“ besetzt. „Beim Diktieren einer größeren Anzeige an eine Bezirkshauptmannschaft im Bureau. Im Schluß, der sich aufschwingen sollte, blieb ich stecken und konnte nichts als das Maschinenfräulein K. ansehen, die nach ihrer Gewohnheit besonders lebhaft wurde, ihren Sessel rückte, hustete, auf dem Tisch herumtippte und so das ganze Zimmer auf mein Unglück aufmerksam machte. Der gesuchte Einfall bekommt jetzt auch den Wert, daß er sie ruhig machen wird, und läßt sich, je wertvoller er wird, desto schwerer finden. Endlich habe ich das Wort »brandmarken« und den dazu gehörigen Satz, halte alles aber noch im Mund mit einem Ekel und Schamgefühl, wie wenn es rohes Fleisch, aus mir geschnittenes Fleisch wäre (solche Mühe hat es mich gekostet).“ Max Brod (Hrsg.): Tagebücher 1910 - 1923. Franz Kafka, Frankfurt/Main 1951, S. 67/77 (3. Oktober 1911). Diese fremden Aussch(n)eidungen muss nun das „Maschinenfräulein“ aufnehmen und wiederum als „eldende[s] Aktenstück[]“ ausscheiden. Ebd. Tatsächlich besteht der Sprechakt, den Kafka beschreibt, aus einer Mischung aus Ausscheidung und Ausschneidung. Einerseits wird die Ausscheidung von Wort und Satz über den Mund vollzogen, andererseits beruht das, was ausgeschieden wird, nicht nur auf einem mühevollen Auspressen, sondern einem Ausschneiden. Daneben werden weitere mit der Schmutzthematik in Kafkas Romanen verbundene Aspekte in diesem Tagebucheintrag aufgeführt. Das Steckenbleiben und die damit einhergehende Behinderung des alltäglichen Arbeitsablaufs lässt Kafka in seinem Tagebuch zu einer menschlichen Verstopfung werden. Auf das Malheur Kafkas, sein „Unglück“, macht das Maschinenfräulein dann wiederum die anderen Anwesenden aufmerksam. Sie übernimmt die Rolle der Verräterin, die auf den die Ordnung behindernden Schmutz hinweist.
19 Kafka: Das Schloß. S. 143.
20 Wie Douglas beschreibt auch Enzensberger, dass Ordnungssysteme die Ursache des Schmutzes sind: „Je starrer ein Ordnungssystem, desto größere Mengen von Schmutz erzeuge es“. Enzensberger: Größerer Versuch über den Schmutz. S. 39.
21 „Der Dialektik des Schmutzes zufolge sei der Machthaber eben wegen seiner Unberührbarkeit besonders leicht beschmutzbar. Eine Befleckung seiner Ehre [.] könne unter Umständen schon durch einen Blick erfolgen.“ Ebd. S. 52.
22 Adorno wendet Freuds Betrachtungen der Hierarchie auf Kafka an: „Die Ansicht von der Hierarchie bei Kafka und Freud ist kaum zu unterscheiden. Eine Stelle von Totem und Tabu lautet: »Das Tabu eines Königs ist zu stark für seinen Untertan, weil die soziale Differenz zwischen ihnen zu groß ist. Aber ein Minister kann etwa den unschädlichen Vermittler zwischen ihnen machen. [.] Der Untertan, der die großartige Versuchung scheut, welche ihm die Berührung mit dem König bereitet, kann etwa den Umgang des Beamten vertragen [.]«“ Rolf Tiedemann (Hrsg.): Theodor W. Adorno. Kulturkritik und Gesellschaft I, Frankfurt/Main 2003, S. 260/261. Im Schloß gestaltet sich die Hierarchie aber genau umgekehrt. Hier hat der Niedrige (K. ist kein Untertan des Schlosses, sondern steht außerhalb der Hierarchie) keine Skrupel in Berührung mit den Höchsten der Hierarchie zu gelangen, diese scheuen sich jedoch davor und vermeiden jede Berührung peinlich. Und selbst der Beamte Klamm, der für K. nur ein Vermittler und eine Hürde zwischen ihm und dem Grafen Westwest ist, bleibt für K. unerreichbar, weil er an dessen Vermittler, dem Sekretär Momus, nicht vorbeikommt.
23 Im Proceß wird die Hierarchie von Beamten als eine unendliche beschrieben: „Die Rangordnung und Steigerung des Gerichts sei unendlich und selbst für den Eingeweihten nicht absehbar.“ Kafka: Der Proceß. S. 157.
24 „Klamm soll mit ihnen sprechen, aber er spricht doch nicht einmal mit Leuten aus dem Dorf, noch niemals hat er selbst mit jemandem aus dem Dorf gesprochen. Es war ja die große Auszeichnung Friedas [.], daß er wenigstens Friedas Namen zu rufen pflegte [.] gesprochen aber hat er auch mit ihr nicht.“ Kafka: Das Schloß. S. 64.
25 Ebd. S. 235.
26 Ebd. S. 238.
27 Ebd. S. 239.
28 „[S]ie hatten, als sie sich von uns lossagten, nur ihre Pflicht zu tun geglaubt“. Kafka: Das Schloß. S. 253. Die Dorfbewohner wissen nicht, was ihre Pflicht ist, glauben lediglich, sie zu tun, und wenden sich aufgrund ihres Glaubens von der sog. Familie Barnabas ab.
29 Dass Amalia dem Befehl Sortinis, ihn im Herrenhof aufzusuchen, nicht gefolgt ist, betrachtet Olga als den Ausgangspunkt ihrer Ausgrenzung. „Hätte sie nur irgendwie zum Schein gefolgt, nur die Schwelle des Herrenhofes zur Zeit gerade überschritten, das Verhängnis hätte sich abwenden lassen“. Und zu Amalias Schuld rechnet Olga außerdem „die Entwürdigung des Sortinischen Briefes [.] und die Beleidigung des Boten.“ Ebd. S. 237.
30 Auch wenn die so genannte Familie Barnabas nie wörtlich als Schmutz bezeichnet wird, werden ihre Mitglieder doch für eine Gefahr für die Reinheit gehalten. „Vielleicht hätte es ohne die glänzenden Leistungen des Vaters am gestrigen Fest gar nicht so weit kommen müssen, aber eben diese Leistungen hätten die amtliche Aufmerksamkeit besonders erregt, der Verein stand jetzt in vollem Licht und mußte auf seine Reinheit noch mehr bedacht sein als früher. Und nun war die Beleidigung des Boten geschehen, da habe der Verein keinen anderen Ausweg gefunden“. Ebd. S. 249. Kursivierung von Robin Kaps hinzugefügt. Ironisch ist dabei natürlich, dass der Vater möglicherweise aufgrund seiner „glänzenden Leistungen“ aus dem Feuerwehrverein entfernt wird. Ironisch, aber stringent, da Schmutz auf der glänzenden Oberfläche umso sichtbarer ist. Somit ist die Reinheit des Vereins, die sich durch die Bemühungen des Vaters erhöht hat, nicht mehr kompatibel mit ihm und dessen Familie, da die Diskrepanz zwischen sauber und schmutzig zu hoch geworden ist. Es handelt sich hierbei um die nichtintendierte Selbstverbannung des Vaters durch die Erhöhung der Reinheit in seinem Umfeld. Weiter sind Angst, Peinlichkeit und die Vermeidung der Berührung Reaktionen des Dorfes auf die Befleckung der Familie; „es war ja, neben der Angst, vor allem die Peinlichkeit der Sache gewesen, weshalb man sich von uns getrennt, einfach um nichts von der Sache zu hören, nicht von ihr zu sprechen, nicht an sie denken, in keiner Weise von ihr berührt werden zu müssen.“ Ebd. S. 254.
31 Kafka: Das Schloß. S. 257. Daneben sieht sich Olga bereits mit K. symbiotisch verbunden und eröffnet ihm ihre Absicht, dafür zu sorgen, dass K. seine „Verbindung mit dem Schloß - von der wir vielleicht leben könnten - nicht verloren geht.“ Ebd. S. 279.
32 Olga: „Man merkte, daß wir nicht die Kraft hatten, uns aus der Briefgeschichte herauszuarbeiten und man nahm uns das sehr übel“. Ebd. S. 257. Kraft und Arbeit werden zur Reinigung benötigt. Wer darüber nicht verfügt, erweckt vor dem Dorf den Anschein der Faulheit. Schließlich sind die kraftlosen Körper von dem Vater und der Mutter tatsächlich faul geworden - sie verrotten - und an dem Verhältnis zwischen Amalia und Olga ist auch etwas faul. Olga verkehrt mit ihrer Schwester auf einer sadistisch sexuellen Ebene. „[I]ch lief, als es mir Barnabas abend [sic!] beim Nachhausekommen zuflüsterte, zu Amalia, packte sie, drückte sie in eine Ecke und küßte sie mit Lippen und Zähnen, daß sie vor Schmerz und Schrecken weinte.“ Ebd. S. 275.
33 Olga und Barnabas finanzieren die Unternehmungen des Vaters und Olga enthält ihm die Information vor, dass sie die Bestechung von Beamten für nutzlos erachtet. „[Der Vater] verfiel auf den Gedanken - und dies zeigte daß er doch schon geistig geschwächt war - man verheimliche ihm die Schuld, weil er nicht genug zahle [.] Er glaubte aber jetzt, er müsse mehr zahlen, was gewiß unrichtig war, dann bei unseren Ämtern nimmt man zwar der Einfachheit halber, um unnötige reden zu vermeiden, Bestechungen an, aber erreichen kann man dadurch nichts. War es aber die Hoffnung des Vaters, wollten wir ihn darin nicht stören. Wir verkauften was wir noch hatten [.] um dem Vater die Mittel für seine Nachforschungen zu verschaffen“. Ebd. S. 260. Daneben verdient Barnabas als Gehilfe von Brunswick Geld. Vgl. ebd. S. 261.
34 Es scheint vorerst, als habe Amalia an dieser Komplizenschaft nicht teil, da der Vater, Olga und Barnabas ihr Vorgehen vor ihr verheimlichen. Aber Amalias Anteil an der Vernichtung der Eltern besteht in der Wiederherstellung der Eltern. Amalia richtet die Körper der Eltern wieder soweit her, dass sie in der Lage sind, ihre Selbstvernichtung fortzusetzen. „Amalia übernahm die Bedienung, die Pflege, die Behandlung, [.] sie leistete alle Arbeiten für die Eltern. [.] Als dann das Schlimmste vorüber war und der Vater vorsichtig und rechts und links gestützt wieder aus dem Bett sich herausarbeiten konnte, zog sich Amalia gleich zurück und überließ ihn uns.“ Ebd. S. 266.
35 Der Versuch der Reinigung verhindert die Reinigung der Familie, die anfangs durch das Vergessen noch möglich gewesen wäre. „selbst wenn wir die Sache nur unvollständig vergessen hätten, man hätte es verstanden und hätte uns geholfen, sie völlig zu vergessen.“ Und so wäre nach Olgas Ansicht „alles gut gewesen“. Kafka: Das Schloß. S. 255. Dass Olga davon ausgeht, dass die Dorfbewohner den Schmutz an ihnen vergessen könnten, belegt noch einmal, dass sie die Befleckung der sog. Familie Barnabas nicht wahrgenommen, sondern nur von ihr gewusst, beziehungsweise die Befleckung angenommen haben.
36 Ebd. S. 257.
37 Frieda ist die Urheberin des Gerüchts von der Beschmutzung der Familie. Die Dorfbewohner „hatten ja auch nicht genau gewußt, um was es sich gehandelt hatte, nur der Bote war, die Hand voll Papierfetzen, in den Herrenhof zurückgekommen, Frieda hatte ihn ausgehen und dann wieder kommen gesehen, paar Worte mit ihm gesprochen und das, was sie erfahren hatte, gleich verbreitet, aber wieder gar nicht aus Feindseligkeit gegen uns, sondern einfach aus Pflicht.“ Ebd. S. 254/255. Diese Pflicht wird später noch eingehender thematisiert und Frieda als Hüterin der Schlossordnung identifiziert, die den Schmutz verrät.
38 Vor allem der Vater der Familie versucht schließlich zum Schloss und den Beamten vorzudringen, um die Schuld und den Schmutz von seiner Familie zu waschen. „Der Vater begann, es begannen die sinnlosen Bittwege zum Vorsteher, zu den Sekretären, den Advokaten, den Schreibern, [.] wenn er durch List oder Zufall doch empfangen wurde, - wie jubelten wir bei solcher Nachricht und rieben uns die Hände“. Ebd. S. 257. Das für Kafkas Figuren charakteristische Reiben der Hände wird von Olga, dem Vater und Barnabas ausgeführt, während sie ihre Reinigung und die Anerkennung ihrer Unschuld imaginieren. Die Geste suggeriert an dieser Stelle den Versuch, den Schmutz von sich abzuwaschen. Dieser läuft allerdings ins Leere, da die Familie, wie beschrieben, als Schmutz definiert wurde. Das Streben nach der Reinigung endet in den aufgeriebenen und abgeriebenen Körpern der Suchenden.
39 Kafka: Das Schloß. S. 236.
40 „Hätte ein Beamter ein derart schreiendes Unrecht getan, wie es nach Deiner Erzählung anfangs mir schien, hätte mich das sehr beschäftigt [...] Nun ändert sich aber nach Deiner Erzählung das Bild“. Ebd. S. 241.