Der Einfluss von pränatalem Stress und Traumata auf die Mutter-Kind-Bindung und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit


Masterarbeit, 2022

128 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

I Theoretischer Teil

1. Einleitung
1.1 Anlass und Ausgangssituation
1.2 Untersuchungsgegenstand und forschungsleitende Frage
1.3 Aufbau und Methoden der Arbeit

2. Relevanz einer pränatalen Psychologie

3. Pränatale Entwicklung
3.1 Die Befruchtung
3.2 Neuronale Entwicklungsprozesse
3.3 Erleben und Verhalten des ungeborenen Kindes
3.3.1 Bewegung
3.3.2 Berührung
3.3.3 Riechen und Schmecken
3.3.4 Hören
3.3.5 Sehen
3.4 Erste Lernerfahrungen

4. Die pränatale Bindung
4.1 Grundlagen der Bindungsforschung
4.2 Forschungsgeschichte der pränatalen Bindung
4.3 Die Entwicklung der pränatalen Bindung
4.3.1 Pränatale Bindungsentwicklung
4.3.2 Pränatale Mutter-Kind-Interaktion

5. Pränataler Stress und Traumata
5.1 Begriffsbestimmungen Stress und Trauma
5.2 Stress und Traumata in der Schwangerschaft
5.2.1 Äußere schädigende Einflüsse
5.2.1.1 Toxische Einflüsse
5.2.1.2 Unter- /Überernährung
5.2.1.3 Überlebte Abtreibungsversuche
5.2.2 Innere schädigende Einflüsse
5.2.2.1 Mütterliche psychische Belastungen
5.2.2.2 Negative mütterliche Einstellung
5.3 Auswirkungen von pränatalem Stress und Traumata
5.3.1 Fetale Programmierung
5.3.2 Epigenetik
5.3.3 Transgenerationale Weitergabe
5.3.4 Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Bindung
5.3.4.1 Bindungsstörungen
5.3.4.2 Auswirkungen der Bindungsstörungen auf das Rechtshirn
5.3.4.3 Spätfolgen von pränatalen Bindungsstörungen

6. Prävention und Intervention von pränatalem Stress und Traumata
6.1. Darstellung ausgewählter Präventions- und Interventions- maßnahmen
6.1.1 Prä- und postnatale Psychotherapie
6.1.2 BabyCare
6.1.3 Mutter-Kind-Bindungsanalyse
6.1.4 Emotionale Erste Hilfe © (EEH)
6.2 Präventions- und Interventionsmaßnahmen der Sozialen Arbeit
6.2.1 Der Allgemeine Soziale Dienst
6.2.2 Frühe Hilfen
6.2.3 Familienhebammen
6.2.4 Schwangerschaftsberatungsstellen
6.2.5 Suchtberatungsstellen
6.2.6 Präventionsprogramm SAFE®
6.2.7 Interventionsprogramm STEEPTM
6.2.8 Traumapädagogik

7. Zusammenfassung des theoretischen Teils

II Empirischer Teil

8. Methode
8.1 Zielsetzung der empirischen Untersuchung
8.2 Methode Vorgehensweise
8.2.1 Leitfadengestütztes Expert:inneninterview.
8.2.2 Qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
8.3 Akquise und Vorstellung der Interviewpartner:innen
8.4 Interviewsetting und -durchführung

9. Darstellung der wesentlichen Ergebnisse
9.1 Persönliche und institutionelle Informationen
9.2 Präventions- und Interventionsmöglichkeiten der Sozialen Arbeit
9.3 Relevanz für die Soziale Arbeit
9.4 Kritik und Zukunftsausblick

10. Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse

11. Diskussion
11.1 Diskussionsansatz
11.2 Handlungsempfehlungen für die Praxis
11.3 Methodenkritik

12. Fazit

Literaturverzeichnis

Anhangsverzeichnis

Anhang 1 Abstract (deutsch)

Anhang 2 Abstract (englisch)

Anhang 3 Leitfaden

Anhang 4 Transkribtionsregeln

Anhang 5 Kodierleitfaden deduktive Kategorien

Anhang 6 Induktive Kategorienbildung

Anhang 7 Einverständniserklärung zum Interview nach dem Bundesdatenschutzgesetz/ der DSGVO

Anhang 8 Expertinneninterview – Transkription Nr. 1

Anhang 9 Expertinneninterview – Transkription Nr. 2

Anhang 10 Expertinneninterview – Transkription Nr. 3

Anhang 11 Expertinneninterview – Transkription Nr. 4

Anhang 12 Expertinneninterview – Transkription Nr. 5

Anhang 13 Eidesstaatliche Erklärung

Abkürzungsverzeichnis

AGFJ Arbeitsgemeinschaft zur Förderung von Kindern und Jugendlichen

Et. al et alii

HHNA Hypothamalus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse

Hrsg. Herausgeber

ICD International Statistical Classification of Diseases and Related Health

Problems

SFK Sozialdienst katholischer Frauen

SGB Sozialgesetzbuch

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Epigenetische Veränderungen durch (schädigende Umwelteinflüsse) treffen nicht nur die werdende Mutter, sondern auch den Fetus und dessen Keimbahnzellen. Aus Brune, B., Brune, T. (2017). Epigenetik: Einfluss auf die fetale Entwicklung. In: Neonatologie Scan 2017; 06: S. 51-70

Abbildung 2: Darstellung der prozentualen Verteilung der drei Bindungstypen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Aus Niederhofer, H. (2006) Welche Langzeitauswirkungen hat die pränatale Mutter-Kind-Bindung? In: Die Hebamme 2006, 19, S. 29

Abbildung 3: Die Säulen der Emotionalen Ersten Hilfe. Aus Mai, G.A. (2014). Emotionale Erste Hilfe: Unterstützung für Eltern mit unruhigen Babys. Bindungsförderung – Krisenintervention – Eltern-Baby-Therapie. Aus Psychologie in Österreich 5. Themenschwerpunkt Schwangerschaft und Geburt, S.347

Abbildung 4 Liste der vollständigen Codes (Reihenfolge von unten nach oben), eigene Darstellung

I Theoretischer Teil

1. Einleitung

Die pränatale Welt ist in der Regel eine uns verborgene Welt, welche dennoch nicht unerhebliche Auswirkungen auf unser Leben hat. Der Zugang zu dieser Welt gelingt erst seit neuester Zeit mittels moderner diagnostischer Verfahren und empirischer Methoden, weshalb sich innerhalb des letzten Jahrhunderts die Erkenntnisse über die pränatale Psychologie maßgeblich erweitert haben. So wurde festgestellt, dass es in dieser pränatalen Welt bereits zu einem intensiven Austausch zwischen Mutter und Kind kommt. Dabei kann das ungeborene Kind im Mutterleib Geborgenheit und Zuneigung erfahren, aber auch Spannung und Ablehnung. Solche Belastungen können die Mutter-Kind-Bindung nachhaltig prägen. Vor allem Stress und traumatische Einflüsse hinterlassen dabei tiefe Spuren. Damit steigt die Bedeutsamkeit geeigneter intervenierender und präventiver Versorgungsangebote erheblich. Die tiefgreifenden Auswirkungen der pränatalen Umstände können reduziert oder gar verhindert werden, wenn die werdende Mutter und ihr ungeborenes Kind umfangreich aufgeklärt und unterstützt werden. Die Soziale Arbeit kann durch verschiedene Angebote, Einrichtungen und Programme eine solche Unterstützung darstellen.

1.1 Anlass und Ausgangssituation

Ausgangspunkt dieser Arbeit sind zwei persönliche Begegnungen mit dem Themengebiet der pränatalen Traumata während meiner Studienzeit an der Hochschule Mannheim. Hierzu zählt die Ringvorlesung zur Einführung in die psychoanalytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie, bei welcher mich vor allem die Seminare zur pränatalen Zeit fesselten, sowie ein Wahlpflichtmodul zum Thema Psychodrama, bei welchem pränatale Stresserfahrungen und Traumata mittels Aufstellungsarbeit dargestellt wurden. So entstand mein Interesse, der Thematik von pränatalem Stress und Traumata sowie deren Auswirkungen auf die Mutter-Kind-Bindung im Rahmen meiner Masterarbeit nachzugehen und auf Aspekte zu untersuchen, die für die sozialarbeiterische Praxis von Bedeutung sind.

1.2 Untersuchungsgegenstand und forschungsleitende Frage

Die vorliegende Arbeit soll demnach Aufschluss darüber geben, inwieweit pränatale Erfahrungen, vor allem pränataler Stress und pränatale Traumata, sich auf das Kind auswirken und die Mutter-Kind-Bindung beeinflussen. Des Weiteren soll aufgezeigt werden, inwiefern durch professionelle sozialarbeiterische Unterstützungsmöglichkeiten präventiv und intervenierend gehandelt werden kann.

Folgende forschungsleitende Fragen wurden daraus abgeleitet und erstellt. Sie sollen als Ziel der vorliegenden Arbeit bearbeitet und beantwortet werden, u. a. auch durch die Verknüpfung von leitfadengestützten Expert:inneninterviews:

1. Welche Auswirkungen haben pränataler Stress und pränatale Traumata auf das ungeborene Kind?
2. Welche Folgen haben pränataler Stress und pränatale Traumata für die Mutter-Kind-Bindung?
3. Welche intervenierenden und präventiven Maßnahmen gibt es? Wie können bestimmte sozialarbeiterische Maßnahmen unterstützen?

Es ist zu beachten, dass sich pränataler Stress und pränatale Traumata nicht nur auf die Mutter-Kind-Bindung auswirken, sondern auch auf die Vater-Kind-Bindung. Aus Gründen des Umfangs dieser Arbeit beziehe ich mich jedoch überwiegend auf die Mutter-Kind-Bindung, um diese angemessen und ausführlich darstellen zu können. Dies soll keinesfalls die Bedeutung der Vater-Kind-Bindung diskreditieren.

1.3 Aufbau und Methoden der Arbeit

Die vorliegende Arbeit ist in einen theoretischen und empirischen Teil gegliedert. Der theoretische Teil basiert auf umfassender Literaturrecherche. Er führt nach der Einleitung durch allgemeine, notwendige Grundlagen der pränatalen Psychologie, pränatalen Entwicklung und pränatalen Bindung, um anschließend die Folgen von Stress und Traumata während der pränatalen Lebenszeit ganzheitlich darstellen zu können. Hierbei wird vor allem auf die pränatale Stressforschung eingegangen. Es wird verdeutlicht, welche äußeren und inneren Einflüsse schädigend auf die intrauterinen Abläufe einwirken können, welche das ungeborene Kind stressen oder gar traumatisieren. Zudem wird ein Überblick gegeben, welche Auswirkungen dies vor allem auf die Mutter-Kind-Bindung zur Folge hat, unter Berücksichtigung der Fetalen Programmierung, der Epigenetik und der transgenerationalen Weitergabe. Es werden die verschiedenen Folgen traumatischer Bindungserfahrungen auf das Gehirn dargestellt sowie die Spätfolgen von pränatalen Bindungsstörungen aufgezeigt. Ein weiterer großer Themenkomplex dieser Arbeit widmet sich den unterschiedlichen präventiven und intervenierenden Unterstützungsmöglichkeiten, vor allem denen der Sozialen Arbeit. Diese umfassen den Allgemeinen Sozialen Dienst, die Frühen Hilfen, Familienhebammen, Schwangerschaftsberatungsstellen, Suchtberatungsstellen, die Präventions- und Interventionsprogramme SAFE® und STEEPTM sowie die Traumapädagogik.

Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit werden die theoretisch erarbeiteten Kenntnisse durch eine empirische Untersuchung in die Praxis umgesetzt. Diese Untersuchung besteht aus fünf qualitativen, leitfadengestützten Expert:inneninterviews aus systemrelevanten Bereichen, wodurch ein Bezug zu Praxiserfahrungen innerhalb dieses Themenkomplexes und der damit verbundenen Forschungsfrage hergestellt wird. Dabei werden die genaue Durchführung und die daraus erhaltenen Erkenntnisse erläutert und diskutiert. Abgerundet wird die Arbeit durch eine zusammenfassende, kritische Stellungnahme und einen Ausblick.

2. Relevanz einer pränatalen Psychologie

Die pränatale, also vorgeburtliche Zeit, galt schon seit Urzeiten als faszinierend und geheimnisvoll und war mit zahlreichen Fantasien und Mythen verbunden (vgl. Krens, Krens, 2005, S. 9). Bis vor wenigen Jahrzehnten galt die verbreitete Annahme, das vorgeburtliche Kind sei von Außenreizen komplett abgeschirmt und ohne jegliches Bewusstsein (vgl. Frenken, 2016, S. 13). Dieser Auffassung nach erfolgte zunächst die körperliche Geburt und erst darauf die Geburt der Psyche. Erst mittels moderner Methoden wie intrauterinen Filmaufnahmen und Ultraschall konnte das Leben eines Kindes im Mutterleib beobachtet und falsche Annahmen widerlegt werden (vgl. Janus, Haibich, 1997, S. 9).

Bei der pränatalen Psychologie bzw. Pränatalpsychologie handelt es sich um eine interdisziplinäre Wissenschaft zur Erforschung der pränatalen Zeit. Relevante Teilgebiete der pränatalen Psychologie sind Hebammenkunst und Geburtsmedizin sowie psychotherapeutische Selbsterfahrung, Reflexion und Verhaltensbeobachtung vor und nach der Geburt. Der Interdisziplinarität wird in diesem Komplex eine besondere Bedeutung zugeschrieben, da sowohl das ungeborene als auch das geborene Kind noch keine direkte Mitbestimmungsmöglichkeit hat und somit jeglichem diagnostischen, therapeutischen und präventivem Handeln eine große Verantwortung übertragen wird (vgl. Ludwig, Linder, 2014, S.12).

Innerhalb der Psychologie gibt es zahlreiche unterschiedliche Ansichten über die Relevanz der pränatalen Zeit. Bereits Freud hat sich immer wieder der pränatalen Zeit angenähert, vor allem unter dem Einfluss von Otto Rank. Freuds Schüler, Otto Rank, welcher als Pionier der prä- und perinatalen Psychologie gilt, veröffentlichte 1924 das Buch „Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse” (vgl. Frenken, 2016, S. 15). In seinem Werk behauptete Rank, dass das Kind die Geburt als ein enormes Angsterlebnis empfindet. Er postulierte damit, dass die Entwicklung der Psyche eines Menschen früher beginnt, als von Freud bisher angenommen. Generell stellte Rank in seinem Buch einige grundlegende Theorien Freuds wie die Kastrationsangst und den Ödipuskomplex in Frage. Es kam zu einem Bruch zwischen Freud und Rank, wenn auch Freud einige Jahre später artikulierte, dass die Geburt ein angstauslösendes Ereignis ist, jedoch ohne merklichen Einfluss auf die Psyche des Kindes (vgl. ebd.). Darauffolgend rückte das Thema der pränatalen Zeit in den Hintergrund und die klassische Annahme der Psychoanalyse über das ungeborene Kind als ein „primärnarzisstisches Wesen, das ohne Ich bzw. Selbst, ohne Objekte, ohne Wahrnehmung und damit ohne Bewusstsein existiert” (Frenken, 2016, S. 15) wurde wieder aufgegriffen und vertreten. Ludwig Janus war es, welcher die Diskrepanzen zwischen Freud und Rank aufgriff und untersuchte. In den weiteren Jahren thematisierte Janus zudem die fehlende Präsenz pränataler Zusammenhänge in der Psychoanalyse (vgl. ebd. S. 16).

Auch heute noch sind einige Forschungsergebnisse der prä- und perinatalen Psychologie umstritten, obwohl die Anzahl wissenschaftlicher Belege über das ungeborene Kind als wahrnehmendes, aktives und auf die Umwelt reagierendes Wesen steigt. Profitiert hat die junge Wissenschaft der pränatalen Psychologie vor allem von den modernen, technischen Möglichkeiten der Ultraschalltechnik, wie bereits eingangs erwähnt (vgl. Rass, 2011, S. 63). Zudem hat die pränatale Psychologie durch Befunde anderer Wissenschaften wie aus der Säuglingsforschung, der Psychotraumatologie und der Stress- und Hirnforschung an Relevanz gewonnen (vgl. Janus, 2006, S. 55). Die Erkenntnisse der pränatalen Psychologie bieten wertvolle Orientierungsmöglichkeiten für eine bessere seelische Entwicklung des ungeborenen Kindes, vor allem durch die Förderung der Elternkompetenz. Die seelische Entwicklung hängt maßgeblich davon ab, inwiefern die Eltern dem ungeborenen Kind einen Raum zur Entfaltung der Seele und Beziehung geben können (vgl. Janus, 2006, S. 66).

3. Pränatale Entwicklung

Die früheste Entwicklungsphase eines Menschen, die pränatale Entwicklung, ermöglicht diesem zu fühlen, zu denken, zu lernen, sich zu erinnern und sich zu bewegen. Sie ermöglicht dem Menschen das Leben. Während dieser Entwicklungsphase entsteht aus zunächst unspezialisierten Zellen ein kompliziertes, miteinander verschaltetes Netzwerk aus Nervenzellen. Dabei gestaltet sich die Verknüpfung der Nervenzellen höchst individuell und bildet somit die Grundlage einer jeweils einzigartigen menschlichen Persönlichkeit (vgl. Roth, Strüber, 2012, S. 4).

Eine Frage, welche sich aus der Thematik ergibt und welche immer wieder für intensive und kontroverse Diskussionen führt, ist die Frage, zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung das Leben beginnt. Beginnt das Leben und die Entwicklung eines Bewusstseins, einer Persönlichkeit eines Menschen bereits bei der Befruchtung oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zwischen Befruchtung und Geburt? Bereits Aristoteles hatte sich diese Frage über den Beginn des Lebens gestellt. Er lehnte zugunsten der Epigenese die Idee der Präformation ab, bei welcher das pränatale Leben mit einem bereits vorgeformten Individuum beginnt, sondern vertrat die Ansicht, dass sich bei der Entwicklung eines Individuums erst nacheinander neue Strukturen herausbilden (vgl. Siegler et al., 2021, S. 45 ff.) Einige Befunde aus der Säuglings- und Pränatalforschung liefern relevante Erkenntnisse über eine dynamische Entwicklung, weshalb die heutige Pränatalforschung eine epigenetische Ansicht vertritt. Es wird demnach nicht von einem Widerspruch zwischen Erbe und Umwelt ausgegangen, sondern von einer sich gegenseitig beeinflussenden Einheit (vgl. Nossent, 2005, S. 15). Für den Versuch, solch existenzielle Fragen zu beantworten, ist ein biologisches Grundverständnis über die pränatale Entwicklung erforderlich, welches im folgenden Kapitel vermittelt wird.

3.1 Die Befruchtung

Jede menschliche Entwicklung beginnt mit der Befruchtung der Eizelle. Dieser Vorgang wird auch als Konzeption bezeichnet (vgl. Siegler et. al., 2021, S. 45 ff.). Die Vereinigung zweier hochspezialisierter Zellen zu einer einzigen Zelle findet durch Interaktion und Kommunikation zwischen diesen beiden Zellen statt. Der Prozess der Befruchtung beginnt mit der Entlassung einer Eizelle aus den Eierstöcken der Frau. Während das Ei in Richtung Gebärmutter wandert, sendet es Signale ab, welche Spermien anziehen. Falls es in dieser Zeit zu Geschlechtsverkehr kommt, wird die Befruchtung möglich. Ist das Spermium in die Eizelle eingedrungen, werden eine Reihe biochemischer Reaktionen ausgelöst, welche zu einer Schwangerschaft führen können. Die Membran wird versiegelt, wodurch es anderen Spermien nicht mehr gelingt, einzudringen. Zudem fällt der Schwanz des Spermiums ab und der Inhalt des Kopfes, welcher die Erbsubstanz trägt, dringt in die Eizelle ein. Nun verschmelzen sich die Zellkerne der beiden Zellen. Die befruchtete Eizelle, welche als Zygote bezeichnet wird, besitzt einen vollständigen Satz des menschlichen Genmaterials. Ein neuer Organismus ist entstanden (vgl. ebd.). In den ersten Tagen nach der Befruchtung wandert die Zygote durch den Eileiter in die Gebärmutter. Die gesamte Phase der Befruchtung bis zur Einnistung der befruchteten Eizelle in die Gebärmutter wird als Zygotenstadium bezeichnet. Hierauf folgt das Embryonalstadium, von der dritten bis zur achten Lebenswoche, in welchem bereits erste Differenzierungen von Organsystemen stattfinden (vgl. Lohaus et. al., 2010, S. 70).

In der Gebärmutter angekommen, entwickeln sich die inneren Zellen zum Embryoblasten und die äußeren Zellen zum Trophoblasten. Während der Embryoblast weiter zum Embryo reift, ist der Trophoblast vor allem an der Ausbildung des pränatalen Versorgungssystems beteiligt. Nach ungefähr sechs Tagen heftet sich die Zygote schließlich an die Gebärmutterwand an. Ab diesem Zeitpunkt entsteht eine Interaktion zwischen Mutter und Kind, da der mütterliche Organismus eine Blutzufuhr entwickelt, womit das Kind durch die Plazenta versorgt wird (vgl. Moll, 2006, S. 22 ff.). In den folgenden Wochen reift das Versorgungssystem weiter heran, ab der dritten Woche nimmt die Nabelschnur ihre Funktion auf. Die Nabelschnur verbindet das Embryo mit der Plazenta. Durch diese laufen Blutgefäße, welche für den Stoffwechsel sowie den Sauerstoffaustausch verantwortlich sind. Auch die Plazenta leistet eine Reihe an Aufgaben. Sie ist das Bindeglied zwischen Mutter und Kind, sie versorgt, nährt und schützt das Kind im Bauch der Mutter. Durch die Produktion von Hormonen wird die Schwangerschaft geschützt und aufrechterhalten. Ebenso verhindert die Plazenta, dass Schadstoffe oder Krankheitskeime in den embryonalen Organismus übergehen. Jedoch kann die Plazenta nicht verhindern, dass Alkohol, Nikotin, Medikamente oder Umweltgifte in den Organismus gelangen (vgl. Siegler et al., 2021, S. 47).

Auf das Embryonalstadium folgt ab der neunten Schwangerschaftswoche bis zur Geburt das Fötalstadium. Die Informationen werden zunehmend sensorisch aufgenommen, da die Entwicklung der Sinnesorgane stetig voranschreitet. Alle wesentlichen Sinnesorgane sind dementsprechend schon vorgeburtlich ausgebildet und werden nach der Geburt weiterentwickelt. Neben der sensorischen Entwicklung sind im Fötalstadium bereits erste Verhaltensweisen wie Bewegungen, Lernerfahrungen und Schlaf-Wach-Rhythmen erkennbar (vgl. Lohaus et. al., 2010, S. 71 ff.).

3.2 Neuronale Entwicklungsprozesse

Die jeweiligen Entwicklungsprozesse des ungeborenen Kindes sind nicht voneinander getrennt zu betrachten. Das Embryo ist von Beginn an ein lebendiger Organismus, welcher auf die Umgebung reagiert und sich dieser anpasst (vgl. Gross, 2003, S. 55). Zentrale Körperfunktionen werden demnach schon während der Ausformung des Körpers geübt, wodurch das Lernen des Kindes und die Entwicklung weder vor oder nach der Geburt voneinander trennbar sind. Die pränatale Entwicklung bildet die Grundlage der späteren Fähigkeiten des Menschen. Sowohl positive als auch negative Einflüsse können auf diese einwirken und eine langfristige Auswirkung auf die nachfolgende Entwicklung sowohl von kindlichen als auch von erwachsenen Fähigkeiten haben. Solche pränatalen Einflüsse, auf welche in Kapitel 5.2 näher eingegangen wird, sind anhand der pränatalen Hirnentwicklung erkennbar (vgl. Hüther, Krens, 2010, S. 54).

Noch während des Embryonalstadiums entwickelt sich entlang des Rückenmarks aus den ektodermalen1 Zellen ein Rohr aus diesem Zellgewebe, das Neuralrohr. Hieraus differenzieren sich im Kopfbereich Hirnstamm, das Kleinhirn, das Mittelhirn und das Großhirn. Im Körperbereich differenzieren sich neben dem Neuralrohr die Spinalganglien sowie das periphere Nervensystem. Im Fetalstadium kommt es zu weiteren Ausweitungen des zentralen und peripheren Nervensystems sowie zu einer starken Zunahme der Großhirnrinde. Aufgrund weiterer Ausdifferenzierungen der Zellverbände entsteht die typische Struktur des menschlichen zentralen Nervensystems. Im Laufe der Evolution haben sich dabei jene Gehirnabschnitte vergrößert, welche dem Menschen das lebenslange Lernen ermöglichen. Hierzu zählen der motorische, der somato-sensorische, der visuelle und der auditorische Abschnitt (vgl. Thyen et al., 2012, S. 6).

Das sich langsam entwickelnde Gehirn beginnt nun Fortsätze zu bilden, welche wiederum durch Signalstoffe in ihrem Wachstum geleitet werden und sich so miteinander verzweigen und synaptische Kontakte bilden. Dadurch entsteht ein dichtes Netzwerk zwischen den Nervenzellen, wodurch sich elektrische Erregungsmuster bilden, welche Lernvorgänge ermöglichen. Durch ein solches Erregungsmuster können Reaktionen ausgelöst werden, welche ihre eigenen Auslöser abzustellen versuchen. Ist dies erfolgreich, entsteht durch häufige Aktivierung und Übung eine erlernbare Reaktionskette, wodurch die Bewältigung verschiedener Aufgaben erlernt wird. So nehmen beispielsweise Zellen zu Beginn einer Reaktionskette Signale sowohl aus der Außenwelt als auch aus dem Gehirn auf, formen diese und leiten sie weiter, wodurch Sinneszellen entstehen. Die Zellen am Ende einer Reaktionskette sind spezialisiert auf das Weiterleiten einer Erregung an die Körperzellen, was eine bestimmte Reaktion auslöst, z. B. in Form von Hormonausschüttung oder Muskelkontraktionen. Im Stammhirn sowie Mittel- und Zwischenhirn werden neuronale Verschaltungen intrauteriner angelegt. Hier werden die unmittelbar überlebenswichtigen Funktionen gesteuert. Das Vorderhirn jedoch reift erst allmählich nach der Geburt aus (vgl. Hüther, Krens, 2010, S. 61 ff.). Das Kind wird demnach mit einem noch nicht ausgereiften Gehirn geboren, doch genau das unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen. Die Unreife des menschlichen Gehirns bei der Geburt erlaubt die Förderung weiterer Entwicklung kognitiver und sozial-emotionaler Fähigkeiten durch extrautinere Umwelterfahrungen. Dies bedeutet, dass das menschliche Gehirn weniger durch angeborene Verhaltensweisen gebildet wird, sondern vielmehr durch deren Lernvorgänge (vgl. Thyen et al., 2012, S. 6).

3.3 Erleben und Verhalten des ungeborenen Kindes

Wie bereits eingangs erwähnt, wurde pränatales Erleben und Verhalten erst in jüngeren experimentellen Studien Gegenstand der Forschung, da lange Zeit die Ansicht eines passiven und inaktiven Ungeborenen vertreten wurde. Auch wenn daher die Forschung noch in den „Kinderschuhen” steckt, ist dennoch mittlerweile bekannt, dass pränatales Erleben und Verhalten kein irrelevantes Nebenprodukt allgemeiner Entwicklungsprozesse ist, sondern eine enorme Relevanz für die weitere Entwicklung des Kindes darstellt. Immer mehr Studien belegen die bereits komplexen und fortgeschrittenen Kompetenzen von Neugeborenen (vgl. Hepper, 2005, S. 64 ff.).

Die vom Ungeborenen gezeigten Verhaltensweisen sichern zunächst sein Überleben in der intrauterinen Welt. Das Erleben und Verhalten sind der intrauterinen Umgebung angepasst. Allerdings liegen bisher nur wenige Studienergebnisse vor, um welche pränatalen, überlebensorientierten Verhaltensweisen es sich genau handelt. Zudem ist das pränatale Erleben und Verhalten eine relevante Vorbereitung für das Leben nach der Geburt (vgl. ebd., S. 76).

3.3.1 Bewegung

Bereits ab der fünften oder sechsten Woche nach der Befruchtung können spontane Bewegungen beobachtet werden. Mit zunehmendem Voranschreiten der Schwangerschaft sind diese Bewegungen für die werdende Mutter immer deutlicher spürbar. Ein früh erkennbares Verhaltensmuster ist der Schluckauf. Theorien besagen, dass es sich hierbei um einen Aufstoßreflex handelt, welcher das Ungeborene darauf vorbereitet, Luft aus dem Magen hervorzustoßen. Dies hilft dem Neugeborenen, bei der Nahrungsaufnahme mehr Platz für die Milch im Magen zu verschaffen. Ein weiterer wichtiger Reflex ist der Schluckreflex. Auch dieser bereitet das Kind für das extrauterine Überleben vor. Das Ungeborene trinkt Fruchtwasser und scheidet es größtenteils wieder in die Fruchtblase aus. Die Vorbereitung auf das Atmen wird ebenfalls als pränatale Bewegung angesehen, denn hierzu trainiert das Ungeborene die Lungen durch Auf- und Abbewegungen. Hierbei werden anstatt Luft kleine Mengen an Fruchtwasser eingesogen. Zu Beginn tritt das fötale Atmen noch sehr unregelmäßig auf, wird aber mit zunehmender Zeit, vor allem gegen Ende der Schwangerschaft, immer häufiger und regelmäßiger (vgl. Siegler et al., 2021, S. 55).

3.3.2 Berührung

Das erste pränatale Verhalten in Bezug auf Berührung haben Forscher in der siebten Schwangerschaftswoche beobachten können, als ein Haar das Ungeborene an der Wange streifte. Durch Bewegungen wie das Wegdrehen des Kopfes versuchte das Ungeborene, dem Haar aus dem Weg zu gehen. Im Laufe der Entwicklung nimmt die Berührungsempfindlichkeit immer mehr zu. Ab der 10. Woche werden die Genitalien empfindsam, in der 11. Woche die Arme, Handflächen, Beine und eine Woche später die Fußsohlen. Ab der 17. Woche reagiert die gesamte Hautoberfläche des Ungeborenen auf Berührungen (vgl. Janus, Haibich, 1997, S. 28). Vor allem im letzten Schwangerschaftsdrittel sucht das Ungeborene aktiv nach Kontakt, beispielsweise durch das Berühren des eigenen Körpers oder das Spielen mit der Nabelschnur. Zudem nimmt es die Berührungen des Bauches von außen durch die Eltern wahr (vgl. Hüther, Krens, 2010, S. 70).

Durch intrauterine Berührungen kann das ungeborene Kind Informationen über die Umwelt aufnehmen. Die Haut sensibilisiert den Körper für Berührungen, auf welche mit entsprechendem Verhalten reagiert wird. Anhand dieser intrauterinen Berührungen sammelt das Ungeborene wertvolle Erfahrungen der Selbstwahrnehmung. Dabei findet bereits eine Wertung statt, die Berührung wird als angenehm oder unangenehm bewertet. Wann genau eine Berührung als unangenehm oder gar schmerzhaft empfunden wird, ist noch nicht eindeutig. Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde noch angenommen, dass Neugeborene überhaupt keinen Schmerz empfinden, weshalb bei Operationen gänzlich auf die Narkose verzichtet wurde. Auch wenn noch nicht der genaue Zeitpunkt der Schmerzempfindung erforscht werden konnte, so ist sich die Wissenschaft doch einig darüber, dass bereits Ungeborene Schmerz empfinden. Bei einer Fruchtwasseruntersuchung, welche in der Regel zwischen der 14. und 16. Schwangerschaftswoche durchgeführt wird, wendet sich das Ungeborene von der Nadel ab. Ebenso sind bei solchen Untersuchungen erregte Körper- und Atembewegungen sowie hormonelle Stressreaktionen zu erkennen (vgl. ebd., S. 71). Auch durch Frühgeborene konnte ab der 23. Woche eine Schmerzreaktion in der Mimik und Motorik des Kindes beobachtet werden (vgl. Verny, Weintraub, 2003, S. 35).

3.3.3 Riechen und Schmecken

Im Mutterleib ist es schwierig, zwischen Geschmack und Geruch zu unterscheiden, da die amniotische Flüssigkeit im Fruchtwasser sowohl die Geruchs- als auch die Geschmacksnerven stimuliert. Aus diesem Grund wird der Geruchs- und Geschmackssinn zusammengefasst betrachtet. Das Fruchtwasser enthält eine Vielzahl unterschiedlicher Geschmacksstoffe, welche u. a. von der Ernährungsweise der Mutter beeinflusst werden (vgl. Hüther, Krens, 2010, S. 72 ff.). Untersuchungen zeigten, dass Ungeborene bei süßlich schmeckendem Fruchtwasser, welchem zuvor Saccharin injiziert wurde, häufiger schluckten. Seltener schluckten sie, wenn dem Fruchtwasser Lipiodol, ein Schadstoff, injiziert wurde (vgl. DeSnoo, 1937). Die Studie belegt demnach, dass Ungeborene über einen funktionierenden Geschmackssinn verfügen und zwischen verschiedenen Geschmäckern differenzieren können. Zudem zeigen Neugeborene eine Vorliebe für den Geruch der eigenen Mutter gegenüber dem Geruch fremder Frauen, was auf intrauterine Geruchs- und Geschmackserfahrungen hinweist (vgl. Hepper, 2005, S. 70).

3.3.4 Hören

Dadurch, dass für das Ungeborene auditorische Reize leicht zu verarbeiten sind, liegen hierüber die meisten Forschungsergebnisse vor. Ab der 20. bis 24. Schwangerschaftswoche löst ein auditorischer Reiz eine motorische Reaktion aus, ab der 28. Schwangerschaftswoche eine Steigerung der Herzrate. Die Reaktion des Ungeborenen ist dabei von der Art des Geräusches, der Intensität sowie von Häufigkeit und Dauer abhängig. Laute Geräusche lassen das Kind erschrecken, leise Geräusche hingegen aufmerksam zuhören. Zu den intrauterinen auditiven Reizen zählen der Herzschlag der Mutter, die Darmgeräusche sowie Geräusche anderer Organe. Vor allem der Herzschlag der Mutter vermittelt dem Kind eine vertraute Geborgenheit, auch noch nach der Geburt (vgl. Gross, 2003, S. 62 ff.). Doch auch Geräusche der Außenwelt werden bereits vom ungeborenen Kind wahrgenommen. Besonders die mütterliche Stimme, welche zusätzlich über die Knochen des Beckens und der Wirbelsäule übermittelt wird, hat eine prägende Wirkung auf das Ungeborene. Anhand des Hörsinns werden die Erinnerungsfähigkeiten eines Ungeborenen deutlich. DeCasper und Fifer konnten beispielsweise in ihrem Experiment aufweisen, dass Neugeborene nach nur kurzer Interaktion mit der Mutter verstärkt an jenem mit Elektronik verbundenen Schnuller saugten, bei welchem durch das Saugen die Mutterstimme abgespielt wurde. Dies verdeutlicht, dass die mütterliche Stimme bereits pränatal eine signifikante Rolle für die Entwicklung des Kindes spielt und somit auch die Mutter-Kind-Bindung beeinflusst (vgl. DeCasper et. al. 1980). Auf die Beeinflussung der Mutter-Kind-Bindung wird in der vorliegenden Arbeit noch näher eingegangen.

3.3.5 Sehen

Da es im Mutterleib sehr dunkel ist, wenn auch nicht vollständig dunkel, sind die visuellen Erfahrungen des Ungeborenen begrenzt. Ab der 16. Woche sind Ungeborene lichtempfindlich und ab der 18. Woche öffnen sie ihre Augen. Trotz der visuellen Begrenztheit können Ungeborene bis zum letzten Drittel der Schwangerschaft visuelle Informationen verarbeiten und weisen visuelle Präferenzen auf. Die vollständige Ausreifung der Augen beginnt jedoch erst nach der Geburt (vgl. Hüther, Krens, 2010, S. 74).

3.4 Erste Lernerfahrungen

Eine weitere Fähigkeit, welcher die Forschung viel Aufmerksamkeit widmet, ist die pränatale Lernfähigkeit. Die Entwicklung der Lernfähigkeit ist eng verbunden mit der Entwicklung der Sinnesorgane, denn ohne diese wäre das Ungeborene nicht in der Lage, Reize aufzunehmen und zu verarbeiten. Ungeborene sammeln während ihrer Zeit im Mutterleib unterschiedlichste Eindrücke, sowohl durch die intrauterine als auch durch die extrauterine Umwelt. Wissenschaftliche Belege zum fetalen Lernen liefern Untersuchungen zur Habituation und zum Expositionslernen (vgl. Siegler et al., 2021, S. 57).

Die Habituation wird definiert als „eine einfache Form des Lernens, die sich in einer Abnahme der Reaktion auf wiederholte oder andauernd dargebotene Reize zeigt” (ebd.). Spielt man einem Neugeborenen beispielsweise eine unbekannte Melodie vor, so wird es sich der Melodie zuwenden. Kurzfristig kann sich auch die Pulsfrequenz des Kindes verändern, als Zeichen von Interesse. Nach mehrmaligem Vorspielen der Melodie wird die Reaktion des Kindes auf diese abnehmen. Die abnehmende Reaktion belegt, dass das Kind lernt und sich erinnert. Die Melodie als Reiz verliert an Neuheitswert. Ungeborene zeigen bereits ab der 30. Schwangerschaftswoche eine Gewöhnung an visuelle und auditive Reize. Dies zeigt, dass das zentrale Nervensystem dahingehend entwickelt ist, das Kurzzeitgedächtnis einzusetzen und zu lernen (vgl. ebd.). Ein Reiz, über den die Ungeborenen lernen, ist die Stimme der Mutter. Das bereits dargestellte Experiment von DeCasper und Fifer ist ein solches Experiment, welches verdeutlicht, dass Neugeborene sich an die mütterliche Stimme erinnern. Auch mittels Gerüchen und Geschmäckern lernen Ungeborene bereits in der Gebärmutter. Neugeborene erinnern sich an den Geruch des Fruchtwassers, von dem sie im Mutterleib umgeben waren. Zudem bevorzugen sie bestimmte Gerüche und Aromen, welche denen ähneln, die die Mutter während der Schwangerschaft über als Nahrung zu sich nahm. Eine Studie von Menella et al. (2001) bat schwangere Frauen, während der letzten drei Wochen ihrer Schwangerschaft regelmäßig Karottensaft zu trinken. Es zeigte sich, dass ihre Babys im Alter von fünfeinhalb Monaten Haferflocken bevorzugten, welche mit Karottensaft angerührt waren, anstelle von Haferflocken, welche mit Wasser angerührt waren. Solch pränatale Erfahrungen können sogar zu Geschmackspräferenzen bis ins Erwachsenenalter führen, was auf die anhaltende Wirkung des pränatalen Lernens hinweist.

Die Mehrheit der Untersuchungen, welche sich dem pränatalen Lernen widmen, befasst sich mit dem Expositionslernen. In solchen Studien wird das ungeborene Kind wiederholt einem Reiz ausgesetzt, unter natürlichen oder experimentellen Bedingungen. Zu einem späteren Zeitpunkt wird der Reiz erneut wiederholt, wobei an der kindlichen Reaktion abgelesen werden kann, ob hier ein Lernen stattgefunden hat. Auch Studien zum klassischen Konditionieren mittels verschiedener Musikstücke berichten erfolgreich über pränatales Lernen. So wurden dem Ungeborenen verschiedene Musikstücke mit Entspannungsphasen dargeboten. Noch nach der Geburt waren die Kinder beim Abspielen der Musik entspannter (vgl. Hepper, 2005, S. 75).

4. Die pränatale Bindung

Wann fängt Bindung an? Ab wann baut ein Mensch eine Beziehung zu anderen auf? Bindung und Beziehung beginnen nicht erst nach der Geburt, denn die Schwangerschaft ist nicht nur eine Zeit der rein biologischen Entwicklung, sondern auch eine Zeit der seelischen und geistigen Entwicklung. Barbara Findeisen, eine amerikanische Psychotherapeutin und Präsidentin der Amerikanischen Gesellschaft für Pränatale Psychologie, benutzt die Metapher der Melodie des Lebens, welche ihre Wurzel bereits im Mutterleib hat. Diese Melodie sei es, welche das Leben eines Menschen dahingehend prägt, ob ein Mensch Vertrauen, Liebe und Lebendigkeit spürt oder aber Isolation, Angst und Rückzug. Die Melodie spiegelt sich dabei in der späteren Fähigkeit wider, Beziehungen mit anderen einzugehen und ob ein Mensch sich selbst akzeptieren und annehmen kann oder sich selbst ablehnt. Welche „Melodie” ein ungeborenes Kind im Mutterleib erfährt, hängt also maßgeblich von der Mutter-Kind-Bindung ab (vgl. Alberti, 2012, S. 75).

Um zu verstehen, welche Auswirkungen pränataler Stress und Traumata auf die Mutter-Kind-Bindung haben können, wird zunächst in diesem Kapitel dargestellt, was überhaupt unter Bindung und speziell pränataler Bindung verstanden wird und wie sich diese entwickelt.

4.1 Grundlagen der Bindungsforschung

Bevor sich die Wissenschaft gezielt mit der pränatalen Bindung befasste, begründete John Bowlby, der Pionier der Bindungsforschung, in den 1950er Jahren die Bindungstheorie. Die Bindungstheorie umfasst verschiedene Betrachtungsebenen. Sie befasst sich mit der emotionalen Entwicklung eines Menschen, mit seinen lebensnotwendigen soziokulturellen Erfahrungen sowie mit den psychischen und emotionalen Folgen, welche frühe Bindungserfahrungen mit sich bringen können. Die Bindungstheorie nach Bowlby besagt, dass Bindung ein primäres Bedürfnis ist, welches gleich nach der Geburt beginnt, indem der Säugling Nähe und Schutz einer Bezugsperson sucht. Bindung kennt weder Raum noch Zeit. Kummer, Trauer und Angst betrachtet Bowlby als Reaktion auf ein unerfülltes Bindungsbedürfnis (vgl. Grossmann & Grossmann, 2004, S. 31 ff.).

In den 1950er Jahren begann auch die Zusammenarbeit zwischen Bowlby und Mary Ainsworth, einer kanadischen Psychologin. Sie war die erste Forscherin, welche die Bindungsentwicklung empirisch untersuchte. Ainsworth beschäftigte sich intensiv mit dem Einfluss von Trennung auf die kindliche Entwicklung. Ihre Forschung basiert vor allem auf dem Test der fremden Situation. Dieser diente der Untersuchung des individuellen Bindungs- und Explorationsverhalten bei Kindern zwischen 12 und 18 Monaten (vgl. Bolten, 2009, S. 64). In diesem Test wurden jeweils ein Kind und dessen Mutter in einen Raum mit einem Spielzeug geführt. Daraufhin trat eine für das Kind fremde Person in den Raum, während gleichzeitig die Mutter den Raum verließ, sodass das Kind mit der fremden Person im Raum war. Kurz darauf betrat die Mutter wieder den Raum, verließ ihn aber anschließend wieder. Dann verließ auch die fremde Person den Raum, sodass das Kind eine kurze Zeit alleine war. Während dieser Zeit wurde das Kind gefilmt. Die Analyse des Videomaterials ließ auf unterschiedliche Bindungstypen schließen. Ainsworth kategorisierte aufgrund des Experiments die Bindungsqualitäten in unsicher-vermeidende Bindung, sichere Bindung, unsicher-ambivalente Bindung sowie unsicher-desorganisierte Bindung. Die entscheidende Determinante für die Bindungsqualität stellte die Feinfühligkeit der Mutter als elementare Bezugsperson dar. Bis heute wird der Fremde-Situation-Test als Grundlage zur Ermittlung der Bindungsqualitäten eingesetzt (vgl. Keller, 2013, S. 175 ff.).

Kinder, welche der unsicher-vermeidenden Bindung zuzuordnen sind, lassen sich in ihrer Exploration nicht einschränken, auch wenn die Mutter den Raum verlässt. Das Kind hat vermutlich erfahren, dass die Eltern die kindlichen Bedürfnisse nicht bzw. nur unzureichend befriedigen, da das Kind seine Bedürfnisse nicht zeigt. In der weiteren Entwicklung kann dies dazu führen, dass das Kind schwer mit negativen Emotionen und Frust umgeht sowie ein negatives Selbstbild entwickelt (vgl. ebd.).

Dem sicheren Bindungsmuster werden jene Kinder zugeordnet, die es gewohnt sind, dass ihre Bezugspersonen sie in angst- oder stressauslösenden Situationen zuverlässig emotional und physisch unterstützen, ihnen beim Spielen und Erkunden Rückhalt geben und auf die kindlichen Signale feinfühlig reagieren. Auf die Abwesenheit der Mutter reagierten die Kinder mit Weinen und Schreien, beruhigten sich aber schnell, sobald die Mutter wieder in den Raum kam. In Beziehungen zeigen sicher gebundene Kinder offen ihren Wunsch nach Bindung, sind beziehungsorientiert und suchen in Belastungssituationen Unterstützung durch ihre Bezugspersonen. In ihrer Selbsteinschätzung sind sie flexibel und offen. Sie achten auf sich und ihre Bedürfnisse und haben ein positives Selbstwertgefühl (vgl. Bowlby, 2018, S. 101).

Kinder, die dem unsicher-ambivalenten Bindungsmuster zugeordnet werden, weisen eine stetige Unsicherheit darüber auf, ob sie mit der unterstützenden Zuwendung ihrer Bezugspersonen rechnen können. Aus dieser Unsicherheit heraus resultiert die Entwicklung von Trennungsängsten, welche sich auf ihr weiteres Verhalten auswirken. Dieses Bindungsmuster basiert häufig auf real erlebten oder angedrohten Trennungen von den Bindungspersonen oder aus dem nur in bestimmten Situationen erlebten Beistand durch diese. Diese Kinder zeigten auch in Anwesenheit der Mutter nur wenig Explorationsfreude und wirkten verunsichert. Kinder, welche dieses Bindungsmuster aufweisen, zeigen zwar vermehrt den Wunsch nach Bindung, ihre Strategien in Bezug auf ihr Bindungsverhalten sind dagegen eher unklar und ambivalent, wobei sie ständig die Aufmerksamkeit ihrer Bindungspersonen suchen. Das Selbstbild und das Selbstvertrauen dieser Kinder sind eher negativ und schwach ausgeprägt (vgl. ebd.).

Kinder, welche ein unsicher-desorganisiertes Bindungsmuster aufweisen, reagieren auf die Trennung von der Mutter desorganisiert und eigenwillig. Diese Verhaltensweisen werden häufig bei Kindern beobachtet, die nicht eindeutig einem der anderen Bindungsmuster zugeordnet werden können, wobei sie besonders oft eine unstrukturierte Modifikation der unsicher-ambivalenten Bindung aufweisen. Kinder mit unsicher-desorgansiertem Bindungsmuster leiden meistens unter psychischen Belastungen, die auf die unzureichend sichere Bindung und Fürsorge ihrer Bezugspersonen zurückzuführen sind. Oft legen misshandelte und/oder stark vernachlässigte Kinder dieses Bindungsmuster an den Tag. Auch Kinder, deren Bindungspersonen häufig unberechenbar in ihrem Verhalten ihm gegenüber sind, da sie z. B. an psychischen Störungen leiden, weisen vermehrt das desorganisierte Bindungsmuster auf, da sie das Verhalten ihrer Bezugspersonen nicht adäquat vorhersagen können. Die Bindungspersonen können dem Kind aufgrund ihrer psychischen Belastungen oder eigens erlebten unverarbeiteten (Bindungs-) Erfahrungen meistens nicht die Fürsorge und Unterstützung bieten, die nötig wäre, damit das Kind eindeutige Bindungsstrategien entwickeln kann. Die unsicher-desorganisierte Bindung ist am stärksten mit negativen psychischen Auswirkungen und beginnendem pathologischem Verhalten verbunden (vgl. Lengning & Lüpschen, 2019, S. 20 ff.).

Bowlby ergänzte im Laufe der Jahre die Bindungstheorie um sein Konzept der inneren Arbeitsmodelle. Laut diesem wird die Art und Weise, wie sich das Bedürfnis nach Exploration und Bindung im konkreten Verhalten zeigt, durch innere Arbeitsmodelle beeinflusst, wodurch das Selbstkonzept des Kindes geformt wird. Eine sichere Bindung geht mit einem positiven Selbstkonzept einher, eine unsichere Bindung jedoch mit negativen Selbstkonzept. Die inneren Arbeitsmodelle können aufgrund wiederholter vergangener Interaktionsmuster das Verhalten der Bindungsperson interpretieren und vorhersagen. Zudem dienen sie der eigenen Regulierung des Bindungsverhaltens sowie der Gedanken und Gefühle (vgl. Bretherton, 2010, S. 13).

Trotz der verhaltensbiologischen Ausrichtung der Bindungstheorie wurde das Zusammenspiel zwischen biologischen bzw. physiologischen Systemen und dem Bindungsverhalten lange Zeit kaum erforscht. Als in den 1980er Jahren Kritik an Ainsworths Experiment der fremden Situation geäußert wurde, änderte sich dies. Es wurde u. a. der Frage nachgegangen, ob bei Kindern mit unsicher-vermeidendem Bindungsmuster in der fremden Situation überhaupt das Bindungssystem aktiviert wird. Zudem untersuchten Studien eine Vielzahl von neuroendokrinen und neuronalen Veränderungen als Ergebnis von Stresserfahrungen in der frühen Kindheit (vgl. Bolten, 2009, S. 66).

Die pränatale Psychologie plädiert jedoch dafür, dass Bindungsforschung nicht erst postnatal betrachtet werden sollte. Diese Forderung vertreten ebenso zahlreiche Forscher:innen, welche bereits vor einigen Jahrzehnten damit begannen, die Bindung und Beziehung zwischen Mutter und Kind bereits im Verlauf der Schwangerschaft zu untersuchen. Die Geschichte der pränatalen Bindung wird daher im nun folgenden Kapitel näher dargestellt.

4.2 Forschungsgeschichte der pränatalen Bindung

Wie eingangs erwähnt, legte Rank durch die Behauptung, die Psyche des Menschen begänne früher, als von Freud angenommen, den Fokus erstmalig wissenschaftlich auf das pränatale Leben. Daraufhin begannen in den 50er und 60er Jahren erste Erklärungsversuche über das mütterliche Erleben und Verhalten während einer Schwangerschaft, im Unterschied zu Ainsworth und Bowlby, welche dies ausschließlich postnatal betrachteten. Denn im Gegensatz zur Untersuchung der Bindung nach der Geburt kann die pränatale Bindung nicht standardisiert beobachtet werden. Die pränatale Bindung wird mittels der Eindrücke der werdenden Mütter ermittelt, wodurch die Rückschlüsse auf die Mutter-Kind-Bindung begrenzt sind, aber dennoch eine reliable Option bieten, die Beziehung der werdenden Mütter zu ihren Kindern zu erfassen (vgl. Niederhofer & Reiter, 2002, S. 91 ff.). Caplan thematisierte 1957 explizit die pränatale Bindung durch die Anmerkung, dass Bindung nicht erst zum Zeitpunkt der Geburt eintritt, sondern schon vorgeburtlich beginnt und mütterliche Befindlichkeiten, wie z. B. Stress oder Depression, einen Einfluss auf das ungeborene Kind im Mutterleib haben (vgl. Caplan, 1957, S. 60 - 68).

Aus verschiedenen Beobachtungen zur mütterlichen Reaktion auf Trauer nach vorzeitigem Kindesverlust entwickelte sich die pränatale Bindungsforschung schrittweise weiter. Die amerikanische Krankenschwester Reha Rubin, welche sich der Begleitung und Pflege von Schwangeren widmete, stellte die Behauptung auf, dass die Wurzeln einer postnatal-emotionalen Beziehung zum Kind in der pränatalen Beziehung zu diesem liegen. Demnach müsse eine Schwangere vier Aufgaben vor der Geburt bewältigen: die Suche nach Sicherheit für sich und das Kind, die Sicherstellung, dass das Kind von anderen, wichtigen Personen im Umfeld akzeptiert wird, sich zu binden und sich selbst hinzugeben. Rubin konzentrierte sich dabei jedoch hauptsächlich auf emotionale und behaviorale Aspekte der werdenden Mutter und ihres Kindes (vgl. Rubin, 1975, S. 145).

Einen weiteren Beitrag über die Forschung der pränatalen Bindung lieferte die amerikanische Psychologin Leifer (1977). Sie untersuchte das Erleben der Schwangerschaft von Erstgebärenden und beschrieb die Schwangerschaft als eine Phase rapider Rollenwechsel, emotionaler Veränderung und persönlicher Reifung (vgl. Brandon et al., 2009, S. 201 ff.). Sie beobachtete dabei verschiedene Typen von Bindungsentwicklungen während der Schwangerschaft, welche sie in drei Gruppen einteilte:

1. Mütter der ersten Gruppe fühlten sich wenig emotional gebunden und empfanden das ungeborene Kind teilweise als Eindringling. Die Schwangerschaft war meist nicht geplant und wurde begleitet von körperlichen Schmerzen sowie von Ängsten und einem geringen Selbstwertgefühl. Eine positive Persönlichkeitsentwicklung während der Schwangerschaft konnte Leifer in dieser Gruppe nicht beobachten.
2. Mütter der zweiten Gruppe spürten stark ambivalente Gefühle gegenüber der Schwangerschaft. Auffällig waren ein hohes Stressempfinden und Ängste, jedoch auch die Wahrnehmung eines Verbundenheitsgefühls zum Kind. Die Bindung bei diesen Frauen wurde als relativ stabil bis zur Geburt beschrieben. Eine Persönlichkeitsentwicklung wurde teilweise festgestellt.
3. In dieser Gruppe zeichnete sich hingegen schon früh eine starke emotionale Bindung der Frauen zum ungeborenen Kind ab, welche durchgehend bis zum Zeitpunkt der Geburt und darüber hinaus anhielt. Ängste bezogen sich eher auf gesundheitliche Aspekte der Schwangerschaft. Bei diesen Frauen konnte Leifer zudem eine persönliche Reifung und ein erhöhtes Selbstwertempfinden beobachten (vgl. Leifer, 1977, S. 55 ff.).

Durch ihre Beobachtungen zeigte Leifer einen Zusammenhang zwischen einer schwachen Bindung zum Ende der Schwangerschaft und einer schwachen Bindung sieben Monate nach der Geburt auf. Dies führte zu ihrer Annahme, dass sich mütterliche Gefühle entlang einem prä- und postnatalen Kontinuum herausbilden (vgl. Brandon et al., 2009, S. 205 ff.).

Cranley war es, welche die pränatale Bindungsforschung auf dem Hintergrund der klinischen Erfahrung u. a. von Bowlby, Rubin und Leifer erstmalig empirisch untersuchte. Nach Cranley kommt es bereits vor der Geburt eines Kindes zu einer Bindung zwischen Mutter und Kind, wobei einige werdende Mütter bereits eine starke Bindung zu ihrem ungeborenen Kind aufbauen können. Parallel zu den biologischen und psychodynamischen Veränderungen und Entwicklungen während einer Schwangerschaft erweitert sich das Selbstbewusstsein der Frauen um die Rolle als Mutter (vgl. Cranley, 1981, S. 281). Cranley beschreibt die pränatale Mutter-Kind-Bindung als „the extent to which women engage in behaviors that represent an affiliation and interaction with their unborn child”. (ebd.). Cranley entwickelte eine Skala als Messinstrument zur Erhebung der pränatalen Bindung, die „Maternal Fetal Attachment Scale” (1981). Es handelt sich hierbei um 24 Items und fünf Subskalen:

1. differentiation of self from fetus
2. interaction with the fetus
3. attributing of characteristics and intentions to the fetus
4. giving of self
5. maternal role taking (vgl. Kemp & Page, 1986, S. 181).

Die enthaltenen Fragen der Subskalen befassen sich mit den Verhaltensweisen und Einstellungen der werdenden Mütter während der Schwangerschaft. Durch die Fragen wird deutlich, in welchem Umfang eine werdende Mutter bestimmte Anzeichen für eine pränatale Bindung zum Kind aufzeigt. Die erste Subskala „differentation of self from fetus“ kann auf die Fähigkeit der Mutter deuten, ihr ungeborenes Kind als eigenes, von ihr getrenntes Individuum wahrzunehmen. Die zweite Subskala „interaction with the fetus“ lässt erkennen, wie und in welchem Umfang die Mutter mit ihrem ungeborenen Kind in Interaktion tritt. Die dritte Subskala „attributing of characteristics and intentions to the fetus“ erfasst die Fähigkeit der mütterlichen Zuschreibung von bestimmten Eigenschaften und Charakterzügen des ungeborenen Kindes. Die vierte Subskala „giving of self“ weist auf, inwieweit die werdende Mutter in der Lage ist, sich der Schwangerschaft zu öffnen und sich auf diese einzustellen und die letzte Skala „maternal role taking“ erfasst, in welchem Ausmaß die Frau die Mutterrolle annehmen kann (vgl. Cranley, 1981, S. 280 ff.).

Muller jedoch kritisierte nach widersprüchlichen Ergebnissen in ihren Forschungen die Maternal Fetal Attachment Scale. Für Muller spielten bei der pränatalen Bindung vor allem Fantasien und Wünsche der Mutter eine wichtige Rolle. Sie definierte pränatale Bindung als „the unique relationship that develops between a woman and her fetus. These feelings are not dependent on the feelings the woman has about herself as a pregnant person or her perception of herself as a mother.” (Muller, 1993, S. 201). Prägend für die pränatale Mutter-Kind-Bindung ist die Bindungserfahrung der werdenden Mutter mit ihrer eigenen Mutter in der frühen Kindheit. Diese beeinflusst jegliche nachfolgenden Beziehungs- und Bindungsverhältnisse. Bei negativer Erfahrung kann dies die werdende Mutter daran hindern, eine Bindungsbeziehung zu ihrem ungeborenen Kind zu entwickeln. Muller entwickelte aufgrund ihrer Forschungen ein eigenes Messinstrument, welches sich ausschließlich auf emotionale Komponenten bezieht, das „Prenatal Attachment Inventory” (vgl. Brandon et. al, 2009, 210 ff.).

Auch Condon, ein australischer Forscher, kritisierte Cranleys Annahmen zur pränatalen Bindung. Condon beschreibt die pränatale Bindung als sich entwickelnde, emotionale Beziehung zwischen der Mutter und dem ungeborenen Kind, welche pränatal entsteht. Dieses Gefühl der emotionalen Verbundenheit entwickelt sich ungefähr ab der 10. Schwangerschaftswoche und intensiviert sich bis zum Ende der Schwangerschaft. Auch er entwickelte ein Messinstrument, die „Maternal Antenatal Attachment Scale”, welche sich überwiegend auf die Gedanken und Gefühle der Mutter gegenüber dem Kind konzentriert (vgl. Condon, 1997, S. 167 ff.).

Brandon et. al. (2009) verweisen zudem auf Forschungen, welche sich mit der pränatalen Vater-Kind-Bindung auseinandersetzen. Bereits Weaver, Cranley und Condon haben Hypothesen entwickelt, dass neben der Mutter-Kind-Bindung auch eine Vater-Kind-Bindung vorliegt. Cranley entwarf daher neben ihrer Maternal Fetal Attachment Scale die Paternal Fetal Attachment Scale. Auch spätere Untersuchungen, beispielsweise von Wilson et al., (2000), untersuchten die väterliche Bindung zum ungeborenen Kind.

Die Geschichte der pränatalen Bindungsforschung weist teils sehr verschiedene Erklärungsversuche der jeweiligen Bindungsforscher:innen auf, weshalb es schwierig ist, eine allgemeingültige Definition der pränatalen Bindung zu finden. Während Cranley, wie aufgezeigt, eine eher kognitiv-behaviorale Ansicht vertritt, vertritt Condon beispielsweise eine emotional basierte Ansicht. Neuere Konzepte der pränatalen Bindungsforschung streben eher eine Vereinigung der behavioralen, emotionalen und kognitiven Ansichten zu einem multidimensionalen Konstrukt an (vgl. Doan & Zimerman, 2003, S. 110).

4.3 Die Entwicklung der pränatalen Bindung

Nachdem die Grundlagen der Bindungsforschung sowie die Forschungsgeschichte der pränatalen Bindung beschrieben wurden, wird im Folgenden der Fokus auf den pränatalen Bindungsaufbau zwischen Mutter und Kind gelegt.

Im Zusammenhang mit der pränatalen Bindung wird häufig der Begriff „attachment” sowie „bonding” genannt. In der Fachliteratur wird mit „attachment” in der Regel die „Bindung” als wechselseitiges System zwischen Eltern und dem Kind im klassischen Verständnis Bowlbys gemeint. Der Begriff „Bonding” wird oftmals als Synonym zum Begriff der Bindung genutzt, dennoch ist eine Differenzierung der beiden Begriffe in einigen Bereichen relevant. „Bonding” beschreibt nämlich vielmehr die Bindungsentwicklung aus Perspektive der Mutter zum Kind. „Bonding” geht auf ein Konzept von Klaus und Kenell (1976) zurück, in welchem sie intensiv die Verbindung zwischen Mutter und Kind, vor allem unmittelbar nach der Geburt, untersuchten. Sie betonen dabei besonders die sensible Phase der Geburt und unmittelbar danach. Früher war es gängige Praxis, das Kind direkt nach der Geburt von der Mutter zu trennen, was jedoch nach der Krankenhausentlassung häufiger zu Ablehnung des Kindes seitens der Mutter führte. Heute findet die Trennung nur noch bei medizinischer Notwendigkeit statt. Um den wechselseitigen Beziehungsaufbau zu fördern, wird das Kind mittlerweile gleich nach der Geburt auf den warmen Körper der Mutter als Bindungsperson gelegt, im besten Fall in Anwesenheit des Vaters (vgl. Rass, 2011, S. 65). Die beste Zeit für den Beginn des Bondings ist nach Klaus und Kenell demnach in den Stunden direkt nach der Geburt (vgl. Ahnert, 2014, S. 63 ff.). Da jedoch die pränatale Bindungsforschung aufzeigte, dass das Bonding nach der Geburt kein isoliertes Phänomen ist, „sondern die Fortsetzung eines Bindungs-Prozesses, der schon lange davor in der Schwangerschaft begonnen hat” (Verny & Kelly, 1983, S. 65), wird der Begriff des Bondings zunehmend auch auf die pränatale Lebenszeit als „prenatal bonding” angewendet. Hierunter wird vor allem die emotionale Kontaktaufnahme der Mutter zu ihrem ungeborenen Kind verstanden. Auch der englische Begriff „attachment” wird immer häufiger für die Bindung aus der Perspektive der Mutter benutzt, wobei „attachment” auch häufig mit „relationship”/ Beziehung synonym verwendet wird. Dadurch soll der emotionale Charakter der Bindung verdeutlicht werden (vgl. Brisch, 2015, S. 36). In der vorliegenden Arbeit werden die Zitationen der jeweiligen Autor:innen übernommen.

4.3.1 Pränatale Bindungsentwicklung

Die Entscheidung zu einer Schwangerschaft bringt für jede Frau eine weitreichende Veränderung des bisherigen Lebens mit sich. Im optimalen Fall ist der Wunsch nach einer Schwangerschaft mit intensiven, positiven Gefühlen zwischen zwei Partner:innen verbunden. Generell gilt die Planung und Erwünschtheit der Schwangerschaft als Schutzfaktor für eine positive Bindungsentwicklung zwischen Mutter und Kind. Auch bei einer zunächst ungewollten Schwangerschaft kann ein positives Gefühl und Akzeptanz entstehen, wobei die Phase der Gewöhnung an die Veränderungen im Leben der Schwangeren dann länger andauern (vgl. Gloger-Tippelt, 2007, S. 513). Eine Schwangerschaft dient den werdenden Eltern als „psychologische Vorbereitungszeit” auf die Beziehung zum Kind (von Klitzing, 2005, S. 123). Die werdende Mutter ist während der Schwangerschaft auf der Gefühlsebene sehr offen und nimmt ihre Gefühle intensiv wahr. Die Bindungsentwicklung beginnt vor allem dann, wenn nach und nach die Vorstellung über das ungeborene Kind wächst. Solch ein inneres Bild über das Kind entsteht dabei in Abhängigkeit von den eigenen Hoffnungen, Wünschen, Ängsten und Kindheitserinnerungen der werdenden Mutter. Dieses Bild wird in der pränatalen Psychologie auch als „imaginäres Kind” bezeichnet (vgl. von Klitzing, 2005, S. 123). Solch ein Bild über das ungeborene Kind ist bei jeder Mutter vorhanden, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt. Die Fantasien über den Charakter und das Aussehen des Kindes können die Bindungsentwicklung zum ungeborenen Kind stärken. Ängste bezüglich möglicher Gefährdungen des Kindes in der Zukunft wirken hingegen bindungsschwächend (vgl. Brisch, 2012, S. 68).

Die meisten Schwangeren treten ganz intuitiv mit dem imaginären Kind in den Dialog. Sie reden mit dem Kind und erzählen dem Kind Geschichten oder singen ihm vor. Doch auch das reale biologische Kind macht sich durch Kindsbewegungen im Mutterleib bemerkbar. Die werdende Mutter nimmt ihr Kind dadurch immer mehr wahr und baut eine Beziehung zu ihm auf (vgl. Diem-Wille, 2003, S. 15). Nach Bruschweiler-Stern (2007, S. 221) entwickelt sich die pränatale Bindung vor allem durch die Vorstellung der werdenden Mutter, wie ihr Kind sein wird und welchen Platz es innerhalb der Familie einnehmen wird. Diese Fähigkeit über die Vorstellung des Kindes und dessen Integrierung in die eigene Beziehungswelt, ohne dabei sich oder den/die Partner:in aus der Beziehung zum Kind auszuschließen, wird als triadische Kompetenz bezeichnet. Die triadische Kompetenz wird als Voraussetzung für eine entwicklungsfördernde, postnatale Beziehung zum realen Kind angesehen (vgl. von Klitzing, 2005, S. 125 ff.).

Grundsätzlich gelten als optimale Voraussetzung für eine sichere, pränatale Bindungsentwicklung ein stabiler und geschützter sozialer Lebensraum der werdenden Eltern, eine intakte Partnerschaft mit der Fähigkeit der triadischen Kompetenz sowie keine größeren äußerlichen Belastungen und Stressfaktoren. Sicherheit, Schutz und liebevolle Unterstützung können die werdende Mutter dahingehend fördern, sich auf ihr ungeborenes Kind einzulassen. Hierbei ist die Bedeutung des Partners/der Partnerin nicht zu vernachlässigen. In der heteronormativen Gesellschaft wird als Kernfamilie Vater, Mutter und Kind verstanden. Dies bedeutet, dass ein präsenter Vater durch die emotionale Zuwendung und Stabilität die werdende Mutter während der Schwangerschaft unterstützen und entlasten kann und sich somit positiv auf die pränatale Bindungsentwicklung auswirkt (vgl. Brisch, 2013, S. 32).

4.3.2 Pränatale Mutter-Kind-Interaktion

Die pränatale Bindungsentwicklung zwischen der Mutter und ihrem Kind drückt sich über Interaktion und Kommunikation aus. Die pränatale Mutter-Kind-Interaktion wird von Krüll auch als „Tiefenkommunikation” bezeichnet (Krüll, 1989, 2009, zitiert nach Rass, 2011, S. 62). Diese Tiefenkommunikation findet über verschiedene Kanäle statt. So werden beispielsweise auf der zellulären Ebene sowohl von der Mutter als auch vom Kind Signale gesendet, welche den jeweils anderen organismischen Zustand beeinflussen. Während der Schwangerschaft ist vor allem die Hormonausschüttung der Mutter als auch die des Kindes ein relevantes Kommunikationsmittel. Die Hormone sorgen dafür, wie bereits in Kapitel 3.2 dargestellt, dass die Schwangerschaft aufrechterhalten bleibt und sich die mütterlichen Veränderungen dem Wachstum des Ungeborenen anpassen (vgl. Rass, 2011, S. 62). Ein weiteres Kommunikationsmittel ist die Nabelschnur. Neben der Versorgung mit Nahrung und Sauerstoff liefert sie durch Hormone als Botenstoffe Informationen über die emotionale Befindlichkeit der Mutter. Das Kind wird dadurch also nicht nur physiologisch über die Nabelschnur versorgt, sondern fühlt dadurch auch mit der Mutter mit. Es ist direkt an die Gefühlswelt der Mutter angeschlossen. Der Mutterleib ist demnach kein geschlossener Raum, sondern ein Raum voller Interaktion. Allein das Einnisten des Embryos „gleicht einem Wunderwerk der Natur” (ebd., S. 63). Die Psycho-Neuroimmunologie konnte aufzeigen, dass das Immunsystem der schwangeren Frau auf den Embryo wie bei einem Krankheitserreger oder Organtransplantat, nämlich mit Abstoßung durch Killerzellen, reagiert. Der mütterliche Organismus reagiert darauf mit der Bildung von weißen Blutkörperchen, den Amen- und Helferzellen, welche den Embryo schützen, indem sie versuchen, die Killerzellen abzuwehren. Um die Anzahl der Killerzellen zu verringern, müssen vermehrt Amen-Helferzellen gebildet werden. Das Entstehen von neuem Leben kann begünstigt werden, wenn durch die zuvor beschriebene Tiefenkommunikation unbewusst so verinnerlicht wird, dass eine positive Einstellung zu der möglichen Schwangerschaft vorliegt. Anhand der vielen Fehlgeburten oder Erkrankungen während einer Schwangerschaft wird jedoch auch deutlich, dass dieser „Kampf” nicht immer einen positiven Lauf nimmt (vgl. Auhagen-Stephanos, 2009, Hauenstein, 2008, zitiert nach Rass, 2011, S. 63). Diese Erkenntnisse zeigen auf, wie sehr der affektive Zustand der schwangeren Frau, unter Berücksichtigung ihres Umfelds, den Schwangerschaftsverlauf bestimmen kann. Eigene Erfahrungen und Bindungsmuster bestimmen nicht nur maßgeblich die Interaktion des Elternpaares, sondern auch die pränatale Mutter-Kind-Interaktion. Die bisherigen affektiven Erfahrungen wie auch die Erfahrungen während der Schwangerschaft können sowohl positiv als auch negativ sein. Die Gefühls- und Gemütszustände der werdenden Mutter führen zu „spezifischen biochemischen/physiologischen Profilen” (Rass, 2011, S. 64), welche sich beim Kind, vor allem bei Frühgeburten, wiederfinden lassen. Im folgenden Kapitel werden ungünstige intrauterine Einflüsse in Form von Stress und Traumata sowie deren Auswirkungen auf das Kind näher dargestellt.

5. Pränataler Stress und Traumata

Innerhalb der pränatalen Psychologie begannen die empirischen Forschungen u. a. in den 30er Jahren mit den wissenschaftlichen Arbeiten des amerikanischen Entwicklungspsychologen Lester Sontag. Sontag untersuchte, ob das Einrücken des Vaters in den Kriegsdienst während der Schwangerschaft das ungeborene Kind vor der Geburt beeinflusst. Er konnte bei den ungeborenen Kindern eine erhöhte Herzfrequenz beobachten. Dies wurde als Ergebnis des erhöhten mütterlichen Stresses infolge der Unsicherheit über das Schicksal des Mannes verstanden. Die erhöhte Herzfrequenz im Mutterleib wurde bis in das Erwachsenenalter nachgewiesen (vgl. Radebold et. al., zitiert nach Janus, 2007, S. 27).

In den 70er Jahren wurde zudem erforscht, dass es bei Schwangeren, welche Stress im beruflichen sowie familiären Alltag erlebten, häufiger zu Frühgeburten und damit verbunden zu Unreife, Untergewicht und erhöhter Infektneigung des Kindes kam (vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft, 1977).

Solche Forschungen verdeutlichen, dass das vorgeburtliche Kind bereits Stress oder gar traumatischen Erfahrungen ausgesetzt ist, wodurch die weitere Entwicklung sowohl pränatal als auch postnatal beeinträchtigt werden kann. Ein Kind kann in eine Familie mit traumatisierender Atmosphäre hineingeboren werden oder Eltern haben, welche selbst traumatisiert sind, wodurch dem Kind möglicherweise kein sicherer Bindungsraum mehr gewährleistet werden kann (vgl. Alberti, 2012, S. 141).

Auch wenn zahlreiche Ergebnisse aus der Pränatalforschung eine kausale Beziehung zwischen pränatalem mütterlichem Stress und der Beeinflussung der pränatalen und postnatalen Entwicklung des Kindes aufzeigen, ist es dennoch relevant anzumerken, dass hier nicht von einer einfachen Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen pränatalen Stressoren und späteren Entwicklungs- oder Bindungsstörungen gesprochen werden sollte. Wie Strüber sagt: „In der Schwangerschaft werden Wahrscheinlichkeiten beeinflusst, nicht aber der Weg vorgezeichnet” (2019, S. 133). Die menschliche Entwicklung ist sehr komplex und kann von einer Reihe von Faktoren beeinflusst werden, von biologischen und genetischen Faktoren bis hin zu eben solchen psychosozialen Stressoren (vgl. Krens & Krens, 2006, S. 34). Dementsprechend wird in der heutigen Entwicklungspsychopathologie von einem Risikomodell ausgegangen, welches besagt, dass innerhalb einer komplexen und dynamischen Interaktion bestimmte pränatale Einflüsse zu bestimmten Entwicklungsprozessen beitragen können, wobei die Effekte variieren und nicht eindeutig vorhersehbar sind (vgl. Schneider et. al., 2003, zitiert nach Krens & Krens, 2006, S. 34).

5.1 Begriffsbestimmungen Stress und Trauma

Um die Auswirkungen von pränatalen Stressoren und Traumata auf das Kind darzustellen, muss zunächst geklärt werden, was generell unter Stress und Trauma verstanden wird.

Der Pionier der Stressforschung, Hans Selye, definierte Stress als „unspezifische Antwort des Organismus auf jede Beanspruchung” (Selye, 1987, zitiert nach Fink, 2010, S. 5). Seine Differenzierung zwischen positivem (Eustress) und negativem Stress (Distress) konnte sich jedoch in der arbeitspsychologischen Stressforschung nicht mehr halten (vgl. Bamberg, Busch & Ducki, 2003, S. 40). In den Verhaltenswissenschaften wird Stress verstanden als Wahrnehmung einer Bedrohung, welche zu Angstzuständen, emotionaler Anspannung und Anpassungsschwierigkeiten führt (vgl. Fink, 2010, S. 5). Vielfach wird zwischen verschiedenen Stresskonzeptionen unterschieden. Hierunter zählen biologische, soziologische, gesundheitswissenschaftliche, bio-psychosoziale und psychologische Stressmodelle. Zu den psychologischen Modellen zählen stimulusorientierte, reaktionsorientierte und transaktionale Stresskonzeptionen. Stimulusorientierte Stresskonzepte fokussieren stressauslösende Bedingungen, sog. critical life events. Hier werden also kritische, lebensverändernde Ereignisse wie Todesfälle oder Arbeitsplatzwechsel untersucht. Reaktionsorientierte Stresskonzepte konzentrieren sich dagegen auf die individuelle Stressreaktion. Sie sind vor allem auf Selye zurückzuführen. Transaktionale Konzepte beschreiben die Wechselbeziehung zwischen Person und Situation. Hierzu zählt u. a. das Stressmodell von Lazarus und Folkman (1984), welches große Bekanntheit erlangte (vgl. Zapf & Semmer, 2004a, S. 1010). Das Modell von Lazarus zeigt individuelle Unterschiede im Stressprozess auf und stellt kognitive Bewertungsprozesse in den Fokus (vgl. Schulz, 2005, S. 222). Die Bewertungsprozesse werden in zwei Phasen unterteilt, die primäre Bewertung und sekundäre Bewertung. Durch die primäre Bewertung (primary appraisal) überprüft die Person zunächst den Reiz, mit welchem sie konfrontiert wird, und ordnet ihn hinsichtlich ihres Wohlbefindens als positiv, irrelevant oder stressreich ein. Wird der Reiz als stressreich bewertet, unterscheidet Lazarus zwischen “Schädigung/Verlust”, “Bedrohung” und “Herausforderung”. Die sekundäre Bewertung (secondary appraisal) bezieht sich auf die Abschätzung der eigenen Bewältigungsressourcen, welche der Person zur Verfügung stehen. Nach Lazarus entsteht Stress dann, wenn negative Konsequenzen erwartet werden und die Bewältigung derer als unsicher bewertet wird. Je weniger Ressourcen zur Bewältigung zur Verfügung stehen, desto intensiver wird die Stressreaktion sein (vgl. Lazarus & Folkman, 1984, zitiert nach Schulz, 2005, S. 223). Die primäre und sekundäre Bewertung erfolgen nach keiner zeitlichen Reihenfolge und beeinflussen sich gegenseitig. Nach Beendigung der Bewertungsprozesse kommt es zur Bewältigung (Coping). Darunter werden alle diejenigen behavioralen und kognitiven Anstrengungen umfasst, welche eine Person anwendet, um mit der jeweiligen stressrelevanten Situation umzugehen. Nach Anwendung der Bewältigungsstrategien und erfolgreicher Bewältigung der stressigen Situation kann es durch gewonnene Erfahrungen zu einer Neubewertung (reappraisal) des Stressors kommen, was wiederum einen Einfluss auf das individuelle Bewältigungsverhalten haben kann (vgl. Barthold & Schütz, 2010, S. 28 ff.).

Eine einheitliche Definition sowohl von Stress als auch von Trauma ist schwer zu finden. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Bedeutung des Traumas über die letzten Jahre verändert und weiterentwickelt hat. Je nach Fachbereich gibt es verschiedene Definitionen, wie z. B. in der Biologie, der Medizin oder im Rechtswesen. In der vorliegenden Arbeit soll das psychische Trauma dargestellt werden. Das Wort „Trauma“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Wunde“. Die symbolische Bedeutung eines psychischen bzw. seelischen Traumas wird oft in einer Verletzung bzw. Wunde der menschlichen Seele gesehen. Eine traumatische Situation ist gekennzeichnet durch ein Missverhältnis zwischen der subjektiv erlebten Bedrohung für sich oder andere und den individuell zur Verfügung stehenden Bewältigungsressourcen. Charakteristisch für ein Trauma ist zudem die Plötzlichkeit und Heftigkeit, mit welchem es auftritt sowie die gefühlte Ausweglosigkeit aus der durchlebten Situation (vgl. Pausch & Matten, 2018, S. 4) Ein traumatisches Erlebnis wird von der jeweiligen Person als äußerst starke Stresssituation erlebt, welche mit einem Gefühl der Machtlosigkeit und Hilflosigkeit einhergeht und kann je nach erlebtem Ausmaß und den individuell zur Verfügung stehenden Ressourcen unmittelbar kurzfristige Auswirkungen haben oder sich in Folge längerfristiger Auswirkungen zu einer Traumafolgestörung entwickeln (vgl. De Thierry, 2017, S. 14). Ein weiteres Kriterium ist die objektive Erlebbarkeit, d. h. es wird angenommen, dass das jeweilige Erlebnis bei nahezu jeder Person eine tiefgreifende emotionale Verzweiflung auslösen würde (vgl. Hecker & Maercker, 2015, S. 547). Trotz der objektiven Heftigkeit des traumatischen Erlebnisses empfindet und erlebt jede Person ein Trauma und dessen Auswirkungen anhand objektiver als auch subjektiver Faktoren. Bei den subjektiven Faktoren spielen soziale, physische und kognitive Entwicklungsfaktoren ebenso eine Rolle wie erworbene oder konstitutionelle Faktoren (vgl. Gahleitner, Frank & Leitner, 2015, S. 85). Eine anerkannte Kategorisierung unterschiedlicher Traumata erfolgt danach, ob sie einmalig oder mehrmals aufgetreten sind. Unter die Typ-I-Traumata fallen Erlebnisse, welche ein einziges Mal auftreten und meist von kurzfristiger Dauer sind. Hierzu zählen beispielsweise Naturkatastrophen oder Unfälle. Typ-II-Traumata dagegen sind Erlebnisse, welche mehrmals und längerfristig auftreten, wie z. B. über einen längeren Zeitraum hinweg erlebte Missbrauchserfahrungen. Eine weitere, häufig verwendete Kategorisierung unterscheidet nach der verursachenden Instanz. Unter Non-intentionalen/ akzidentellen Traumata werden alle Ereignisse verstanden, welche zufällig oder durch die Natur verursacht werden. Unter Intentionalen Traumata hingegen versteht man Traumata, welche willentlich durch andere Menschen erzeugt werden. Diese Art der Traumata wird oft auch als man-made-desaster bezeichnet. Die Verarbeitung eines solchen Traumas ist für eine Person in der Regel schwieriger als die eines non-intentionalen Traumas, da diese zusätzlich das Selbst-, Menschen- und Weltbild einer Person beeinträchtigen können (vgl. Pausch & Matten, 2018, S. 5 ff.). Zu den man-made-desaster gehören auch Beziehungs- bzw. Bindungstraumatisierungen, welche für die vorliegende Arbeit besonders von Bedeutung sind. Die Traumatisierung wird hier durch die eigene Bezugsperson verursacht, welche dadurch selbst den traumatischen Faktor darstellt und nicht als fürsorgliche und schützende Person fungieren kann (vgl. Brüning et al., 2019, S. 882 ff.). In der wissenschaftlichen Literatur wird jedoch von Bindungstraumata überwiegend erst ab der frühen Kindheit berichtet. Zu Bindungstraumata im pränatalen Kontext sind (bisher) kaum fundierte Beiträge aufzufinden.

5.2 Stress und Traumata in der Schwangerschaft

Nachdem aufgezeigt wurde, was im Allgemeinen unter Stress und Trauma verstanden wird, kann nun die Thematik von pränatalem Stress und Trauma vertieft werden. Die pränatale Stressforschung ist ein relevanter Bereich innerhalb der Pränatalpsychologie. Bis jetzt gibt es keine einheitliche Definition über pränatalen Stress, aber die unterschiedlichen Studien kommen zu dem Konsens, dass darunter jener Stress verstanden wird, welche eine Frau während der Schwangerschaft erlebt. Dieser kann durch äußere Umstände und unabhängig von ihren Handlungen entstehen, zum Beispiel durch Naturkatastrophen oder den Tod einer nahestehenden Person. Der Stress kann aber auch enger mit der eigenen Persönlichkeit verbunden sein, beispielsweise aufgrund von bestimmten Alltagsproblemen (vgl. Huizink, 2005, S. 89). Huizink ist der Auffassung, dass ein multidimensionales Stresskonzept am geeignetsten ist, um pränatalen Stress darzustellen, wie das transaktionale Stressmodell von Lazarus und Folkman. Denn allein die Schwangerschaft kann für die betroffene Frau aufgrund der grundlegenden Veränderungen ein critical life event bzw. major changes und somit einen Stressor darstellen, welcher bestimmte Adaptionsleistungen erfordert. Zudem variiert insbesondere während der Schwangerschaft die Stressreaktion durch die Qualität der psychischen Bewältigungsressourcen und der sozialen Unterstützung der Person. So stellten Elbourne et al., (1996) in ihrer Übersicht über kontrollierte Studien zur psychischen und sozialen Unterstützung während der Schwangerschaft fest, dass die psychische und soziale Unterstützung einen positiven Faktor für das Wohlbefinden der Schwangeren darstellt, wodurch sich die schwangeren Frauen weniger nervös, besorgt und unglücklich fühlten. Die psychische und soziale Unterstützung wird daher als stressausgleichender Faktor angesehen (vgl. Huizink, 2005, S. 90). Gelingt es der schwangeren Frau trotz möglich vorhandener stressausgleichender Faktoren nicht oder nicht ausreichend, bestimmte Stressoren zu bewältigen, so kommt es zu mütterlichem Stress, welcher sich auf das ungeborene Kind übertragen kann.

Welche Bedeutung hat nun das Wissen um Trauma für die Schwangerschaft? Auch das vorgeburtliche Kind kann bereits traumatische Erfahrungen erleben. Unter einem pränatalen Trauma werden all jene Traumata verstanden, welcher die Mutter während der Schwangerschaft ausgesetzt ist und sich somit auch auf das ungeborene Kind auswirken, sowie Traumata, welche sich bereits direkt gegen das ungeborene Kind richten. Dazu gehören tragische Faktoren wie die Mangelversorgung im Mutterleib, eine drohende Fehlgeburt, Stress und psychische Ausnahmesituationen der Mutter, bestimmte medizinische Eingriffe oder feindselige Handlungen wie Gewalt gegen die Mutter und das Kind sowie Abtreibungsversuche. Auch verlorene Zwillingsgeschwister in der Frühschwangerschaft können vor allem die Bindungsentwicklung des Kindes nachhaltig beeinflussen (vgl. Hochauf, 2006, S. 126). Solch pränatale Traumata sind durch eine sensomotorisch-affektive Fixierung in subkortikalen Gedächtnisbereichen geprägt, da aufgrund des unreifen Gehirns die Abspeicherung der Erlebnisse implizit erfolgt und infolge der traumaspezifischen Reizblockierung nicht kortikal mitsymbolisiert werden kann. Kommende Reize könnten somit traumatische Stressreaktionen anhaltend und unspezifisch aktivieren (vgl. Schore, 1998, zitiert nach Hochauf, 2006, S. 126). Durch frühe Traumatisierung wird die Autonomie- und Bindungsentwicklung des Kindes nachhaltig beeinflusst. Auf welche Weise und in welchem Ausmaß dies geschieht, kann u. a. durch Rückschlüsse der Erkenntnisse der modernen Traumaforschung auf pränatale Traumata erfolgen. Gelingt es nicht, ein traumatisches Erlebnis zu bewältigen, kommt es zu dissoziativen Vorgängen. Aufgrund der selektiven Aufmerksamkeit auf Bedrohungs- oder Rettungsmöglichkeiten ist die Selbstwahrnehmung sehr vermindert, wodurch die Wahrnehmung von Raum, Zeit und Personenbezug verloren geht. Bei anhaltendem Reiz kann dies zu einer Schockreaktion führen. Es wird ein Entkoppelungsprozess von der traumatischen Situation in Gang gesetzt, es kommt zur Angst-Panik-Aktivierung bis hin zu völligem Kontrollverlust mit Erstarrungsreaktion. Die letzten vorhandenen Überlebensreserven versuchen sich durch eine extreme Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit sowie einer beschleunigten Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit zu erschließen. Wenn dennoch die Situation in keinster Weise kontrolliert werden kann, findet durch die Ausschüttung von Endorphinen und Kortisol eine Depersonalisierung statt. Wird die Traumatisierung jedoch überlebt, sind die traumatischen Ereignisse dem Bewusstsein nicht mehr zugänglich, aber impliziert gespeichert und dementsprechend im Körper verankert. Unter bestimmten Voraussetzungen können die gespeicherten Erfahrungen immer wieder aktiviert werden, es kommt zu einer exakt gleichen Wiederholung der unbewussten Stresszustände. Pränatale Traumata heften sich häufig aufgrund ihrer unspezifischen Triggerung an spätere, ähnlich erlebte Situationen an. Dies kann dazu führen, dass peri- oder postnatale Erlebnisse aufgrund pränataler, ungelöster Traumata verändert wahrgenommen werden (vgl. ebd., S. 128 ff.).

5.2.1 Äußere schädigende Einflüsse

Die Schwangerschaft ist sowohl für die werdende Mutter als auch für das ungeborene Kind mit unzähligen komplexen und ineinandergreifenden Vorgängen verbunden. Während der pränatalen Phase ist der Organismus verwundbar und empfindsam, wodurch äußerliche als auch innere schädigende Einflüsse die intrauterinen Abläufe stören können. Negative Auswirkungen durch diese Einflüsse entstehen vor allem dann, wenn sie das ungeborene Kind überfordern und somit stressen oder gar traumatisieren (vgl. Janus, Haibach, 1997, S. 51 ff.).

Äußere schädigende Einflüsse werden u. a. auch als Teratogene bezeichnet. Teratogene führen zur Zunahme angeborener Fehlbildungen bzw. erhöhen die Wahrscheinlichkeit hierfür. Ein sehr bekanntes Beispiel für ein Teratogen ist Contergan. Eine Nebenwirkung des verschriebenen Wirkstoffes war die Unterbrechung des Wachstums von Beinen und Armen. Zudem verursachte es Fehlbildungen des Herzens. Es gibt eine Vielzahl von Teratogenen, welche eine Gefährdung der Schwangerschaft darstellen. Häufige Teratogene bzw. äußere, schädigende Einflüsse sind toxische Einflüsse, Mangelernährung und überlebte Abtreibungsversuche (vgl. Hepper, 2005, S. 80).

5.2.1.1 Toxische Einflüsse

Alkoholkonsum in der Schwangerschaft kann zu langfristigen motorischen und mentalen Beeinträchtigungen bei Kindern führen. Nimmt eine Frau Alkohol zu sich, gelangt dieser ungehindert über die Plazentaschranke durch die Nabelschnur in den Organismus des ungeborenen Kindes. Der Geschmack des Fruchtwassers verändert sich negativ, wodurch das Kind weniger davon zu sich nimmt (vgl. Gross, 2003, S. 120). Die Fetale Alkoholspektrumstörung wird als Oberbegriff für all jene Schädigungen eines Menschen angewandt, welche sich pränatal durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft entwickeln. Die Vielzahl der Auswirkungen pränataler Schädigungen durch Alkohol wird in der Diagnostik differenziert, das Fetale Alkoholsyndrom ist dabei die ausgeprägteste Form Fetaler Alkoholspektrum-Störungen. Dabei handelt es sich um die Krankheitsbilder, die beim Säugling u. a. Kleinwuchs, Untergewicht, Gesichtsauffälligkeiten, Mikrozephalus, Herzfehler, Nierenfehlbildungen und verschiedene Entwicklungs- und Verhaltensstörungen hervorrufen (vgl. Drogenbeauftragte der Bundesregierung, 2017, online).

Neben Alkohol gilt auch Tabak als in den westlichen Industrieländern legalisierte Droge. Auch Tabak in der Schwangerschaft kann zu schwerwiegenden Folgen beim Kind führen. Bereits 1957 konnten Simpson et al. den erhöhten Zusammenhang zwischen mütterlichem Rauchen und einer erhöhten Frühgeburtenrate aufzeigen (Simpson et. al. 1947, zitiert nach Thäle & Schlitt, 2011, S. 1189). Zudem ist neben den klassischen Gefahren wie eben die erhöhte Frühgeburtenrate oder das frühzeitige Lösen der Plazenta auch ein Zusammenhang zwischen mütterlichem Rauchen in der Schwangerschaft und der Entwicklung kindlicher Krebserkrankungen bekannt (vgl. Thäle & Schlitt, 2011, S. 1189).

Des Weiteren weisen bestimmte Medikamente sowie Drogen negative Auswirkungen auf das pränatale Kind auf. Die Wirkstoffe gehen auch hier über den Blutkreislauf auf das Kind über und können Fehlgeburten, Frühgeburten sowie Missbildungen, geistige Behinderungen und Entwicklungsstörungen hervorrufen. Laut Gross nehmen 80% der werdenden Mütter bereits im ersten Schwangerschaftsdrittel Medikamente ein (vgl. Gross, 2003, S. 118 ff.). Konsumiert die werdende Mutter während der Schwangerschaft jegliche Arten von Drogen, egal ob weiche, legale Drogen wie Tabak oder Alkohol oder harte Drogen wie u. a. Heroin, Kokain und Crystal Meth, wirken auch diese unmittelbar auf das Kind im Mutterleib. Gesicherte Daten aus Untersuchungen weisen auf plazentare Durchblutungsstörungen, Mangel- und Fehlentwicklung, Früh- oder Totgeburten hin. Erschwerend kommt die Tatsache hinzu, dass meist nicht nur eine Droge konsumiert wird, sondern ein Mischkonsum vorliegt (vgl. von Mandach, 2013, S. 29). Vor allem bei Drogen mit sehr hohem Suchtpotenzial werden die Kinder gleichermaßen als süchtig geboren. Sie werden durch Verabreichung ähnlicher, dennoch schwächerer Drogen sukzessiv von ihrer Sucht befreit. Dabei zeigen sie, genau wie beim Entzug eines Erwachsenen, Symptome wie Schweißausbrüche und Zittern (vgl. Gross, 2003, S. 119).

5.2.1.2 Unter- /Überernährung

Essenziell für eine gesunde, fötale Entwicklung ist eine ausgewogene Ernährung, gekennzeichnet durch eine hohe Nährstoffdichte. Sowohl eine Unter- als auch eine Überernährung beeinträchtigen die Entwicklung des Ungeborenen nachhaltig. Der holländische Hungerwinter während des Zweiten Weltkriegs belegte erstmals die weitreichenden Folgen einer Unterernährung. Nachuntersuchungen zeigten, dass eine Mangelernährung während der Schwangerschaft das Auftreten von Adipositas im Erwachsenenalter fördern kann (vgl. Amann-Gassner, 2012, S. 49). Weitere Folgen der Unterernährung während der Schwangerschaft können chronische Krankheiten im Erwachsenenalter sein, wie Herz-Kreislauferkrankungen, Bluthochdruck und Diabetes (vgl. Janov, 1984, S. 59 ff.). Weist die werdende Mutter während der Schwangerschaft eine chronische Unterernährung auf, so stößt ihr Körper mehr Adrenalin aus dem Nebennierenmark aus, um zur Energiegewinnung sowohl den Speicherzucker im Blutzucker als auch das Körperfett in Fettsäuren umzuwandeln. Demnach steht auch das ungeborene Kind fortwährend unter einem erhöhten Adrenalinspiegel. Bei chronischer Unterernährung wird dies vom Nervensystem des Ungeborenen als normaler Spiegel wahrgenommen, sodass das Kind nach der Geburt versucht, diesen hohen Adrenalinspiegel beizubehalten (vgl. ebd.).

War vor einigen Jahrzehnten vor allem die Mangel- bzw. Unterernährung ein verbreitetes Risiko während der Schwangerschaft und ist es nach wie vor noch überwiegend in Entwicklungsländern, so hat sich in den westlichen Industrieländern eher die Überernährung zum Risikofaktor entwickelt. Innerhalb der letzten 20 Jahre stieg die durchschnittliche Gewichtszunahme während der Schwangerschaft um mehr als zwei Kilogramm an. Erschwerend kommt hinzu, dass sich neben der Gewichtszunahme auch das Durchschnittsalter der schwangeren Frauen erhöht (vgl. Amman-Gassner, 2012, S. 50). Eine fetale Überernährung erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Asthma, Schlaganfall, Diabetes, Bluthochdruck und Insulinresistenz. Zudem verdreifacht sich das Risiko des Kindes für starkes Übergewicht, wenn die Mutter adipös ist (vgl. Gießelmann, 2016, S. 1920).

5.2.1.3 Überlebte Abtreibungsversuche

Der Versuch der Abtreibung, also die willentliche vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft mit dem Ziel, das Kind zu töten, stellt eine besonders schwere Form der pränatalen Traumatisierung für das ungeborene Kind wie auch für die werdende Mutter dar (vgl. Hoppe, 2014, S. 105). Bis in das letzte Jahrhundert, teilweise sogar noch heute, wurde aufgrund fehlender anatomisch-physiologischer Kenntnisse oder aufgrund der nicht vorhandenen finanziellen Ressourcen, bei ungewollter Schwangerschaft auf einfache Mittel oder illegale Hilfe zur Abtreibung zurückgegriffen. Das Tragen schwerer Lasten, exzessive Bewegung, Hinunterspringen von Tischen oder Mauern, Fastenkuren, Spülungen mit Giften oder die Einführung von kontaminierten Gegenständen wurden als Abtreibungsmittel eingesetzt. Die Folgen waren Verletzungen großer Blutgefäße oder benachbarter Organe bis hin zum Tod der schwangeren Frau. Nicht selten wurde das Kind unmittelbar nach der Geburt umgebracht, wenn die Abtreibungsversuche fehlschlugen. Der Einsatz solcher Hausmittel ist heutzutage eher eine Seltenheit, Abtreibungen werden nach vorherigem Beratungsgespräch von Ärzten durchgeführt. Jedoch ist der Eingriff auch heute noch sowohl körperlich als auch psychisch nicht risikofrei. Zudem gibt es einige Kontraindikationen, unter welchen Komplikationen während oder nach einem medikamentösen Schwangerschaftsabbruch zu erwarten sind und der Abtreibungsversuch somit scheitern kann (vgl. ebd., S. 110). Der Entschluss zu einer Abtreibung ist kein leichter. Auch wenn die meisten Frauen die Abtreibung oder den Abtreibungsversuch psychisch und körperlich innerhalb der darauffolgenden Tage und Wochen verarbeiten, konnte eine Studie von Fergusson, Horwood und Ridder (2006, zitiert nach Hoppe, 2014, S. 11) nachweisen, dass fast jede zweite Frau nach einer Abtreibung psychisch erkrankt. Ein enger Zusammenhang zwischen Suchtverhalten, Suizid, Depressionen und Angstzuständen konnte hierbei aufgezeigt werden.

Die Anzahl der Kinder, welche einen Abtreibungsversuch überlebten, ist nur in Einzelfällen statistisch erfasst. Dennoch ist heute unumstritten, dass auch für das ungeborene Kind, welches eine Abtreibung überlebte, der Abtreibungsversuch eine traumatische Erfahrung darstellt. Die elementare Erfahrung des geschützten Raums des Mutterleibes, das Gefühl der Erwünschtheit und die liebevolle Bindungsentwicklung zwischen der werdenden Mutter und dem ungeborenen Kind sind nach solch einer existenziellen Bedrohung nicht (mehr) vorhanden. Das pränatale Kind wird in seinem Sicherheitsbedürfnis und seiner Liebes-/Beziehungsfähigkeit von Grund auf erschüttert. Bereits in der frühesten Phase des Lebens, der pränatalen Phase, erlebte das Ungeborene die eigene Todesangst (vgl. Brisch, 2013, S. 139). Die Auswirkungen des Abtreibungsversuches können sich in der gesamten Lebensgeschichte des Kindes bemerkbar machen. Es kann vorkommen, dass die Mutter das Kind auch noch nach der Geburt am liebsten loswerden will und bindungsunfähig sowie hasserfüllt ist. Das Kind kann aber auch in eine scheinbar „heile Welt” geboren werden, bei welcher die zugewandte Mutter möglicherweise versucht, den Abtreibungsversuch zu kompensieren. Die Anwesenheit der Mutter aktiviert dann bei solchen Kindern häufig gleichzeitig sowohl das Bindungs- als auch Fluchtsystem. Auf der einen Seite haben sie bereits im Mutterleib ein bedrohliches Bild über die Mutter verinnerlicht, andererseits wollen sie die Bindungsversuche der Mutter annehmen (vgl. Hoppe, 2014, S. 119). Janus schreibt hierzu: „Vorgeburtliche Ablehnung manifestiert sich als existentielle Überzeugung, die Leute seien gegen die eigene Person negativ eingestellt, und drängt sich in die Wirklichkeit sozialer Wahrnehmung hinein.” (Janus, 2011, S. 84). Es ist anzunehmen, dass dem Kind durch den Abtreibungsversuch die Grundlage für sichere Bindungen im Leben genommen wurde. Die damit verbundenen Gefühle der Angst, von Verrat und Schmerz werden häufig mit einer Gefühllosigkeit gegenüber sich selbst überdeckt. Das „Opfer-Sein” wird verdrängt, dennoch ist das Gefühl in der Psyche des Kindes stetig präsent (vgl. Hoppe, 2014, S. 120).

5.2.2 Innere schädigende Einflüsse

Eine Schwangerschaft bringt enorme körperliche und psychische Veränderungen mit sich, welche von unterschiedlichen Emotionen begleitet werden. Die werdende Mutter befindet sich in einer Phase voller Umstellungen. Dabei können nicht nur dargestellte, äußere Einflüsse das pränatale Kind beeinträchtigen, sondern auch die inneren Einflüsse. Hierunter zählen mütterliche psychische Belastungen sowie negative mütterliche Einstellungen, welche im Folgenden dargestellt werden.

5.2.2.1 Mütterliche psychische Belastungen

Mütterliche psychische Belastungen können weitreichende Folgen für die Mutter und das Kind haben. Studien zeigten, dass bereits die Schwangerschaft an sich als psychische Belastung erlebt werden kann und Psychopathologien auslösen bzw. bestehende psychische Belastungen verstärken kann (vgl. Wimmer-Puchinger, 1992, S. 190). Zudem korrelieren mütterlicher Stress, Angst oder Depressionen mit Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, einer erhöhten Frühgeburtenrate sowie einem niedrigen Geburtsgewicht. Das Risiko hierfür ist in etwa vergleichbar mit dem des Rauchens während der Schwangerschaft (vgl. Lou et. al., 1994, zitiert nach Van den Bergh, 2005, S. 96). Schätzungen zufolge erleben 25 Prozent der werdenden Mütter während der Schwangerschaft Stress, Ängste oder Depressionen. Bei Frauen, welche bereits vor der Schwangerschaft psychosozial belastet waren, liegen die Schätzungen mehr als dreimal so hoch (vgl. Wurmser, 2008, S. 129). Starke mütterliche psychische Belastungen können bereits pränatal die Bindungsentwicklung beeinträchtigen. Die werdende Mutter kann sich vom ungeborenen Kind beeinträchtigt und bedroht fühlen. Ängste und anderweitige psychische Belastungen können aber auch durch äußere Bedrohungen und Extremsituationen ausgelöst werden, wie Trennung und Tod nahestehender Personen, finanzielle Notlagen und früheren Traumatisierungen. Sobald die werdende Mutter keine sichere emotionale Basis für sich selbst herstellen kann, ist es erschwerend, eine Bindung zwischen ihrem ungeborenen Kind und sich selbst herzustellen (vgl. Brisch, 2003, S. 115).

Der Gefühlszustand der werdenden Mutter hängt mit einer Reihe von hormonellen Reaktionen zusammen, welche das ungeborene Kind allmählich zu verstehen lernt. Da der Hormonspiegel und der Stoffwechsel nicht willentlich beeinflusst werden können, wird das Kind im Mutterleib, unabhängig davon, ob es die Mutter möchte oder nicht, von ihrer psychischen Verfassung beeinflusst (vgl. Gross, 2003, S. 111). Das Kind spürt, ob es geliebt oder abgelehnt wird. Daher wird im Folgenden die Einstellung der Mutter, vor allem die negative mütterliche Einstellung gegenüber der Schwangerschaft, als pränataler Risikofaktor dargestellt.

5.2.2.2 Negative mütterliche Einstellung

Persönliche Einstellungen sind nicht direkt beobachtbar. Sie können aus dem (Verbal)-Verhalten einer Person erschlossen werden. Einstellungen können dabei als erworbene, relativ stabile aber durchaus veränderbare Bewertung definiert werden. Einstellungen tragen zur Herausbildung der eigenen Identität bei (vgl. Niederhofer & Reiter, 2002, S. 92). Studien der Pränatalforschung zeigen eine Beeinflussung der kindlichen Entwicklung durch negative mütterliche Emotionalität während der Schwangerschaft auf (vgl. Van den Bergh, 2005, S. 96). Die negative Einstellung der werdenden Mutter zur Schwangerschaft kann sich also auf das Ungeborene übertragen. Lehnt die Mutter das Kind emotional ab, so werden auch die kindlichen Signale ignoriert oder nur unzureichend wahrgenommen. Diese ablehnende Einstellung ist geprägt von der Persönlichkeit der Schwangeren, ihrer aktuellen psychosozialen Lebenssituation und ihren frühen Erfahrungen, denn oft ist die ablehnende Haltung gegenüber der Schwangerschaft eine Folge maternaler traumatischer Erlebnisse (vgl. Turner & Westermann, 1999, zitiert nach Niederhofer & Reiter, 2002, S. 92).

Die Prager Langzeitstudie von Matejcek und Dytrych, welche in den 70er Jahren begann und über zehn Jahre andauerte, verdeutlicht die Auswirkungen negativer mütterlicher Einstellungen (vgl. Matejcek & Dytrych, 1987, S. 77). Hierbei wurde die Entwicklung von insgesamt 110 Jungen und 110 Mädchen bis ins Jugendalter untersucht, welche von ihren Müttern eindeutig unerwünscht waren. Verglichen wurde dies mit einer Kontrollgruppe der gleichen Anzahl an Mädchen und Jungen, welche aber seit deren Empfängnis geplant oder zumindest akzeptiert waren. Es zeigte sich, dass der Start in das Leben für die unerwünschten Kinder deutlich erschwerter war. Erste wichtige sozialbiologische Komponenten, wie beispielsweise das Stillen, fanden nur wenig oder gar nicht statt. Zudem waren die Schulleistungen bei den abgelehnten Kindern deutlich schlechter. Sie gingen nicht gerne in die Schule und wurden eher von anderen Mitschüler:innen abgelehnt. In ihrem Sozialverhalten zeigten sie eine niedrigere Frustrationstoleranz, eine erhöhte Reizbarkeit und mehr Tendenzen zu Wutausbrüchen im Vergleich zur Kontrollgruppe. Das abweichende Verhalten verstärkte sich im Jugendalter deutlich. Hierbei begingen sie fast doppelt so viele leichte Delikte und dreifach so viele schwere Delikte als die Jugendlichen aus der Kontrollgruppe. Auch im Bereich Beziehungen gaben die Personen aus der Gruppe der unerwünschten Kinder an, dass ihre Beziehung weniger glücklich sei. Dabei betonten Matejcek und Dytrych jedoch, dass es keine eindeutige Verbindung zwischen den Ergebnissen und der negativen mütterlichen Einstellung gibt, sondern die Ergebnisse als Resultate des Zusammenwirkens komplexer, ungünstiger Faktoren zu sehen sind, zu welcher ebenso die unerwünschte Schwangerschaft und Ablehnung der Abtreibung gehört (vgl. Janus, 1994, S. 195 ff.).

5.3 Auswirkungen von pränatalem Stress und Traumata

Wie bereits aufgezeigt, ist die menschliche Entwicklung in der pränatalen Phase geprägt von einer hohen Sensitivität gegenüber Umwelteinflüssen. Dargestellte innere und äußere Umwelt- und Stresseinflüsse sowie Traumata können neben der genetischen Disposition die prä- und postnatale Entwicklung langfristig beeinflussen, sogar bis ins Erwachsenenalter hinein. Im Folgenden wird ein Überblick gegeben, welches die Auswirkungen von pränatalem Stress und Traumata sein können, mit besonderem Fokus auf die Auswirkungen der Mutter-Kind-Bindung.

5.3.1 Fetale Programmierung

Fetal programming, auf Deutsch auch Fetale Programmierung genannt, ist ein Begriff aus der Epigenetik, welcher besagt, dass der Zustand der intrauterinen Umwelt zu einer „Fehlprogrammierung” von Stoffwechselprozessen und Organsystemen des ungeborenen Kindes führen kann, sodass die Auswirkungen dieser Beeinflussung bis über die Geburt hinaus bestehen kann (vgl. Ott et. al., 2021, S. 139).

Bereits 1974 prägte Günther Dörner den Begriff der Fetalen Programmierung in Bezug auf endokrine Einflüsse auf die Hirnorganisation. In den 1980er Jahren begann Barker, einer der Pioniere der fetalen Programmierung, in seinen epidemiologischen Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen einem niedrigen Geburtsgewicht und einem erhöhten Risiko für koronaren Herztod herzustellen. Dabei wird nicht davon ausgegangen, dass das Geburtsgewicht per se das Risiko für koronaren Herztod steigert, sondern dass das Geburtsgewicht das Ergebnis ungünstiger intrauteriner Bedingungen ist. Die Barker Hypothese ist die heutige Grundlage zur Fetalen Programmierung (vgl. Lang et. al., 2008, S. 205).

Entsprechend dem Prozess der Fetalen Programmierung wirkt sich pränataler mütterlicher Stress nachhaltig auf die Entwicklung und Gesundheit des ungeborenen Kindes aus. Erste wissenschaftliche Untersuchungen konzentrierten sich in diesem Zusammenhang auf Adrenalin und das sympathische System. Aktuelle Forschungsansätze gehen mittlerweile von drei parallelen Prozessen aus, über welche sich mütterlicher Stress auf das ungeborene Kind überträgt und somit die pränatale Entwicklung beeinflusst:

1. Mütterliche Stresshormone passieren die Plazenta und gelangen somit in den fetalen Blutkreislauf
2. Die Ausschüttung von Stresshormonen aus der Plazenta wird durch die mütterlichen Stresshormone aktiviert und gelangen somit in den fetalen Kreislauf
3. Mütterliche Stresshormone reduzieren die plazentale Durchblutung, was wiederum eine vermehrte Stresshormonausschüttung aus der Plazenta bewirkt (vgl. Huizink et al., 2004, S. 115 ff.).

Der zweite Prozess wurde bisher am besten untersucht. Hierbei spielt die fetale Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HHNA-Achse) eine große Rolle, da angenommen wird, dass sich pränataler Stress über diese Achse auf das ungeborene Kind auswirkt. Mütterlicher Stress führt zu einem erhöhten Kortisolspiegel während der Schwangerschaft. Der mütterliche Kortisolspiegel erhöht über den Weg der Plazentaschranke die Kortisolwerte des ungeborenen Kindes. Ist die fetale HHNA-Achse, welche sich noch in der Entwicklung befindet, einer solch hohen Kortisolkonzentration ausgesetzt, wird diese hohe Konzentration vom ungeborenen Organismus als normal bewertet. Die Feedbackregulation der HHNA-Achse wird umprogrammiert auf ein höheres basales Niveau mit höheren Kortisolausschüttungen. Diese fötale Programmierung der HHNA-Achse beruht möglicherweise auf einer Reduktion der Glukokortikoidrezeptoren in der Nebenniere, im Hypothalamus und im Hippocampus. Eine anhaltende, hyperaktive HHNA-Achse begünstigt eine Vielzahl von Erkrankungen im späteren Leben, wie Bluthochdruck, Diabetes, kognitive Verhaltensauffälligkeiten und Depressionen (vgl. ebd.).

Kritisiert wird bei der Fetalen Programmierung die Tatsache, dass nur zum Teil geklärt ist, in welchem Ausmaß durch welchen pränatalen Faktor bestimmte Erkrankungen im Erwachsenenalter bedingt werden. Die meisten Daten stammen aus experimentellen Tierstudien und können demnach nicht direkt auf den Menschen übertragen werden. Zudem wird kritisiert, dass innerhalb der Forschung der Fetalen Programmierung anderen Dispositionen im Laufe der Entwicklung zu wenig Beachtung geschenkt wird (vgl. ebd., S. 206). Dennoch wird das Konzept der Fetalen Programmierung durch das Zunehmen experimenteller, klinischer und epidemiologischer Untersuchungen immer tragfähiger. Wichtige Ansätze für präventive Maßnahmen während der Schwangerschaft lassen sich durch die Fetale Programmierung ableiten. Eine ausgefeilte prä- und perinatale Betreuung der werdenden Mütter und ihrer Kinder könnte dadurch mehr in den Fokus der Wissenschaft rücken (vgl. ebd.).

5.3.2 Epigenetik

Bei der Frage, welche Auswirkungen mütterliche Stresserfahrungen auf das ungeborene Kind haben, spielen auch die Gene eine elementare Rolle. Die Epigenetik ist jene Wissenschaft, welche als Bindeglied zwischen Genen und Umwelteinflüssen agiert. Gegenstand der epigenetischen Forschung ist daher die Identifikation von jenen Umweltfaktoren, welche allein im Zusammenspiel mit anderen Faktoren epigenetische Veränderungen bilden (vgl. Robienski, 2016, S. 146). Durch die ersten Erfahrungen im Mutterleib und der ersten frühen Bindungsbeziehung können sich die Gene über maternal-fetale Gen-Gen- und Gen-Umwelt-Interaktionen auswirken. Mittlerweile mehren sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse, dass epigenetische Veränderungen aufgrund früherer Stresserfahrungen durch genetische Veranlagung beeinflusst werden (vgl. Entringer et al., 2016, S. 1257).

In Bezug auf die Epigenetik wurden vor allem die Auswirkungen der mütterlichen Ernährung auf das ungeborene Kind untersucht. Schwieriger wird es jedoch, neurologische und hormonelle Wirkungen aus der Umwelt und von den Eltern, welche das Erbgut von Kindern beeinflusst, zu untersuchen. Die Untersuchungen werden vor allem dahingehend erschwert, dass jegliche Einflüsse individuell im Erbgut verarbeitet werden. Dennoch konnten zahlreiche Studien aufzeigen, dass frühe Stresserfahrungen und Traumata zu markanten Änderungen in neurobiologischen Systemen führen (vgl. Entringer et al., 2016, S. 1255). Vor allem nach der Befruchtung und während der Embryonal- und Fetalphase reagiert der sich noch entwickelnde Organismus vulnerabel auf (schädigende) Umwelteinflüsse. Die dadurch induzierten epigenetischen Veränderungen können somit Auswirkungen auf das gesamte Leben des Kindes haben. Diese epigenetischen Veränderungen werden langfristig mit dem Auftreten chronischer Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2, Morbus Alzheimer, Depressionen, Tumorerkrankungen und koronaren Herzerkrankungen in Zusammenhang gebracht (vgl. Brune & Brune, 2017, S. 51). Jegliche epigenetischen Veränderungen werden auf gravierende Veränderung der DNA-Methylierung zurückgeführt. Die DNA-Methylierung besitzt eine elementare Funktion für die Genregulation, sie dient als Schalter, welcher Gene aktivieren oder stilllegen kann. In der pränatalen Phase werden die epigenetischen Markierungen zunächst erstellt und stabilisiert. Die sich etablierenden Zellsysteme, vor allem die neuronalen Zellsysteme, können durch schädigende Einflüsse fehlerhafte Merkmale an die Tochterzellen weitergeben, was zu den genannten Krankheitsbildern führen kann. Bereits im Mutterleib kann es hierbei zu Fehlbildungen des Neuralrohrs kommen. Radtke et. al. (2011, zitiert nach Brune & Brune, 2017, S. 60) konnten aufzeigen, dass Kinder, deren Mütter traumatisierende Gewalt während der Schwangerschaft erlebten, im jugendlichen Alter ein verändertes Methylierungsmuster am Gen des Glukokortikoid-Rezeptors aufzeigten, welches mit einer erhöhten Kortisolausschüttung einherging. Die Autoren führten dies auf eine fetale Programmierung zurück (siehe Kapitel 5.3.1). Auch beim Rauchen, der Einnahme von chemischen Substanzen und bei der intrauterinen Unter- und Überversorgung wurden epigenetische Veränderungen beim ungeborenen Kind nachgewiesen (vgl. ebd.).

Hypothesen hierzu gehen zusätzlich davon aus, dass frühe Stresserfahrungen und Traumata sich negativ auf das Gehirn, vor allem auf das sich noch entwickelnde Gehirn, auswirken. In keinem anderen Organ ist die Modulation der Genexpression neuraler Zellen durch die jeweils vorhandenen Verhältnisse so stark ausgeprägt und daher auch so gut messbar. Diese Verhältnisse werden von äußeren Rahmenbedingungen beeinflusst und entwickeln sich im Verlauf der embryonalen Entwicklung (vgl. Hüther, 2005, S. 51). So kann eine Programmierung von Schaltkreisen im Gehirn durch pränatale Stresserfahrungen die Anpassungsfähigkeit des Organismus an Stress über das gesamte Leben hinweg bestimmen. Hierdurch kann die Grundlage zur Entstehung verschiedener stressbedingter Störungen bereits früh in der Entwicklung gelegt werden, wobei sowohl pränatale traumatische Erfahrungen wie auch pränatale, welche auf das ungeborene Kind einwirken, solche langfristigen Folgen mit sich bringen (vgl. Entringer et al., 2016, S. 1257).

Wie bereits in Kapitel 2.2 dargestellt, besteht in der Pränatalforschung nicht mehr die Frage zwischen Erbe oder Umwelt. Vielmehr wird von einer dynamischen Wechselwirkung zwischen Erbe und Umwelt ausgegangen. Dies ist ein bedeutsamer Schritt für das Verständnis pränataler Einflüsse auf die Ausformung und Strukturierung synaptischer Verschaltungen und neuronaler Netzwerke. Die Wechselwirkung zwischen genetischer Disposition und Umwelt lassen sich besonders gut durch die Technik des Cross-Fosterings beschreiben. Werden direkt nach der Geburt Rattenbabys vertauscht, welche sich bei der Aufzucht vorheriger Würfe als besonders kompetent oder aber als besonders inkompetent erwiesen, konnte durch Experimente gezeigt werden, dass komplexe Fähigkeiten wie die mütterliche Sorgfalt bei der Aufzucht der Rattenbabys durch eigene frühe Erfahrungen erworben wird und nicht durch genetische Dispositionen determiniert ist (vgl. Francis et. al 1999, zitiert nach Hüther, 2005, S. 56 ff.). Um die pränatalen Bedingungen herauszufinden, welche zur Ausformung bestimmter Verhaltensmerkmale führen, haben Forscher:innen bereits die nach der Befruchtung entstandenen Embryonen vertauscht, nicht erst die Neugeborenen. Hierzu wurden Mäusemütter, welche aus zwei Inzuchtstämmen mit verschiedenen Verhaltensmerkmalen stammten, ausgewählt. Die Mäuse des einen Stammes verhielten sich angeborenermaßen vorsichtiger in einer neuen Umgebung und brauchten einige Zeit, um sich zu orientieren. Die Mäuse des anderen Stammes hingegen konnten sich schneller räumlich orientieren. Wurden nun durch Embryotransfer die Embryonen direkt nach der Befruchtung vertauscht, so zeigten die Nachkommen, wenn sie geboren und ausgewachsen waren, dasselbe Verhalten wie die Maus, die sie ausgetragen hatte und nicht wie die Mäuse, von denen sie eigentlich abstammten. Zudem zeigte sich, dass nur diejenigen Mäuse, welche sowohl pränatal als auch postnatal von den Mäusemüttern des anderen Stammes aufgezogen wurden, das gleiche Verhalten wie die jeweilige „Mäuseleihmutter“ aufzeigten. Das scheinbar genetisch festgelegte Verhalten der Orientierungslosigkeit und Vorsicht ist demnach durch pränatale Erfahrungen und Bedingungen bestimmt. Hierdurch konnte aufgezeigt werden, dass bestimmte angeborene Verhaltensmerkmale nicht auch automatisch genetisch festgelegt sein müssen. Anzumerken ist jedoch, dass sich mit diesen Verfahren nicht eindeutig differenzieren lässt, ob ein bestimmtes Merkmal genetisch determiniert oder durch pränatale Erfahrungen geprägt ist. Diese Verfahren zeigen lediglich auf, dass eben beide Optionen möglich sind (vgl. ebd.).

[...]


1 Es wird zwischen drei verschiedenen Keimblättern differenziert: Entoderm, Mesoderm und Ektoderm (vgl. Campbell, Reece, 2003, S. 1208).

Ende der Leseprobe aus 128 Seiten

Details

Titel
Der Einfluss von pränatalem Stress und Traumata auf die Mutter-Kind-Bindung und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit
Hochschule
Fachhochschule Mannheim, Hochschule für Sozialwesen  (Sozialwesen)
Note
1,0
Autor
Jahr
2022
Seiten
128
Katalognummer
V1292733
ISBN (Buch)
9783346758774
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sozialwesen, Soziale Arbeit
Arbeit zitieren
Franziska Strothmann (Autor:in), 2022, Der Einfluss von pränatalem Stress und Traumata auf die Mutter-Kind-Bindung und Unterstützungsmöglichkeiten durch die Soziale Arbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1292733

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