Antieidgenössische Schmähungen im Schwabenkrieg

Über die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls zu den Eidgenossen innerhalb der städtischen, nicht-obrigkeitlichen Bevölkerung Basels im Zuge des Schwabenkriegs von 1499


Seminararbeit, 2022

20 Seiten, Note: 6.0 (Schweiz - sehr gut)


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Schmähungen zur Zeit des Schwabenkriegs und ihre Wirkung auf die Eidgenossen

3 «Daz du gefrolockest hast, da die biderben lút zue Dornach erslagen sind»

4 Schlussbemerkung

5 Bibliografie
5.1 Quelle
5.2 Sekundärliteratur

6 Abstract

1 Einleitung

Im Jahr 1499 stand die zehnörtige Eidgenossenschaft mit ihren Zugewandten Orten in einem kriegerischen Konflikt mit dem Hause Habsburg-Österreich und dem Schwäbischen Bund. Je nach historischer Perspektive wird der Konflikt Schwaben- oder Schweizerkrieg genannt.1 Diese Bezeichnung ist gemäss Bernhard Stettler problematisch, da sie einen Kampf zwischen zwei geschlossenen Gruppen (oder gar Völkern) suggeriert, was nicht der damaligen Realität entsprochen hat.2 Die Ursachen und Voraussetzungen des Konflikts waren politischer, wirtschaftlicher und sozialer Natur und schwelten teilweise schon lange Zeit, wobei deren Verknüpfung schliesslich zur Eskalation führte. Zu den politischen Ursachen zählten eine konkurrierende, auf Territorialgewinne ausgelegte Aussenpolitik der Eidgenossen und Habsburger, die sich ab 1495 zunehmend verschlechternde Beziehung zwischen den Eidgenossen und König Maximilian I., der zunehmende Druck zur Parteinahme für die Eidgenossen bzw. zum Haus Habsburg-Österreich Ende des 15. Jahrhunderts, die Gründung und das Vorgehen des Schwäbischen Bunds sowie der grundsätzliche Wille der Eidgenossen zur kriegerischen Beilegung der Grenzkonflikte. Aus wirtschaftlicher Perspektive trug der ökonomische Wettbewerb unter den Städten sowie den jeweiligen Söldnertruppen zur Verschlechterung der Beziehung bei. Die sozialen Ursachen des Konflikts fussten auf den unterschiedlichen Selbstverständnissen, wobei sich die Eidgenossen gegen Ende des 15. Jahrhunderts zunehmend als ‘Schweizer’3 bezeichneten und die Entstehung der Eidgenossenschaft auf den Kampf gegen Habsburg und den Adel zurückführten. Die Schwaben wiederum beriefen sich auf Adel, Reich und Königstreue. Diese Gegensätze kumulierten sich zu einem «völlig irrationalen Hass»4 der sich nicht zuletzt in üblen gegenseitigen Beschimpfungen (‘Kuhschweizer’, ‘Sauschwab’) ausdrückte und weiter zum Auseinanderleben von Eidgenossen und Schwaben beitrug.5 In dieser Arbeit stehen weniger die militärischen Aspekte, sondern die eben erwähnten sozialen Begleiterscheinungen – d.h. die Schmähungen – im Vordergrund, weshalb auf eine Schilderung des Kriegsverlaufs verzichtet wird. Die Folgen, die sich nach dem am 22. September 1499 geschlossenen Frieden von Basel zeitigten, sollen dennoch kurz umrissen werden. Die politische Grenze am Bodensee sowie Hoch- und Alpenrhein festigte sich und das Thurgauer Landgericht ging endgültig in eidgenössische Herrschaft über. Für die Eidgenossenschaft unmittelbare Folge war mitunter die Aufnahme Basels als vollberechtigtes Mitglied in die Eidgenossenschaft im Juni 1501. Die Beziehungen zwischen den Kriegsparteien normalisierte sich in der Folgezeit, ging allerdings mit einer weitgehenden Selbstständigkeit der Eidgenossenschaft innerhalb des Heilig Römischen Reiches einher. Auf mentaler Ebene und gesondert von den politischen Ergebnissen stärkte gemäss Andre Gutmann «die gemeinsame Bewältigung des Schwabenkriegs das Selbstbewusstsein der Eidgenossen»6, was sich nicht zuletzt auch in der bereits erwähnten Eigenbezeichnung als ‘Schweizer’ zeigte.7

In der Forschungsliteratur werden den Schmähungen hinsichtlich ihres Einflusses auf den Selbstvergewisserungs- und Abgrenzungsprozess der Eidgenossen im 15. Jahrhundert grosse Bedeutung beigemessen. Der Basler Geschichtsprofessor Claudius Sieber-Lehmann bspw. verweist zur Untersuchung der gesellschaftlichen Breitenwirkung solcher Beschimpfungen auf die Verwendung von Kundschaften (Zeugenaussagen) als bestgeeigneten Quellentyp und stellt sogleich einen konkreten Fall vor, dem in dieser Arbeit genauer nachgegangen wird. Es handelt sich um einen Nachbarschaftsstreit (Ehrhandel) zwischen Margareth von Vach und der Familie Hebdenring, der sich vermutlich am Ende des Jahres 1499 zugetragen hat und über dessen Vorgeschichte nur wenig bekannt ist. Insgesamt wurden zum Fall sechs Zeuginnen und zwei Zeugen befragt, die ein mehr oder weniger einheitliches Bild des Streitherganges zeichnen und bei dem die Ereignisse des Schwabenkriegs eine bedeutende Rolle zu spielen schienen.8 Die Kundschaft umfasst sechs Seiten, wobei die Zeugenaussagen weder hintereinander erfolgen – sie werden von einem anderen Gerichtsfall unterbrochen – noch einheitlich datiert wurden. Genauere Informationen zum Erhaltungszustand, zur Beschaffenheit, Überlieferung und Datierung der Kundschaft folgen im Quellenkapitel. Weil die Streitenden bei ihren gegenseitigen Beleidigungen mehrfach auf die politischen Verwerfungen rund um den Schwabenkrieg bezugnehmen, scheint sich diese Kundschaft zur Untersuchung folgender Fragestellung optimal zu eignen: Lassen sich aus Zeugenaussagen (Kundschaften) eines Nachbarschaftskonflikts, in welchem gegenseitige Schmähungen auf die Konfliktlinien des Schwabenkriegs von 1499 bezugnehmen, Vorstellungen über ein Zugehörigkeitsgefühl und ein Abgrenzungsbedürfnis innerhalb jener eidgenössischen Gesellschaftsschicht erkennen, die nicht (offensichtlich) zur politischen bzw. wirtschaftlichen Elite des spätmittelalterlichen Basels gehörten?

Schon jetzt ist klar, dass aufgrund dieser dünnen Quellenlage9 kein synthetischer Ansatz verfolgt und keine verallgemeinernde Aussage über eine Identität der Eidgenossen getroffen werden kann. Durch eine analytische Herangehensweise verspreche ich mir jedoch, die Rückwirkungen der Schmähungen auf die Entstehung eines Zugehörigkeitsgefühls10 und eines Abgrenzungsbedürfnisses zumindest in Ansätzen nachweisen zu können.

Zur eben eingeführten Fragestellung kam es unter anderem durch die Lektüre der Habilitation Das eidgenössische Basel und des Werks In Helvetios – Wieder die Kuhschweizer von Sieber-Lehmann. Er konnte eindrücklich nachweisen, dass die breitere Bevölkerungsschicht nicht nur Kenntnis von den politischen Verwerfungen im Zusammenhang mit dem Schwabenkrieg hatte, sondern dass es infolgedessen auch bei privaten Streitigkeiten zu entsprechenden Parteinahmen kam.11 These dieser Seminararbeit ist nun, dass es zu einer solchen Parteinahme nur dann sinnvollerweise kommen konnte, wenn sich die Leute mit der entsprechenden Partei in irgendeiner Weise identifizieren konnten. Eine solche Identifikation bedingt sowohl das Bewusstsein über gewisse Gemeinsamkeiten mit dieser Partei und das Bedürfnis, sich mit dieser gemeinzumachen als auch eine bewusste Abgrenzung gegenüber der gegnerischen Partei. Sieber-Lehmanns Schlussfolgerungen können deshalb wie folgt erweitert werden: Aus der Parteinahme der breiteren Bevölkerungsschicht bei privaten Streitigkeiten lässt sich schliessen, dass nicht nur in der obrigkeitlich-politischen Gesellschaftsschicht Vorstellungen von Zugehörigkeitsgefühl sowie der Wille nach Abgrenzung vorhanden waren, sondern dass dies ebenso in der breiteren Bevölkerungsschicht der Fall war.

Über die militärischen Aspekte des Schwabenkriegs gibt es zahlreiche Literatur. Aber auch die identitätspolitischen Konsequenzen dieser kriegerischen Auseinandersetzung – sofern es denn welche gab – wurden ausgiebig erforscht. Die historische Forschung ist sich nämlich über das Vorhandensein eines Identitäts- bzw. Selbstbewusstseins in der Alten Eidgenossenschaft nicht einig. Häufig wird davon gesprochen, dass ein solches Bewusstsein lediglich auf obrigkeitlicher Ebene vorhanden war, nicht aber in der breiteren Bevölkerung. Wie wir gesehen haben, widerspricht Claudius Sieber-Lehmann dieser Ansicht in Teilen, plädiert für eine vertiefte Forschung in diesem Bereich und trägt nicht zuletzt selbst zur Schliessung dieser Forschungslücke bei. Zunächst wird nun ins Themenfeld der Schmähungen eingeführt. Im Anschluss folgt die Quellenanalyse, wobei zur Kontextualisierung der Quelle die Rolle der Stadt Basel während des Schwabenkriegs bis zum Beitritt in die Eidgenossenschaft beleuchtet wird und ein kurzer Abriss über das Basler Schultheissengericht erfolgt. Die Vorstellung des Quellentyps und eine tiefgehende Quelleninterpretation mit strengem Blick auf Fragestellung und Hypothese komplettieren die Arbeit.

2 Schmähungen zur Zeit des Schwabenkriegs und ihre Wirkung auf die Eidgenossen

Wenn es um Schmähungen geht, interessiert natürlich nebst der Frage, wie genau geschmäht wurde, auch die, wer die Adressat*innen dieser Schmähungen waren. Diese Frage ist sogleich Ausgangspunkt dieses Kapitels. In einem zweiten Schritt widme ich mich den konkreten Schmähungen, einem diesem Kommunikationsprozess zugrundeliegenden Konzept und einer wichtigen Voraussetzung für das Gelingen dieses Kommunikationsaktes. In einem letzten Schritt wird nach möglichen Folgen und Wirkweisen, die die Schmähungen in Bezug auf die Eidgenossen12 hatten, gefragt. Die Analyse des untersuchten Einzelfalls mit Bezug auf die hier gewonnenen Erkenntnisse folgt im nächsten Kapitel.

Die Frage, wer von diesen Schmähungen im Zeitraum, der uns interessiert, betroffen war, ist nicht leicht zu beantworten. Wie Marchal in Über Feindbilder zu Identitätsbildern richtigerweise festhält, kann von der Eidgenossenschaft im Mittelalter weder von einem staatsrechtlichen noch von einem einheitlichen Gebilde gesprochen werden. Vielmehr handelte es sich um ein Geflecht unterschiedlicher Bünde, bestehend aus vollberechtigten Orten (zuerst 8, später 13), ihnen zugewandten Orten und den von den Orten abwechselnd verwalteten Untertanengebieten, den Gemeinen Herrschaften. Dabei darf nicht davon ausgegangen werden, dass jeder mit jedem in einem Bündnis stand und es sich dabei um ein gleichberechtigtes Verhältnis handelte.13 Für das hier behandelte Thema also von der Eidgenossenschaft als Bezugspunkt auszugehen, wäre dann auch nicht nur wenig gewinnbringend, sondern schlichtweg falsch. Es sind deshalb weitere Überlegungen anzustellen, wobei erneut auf Marchal zu verweisen ist. In Schweizer Gebrauchsgeschichte setzt er sich mit dem Geschichtsbewusstsein auseinander, das im 15. Jahrhundert in Teilen der Eidgenossenschaft vorgeherrscht haben könnte. Obschon das Phänomen des Geschichtsbewusstseins in meinem Fall weniger Betrachtungsgegenstand, sondern vielmehr Voraussetzung für die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls ist, können mit Blick auf unsere Frage nach dem Wer dennoch hilfreiche Erkenntnisse abgeleitet werden. So hält Marchal fest, dass für den Zeitraum des 15. Jahrhunderts nicht sinnvollerweise von einem Geschichtsbewusstsein – oder eben in unserem Fall Zugehörigkeitsgefühlder Zürcher, der Berner, der herrschenden Obrigkeit, den Zünften oder den Bauern die Rede sein könne. Vielmehr sei von den uns zur Verfügung stehenden Quellen14 auszugehen, woraus sich ein eher diffuses Bild des uns interessierenden Personenkreises ergibt. So spricht Marchal konsequent nur von einer «breiteren Öffentlichkeit»15, wobei er den Begriff weder genauer zu definieren noch weiter einzugrenzen versucht. Dies begründet er mit der Quellenlage, die eine quantifizierende Untersuchung der Repräsentativität und des Ausmasses dieser ‘breiteren Öffentlichkeit’ verunmögliche. Er grenzt jedoch den geografischen Bezugsrahmen ein, wobei er festhält, dass sich die Erkenntnisse auf die von ihm untersuchten Orte beschränken und nicht ohne weiteres auf das gesamteidgenössische Gebiet ausweiten lassen.16 Der Ansatz dieser Arbeit orientiert sich an jenem Marchals, weshalb sich die Quellenanalyse ebenfalls indirekt am Begriff der ‘breiteren Öffentlichkeit’ orientieren wird. Der Versuch, diesem Begriff etwas die Weite zu nehmen, erfolgt durch eine starke Einschränkung und die Konzentration auf wenige Einzelpersonen, die eben dieser ‘breiteren Öffentlichkeit’ zuzuordnen sind und von Schmähungen betroffen waren bzw. selbst geschmäht haben. Auf die Konsequenzen, die sich durch dieses Vorgehen ergeben, sowie die genauere Beschreibung dieser Einzelpersonen ist später einzugehen.

Den Schmähungen liegt ein Konzept zugrunde, das von der soziologischen Devianzforschung als Stigmatisierung bezeichnet wird und sich wie folgt definieren lässt:

«Unter Stigmatisierung sind soziale Prozesse zu verstehen, die durch ‘Zuschreibungen’ bestimmter – meist negativ bewerteter – Eigenschaften bedingt sind oder in denen stigmatisierende, also diskreditierende ‘Etikettierungen’ eine wichtige Rolle spielen. So gesehen ist ein Stigma nicht ein Merkmal der Andersartigkeit, sondern die negative Definition dieses Merkmals, denn grundsätzlich kann jedes objektive Merkmal zu einem Stigma werden.»17

Wirkmächtig wir die Stigmatisierung besonders durch die Verallgemeinerung der Stigmata – also der Schmähungen –, die infolge dieser Verallgemeinerung nicht mehr überprüft oder differenziert werden können. Die Stigmatisierung erfolgt dabei nicht einseitig von den Stigmatisierenden, sondern «wird interaktionell von beiden Seiten her ‘entwickelt’»18, wobei die Stigmatisierten die Beleidigungen nicht nur hinnehmen, sondern sie weiterentwickeln, provokativ zur Schau stellen oder ihnen durch Umdeutung positive Werte beimessen.19 Wie im Falle der Eidgenossen, die sowohl beim abwertenden Etikett ‘Bauer’ als auch beim ursprünglich als Schimpfwort gebrauchten Ausdruck ‘Schweizer’ eine positive Umdeutung vornahmen und insbesondere letzteren um 1500 zur Selbstbezeichnung verwendeten.20 In Bezug auf die Schmähungen ist nun noch eine wichtige Voraussetzung zu nennen, die Sieber-Lehmann als Vorwissen der Kommunikationspartner bezeichnet. Jeder Sprechakt – und das gelte ganz besonders für die Schmähungen – setze dieses Vorwissen bei den Gesprächspartnern voraus , womit gemeint wird, dass sich die Kommunizierenden gegenseitig verstehen müssen. Bei den Schmähungen sei dies deshalb eine notwendige Voraussetzung, da «eine Beschimpfung, die nicht verstanden wird, [sinnlos ist].»21 Mit welcher Art von Schmähungen waren die Eidgenossen nun aber konfrontiert und wann kamen diese ungefähr auf? Marchal hält diesbezüglich fest, dass sich in der habsburgisch-österreichischen Propaganda bereits am Ende des 14. Jahrhunderts «die wesentlichen Elemente des Feindbildes von den Eidgenossen»22 erkennen lassen. Klassifiziert werden diese Elemente von Sieber-Lehmann unter den Kategorien des Sodomievorwurfs (‘Kuhspott’), der ständischen Kritik an den aufständischen ‘Bauern’ und der Ablehnung ihrer politischen Organisation sowie einzelnen negativen Charakterzügen der Eidgenossen.23 Zu diesen zählten unter anderem «die schrankenlose Gewalttätigkeit und Grausamkeit der wilden Eidgenossen»24, ihre Beute- und Geldgier sowie ihre unbändige Kriegslust.25 Für uns besonders interessant – da er in Teilen auch in der Quelle vorkommt – ist der Vorwurf der ständischen Kritik. Bei diesem wird über die Eidgenossen von einem groben Bauernvolk gesprochen, das sich gegen ihren dominus naturalis26 erhoben und sich dadurch über die geltende dreiständige Gesellschaftsordnung hinweggesetzt hätte.27 In diesem Vorwurf spiegelt sich die grundsätzliche eidgenössische Abneigung gegenüber dem habsburgischen Adel wider, auf die in der Einleitung bereits eingegangen wurde.

Wenn wir uns in den nächsten Zeilen mit den Folgen und Wirkweisen der im Schwabenkrieg geäusserten Schmähungen beschäftigen, bietet sich zunächst eine Perspektive an, die die Eidgenossen als Bezugsgrösse betrachtet, damit die Einordnung und Beurteilung der Wirkweisen bei der späteren Quellenanalyse besser gelingen kann. Mit Blick auf die historische Entwicklung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert, tritt eine Folge ganz deutlich zutage: ein verstärktes Zusammengehörigkeitsgefühl unter den eidgenössischen Orten und die damit verbundene Entwicklung eines eidgenössischen (Selbst-)Bewusstseins. Dieses Bewusstsein speiste sich Stettler nach zu urteilen nicht allein aus gemeinsamen Erlebnissen und Erinnerungen der Eidgenossen, sondern auch aus gezielten Vergangenheitskonstruktionen, die eine angleichende Wirkung nach innen und eine abgrenzende Wirkung nach aussen hatten.28 Diese Abgrenzung funktionierte gemäss Marchal durch «Vereinfachung und [einer] eindeutigen Zuweisung von Gut und Böse»29, deren Wirkung sich auch über die Grenzen der einzelnen Orte und Stände der Alten Eidgenossenschaft entfaltete.30 Die Entwicklung einer eidgenössischen Identität führt Holenstein auf zwei Abgrenzungen zurück und sieht dabei Alteritätserfahrung und Identitätsbildung eng miteinander verschränkt. So nennt er als identitätsstiftende Faktoren einerseits die militärischen Unternehmungen – und streicht dabei besonders die Erfolge der Eidgenossen gegen Habsburg und Burgund heraus – und andererseits – worauf es uns hier ankommt – den Umgang der Eidgenossen mit der Stigmatisierung.31 Die Besonderheit am eidgenössischen Bewusstsein lag darin, dass sich dieses allein auf vertragliche Bindungen gründete und nicht – wie im Mittelalter üblich – auf anderen identitätsstiftenden Elementen wie bspw. einem gemeinsamen Herrscherhaus.32 Der Schwabenkrieg wird von Marchal als «virulente Phase»33 eines Jahrhunderte andauernden Prozesses der Ausbildung einer «kollektive[n] Identität unter dem Aspekt der Entfremdung zwischen Eidgenossenschaft und Reich»34 interpretiert. In der Forschung kursiert laut Marchal aufgrund des Umstands, dass es im Mittelalter keine Demokratie moderner Prägung gab, die Fehlannahme, dass die Entwicklung bzw. das Vorhandensein eines eidgenössischen Selbstbewusstseins ausschliesslich für die herrschende, politische Elite aber keinesfalls für die breitere Öffentlichkeit postuliert werden könne. Dieses Urteil sei jedoch aufgrund des unklaren Verhältnisses zwischen dem Wirken der herrschenden Obrigkeit und der breiten öffentlichen Partizipation nicht in dieser Eindeutigkeit zu verteidigen. Gemeinsamkeits- und Identitätsvorstellungen entwickelten sich nach Marchal zunächst in kleineren Einheiten wie Städten, Ländern oder im günstigsten Fall in bestimmten Regionen. Ein nationales Bewusstsein könne aber nicht postuliert werden, weshalb vornehmlich von Eidgenossen und nicht von Eidgenossenschaft gesprochen wird.35 Der These eines gemeinsamen Identitätsbewusstseins einzelner Orte geschweige denn der gesamten Alten Eidgenossenschaft, steht Elisabeth Wechsler kritisch gegenüber. Zwar gäbe es im Kontext der Ehrzuschreibungen zwischen einzelnen Orten Argumentationsmuster, die die Vorstellung von Einheit und Identität erkennen liessen, daraus aber ein tatsächliches Identitätsbewusstsein abzuleiten, das über den einzelnen Ort bzw. die einzelne Stadt (bei der Wechsler durchaus Selbstbewusstseinsvorstellungen erkennt) hinausgeht, würde nicht allein deshalb zu weit führen, da solche Einheiten häufig politisch motiviert und zeitlich begrenzt waren.36 Zudem darf der Schwabenkrieg – allen Abgrenzungsbemühungen seitens der Eidgenossen zum Trotz – nicht als Unabhängigkeitskrieg gegen das Heilige Römische Reich verstanden werden, wie dies von der Historiographie des 19. Jahrhunderts während der Nationalstaatsgründung getan wurde.37 Wir haben nun also eine gewisse Vorstellung davon, wer den Schmähungen im Kontext des Schwabenkriegs ausgesetzt war und wie geschmäht wurde. Auch über die Folgen dieser Schmähungen auf die Eidgenossen wissen wir nun mehr Bescheid. Sowohl die Fragestellung als auch die Hypothese sind damit hinreichend fundiert und begründet, womit die Voraussetzungen geschaffen sind, sich der Quellenanalyse zu widmen.

3 «Daz du gefrolockest hast, da die biderben lút zue Dornach erslagen sind»

Wie in der Einleitung angesprochen, beginnen die quellenkritischen Überlegungen mit der Rolle Basels während dem Schwabenkrieg und werden mit einer Einführung in die Quellengattung der Kundschaften und in die Institution des Schultheissengerichts abgeschlossen. Die Schilderung der Vorgeschichte, die dem in der Kundschaft behandelten Streit vorausgeht, bildet den fliessenden Übergang zur Quelleninterpretation, wobei folgenden Fragen nachgegangen wird: Wie wird im Streit argumentiert? Welches Gewicht und welche Funktion haben die Argumente der Parteinahme bzw. -zuschreibung im Streit insgesamt? Können aus diesen Argumenten Rückschlüsse auf ein Zugehörigkeitsgefühl zu den Eidgenossen und ein Abgrenzungsbedürfnis zu den Habsburgern seitens der streitenden Personen gezogen werden?

Die politische Obrigkeit Basels bemühte sich aufgrund innerer Gespaltenheit hinsichtlich einer Parteinahme während des ganzen Schwabenkriegs um eine neutrale Haltung gegenüber den Konfliktparteien.38 Diese Uneinigkeit war sowohl Habsburgern wie Eidgenossen bekannt, was beiderseits mit zahlreichen Versuchen verbunden war, die Stadt am Rhein auf die eigene Seite zu ziehen und die sich in Unterstützungszusicherungen aber auch Drohungen, wie bspw. dem Entzug städtischer Privilegien durch Maximilian I., ausdrückten.39 In der Basler Landschaft wuchsen indes die Sympathien für die Eidgenossen, die sich u.a. in der tatkräftigen Unterstützung in der Schlacht bei Dornach40 zeigten und die städtische Regierung weiter unter Druck setzte. Der Sieg in der Schlacht bei Dornach und die Haltung der ländlichen Bevölkerung beschleunigten den Prozess, der von Sieber-Lehmann als ‘Verschweizerung Basels’41 bezeichnet wird.42 Mit dem Frieden von Basel vom 22. September 1499 – aus dem die Stadt trotz ihres Verhaltens straffrei herausging – begannen für die Stadt erstaunlicherweise erst die Unruhen. Denn nicht nur Basel, sondern alle am Krieg Beteiligten erhielten Amnestie, was paradoxerweise die Zahl nachbarschaftlicher Übergriffe in die Höhe schnellen liess und wenig überraschend die antiösterreichische Stimmung in der Stadt verstärkte, die sich wiederum in einer zunehmenden Adelsfeindschaft ausdrückte.43 Ein Höhepunkt der ‘Verschweizerung’ war sicherlich die Aufnahme Basels als vollwertiges Mitglied in die Eidgenossenschaft am 9. Juni 1501. Dies führte seitens der Stadt zu einem neuen Selbstbewusstsein, wusste sie nun die Eidgenossen als Verbündete hinter sich. Beim nördlichen Nachbarn stiess die Aufnahme hingegen auf wenig Begeisterung und war mit erheblichen Ängsten verbunden.44

[...]


1 Gutmann, Andre: Schwabenkrieg, in Historisches Lexikon der Schweiz (HLS). Online: <https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008888/2015-02-24/#H>, Stand: 29.11.2022. Anm. Kunz: Um den Lesefluss zu vereinfachen, wird im Folgenden ausschliesslich vom Schwabenkrieg und nicht mehr vom Schwaben- bzw. Schweizerkrieg gesprochen.

2 Stettler, Eidgenossenschaft, S. 321.

3 Eine Bezeichnung, die davor und danach noch lange als Beleidigung für die Eidgenossen verwendet wurde.

4 Stettler, Reich und Eidgenossen, S. 20.

5 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beruhen auf Gutmann, Andre: Schwabenkrieg, in HSL. Online: <https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008888/2015-02-24/#H>, Stand: 29.11.2022 und Stettler, Reich und Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert, S. 20. Für weiterführende Informationen zum Verhältnis zwischen Eidgenossen und Schwaben vgl. Maurer, Helmut: Schweizer und Schwaben. Ihre Begegnung und ihr Auseinanderleben am Bodensee im Spätmittelalter, Konstanz 19912.

6 Gutmann, Schwabenkriegschronik, S. 35f.

7 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beruhen auf Gutmann, Andre: Schwabenkrieg, in HLS. Online: <https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008888/2015-02-24/#H>, Stand: 29.11.2022 und Gutmann, Schwabenkriegschronik, S. 35f.

8 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beruhen auf Sieber-Lehmann, Einleitung, S. 4-6 und Sieber-Lehmann, Basel, S. 258-263.

9 Im Rahmen einer Bachelorarbeit könnte auf weit mehr Quellenmaterial zurückgegriffen werden.

10 Den Begriff ‘Zugehörigkeitsgefühl’ als analytische Kategorie erachte ich für die kommende Auseinandersetzung als am besten geeignet, da er im Vergleich zu Begriffen wie ‘Selbstbewusstsein’ oder ‘Identität’ in der Quelle am ehesten zu erkennen ist. Wenn es bei der Quelleninterpretation also um die Beantwortung meiner Fragestellung geht, werde ich immer von ‘Zugehörigkeitsgefühl’ sprechen. Wird auf andere Autor*innen verwiesen, werden jene Begriffe aufgeführt, die sie in ihren Texten verwenden.

11 Vgl. dazu: Sieber-Lehmann, Claudius: Das eidgenössische Basel. Eine Fallstudie zur Konstruktion herrschaftlich-politischer Grenzen in der Vormoderne, Basel 2002 (unveröffentlichte Habilitationsschrift, eingereicht an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel, Oktober 2002), S. 248-289 aber auch Sieber-Lehmann, Claudius: Einleitung, in: Sieber-Lehmann, Claudius; Wilhelmi, Thomas (Hg.): In Helvetios – Wider die Kuhschweizer. Fremd- und Feindbilder von den Schweizern in antieidgenössischen Texten aus der Zeit von 1386 bis 1532, Bern 1998, S. 4f.

12 Auch wenn später nicht mehr von den Eidgenossen die Rede ist, lassen sich in der Forschungsliteratur dennoch gewisse Folgen und Wirkweisen erkennen, die über die einzelnen Orte hinweg Gültigkeit besassen.

13 Marchal, Feindbilder, S. 104.

14 Marchal verwendet zur Beantwortung seiner Frage historische Volkslieder, Schauspiele und Streitschriften, da diese intentionell ein breites Publikum erfasst und nachweislich eine Breitenwirkung gehabt haben (vgl. dazu Marchal, Gebrauchsgeschichte, S. 353). Ich werde eine Kundschaft untersuchen, auf deren Eignung zur Beantwortung meiner Fragestellung ich bereits in der Einleitung hingewiesen habe (siehe S. 4).

15 Marchal, Gebrauchsgeschichte, S. 355.

16 Ebd., S. 353-356.

17 Marchal, Feindbilder, S. 107.

18 Ebd., S. 108.

19 Ebd., S. 107f.

20 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beruhen auf Marchal, Feindbilder, S. 112 und Sieber-Lehmann, Einleitung, S. 12.

21 Sieber-Lehmann, Einleitung, S. 1.

22 Marchal, Feindbilder, S. 109.

23 Sieber-Lehmann, Einleitung, S. 7.

24 Ebd., S. 19.

25 Ebd., S. 20.

26 Damit wird auf die Schlacht bei Sempach 1386 und den Tod Herzog Leopolds III. verwiesen. Vgl. dazu Marchal, Feindbilder zu Identitätsbildern. Eidgenossen und Reich in Wahrnehmung und Propaganda um 1500, in: Niederhäuser, Peter; Fischer, Werner (Hg.): Vom „Freiheitskrieg“ zum Geschichtsmythos. 500 Jahre Schweizer- oder Schwabenkrieg, Zürich 2000, S. 109.

27 Marchal, Feindbilder, S. 109.

28 Stettler, Eidgenossenschaft, S. 359.

29 Marchal, Gebrauchsgeschichte, S. 37.

30 Ebd.

31 Holenstein, Mitten in Europa, S. 25. Um mehr über die Faktoren zu erfahren, an welchen das eidgenössische Bewusstsein fassbar wurde, vgl. Stettler, Bernhard: Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, Zürich 2004, S. 386.

32 Stettler, Eidgenossenschaft, S. 388.

33 Marchal, Gebrauchsgeschichte, S. 392.

34 Ebd.

35 Marchal, Feindbilder, S. 104-106.

36 Wechsler, Ehre und Politik, S. 131.

37 Vgl. dazu Stettler, Bernhard: Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, Zürich 2004, S. 322.

38 Sieber-Lehmann, Basel, S. 215.

39 Ebd., S. 218f.

40 Diese Schlacht brachte am 22. Juli 1499 die endgültige Entscheidung im Schwabenkrieg. Das eidgenössische Heer schlug jenes der Österreicher vernichtend, zwang Maximilian I. zu Friedensverhandlungen (Friede von Basel) und bestätigte formell die einsetzende eigenständige, kulturelle und rechtliche Entwicklung der Eidgenossenschaft. (Schibler, Thomas: Schlacht bei Dornach, in: HLS. Online: <https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008891/2004-04-14/>, Stand: 26.11.2022.

41 Vgl. dazu Sieber-Lehmann, Claudius: Das eidgenössische Basel. Eine Fallstudie zur Konstruktion herrschaftlich-politischer Grenzen in der Vormoderne, Basel 2002 (unveröffentlichte Habilitationsschrift, eingereicht an der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Basel, Oktober 2002).

42 Sieber-Lehmann, Basel, S. 229-232.

43 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beruhen auf Berner; Sieber-Lehmann; Wichers, Kleine Geschichte, S. 61 und Sieber-Lehmann, Basel, S. 242f.

44 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beruhen auf Berner; Sieber-Lehmann; Wichers, Kleine Geschichte, S. 65 und Sieber-Lehmann, Basel, S. 246f.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Antieidgenössische Schmähungen im Schwabenkrieg
Untertitel
Über die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls zu den Eidgenossen innerhalb der städtischen, nicht-obrigkeitlichen Bevölkerung Basels im Zuge des Schwabenkriegs von 1499
Note
6.0 (Schweiz - sehr gut)
Autor
Jahr
2022
Seiten
20
Katalognummer
V1322471
ISBN (Buch)
9783346805386
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schmähungen, Schwabenkrieg, Eidgenossenschaft, Schwaben, Heiliges Römisches Reich, 1499, Basel, Zugehörigkeitsgefühl, Abgrenzung, Bevölkerung, Wirkung, Dornach, Schweizerkrieg, Grenze, Mittelalter, Alte Eidgenossenschaft, Habsburg
Arbeit zitieren
Basil Kunz (Autor:in), 2022, Antieidgenössische Schmähungen im Schwabenkrieg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1322471

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