In Hannah Arendts Buch "Vita activa" geht es um das aktive Leben, allerdings nicht in dem Sinn, wie wir heute Aktivität verstehen, sondern im Sinne eines politischen Engagements für Angelegenheiten eintreten, die uns alle betreffen. Ähnlich der antiken Agora, wo Politik so verstanden wurde. Leute (Demos) reden und streiten über die Dinge, die alle in der Stadt (Polis) auf die eine oder andere Weise betreffen und ausgehandelt werden müssen.
Hannah Arendt beschreibt in ihrem Buch den Wandel von Arbeit als etwas, was sich zunächst nur im privaten Bereich abspielt. Arbeit, die getan werden muss, um überleben zu können, bis zur Arbeit als sinnstiftender Lebenszweck in unsere Zeit. Die Umkehrung der Wertigkeit stellt die wichtigste Frage in Hannah Arendts Buch auf den Kopf. Die Frage "Wer bist du?" wurde von der Frage "Was bist du?" abgelöst und damit zu "Was arbeitest du?", "Welche Ausbildung hast du?".
Im Gegenzug wurde politisches Handeln zur Privatangelegenheit. Der öffentliche Gestaltungsraum verschwand in der Massengesellschaft, wie Hannah Arendt sie bezeichnet, und ist heute ein dem Konsum gewidmeter Raum. Öffentlichkeit wurde durch Transparenz ersetzt. Transparenz und Öffentlichkeit werden zwar oft gemeinsam gedacht, sind aber unterschiedlich.
Hannah Arendts Vita Activa: Häufig gestellte Fragen (FAQ)
Was ist das zentrale Thema in Hannah Arendts "Vita activa"?
Das Buch "Vita activa" von Hannah Arendt befasst sich mit dem aktiven Leben, nicht im Sinne heutiger Aktivität, sondern als politisches Engagement für gemeinschaftliche Angelegenheiten. Es analysiert den Wandel der Arbeit vom privaten Überlebensnotwendigkeiten zum sinnstiftenden Lebenszweck und die damit einhergehende Entpolitisierung des öffentlichen Lebens.
Welche Entfremdungen beschreibt Hannah Arendt?
Arendt beschreibt verschiedene Entfremdungen: Erdentfremdung durch die technische Beherrschung der Natur und die Raumfahrt; Wissenschaftliche Entfremdung durch die Unverständlichkeit der wissenschaftlichen Sprache; Weltentfremdung durch den Verlust des politischen Raumes und den Rückzug ins Private und den Zweifel an der Welt; und die Entfremdung vom politischen Raum mit Fokus auf Selbstbezogenheit.
Was ist die "Vita activa" nach Hannah Arendt?
Der Begriff "Vita activa" (lat. für tätiges Leben) entspricht dem antiken "bios politikos". Arendt unterscheidet vier menschliche Grundtätigkeiten: Arbeiten (für den Lebenserhalt), Herstellen (künstliche Welten schaffen), Handeln (im öffentlichen Raum) und Denken (als kontemplative Tätigkeit). Das ideale menschliche Leben umfasst alle vier Bereiche.
Welche Idealtypen beschreibt Arendt in Bezug auf das menschliche Handeln?
Arendt beschreibt Arbeit (für Lebenserhalt), Herstellen (Schaffen von Dingen), Handeln (zwischenmenschliche Beziehungen im öffentlichen Raum) und Denken (kontemplative Tätigkeit) als vier Idealtypen menschlicher Tätigkeiten. Diese sind nicht getrennt, sondern in jedem Menschen angelegt.
Wie beschreibt Arendt das geglückte Leben ("Eudaimonia")?
Arendt beschreibt Eudaimonia als ein durch das Leben ziehendes Grundgefühl von Geborgenheit, Gemeinwohlorientierung und dem Streben nach dem Guten. Es ist nicht auf momentane Stimmungslagen beschränkt, sondern eine lebenslange Ausrichtung am Guten.
Wie unterscheidet Arendt Denken und Erkennen?
Denken ist für Arendt wertfreies, zielloses Nachsinnen, während Erkennen ein zielgerichteter Prozess ist, der auf Neugier und praktischen Erwägungen beruht. Die moderne Tendenz, alles berechnen zu wollen, geht auf Kosten des angeborenen Naturverständnisses.
Welche Rolle spielen Handeln und Sprechen bei Arendt?
Handeln und Sprechen sind für Arendt untrennbar miteinander verbunden und Zeichen der Beziehung zu anderen. Arendt kritisiert die moderne Tendenz zu leeren Worten ohne Taten und den Verlust öffentlicher Diskurse.
Wie betrachtet Arendt Arbeiten und Herstellen?
Arendt unterscheidet Arbeit (Verbrauchsgüter erzeugen) und Herstellen (dauerhafte Dinge schaffen). Sie kritisiert die moderne Entfremdung im Herstellungsprozess, die durch Arbeitsteilung und den Fokus auf reine Produktivität entsteht.
Was bedeuten Natalität und Pluralität für Arendts Denken?
Natalität (Gebürtlichkeit) ist die Fähigkeit des Menschen, jeden Tag neu anzufangen. Pluralität (Vielheit) ist die menschliche Unterschiedlichkeit, die Voraussetzung für gemeinschaftliches Handeln ist. Arendt betont die Wichtigkeit von Gleichheit und Verschiedenheit.
Wie beschreibt Arendt "tätige Güte" und Verbrechen?
Arendt beschreibt "tätige Güte" als selbstloses Handeln ohne Hintergedanken, im Gegensatz zu Verbrechen, die aus einer Nicht-Entscheidung für das Gute resultieren. Sie kritisiert Machiiavellis Ansicht, dass tätige Güte im öffentlichen Raum unmöglich sei.
Welche Rolle spielen Mittel und Zwecke in Arendts Werk?
Arendt kritisiert die moderne Fixierung auf Zwecke und die damit verbundene unbegrenzte Anwendung von Mitteln. Sie warnt vor der Gefahr, dass im Streben nach Zwecken (z.B. Wirtschaftswachstum) der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt wird.
Wie definiert Arendt Macht und Machtraum?
Macht ist für Arendt die Fähigkeit, etwas zu ermöglichen, im Gegensatz zu Gewalt, die den Willen anderer durchsetzen will. Echte Macht beruht auf der Zustimmung Vieler und ist der Gegenspieler von Gewalt.
Wie sieht Arendt Freiheit und Souveränität?
Arendt unterscheidet zwischen Freiheit (im Kontext des menschlichen Zusammenlebens) und Souveränität (Unabhängigkeit von anderen). Sie betont, dass Freiheit durch gemeinschaftliches Handeln entsteht und nicht mit Souveränität gleichzusetzen ist.
Welche Rolle spielen Versprechen und Vergeben in Arendts Ethik?
Versprechen und Vergeben sind für Arendt unverzichtbare Elemente menschlichen Zusammenlebens. Sie ermöglichen Vertrauen und Neuanfänge. Arendt kritisiert die moderne Tendenz, nicht zu vergeben und nicht zu vergessen.
Wie behandelt Arendt Geschichten und Helden?
Arendt betrachtet Geschichten als Verflechtung von Ereignissen und Handlungen, die sich nicht immer planen lassen. Helden sind für sie Individuen, die sich in bestimmten Situationen als solche erweisen.
Was versteht Arendt unter "Beginnen" und "Zu-Ende-bringen"?
Arendt betont die Bedeutung des gemeinsamen Beginns und des gemeinsamen Zu-Ende-Bringens von Handlungen. Sie kritisiert die moderne Tendenz, diese beiden Aspekte zu trennen und somit ein wirkliches Handeln zu verhindern.
Welche Rolle spielt die Reformation in Arendts Analyse?
Arendt sieht die Reformation als einen wichtigen Faktor für die Entfremdung in der Neuzeit. Die Betonung des wirtschaftlichen Erfolgs als Zeichen von Gottes Gnade trug zur Verherrlichung der Arbeit und zur Entpolitisierung bei.
Was versteht Arendt unter "Animal laborans"?
Arendt verwendet den Begriff "Animal laborans" (arbeitendes Tier) um den Menschen zu beschreiben, der auf Arbeit reduziert ist. Sie kritisiert die moderne Tendenz, den Menschen nur noch als Arbeitskraft zu sehen.
Wie sieht Arendt die Rolle der Arbeiterbewegung?
Arendt sieht in der Arbeiterbewegung einen Versuch, Arbeit gesellschaftsfähig zu machen und soziale Gerechtigkeit zu erreichen. Sie betont die Bedeutung des politischen Engagements der Arbeiterklasse.
Wie charakterisiert Arendt die Massengesellschaft?
Arendt beschreibt die Massengesellschaft als eine Gesellschaft, in der der öffentliche Raum ökonomisiert und der Einzelne in anonymen Massen aufgelöst ist. Sie kritisiert den Verlust von Individualität, politischer Teilhabe und Gemeinsinn.
Welche Rolle spielt der Kapitalismus in Arendts Analyse?
Arendt kritisiert den Kapitalismus für seine Ausrichtung auf ständiges Wirtschaftswachstum, die Ausbeutung der Natur und der Menschen und den Rückgang des politischen Raums.
Welche Rolle spielt die Aufklärung in Arendts Denken?
Arendt sieht die Aufklärung als Ausgangspunkt für die neuzeitliche Weltentfremdung. Der Zweifel an den Sinnen und die Fokussierung auf die Naturwissenschaften führten zum Verlust des Naturverständnisses und des Gemeinsinns.
Wie beschreibt Arendt das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem in der Moderne?
Arendt betont die Bedeutung von Privatheit und der Abgrenzung des privaten Raumes zum öffentlichen. Sie kritisiert die moderne Tendenz, Privatheit durch Transparenz zu ersetzen, was den demokratischen Diskurs gefährdet.
Wie sieht Arendt die Entwicklung von Arbeit und Politik in der Moderne?
Arendt kritisiert die Verherrlichung der Arbeit und den Rückzug der Menschen aus dem politischen Raum. Sie sieht die Gefahr, dass die Menschen zu bloßen „Jobholdern“ ohne politische Teilhabe werden.
Welche Rolle spielt die Wirtschaft, Industrie und Konsum in Arendts Analyse?
Arendt kritisiert die moderne Ausrichtung auf ständiges Wirtschaftswachstum und Konsum. Sie beschreibt die negative Auswirkung auf Natur, Menschen und Politik.
Wie fasst Arendt die Entwicklung in der Moderne und Spätmoderne zusammen?
Arendt sieht die Entwicklung von der Neuzeit zur Moderne und Spätmoderne als einen Prozess der Weltentfremdung, der durch die Überhöhung von Arbeit, Wirtschaft und Technologie gekennzeichnet ist. Sie appelliert an die Menschen, sich wieder aktiv im politischen Raum zu engagieren.
Inhalt
Vorwort
Einleitende Bemerkungen
Welche Entfremdungen finden wir bei Hannah Arendt?
Vita activa
Die Idealtypen
ANTIKE und MITTELALTER
Hannah Arendts Themenkreis
a) Das geglückte Leben
b) Denken & Erkennen
c) Handeln & Sprechen
d) Arbeiten & Herstellen
e) Natalität & Pluralität
f) Tätige Güte & Verbrechen
g) Mittel & Zwecke
h) Macht & Machtraum
i) Freiheit & Souveränität
j) Versprechen & Vergeben
k) Geschichten & Helden
i) Beginnen & Zu-Ende-bringen
NEUZEIT
Reformation
ANIMAL LABORANS
Arbeiterbewegung
Gesellschaft
Glaubensverlust
HOMO FABER
und die Öffentlichkeit
Kapitalismus
Bürokratie – mechanistisches Weltbild
Prozessdenken
AUFKLÄRUNG
Galilei
Descartes
Philosophie
Wissenschaft
Wirtschaft
Liberalismus
Kapitalistische Marktwirtschaft
PRIVAT – Eigentum und Besitz
MODERNE und SPÄTMODERNE
Handeln
Markt
Gesellschaft
Privat - öffentlich
Arbeit
& Politik
Wirtschaft – Industrie – Konsum
Wissenschaft
Fußnoten
Vorwort
In Hannah Arendts Buch „Vita activa“ geht es um DAS aktive Leben, allerdings nicht in dem Sinn, wie wir heute Aktivität verstehen, sondern im Sinne eines politischen Engagements für Angelegenheiten eintreten, die uns alle betreffen. Ähnlich der antiken Agora, wo Politik so verstanden wurde. Leute (Demos) reden und streiten über die Dinge, die alle in der Stadt (Polis) auf die eine oder andere Weise betreffen und ausgehandelt werden müssen. Hannah Arendt beschreibt in ihrem Buch den Wandel von Arbeit als etwas, was sich zunächst nur im privaten Bereich abspielt. Arbeit, die getan werden muss, um überleben zu können, bis zur Arbeit als sinnstiftender Lebenszweck in unsere Zeit. Die Umkehrung der Wertigkeit stellt die wichtigste Frage in Hannah Arendts Buch auf den Kopf. Die Frage „Wer bist du?“ wurde von der Frage „Was bist du?“ abgelöst und damit zu „Was arbeitest du?“, Welche Ausbildung hast du?“. Im Gegenzug wurde politisches Handeln zur Privatangelegenheit. Der öffentliche Gestaltungsraum verschwand in der Massengesellschaft, wie Hannah Arendt sie bezeichnet, und ist heute ein dem Konsum gewidmeter Raum. Öffentlichkeit wurde durch Transparenz ersetzt. Transparenz und Öffentlichkeit werden zwar oft gemeinsam gedacht, sind aber unterschiedlich. Margret Thatcher hat mit ihrem Satz „There is no such thing than society“ eine Zeit der Entpolitisierung eingeläutet. Die Errichtung eines marktkonformen Staates, zu dem es keine Alternative gibt, hat Vorrang vor allen Dingen, die Menschen als soziale Wesen betreffen. Laut Margret Thatcher leben wir in keinem gesellschaftlichen Sozialgefüge, sondern verhalten uns als Einzelwesen rein Kosten-Nutzen-maximiert. „Homo oeconomicus“ als gedankliche Konstruktion dominiert nun schon seit Jahrzehnten die Welt. Auch wenn es diesen menschlichen Typus nie gegeben hat, so hat man uns doch lange Zeit glauben lassen, der Mensch wäre grundsätzlich und in all seinen Lebensbereichen auf den eigenen Vorteil bedacht. In so einer Welt gibt es keine Solidarität und vor allem kein Gemeinwohl. Aus der sozialen Gesellschaft ist eine individualistische Gesellschaft allgemeine Kategorien ablehnt. Einzelwesen, deren Interessen um bestmögliche Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung kreisen. Nun, das ist schlecht, denn wir leben in weiten Teilen der Welt in Demokratien, und ohne aufmerksame „Öffentlichkeit“ funktioniert der Erhalt einer ausgewogenen Demokratie nicht, schon gar nicht in einer liberalen Demokratie; und so können wir nahezu überall Tendenzen der Polarisierung erkennen. Die Gesellschaft spaltet sich in jene, die vorgeben, was „angesagt ist“, und die anderen, oftmals die Mehrheit, die kein Gehör finden oder sogar diffamiert werden. Öffentliche Diskurse und differenzierende Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Sichtweisen sind selten geworden. Lebendige Gesellschaften brauchen aber genau diese Auseinandersetzungen, sonst verlieren sie den Blick für die Realität, in der sie sich bewegen. Gesellschaften sind nicht statisch, sie verändern sich; und Demokratie muss sich mitverändern, den menschlichen Bedingungen anpassen, auf Notwendigkeiten reagieren und Regeln für ein funktionierendes Miteinander aufstellen. Wir leben in keiner komplexen Zeit, sondern einer Zeit des Stillstands, da alles nivelliert wurde und wird. Mode, Ausbildungen, Prüfungen, überall müssen die gleichen Standards und gleichen Vorgaben eingehalten werden. Niemand schert aus, nichts bewegt sich. Hannah Arendts Massengesellschaft ist eine nivellierte Gesellschaft mit möglichst konformen Interessen. Glattgebügelt, ohne Spitzen und Kanten, dient der individualistische Überbau nur einem bedürfniserzeugenden Markt.
Einleitende Bemerkungen
Welche Entfremdungen finden wir bei Hannah Arendt?
Erdentfremdung 1, Raumfahrt. Der Mensch emanzipiert und entfremdet sich seiner Welt. Die neuzeitliche Weltflucht
„1957: Mondumkreisung und kein Jubel, nicht das geringste Gefühl des Unbehagens über die durch Menschhand geschaffenen Geräte am Himmel. Stattdessen: Erleichterung! Der erste Schritt, das Erdgefängnis zu verlassen, ist getan!“ Obgleich das irdische Leben ein „Jammertal“, wie im Christentum, und der menschliche Körper ein „Gefängnis“ für Geist und Seele in der Philosophie darstellt, so wäre es bisher doch niemandem eingefallen, die Erde, von der wir abhängig sind, als Gefängnis zu betrachten.
Menschen waren im Denken immer ihrer Zeit voraus, träumten und malten für sich und ihre Nachkommen eine bessere Welt aus. Nicht selten kam es vor, dass an verschiedenen Orten ähnliches erdacht wurde, gerade so als wäre jetzt die rechte Zeit; aber nur wenigen war die Weiterentwicklung ihrer Ideen beschert und noch weniger blieben in Erinnerung. Über lange Zeit hinweg, in der die Menschen sich ihre Umwelt selbst „erschaffen“ haben, wurde ihr Leben tatsächlich leichter und besser. Trotz aller kleinen, aber doch stattfindenden Fortschritte blieb die Natur über sehr lange Zeit der zentrale Bestandteil ihrer Überlegungen. Nie wurde aus den Augen verloren, worauf sie angewiesen waren. Von den Menschen Geschaffenes und natürlich Vorhandenes kann sich wunderbar ergänzen, ohne dass das Selbsterschaffene jemals Teil der Natur wird. Ein perfekt gestalteter Garten, kann – obgleich er künstlich ist – doch wunderbar im Sinne von Schönheit, Harmonie und Nützlichkeit sein. Für unsere menschliche Existenz ist die künstliche Welt Voraussetzung und Bedingung zugleich, sie umfasst mehr als die natürlichen Voraussetzungen, von denen wir abhängig sind.2 3
Nachdem der Mensch tausende Jahre damit beschäftigt war sein Überleben zu sichern, hat er begonnen, sich auch künstliche Welten und künstliches Leben auszumalen. Diese Utopien sind nicht neu, aber nie waren diese Vorstellungen so dominant wie heute. Laut Harald Welzer hinterfragt aber kaum jemand ernsthaft diese Idee der Schaffung künstlicher Intelligenz. Wozu sollte künstliches Leben in unserer Welt gut sein? Was wäre unser Nutzen, wenn wir doch eigentlich damit beschäftigt sein sollten, die dafür aufgebrachten Milliarden in den Erhalt unserer Lebensgrundlage zu investieren?
Zu Beginn des 19. Jhdts haben sich die Träume der Naturwissenschaftler geändert. Wollte man früher das mühsame und oft auch gefährliche Leben verbessern, kamen zunehmend wirtschaftliche Interessen dazu und nahmen immer mehr Raum ein. Ist es effizient? Wirksam? Kann es Kosten reduzieren? Lässt es sich verkaufen? Wo und welche Märkte können noch erschlossen werden? Die Träume der Naturwissenschaftler orientierten sich zunehmend an einem Markt, von dem sie nicht selten auch bezahlt wurden und werden. Fortschritt um jeden Preis ist das Zauberwort, und mittlerweile ist der Preis hoch. Es geht nicht mehr nur um Entmenschlichung und Verlust der Menschenwürde wie zu Beginn der Industrialisierung, sondern um Verlust ganzer bewohnbarer Regionen. Es braucht keine Atombombe, wie Hannah Arendt noch schreibt; Naturzerstörung kann Mensch auch ganz ohne sie. Hannah Arendt schreibt: „Dabei wäre die eigentlich zu beantwortende Frage nicht, ob wir fortschrittlich sind und ob wir ausreichend forschen, sondern in welche Richtung Forschung wie Fortschrittlichkeit gelenkt werden, denn der einmal eingeschlagene Weg – in Richtung Gemeinwohl oder in Richtung Verwertung – wird fortgesetzt und zu Ende gebracht, ohne deren Konsequenzen zu berücksichtigen. Nicht, ob etwas produziert wird, sondern was produziert wird und zu welchem Zweck, sollte unser Denken leiten.“ Wir sehen, für welche Richtung die westlich orientierte Welt sich entschieden hat. Wirtschaftsinteressen sind maßgeblich dafür verantwortlich woran geforscht wird, wer Fördergelder bekommt und was unter welchen, möglichst kostengünstigen Umständen produziert wird. Im Liberalismus wird der Staat zurück gedrängt. Wenn die Staatsmacht gebrochen ist, entsteht allerdings kein Machtvakuum. Den freigewordenen Macht-Platz übernimmt das Kapital und damit die Wirtschaft; aber keinesfalls übernehmen ihn die Bürger. Auch wenn wir uns gerne als liberale Demokratie sehen, hat der Demos im Grunde keine Stimme. Jede kleine Kritik am Fortschritt als Allheilmittel wird als „rückwärtsgewandtes“ Denken bekämpft. Hannah Arendt schreibt: „ Diese, die gesamte Umwelt und Mitwelt betreffenden Fragen, kann man nicht nur durch Berufswissenschaftler, Berufspolitiker und schon gar nicht durch Wirtschaftsbosse beantworten lassen. Das sind die Menschen, die jeder aufkommenden Unannehmlichkeit entfliehen können und keine Verantwortung übernehmen. Diese Fragen müssen sowohl im Bereich Wirtschaftsethik, politische Ethik und in Wissenschaftsethik besprochen werden.“
Wissenschaft / Entfremdung der Sprache. Die Sprache der Wissenschaft ist vom Denken nicht mehr einholbar. Die Naturwissenschaften schaffen neue Fakten und neue sprachliche Sphären, die gedanklich nicht mehr völlig erfasst werden können.
Hannah Arendt schreibt, dass wir in einer Grundlagenkrise stecken. Wir können zwar alles berechnen, können aber vieles von dem, was Wissenschaft uns lehren will, kaum noch verstehen. Der Wunsch, alles berechnen und wissenschaftlich aufbereiten zu können, ging auf Kosten eines angeborenen Naturverständnisses verloren. Längst lassen wir tatsächlich komplexe Dinge von Hochleistungscomputern errechnen. Etwas zu beobachten und daraus Schlüsse zu ziehen, reicht nicht mehr, denn seit Descartes können wir unseren Sinnen nicht trauen; unsere Sinne arbeiten nicht evidenzbasiert. Wir haben uns nun so weit von einem naturnahen Leben entfernt, dass vielen dieses Leben undenkbar und unlebbar geworden ist. Schon einfachste Handgriffe sind zu mühsam geworden. Wir können gute von schlechten Lebensmitteln nicht mehr unterscheiden und wählen daher lieber industriell aufbereitetes Essen statt Essen direkt vom Feld. Unsere Dingwelt wird in aller Herrn Länder in Produktionsketten produziert und angeliefert.
Zwar ist die Wissenschaft darauf bedacht, dass sie auch von Nichtwissenschaftlern verstanden wird, dennoch hört weder Wirtschaft noch Politik auf wissenschaftliche Erkenntnisse, wenn sie ihrem Kosten-Nutzen-Denken zuwider laufen. Zu wichtig sind kapitalistische Ausrichtung und Wirtschaftswachstum, dem heute alles unterzuordnen ist, weit mehr als noch zu Hannah Arendts Zeiten. Die Automatisierung und damit die Anpassung der menschlichen Fähigkeiten an den Bedarf der Maschinen hat alles, was an Muße und Betrachtung übrig war, wegen Nutzlosigkeit weggespült. Der Mensch ist nur noch zur Arbeit und der Bedienung seiner Maschinen zu gebrauchen. Die Verherrlichung der Arbeit ist so weit gediehen, dass wir aus allen Wolken fallen, wenn sie fehlt. Aussagen wie „Aber die Arbeitsplätze!“ oder „Wettbewerbsnachteile“ wurden und werden mit entsprechender Gestik so lange wiederholt, bis sie in den letzten Winkel der Welt vorgedrungen sind. Jeder will einen Arbeitsplatz. Wenn wir keine Arbeit haben, kämpfen wir mit Identitätsproblemen und wissen nichts mehr mit der Zeit anzufangen. Notfalls haben wir seit Kurzem immer eine kleine handliche Maschine dabei, die uns sagt, was jetzt gut für uns wäre. Da häufig das Wissen über frühere Kulturtechniken fehlt, können wir kaum mehr etwas selbst herstellen. Was also haben wir jetzt genau gewonnen, außer Bequemlichkeit? Auf unsere Umwelt zu achten, wird häufig mit Verzicht und Rückschrittlichkeit gleichgesetzt, aber niemand redet davon, worauf wir schon verzichten mussten, um auf dieses Niveau zu kommen. Was wir durch Auslagern unserer Fertigkeiten aufgegeben haben, ist Unabhängigkeit und Selbstwirksamkeit. Wir sind jetzt weniger von der uns umgebenden Natur abhängig als von bezahlter Arbeit, von einer wachsenden Wirtschaft und von einer wohlwollenden Politik.
Automation in fortgeschrittenem Stadium; die Fabrikhallen leeren sich nicht nur aufgrund voranschreitender Technisierung, sondern weil Betriebe ständig auf der Suche nach einem noch günstigeren Produktionsstandort sind. Was nicht ausgelagert wird, muss der Wettbewerbsfähigkeit angepasst werden, denn Produktions- und Transportkosten müssen so niedrig wie möglich gehalten werden. Das verlangt uns dann eben das eine oder andere Opfer ab, wie etwa niedrigere Löhne, flexiblere Arbeitszeiten, weite Arbeitswege. Kein Leben ohne die Last der Arbeit, wie es eigentlich möglich wäre, sondern Leben unter vielfältigem Druck. Wir haben vergessen innezuhalten und die Sache (Umstände) genau zu betrachten. Die Visionen der fortschrittlichen, technikbasierten Möglichkeiten, vor denen zwar auch gewarnt wird, hatten als Heilsversprechen nie einen größeren Zulauf als heute. Bjung-chul Han2 war einer der ersten, die darauf hinwiesen, dass Herrschaft nichts mit Gewalt zu tun haben muss, sondern in unserem Fall freundlich und wohlgesonnen daher kommt. Heute liefern wir uns freud- und hoffnungsvoll aus und fragen nicht nach, ob wir wirklich wollen, was auf uns zu kommt. Wir schreiten immer fort, ohne zu prüfen, ob der eingeschlagene Weg noch der richtige ist. Notfalls sollte man aber in der Lage sein einen Schritt zurück zu treten und schauen, ob man sich nicht schon auf einem Holzweg befindet.
Obwohl wir längst in der Lage wären, den Traum vom aristotelisch gemeinten „schönen Leben“ endlich wahr werden zu lassen, könnten wir kaum weiter davon entfernt sein. Wir haben längst alle Möglichkeiten aber leider auch die Möglichkeit alles zu zerstören. Doch so einfach ist das nicht. „ Im 17. Jhdt wurde damit begonnen, Arbeit zu verherrlichen und die vielteilige Gesellschaft, in eine einheitliche Arbeitsgesellschaft zu verwandeln“, schreibt Harald Welzer3. Heute gilt jede Unabhängigkeit ermöglichende Tätigkeit zu Hause als altmodisch, frauenfeindlich und unbequem. Natürlich auch, weil man mit dieser Art Arbeit nichts verdient und demnach auch kein Ansehen „verdient“ – man muss zeigen, dass man arbeiten will und kann. Die meisten Dienstleistungen sind Arbeiten „um zu“. Sie werden angeboten, damit sie jemand andere nicht machen muss, Reinigungskräfte zum Beispiel. Um sich Dienstleistungen leisten zu können muss man selbst immer mehr Arbeiten, im Grunde ein Kreislauf.
Ausgangspunkt waren in vorkapitalistischer Zeit, Kapitalakkumulation und der enorme Bedarf an Arbeitskräften in den ersten Fabriken. Die neu entstehende Wirtschaft war auf jede Arbeitskraft angewiesen, denn erst die vielen billigen Arbeitskräfte, die vom Land in Städte kamen, machten umfangreiche Produktionen erst möglich. Noch dazu war, aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen, der Ausfall enorm – die Leute mussten buchstäblich zur Arbeit gezwungen werden. Enteignet und von ihrem Land vertrieben hatten sie die Wahl zwischen Verhungern oder Fabrikarbeit. Heute muss niemand mehr zur Arbeit gezwungen werden, den nahezu alle Dinge und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs müssen zugekauft werden. Geldverdienen ist demnach unbedingt notwendig. Für jemanden zu arbeiten ist auch kein Übel mehr, von dem man befreit werden müsste, sondern ein Glück. Selbst wenn die Arbeit noch so langweilig, aufreibend oder umweltzerstörerisch ist, der Arbeitsplatz muss erhalten bleiben. Denn was würde passieren, wenn wir plötzlich aufhören zu konsumieren und vieles einfach nicht mehr bräuchten? Der Kapitalismus würde schnell zusammen brechen und die Wirtschaft wäre ruiniert, denn unser Wirtschaftssystem ist davon abhängig ständig weiter zu wachsen, es ist darauf angewiesen, dass unablässig mehr gekauft und investiert wird. Alle gehen arbeiten – nur insofern sind wir alle gleich, aber die Ungleichheit der Wertschätzung für unterschiedliche Arbeiten ist geblieben, ebenso wie deren Bezahlung und deren Arbeitsbedingungen. Man könnte fast sagen, je weniger jemand im herkömmlichen Sinne arbeitet, umso höher ist der Lohn.
Was passiert mit einer nahezu weltweiten Gesellschaft, die nur auf Wirtschaftswachstum ausgerichtet ist? Heute in der Postmoderne können wir das miterleben. Die anwachsenden Probleme zu lösen wäre Sache der Politik unter Einbindung der Vielen und kein Spiel der Wenigen zur Neuordnung einer besseren Welt wie nur die, die es sich leisten können, sich eine bessere Welt vorstellen. Die Globalisierung hat nicht nur neue Märkte erschlossen, sondern nahezu alle Länder in vielfältige Abhängigkeiten getrieben. In den Ländern des globalen Südens wurden die Menschen ihrer ursprünglichen Lebensweise entfremdet. Wo bis vor wenigen Jahrzehnten noch selbstbestimmte Versorgung und bedarfsorientiertes Wirtschaften möglich war, wurden die Menschen an unseren Lebensstandard mit all seinen marktstrategischen Ausrichtungen herangeführt und ermutigt, „unsere“ Pflanzen und „unsere“ Spritzmittel auf ihren Feldern einzusetzen, mit dem Vorwand, ihren Hunger bekämpfen zu wollen. Tatsächlich wollten wir neue Absatzmärkte erschließen, billige Arbeitskräfte anwerben und ihre guten Böden nutzen, um Gemüse, Obst und Blumen für uns zu pflanzen. Nun sind auch sie abhängig von Plantagen und Fabriken, die unsere Aufträge übernehmen. Sie haben kaum noch fruchtbare Böden, um die eigene Bevölkerung zu ernähren, aber wir liefern ihnen gerne etwas von unseren günstigst produzierten Überschüssen. Was wir nicht mehr brauchen, laden wir in Ländern mit kaum ausreichender Möglichkeit der Entsorgung und weniger strengen Gesetzen ab. Es kommt billiger, Müll zu verschicken als ihn selbst zu entsorgen. Wir haben kein Müllproblem, aber die südlichen Länder, die haben eins! Von ihrer Lebensweise entfremdet sind sie auf jede Hilfe angewiesen, und helfen tun wir nun wirklich gern.
Was tun wir eigentlich? Was bereichert unseren Erfahrungsschatz, und was sind unsere höchsten / anspruchsvollsten Tätigkeiten in Zukunft? Das Denken als höchste aller Tätigkeiten ist mangels Produktivität bereits vor langer Zeit aus dem Rahmen dieser Überlegungen herausgefallen. Dabei könnten wir gerade das am besten. Unsere Vorstellungskraft, unser Forschergeist und unser Drang zu handeln sind, so scheint es, unter die Räder der Geschichte gekommen. So wandeln wir tatsächlich im finsteren Tal, von Außenansprüchen Getriebene, deren Selbstbestimmung der Eigenverantwortung gewichen ist. So kommt es, dass wir zwar hier einen hohen, von Bequemlichkeit eingelullten Lebensstandard pflegen, aber nirgendwo sonst gibt es eine so hohe Zahl an psychischen Erkrankungen als Folge von Entfremdung und Entwurzelung.
Weltentfremdung: Entfremdung vom politischen Raum, in dem Menschen etwas miteinander machen – hin zur Selbstbezogenheit, Zweifel, Infragestellen der Welt. Die Philosophie hat den politischen Raum aufgegeben und der Entfremdung überlassen.
Hannah Arendt schreibt: „ … die neuzeitliche Weltentfremdung in ihrem doppelten Aspekt zeigt sich als eine Flucht von der Erde in das Universum und eine Flucht aus der Welt in das Selbst“.
„Wie kann man sich den Weltbegriff als Umweltbegriff denken? Z.B. wie bei Charles Taylor als punktuelles Selbst ohne relationale Beziehung. Das Leibgefühl ist zum Körperbewusstsein geworden, als das Ding, das man nach Belieben gestalten kann. (Hartmut Rosa) 4 Was Hannah Arendt „Weltlosigkeit“ nennt, ist der aus dem Blickpunkt geratene Bereich des Politischen. Moderne Entgrenzung und Radikalisierung zeigt sich bei Hannah Arendt als Weltentfremdung in mindestens drei zusammenfallenden, aber voneinander unabhängigen Ursprüngen:
1) Erdentfremdung beginnt mit den Entdeckungen der Neuzeit. Die Möglichkeit die Welt zu vermessen, geht mit einer „Erdschrumpfung“ in Form von Globen einher und machte die Welt für die damalige Wissenschaft berechenbar und damit beherrschbar.
2) Weltentfremdung, die Verbundenheit mit der eigenen Umwelt tritt als Denkereignis des steten Zweifels zum Vorschein. Die Kirche erleidet einen enormen Autoritätsverlust infolge der Reformationskriege und den durch die kleine Eiszeit5 (Philipp Blom) hervorgerufenen Ernteausfällen. Man kann sich weder auf die eigenen Sinne noch auf einen guten Gott verlassen – worauf der Rückzug in die innere Welt folgt.
3) Der ökonomische Modus der Enteignung bei gleichzeitiger Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise. Die Vernichtung der Dingwelt des Homo Faber durch die Arbeitsweise des animal laborans, in der nichts mehr von Wert und Dauer geschaffen werden soll, endet letztendlich in einer sich beschleunigenden Vernichtung und ist zum Fundament des Wirtschaftens geworden, wie wir es heute kennen.
Weltentfremdung. Hannah Arendt zufolge hat die moderne Wissenschaft nicht nur endgültig die alte Unterscheidung zwischen Himmel und Erde aufgehoben, sondern den archimedischen Standpunkt im Menschen selbst festgemacht. Als gottgleiches Wesen macht Mensch sich die Erde untertan und nimmt sich nicht mehr als bloßer Erdbewohner, sondern als Bewohner des Universums wahr. Der neue Allmachtsgedanke eröffnet die Möglichkeit einer radikalen Umgestaltung des Planeten, ohne sich davon betroffen zu fühlen. Die die Erde umkreisenden Spione am Himmel bestätigen uns darin, dass wir uns außerhalb der Erde zu denken können, sondern auch darin, dass wir sogar in der Lage sind, uns physisch abzuheben.
Die moderne Wissenschaft, die den menschlichen Sinnen misstraut und nur anerkennt, was sie selbst gemacht hat, ist in Hannah Arendts Augen die vorweggenommene Artikulation der Weltentfremdung moderner Menschen. Mensch verlässt sich auf den vermeintlichen Objektivismus der – nach Hannah Arendt erdentfremdeten – Naturwissenschaft und misstraut seiner eigenen Urteilskraft. Aber selbst zu Beginn der wissenschaftlichen Forschung war Wissenschaft nie frei, objektiv und unabhängig. Persönliche und wirtschaftliche Interessen wurden seit jeher bedient.
Hannah Arendts Begriff der Weltentfremdung basiert auf zwei Unterscheidungen. Erstens eine dingliche Weltentfremdung. Ein Mensch wird durch Enteignung seines Ortes in der Welt beraubt und dann sich selbst überlassen. Dem folgt die Entdinglichung von Eigentum in Form von Grund und Boden in ortsungebundenen Kapitalbesitz. Damit einher geht das Verschwinden der politischen Öffentlichkeit. Öffentliche Räume der Begegnung gehen verloren, werden zu Privatbesitz oder Orten des Konsumierens. Heimat als Ort der Identitätsstiftung aufgrund gemeinsam gemachter Erfahrungen und Erinnerung verschwindet und wird vom unverbindlichen Weltbürgertum abgelöst. Die zweite Art der Weltentfremdung folgt als Realitätsuntüchtigkeit, nachdem man den eigenen Sinnen nicht mehr trauen kann. Wenn nämlich das Verstehen der Welt tatsächlich "die spezifisch menschliche Weise, lebendig zu sein" ist, wie Hannah Arendt behauptet , und die aufkommende Moderne ein Prozess mit zunehmender Entmaterialisierung und Dynamisierung, dann wird sie für den einzelnen Menschen immer undurchschaubarer und immer weniger verstehbar. Weltentfremdung heißt für Hannah Arendt immer auch Selbstverlust. Denn die Person – das "Wer einer ist" – kann sich laut Hannah Arendt nur durch Handeln in der Öffentlichkeit verwirklichen. Kollabiert die gemeinsame Welt, wird der Mensch zu einem auf sich selbst reduzierten Arbeitstier. Mit dem eigenen Selbst als Maßstab geht nicht nur der Gemeinsinn verloren, sondern auch die gemeinsame Wirklichkeit und die Fähigkeit sich einzumischen.5
Max Weber schreibt: „ Zur Zeit der Enteignung schlossen sich die frühen Kapitalisten und protestantische Religionsgemeinschaften, vorrangig Anhänger Calvins und dessen „Gnadenwohllehre“, zu einer erfolgreichen Wahlverwandtschaft zusammen. Die Rationalisierung aller Lebensbereiche, wirtschaftlicher Erfolg, Selbstzwang und Selbstoptimierung führten zu jenem zwangshaften Erfolgsstreben, welches zu Beginn vor allem die amerikanische Wirtschaft prägte.“6 Kapital, im Christentum ursprünglich verpönt, wurde unter protestantischer Herrschaft zum Mittel der Huldigung Gottes. Arbeit war das Mittel, Kapitalgewinnung das Ziel. Um in der Gesellschaft als guter Mensch angesehen zu werden, musste nach Einführung der allgemeinen Berufspflicht, jeder einen Arbeitsplatz haben. Max Weber befürchtete, „ dass bald nur mehr Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz daraus hervorgehen“. Gegen diese neue Ausrichtung konnte der naive Glaube der Katholiken nichts ausrichten. Der protestantische Geist durchdrang alsbald sowohl den politischen als auch den öffentlichen Bereich. Erfolg und Wettbewerb zerstörten die traditionelle, katholische Idylle.
Vita activa
Beim Begriff „Vita Activa“ (lat.), der in etwa dem ursprünglichen „bios politikos“ (griech.) entspricht, handelt es sich um einen Begriff, der seinen Ursprung im 4. vorchristlichen Jhdt, zur Zeit des Sokrates, hatte. Der Begriff tauchte dann erst im Mittelalter wieder auf, als die aristotelischen Schriften in Latein übersetzt wurden. Augustinus spricht noch von „vita negotiosa“ (geschäftig) und „vita actuosa“ (wirksam), einem Leben, das öffentlichen oder politischen Dingen gewidmet ist. (Wikipedia) Während für Aristoteles mit „bios politikos“ ausschließlich das politische Leben in der Polis7 gemeint war und sich im Handeln (praxis) als oberstem Prinzip zeigte, bedeutete das lateinische vita activa ein allgemein tätiges Leben und degradierte das politische Leben auf das Niveau aller Tätigkeiten.
Aristoteles hat ursprünglich drei mögliche Arten zu leben unterschieden, zwischen denen ein freier Mann wählen konnte. Männer, die einem Erwerbsberuf nachgehen mussten, schieden genauso aus wie arbeitende Sklaven und die meisten Frauen.
1) Bios theoretikos: Für Aristoteles, wie auch die meisten seiner Zeitgenossen, hatte das Leben, welches sich dem Genuss des Schönen widmen konnte, seinen Zweck in sich. Die höchste menschliche Tätigkeit war für sie, sich der theoretischen Philosophie zu widmen und auf diesem Weg zu tieferen Erkenntnissen zu gelangen.
2) Bios politikos: Das zweitwichtigste war, sich innerhalb der Polis zu zeigen und schöne/gute Taten zu vollbringen. Das Leben in der Polis war allen Freien gleichermaßen zugänglich.
3) Hedone: Das Genussleben bedeutet lustvollen Tätigkeiten nachzugehen. Obgleich Aristoteles lustvollem nicht abgeneigt war, sah er in hedone keine sinnvolle Art sein Leben zu verbringen.
Der Gedanke des ‚guten Lebens‘ war damals neu und ein Wunsch der damaligen Philosophen, von der Last des politischen Alltags befreit zu werden, um sich ganz ihrer geistigen Arbeit widmen zu können. Sie rechtfertigten ihren Wunsch damit, dass selbst die freieste aller Lebensformen dem Notwendigen unterstellt ist. Ohne einen Haushalt gut führen zu können ist weder Leben, geschweige gut Leben möglich. Schon für die vorchristliche Philosophie galt daher die Freistellung von öffentlichen Geschäften als Voraussetzung, um sich der Muße widmen zu können. Die Freistellung von politischen Geschäften übernahmen die frühen Christen wiederum in ihre Lebenswese, um sich ganz ihrem Glauben hinzugeben zu können. Die christliche Vorstellung von Freiheit und ihre Vorliebe für Muße und Betrachtung war für die Antike kein Problem. Das Problem war die Forderung der frühen Christen nach Gleichstellung der Sklaven mit den Bürgern. Der Untergang des Römischen Reichs und der griechischen Stadtstaaten war wohl teilweise auch der christlichen Heilsbotschaft geschuldet. Nach dem Tod wartet das sogenannte „Ewige Leben“; ein Himmel ohne Qual und Elend war das Ende der antiken Religionen.
Mit Verschwinden der griechischen Stadtstaaten verschwand auch „das Handeln“ als eigentlich politischer Begriff und wurde von Vita Activa, als Überbegriff für alle Beschäftigungen wie Arbeiten und politisches Tätigsein, abgelöst. Von vormals drei Lebensweisen in der griechischen Antike (bios theoretikos, bios politikos und hedone) blieben zwei der römischen Antike übrig, Vita Activa und vita contemplativa. Vita contemplativa war das Hauptanliegen der jungen christlichen Lebensweise, denn nur im Betrachten des ewig Seienden, des Kosmos und der Natur, gelingt ein inneres wie äußeres Zur-Ruhe-Kommen.
Vita Activa konnte sich nur halten, in dem sie sich der vita contemplativa unterordneten. Woran Hannah Arendt sich stieß, war nicht die Vormachtstellung des kontemplativen Denkens, wie die Philosophen es praktizierten und die Christen es in ihrer Religion lehrten, sondern die Umkehrung der Wertigkeiten in der frühen Neuzeit, in der das menschliche Tätigsein zum zentralen Anliegen wurde. Muße und Betrachtung wurden zur „Zeitverschwendung“, und das Verschwinden des öffentlichen Raums, als Handlungsraum für politische Angelegenheiten, zwang immer mehr Menschen, sich in ihr privates Leben zurückzuziehen. Unter politischen Angelegenheiten versteht Hannah Arendt die ganze Palette unseres Handelns, politische deshalb, weil sie jeden betreffen.
Die Idealtypen
Die vier von Hannah Arendt angeführten menschlichen Grundtätigkeiten sind Arbeiten, Herstellen, Handeln und Denken. Diese vier Typen sind nicht getrennt, sondern werden in jedem Menschen angelegt. Idealerweise ist jeder zugleich Arbeiter, Handwerker, Handelnder und Denker. Denken als vierte Haupttätigkeit gilt aufgrund seiner Unproduktivität seit einiger Zeit nicht mehr als Tätigkeit im eigentlichen Sinn.
Arbeit: Dient ganz allgemein dazu sich am Leben zu halten. Um Erwerbsarbeit oder gar Kapitalbildung ist es die längste Zeit nicht gegangen, sondern um die Erledigung dessen, was notwendig ist. Marx wollte den Menschen von diesen zwar notwendigen, aber völlig unproduktiven Arbeiten (Haus- und Feldarbeit) befreien und sah allein in Produktivität die größte menschliche Fähigkeit.
Herstellen: Seit es denkende Tiere gibt, animal rationale, schaffen sie sich eine künstliche Welt von Dingen, die ursprünglich aus der Natur kommen und als Natur ge -und verbraucht werden. Diese Dingwelt bietet den Menschen ein Zuhause, schafft Unabhängigkeit von vielen Lebenswidrigkeiten, macht aber auch abhängig von deren Anwesenheit. Je mehr wir an Handfertigkeiten gelernt und uns geschaffen haben, umso einfacher wurde das Leben.
Handeln: ist die einzige Tätigkeit der „Vita Activa", die sich in der zwischenmenschlichen Bezugswelt abspielt. Handeln bedarf der Pluralität und Interaktion mit anderen. Erst durch unsere Vielfalt, in der wir zwar alle Menschen sind, aber keiner dem anderen gleicht, konnten wir voneinander lernen und uns immer weiter entwickeln. Handeln, sofern es dem Gemeinwesen dient, ermöglicht Kontinuität und Erinnerung.
Alle drei Tätigkeiten – Arbeiten, Herstellen und Handeln – sind in die menschliche Bedingtheit des Lebens, von Geburt bis zum Tod, eingebunden. Augustinus schreibt im zwölften Buch der Civitas Dei, „Initium ergo ut esset, creatus est homo, ante quem nullus fuit“ – damit ein Anfang sei, wurde der Mensch geschaffen, vor dem es niemanden gab. Der Mensch wurde als Jemand geschaffen, damit Jemand mit dem Gestalten der Welt beginnt. Mit jeder Generation entsteht die Welt neu. Hannah Arendt schreibt: „… Der Mensch ist das einzige Wesen, das jeden Tag neu beginnt und in der Lage ist, jeden Tag Neues zu schaffen.7 “ Gebürtlichkeit, wie Hannah Arendt Natalität übersetzt, ist immer der Beginn von etwas Neuem. Ob durch Handeln und Beginnen oder tatsächlich durch eine Geburt, das Ereignis birgt den Wunsch und die Forderung nach einem Neuanfang in sich. Von Beginn an ist die Aufgabe jedes Neugeborenen, die eigene Zukunft zu gestalten. Hartmut Rosa sagt über Natalität, „… das Neue entsteht und ist nicht optimierbar, nicht vorhersagbar – es gibt keine Vorstellung davon, was daraus werden wird und wie es sich entwickelt. Die Hoffnung ist, dass etwas Gutes passiert, etwas, was Funken schlägt. Die dafür nötige Einstellung ist Ergebnisoffenheit und eine Absage an Erwartungen, die womöglich nicht erfüllbar sind.“8 Mit jedem Kind kommt ein neues individuelles Bewusstsein in die Welt. Die Fähigkeit, altes Denken mit neuen, eigenen Wünschen und Ideen zu bereichern und neue Ansichten zu vertreten, sorgt für Unruhe und zu dem, was wir heute Generationskonflikt nennen. Etwas ganz anders machen zu wollen, die Initiative zu ergreifen und in Angriff zu nehmen, ist die Pflicht der jungen Generation, denn nur so kann sich die Gesellschaft erneuern und weiter entwickeln. Aber, so wie es die Pflicht der Jungen ist, ihre Vorstellung von Zukunft voranzutreiben und für ihre Ansichten einzustehen, ist es die Pflicht der Älteren, diese neuen Wünsche und Bedürfnisse in die Gemeinschaft zu integrieren, die Jungen zu ermutigen und ihnen mit den eigenen Erfahrungen beiseite zu stehen.
Was der Mensch ist, auf diese Frage gibt es nach wie vor keine allgemeingültige Antwort. Es gibt nicht den Menschen, es gibt nur Individuen; und so folgt auf die Frage „was der Mensch ist“ normalerweise eine Erklärung – wer jemand ist. Was in so großer Zahl in Erscheinung tritt, hat als Wesenheit keine ursprünglich menschliche Eigenschaft, auch wenn diverse Besonderheiten hervortreten. Die Erklärung des menschlichen Wesens wird von Menschen erklärt, die häufig sich selbst erklären. Alles, was Mensch denkt und schafft, ist eben nur menschliches, individuelles Denken und Schaffen – es gibt keinen Generalissimus, der außerhalb menschlichen Denkens zeigt, wie die Wirklichkeit ist. Die Pluralität, von der Hannah Arendt spricht, ist die Vielheit von Perspektiven und Unvorhersehbarkeiten des Handelns, die ihrerseits wieder von Ort, Zeit und kulturellen Bedingungen beeinflusst werden. Jeder Versuch das Wesen des Menschen zu ergründen, endet seit alters her in der Vorstellung einer göttlichen Art. Vielleicht ist es gerade diese Vorstellung von etwas Göttlichem, welches uns seit jeher Identitätsprobleme verursacht und eine ewige Suche nach Sinn beschert, oder wie Augustinus sagte: „Unter dem Blick deiner Augen bin ich mir zur Frage geworden, und das ist mein Elend.“ (Conf. 10,33,50). Es ist nicht die Idee der Göttlichkeit, die uns diesem Dilemma überlässt, sondern das Wissen, wahrer Göttlichkeit nie entsprechen zu können.
ANTIKE und MITTELALTER
Endlichkeit bedeutet Sterblichkeit. Als einziges Lebewesen ist der Mensch sich seiner Vergänglichkeit bewusst, während alles um ihn herum als nahezu unvergängliche Umwelt wahrgenommen wird. Ein Lebensziel in der Antike ist daher, durch Handeln in die Geschichte einzugehen und somit Unsterblichkeit zu erlangen. Mensch strebt in all seinem Tun danach etwas zu (er)schaffen, was alle Zeit überdauert, ähnlich den unsterblichen Göttern. Ewig lebende Götter handeln in das begrenzte Dasein der Menschen hinein, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Sie dauern in der Zeit und schalten und walten nach Belieben. „Unsterblichkeit ist etwas anderes als Ewigkeit, sagte Augustinus, sie ist ein zeitloses Andauern ohne Anfang und Ende.“
Schon zur Zeit Homers kennt der griechische Adel die Volksversammlung als öffentlichen Raum der Rede. In der Illias lässt Homer Achill sagen „Noch sehr jung, unkundig des allverheerenden Krieges | Und ratschlagender Reden, wodurch sich Männer hervortun | Darum sandt' er mich her, um dich das alles zu lehren: Beides, beredt in Worten zu sein, und rüstig in Taten|“. 9 Zu Homers Zeiten waren Sprechen und Handeln besondere Fertigkeiten, die es von klein an galt einzuüben.
Jene Politik, die auf miteinander Handeln und Reden basierte, war eine Praxis, die sich vom vormaligen Befehlen und Befolgen unterschied und ermöglichte, dass die allgemeinen Angelegenheiten nicht mehr durch Gewalt entschieden wurden, sondern durch Überzeugungskraft. Um miteinander handeln zu können, musste sich erst das Bewusstsein über Gemeinsamkeit und Anerkennung von Gleichheit herausbilden. Jeder musste als Urheber seiner Handlungen in gleicher Weise in der Lage sein, die volle Verantwortung dafür zu tragen. Gemeinsames Handeln wiederum bedarf der Abstimmung, deren wichtigste Methode das Reden war. Die Erfahrung, dass durch vermittelndes Reden bessere Politik gemacht werden kann als durch Befehl und Zwang, hat zur Entstehung der Polis geführt.
Die Griechen unterschieden zwei Lebensbereiche, Seinsordnungen, ihrer Welt. Der Raum der Öffentlichkeit, die Polis, in der die freien Bürger gleichberechtigt und gewaltfrei miteinander umgingen, und den Bereich des Privaten, der Oikos. Der Oikos zur Zeit der Antike, galt als unpolitischer, familiärer Bereich. Die Gewalt verschwand nicht aus der antiken Gesellschaft, sondern war als „stumme“ Gewalt auf den präpolitischen Bereich beschränkt, dem Haushalt der antiken Familie. Die Familie umfasste einen großen Personenkreis zu dem auch Sklaven gezählt wurden. Die Aufgaben im Haushalt war von den lebenserhaltenden Notwendigkeiten geprägt und diente der Reproduktion. Alle Arbeiten, die von Frauen und Sklaven geleistet wurden, galten als privat und wurden im Verborgenen gehalten, nicht weil es um Frauen oder Sklaven ging, sondern weil sie es waren die Arbeiten verrichteten, die nicht öffentlich gezeigt werden durfte. Am Ort, der alle Familienmitglieder, Diener und Sklaven mit einschloss und nur einen Herrn, pater familias kannte, konnte es weder Freiheit noch Gleichheit geben, wohl aber Zwang und Gewalt. Wer den Schutz des Hausherrn genießt, muss auch dessen Befehlen gehorchen.10 11 Die Verpflichtungen in der Polis hatten gegenüber dem privaten Leben absoluten Vorrang. Dass der private Bereich auch weiterhin Raum bekam, war dem Umstand geschuldet, dass die freien Bürger eben auch Familienoberhaupt waren und ihren Versorgungspflichten nachkommen mussten.
Ähnlich wie die antiken Stadtstaaten in zwei Lebensbereiche aufgeteilt waren, lebt auch der Mensch in zwei Welten. Einer geistig- theoretischen Sphäre, in der er sich Gedanken über seinen Platz in Welt macht und nach Erklärungen für verschiedene Phänomene sucht, und der Sphäre seiner realen Umgebung, seiner Erdgebundenheit, in die er seine selbst geschaffenen Dinge fügt. Jene Dingwelt die sein Leben erleichtern und seine Bedürfnisse befriedigen soll. Handeln entspricht beiden dieser Sphären, wohl kalkulierend und flexibel anpassend. Der Mensch handelt spontan aufgrund eines momentanen Bedarfs oder überlegt und verfolgt damit ein Ziel. Er handelt im Umgang mit Tieren und Pflanzen ebenso wie im Umgang mit anderen Menschen.
Bald nach Gründung der Polis stellte sich heraus, dass bloßes Sprechen und unreguliertes Handeln zu unbedeutender Betriebsamkeit führt und keine wegweisenden Resultate zu erwarten sind. Den großen Reden folgten selten entsprechende Taten, wodurch andererseits auch viele Taten verhindert wurden, die womöglich mehr geschadet als genützt hätten. Zu Aristoteles‘ Zeiten war das Handeln bereits ganz auf Erlangen von Ruhm und Ehre ausgerichtet und orientierte sich kaum noch an moralischen Grundsätzen oder gar am Gemeinwohl. Entsprechend argwöhnisch wurde das Handeln von denen, die darunter zu leiden hatten, beobachtet. Das Drama der Vergeblichkeit manchen Handelns lässt sich vielleicht anhand des Verhältnisses zwischen Wohltäter und Empfänger verbildlichen. Aristoteles stellte fest, dass selbstverständlich der Wohltäter seine Tat mehr liebt als jener, der die erbrachte Wohltat erdulden muss. So wie ein Handwerker sich nach erbrachter Arbeit fühlt, so fühlt sich der Wohltäter nach seiner guten Tat. Traurig, wenn er keine Anerkennung erfährt, stolz wenn seine Tat gewürdigt wird, denn sicher hat er in bester Absicht Gutes tun wollen, während der Empfänger nur erdulden musste, was ihm zuteil wurde. Damit wollte Aristoteles auch auf die allgegenwärtige Undankbarkeit im Wechselspiel von Geben und Nehmen hinweisen. Jener mit Wohlwollen Bedachte weiß die dargebrachte Gabe oft nicht so zu würdigen, wie es den Vorstellungen des Gebers entspricht, und wird, vielleicht auch manchmal zu Unrecht, der Undankbarkeit bezichtigt.
Wer bewusst darauf abzielt „wesentlich“ zu sein und sich hauptsächlich daran orientiert Erfolg zu haben, wird meist irgendwann eines Besseren belehrt. Das Phänomen der Selbstenthüllung, um als bedeutende Person in die Geschichte eingehen zu können, geht stets auf Kosten aller anderen Faktoren, denn die Kehrseite der wettkampforientieren Menschen ist ihr Desinteresse an Folge- und Begleitschäden. Das Erreichen des beabsichtigten Ziels war damals wie heute wieder, nahezu zweitrangig. Im Vordergrund stand der Wettkampfgedanke; und wer daraus als Gewinner hervor ging, war Gewinner auf der ganzen Linie. Selbstdarstellung wie heute in den sozialen Medien fand also schon zur Zeit der Polis statt.
Die Polis, das war nicht einfach Athen, der Stadtstaat, sondern das waren die Athener selbst. Sie waren die Polis.
Das Wort Grenze kommt ursprünglich aus dem Griechischen und war eine „Grenzmauer“, die die Polis vom übrigen Teil des Stadtstaats trennte und nicht überschritten werden durfte. Im „heiligen“ Raum, der das politische Leben einhegte, wurden weder Gesetze verhandelt noch besprochen. Die Entwicklung von Gesetzen war eine vorpolitische Aufgabe und galt als Produkt des Herstellens mit dem eindeutigen Ziel überbordende Willkür einzuschränken. Erst nach deren Vorlage war der freie Handlungsspielraum vorgezeichnet, es konnte mit dem Politisch-tätig-Sein begonnen werden. Gesetzgebung diente, wie das Erbauen der Stadt und deren Mauer, dazu einen Handlungsrahmen zu schaffen und war die Grundlage allen politischen Handelns.
Die Gründung der Polis mit vorangegangener Gesetzgebung war die Antwort auf die zuvor gemachten Erfahrungen des unkontrollierten Wettstreits auf Kosten der Bevölkerung. Man kam zum Schluss, dass gutes menschliches Zusammenleben nur auf Basis guter Gesetze möglich ist. Gemäß der Rede des Perikles (ca. 490 - 429) fallen der Polis zwei Aufgaben zu: Handeln zu ermöglichen und damit eine gelungene Verwirklichung in Freiheit zu fördern und gleichzeitig die bewahrende Erinnerung zu garantieren. So sehr die Rede des Perikles den innersten Überzeugungen der Athener entsprach, das Vertrauen in die dynamische Macht des Handelns währte nur kurz; aber so kurz es auch war, es war doch lange genug, um dem Handeln auch theoretisch den höchsten Rang in der Vita Activa einzuräumen. Was in Perikles Formulierung erkennbar wird, ist, ob wir uns entlang unserer moralischen Vorstellung nun so oder so verhalten, dem Handeln selbst entspricht das Kriterium der Größe. Nichts käme je zustande, wenn es nicht das Übliche durchbrechen und das Außerordentliche erstreben würde. Perikles weist auf genau diesen Bruch hin, wenn er sagt, dass die Athener überall Denkmäler ihrer guten und schlechten Taten hinterlassen haben. Motive und Ziele einer Tat mögen ähnlich sein, das Einzigartige ist die Durchführung, denn seine Bedeutung erhält es durch das Geschehen selbst. Handeln solle außerhalt jeder Zweck-Mittel-Kategorie liegen. Menschenwerk soll keinem Zweck-an-sich dienen, sondern gelebte Trefflichkeit zeigen. Die antike Polis bot dafür den idealen Platz. Hier konnte jeder freie Mann ein Zeichen setzen und über sich selbst hinaus wachsen. Unzählige, gelungene Monumente dieses Strebens dauern mit ungebrochener Strahlkraft in unsere Zeit herein. Das Wort des Themistokles (um 525 - 460 v. Chr.) „Wo immer ihr seid, werdet ihr eine Polis sein“, welches Auswanderer mit auf den Weg bekamen, verweist auf bestimmte Tugenden und Verhaltensweisen der Stadtbürger und bedeutet nicht weniger, als dass Reden und Handeln nicht ortsgebunden sind, sondern an jedem Ort, wo Menschen miteinander in Beziehung treten, stattfinden. Perikles wie Themistokles lebten im vierten Jhdt vor Christus. Der Höhepunkt der Polis war überschritten. Ihre Idee des Gemeinwesens war gescheitert. Nach dem Scheitern begann die Zeit der philosophischen Reflexion über die Polis und die Auswirkungen des Handelns auf die Gesellschaft. Bis zum heutigen Tag hat sich nichts daran geändert, dass der Versuch, durch Reden und gute Argumente die Menschen dazu anzuhalten, sich vernünftig und gut zu verhalten, immer wieder scheitert.
Der politische Raum ist der, wo Tugend sich entfalten und Mann – in der Antike hauptsächlich Männer, aber doch auch einige Frau – Ruhm erlangen kann. Zumindest war das die ursprüngliche Idee der Polis, denn nur in einer politischen Gesellschaft ist es möglich, dass Mensch sich in Taten und Worten verwirklichen kann. Für die freien Männer war das Leben in der Polis unmittelbar mit jener Freiheit verbunden, in der formal alle ebenbürtig und gleichberechtigt waren. In ihr ging es um die Interessen der Teilnehmenden. Sie war die Voraussetzung für das, was Aristoteles das wahre Glück nannte, Eudaimonia – und war unerlässlich für Gesundheit und Wohlbefinden. Dabei war das „Recht und gut Leben“, wie Aristoteles das Leben in der Polis nannte, weder ein besseres noch ein sorgloseres Leben, sondern ein Leben der Aufopferung und des beständigen Kampfes. Die Wirklichkeit sah also auch da anders aus. Auch in der Polis bildeten sich immer wieder Machtzirkel, die andere zu dominieren versuchen. Gleichheit heißt eben nicht, auch frei von jedem Herrschaftsanspruch zu sein. Gerechtigkeit und Freiheit waren in der Antike eng verbunden. Unter Freiheit verstand man in der Antike, frei von jeder lebenserhaltenden Arbeit zu sein und Gerechtigkeit bedeutete gleichrangig in dieser Freiheit wirken zu können.
Aristoteles unterschied alle Beschäftigungen nach deren Art und Zweck. Tätigkeiten, bei denen der Körper am meisten abgenutzt wurde, wurden am niedrigsten bewertet. Frei und damit gesellschaftlich akzeptiert war nur, wer keinerlei Arbeit nachging. Einfache Werkleute und Künstler, Banausen12, waren zwar in Ausübung ihrer Arbeit frei und konnten sich in der Öffentlichkeit bewegen, bekamen für ihre Arbeit aber Lohn und zählten daher nicht zu jenen Freien, die am gesellschaftlichen Leben teilnehmen durften.
Bereits die nachsokratischen Schulen interessieren sich weniger für das Handeln in der Polis als für die vorangestellte Schaffung tauglicher Gesetze. Unabsehbare Handlungsfolgen und jener Makel an Vergeblichkeit, der auch der Arbeit anlastet, bewog die Philosophie dazu, individuelles Handeln auf ein rein gestalterisches Herstellen zu begrenzen, auf etwas mit vorgegebenem Zweck und vorhersehbarem Ende.
Platons Dialog über den Staatsmann war ein erster Versuch, Handeln durch Herrschaft zu ersetzen. Der Herrscher gibt Anweisungen, die ausführenden Organe befolgen sie. Auf diese Weise wird Handeln in Geben von Befehlen und deren Ausführung getrennt. Platon hat dabei Wissen mit Befehlen und Herrschen gleichgesetzt und Handeln mit Gehorchen und Vollstrecken von Befohlenem. Dieses Model der Aufteilung des Volkes in jene, die wissen, aber nicht tun, und jene, die tun, aber nicht wissen, was sie tun, geht auf die antiken Haushalte zurück und macht es möglich, dass wenige Wissende über viele Unwissende herrschen können. In seiner utopischen Republik wollte Platon diese Herrschaftsform auf alle menschlichen Verhältnisse und moralischen Belange übertragen und damit den Bürgern das Gefühl vermitteln, in einer großen Familie zu leben. Alle Bürger sollen gemeinschaftlich handeln und füreinander eintreten. Damit das gelingen kann, war sein wichtigstes Kriterium im Umgang miteinander die Selbstbeherrschung. Obgleich die aus dem Sklavenhaushalt gezogene Erkenntnisse Platons längst nicht mehr wahrheitsgetreu zur Verfügung steht, hat sich diese Form des Regierens aus gelebter Praxis immer wieder neu ergeben und sich über Epochen hinweg bewährt. Keiner der antiken Philosophen hätte Handwerkern je Bürgerrechte zugestanden, aber deren planende und vorausschauende Herangehensweise hatte die politische Philosophie der Antike inspiriert. Im politischen Prozess besteht die größte Herausforderung darin, das Vernünftige mit dem Praktischen zu verbinden und so vorausschauend zu planen, dass viele unterschiedliche, aber legitime Ansprüche und Interessen auf eine Weise verflochten werden die größtmögliche Freiheit für jeden zu gewährleistet.
Für Platons Utopia stand nicht nur die gelebte Familienstruktur der Antike Pate, er bediente sich ebenso der Erfahrungen aus den Bereichen des Herstellens und Produzierens. So unangemessen die Aufteilung von Wissen und Tun im Bereich des Handelns ist, da die Sinnhaftigkeit von Tun wegfällt, wenn man daraus das Wissen entfernt, so einleuchtend ist es, den Herstellungsprozess in Vorstellen, Planen, Vorbereiten und Herstellen zu trennen. Das Wort Idee als Schlüsselwort dessen, was sich später im Herstellen zeigte, zeigte sich dort am deutlichsten, wo Platon Herstellen an Stelle des Handelns setzen will und seine Ideenlehre auf politische Begriffe anwendet. Im Sinne Platons gesprochen richtet sich Herstellung wie Gesetzgebung nach der idealen Vorstellung von etwas, was die Quelle aller weiteren Variationen ist, in ihrer Grundform aber immer erhalten bleibt. „Mit seiner Ideenlehre hat Platon versucht zu zeigen, dass es mehr gibt als unsere beengte Welt der Sinneswahrnehmung. Für ihn liegt hinter unseren Sinneswahrnehmungen die Sphäre jener Ideen, die unserer Welt vorausgegangen sind und sich unseren alltäglichen Erkenntnissen entziehen. Mit der Ideenlehre hat Platon dem Prozess der Erkenntnis eine moralische Dimension gegeben und sich von Metaphern leiten lassen“10 11 12 13. Der Metapher des Tages in Parmeides14 sowie jener der Vernunft in Timaios. Dort, in Timaios, verkörpert der Demiurg als Weltenschöpfer das absolut Gute, die reine Vernunft. Er erschafft eine Welt, in der er Vernunft mit den Notwendigkeiten des Lebens auf der Erde vereint. Die Seele des Menschen stellt das reine Gute – die Vernunft – dar, während der Körper jene Notwendigkeiten repräsentiert, denen er preisgegeben ist. Ideen existieren nur als Gedanke des Vollkommenen; um nützlich und alltagstauglich zu sein, müssen Vorstellung und praktische Handhabung übereingebracht werden. So entsteht das Vortreffliche, etwas, was passt. In der politischen Philosophie entspricht die Vernunft als das Gute, dem höchsten Wert, während in der Metaphysik das Licht (Sonnengleichnis), durch welches uns Wahrheit und Erkenntnis zuteilwird, als das Schöne den höchsten Wert darstellt.
Zwischen der Modellidee für etwas, was man machen möchte, und der Idealvorstellung von gutem oder gefälligem Verhalten liegt für Platon kein großer Unterschied. Es scheint, als könne man anhand von Modellen auch die Vielfalt menschlicher Taten und Worte einteilen und ihnen ähnliche Regeln geben, wie sie für gutes Handwerk gelten. Regeln nützen nicht nur jenen, die im Sinne des Gemeinwohls handeln, sondern auch jenen, die aufgrund dieser Regeln selbst mehr Freiheit genießen können. Die Gesellschaft wird insgesamt friedlicher und gerechter. In Platons politischer Philosophie wird der persönliche Faktor entfernt und mit einer möglichst unabhängigen Vernunftgröße ersetzt. In „Der Staat, die Kunst des Regierens“ bedarf es schon keiner persönlichen Autorität mehr, sondern der Gerechtigkeit als führende Tugend. Regeln anwenden und Gesetze vollstrecken können immer nur jene, denen diese Aufgabe zugeteilt wird. Die unabhängige Vernunftgröße wacht darüber, dass alles korrekt vonstattengeht. Mit dieser Aufteilung nähern wir uns bereits der heute üblichen, staatlichen Gewaltenteilung.
Platons Ideenlehre hat auch eine Kehrseite, in der die versunkene Betrachtung einer Idee ihrer Verwirklichung vorgezogen und verabsolutiert wird. Durch Verzicht auf den Herstellungsprozess sollte die reine Betrachtung einer vollkommenen Idealvorstellung möglich werden, ohne sie durch den Fertigungsprozess zu zerstören. Andererseits ist die Vorstellung einer Idee so eng an den Herstellungsprozess gebunden, dass die Idee ohne zumindest versuchte Verwirklichung, keinen Sinn ergibt. Jede Idee erhält nur durch Verwirklichung den ihr innewohnenden Sinn, und auch wenn es nie gelingt eine Idee vollständig zu verwirklichen, so kann man doch immer wieder versuchen, so nah wie möglich an sie heranzukommen. Jede Idee bleibt in voller Perfektion im Gedanken erhalten.
Zwar wurde der Begriff „animal laborans“ erst von Marx eingeführt, aber möglichweise stand das Animalische der Sklavenarbeit dafür Pate. Der arbeitende Mensch ist, wie Platon meinte, nicht in der Weise Herr seines Körpers wie der Handwerker Herr seiner Hände ist, wobei hier eine Aussage Homers Pate steht : „Auf die Frage, was der Unterschied zwischen einem Sklaven und einem freien Menschen sei, gibt Homer im 7. Jhdt v. Chr. folgende Antwort: „Am Tag der Knechtschaft, d.h. bei der Versklavung, nimmt Zeus dem Menschen die Hälfte seiner Tüchtigkeit“. Platon greift diese Sentenz dreihundert Jahre später mit einer kleinen, aber vielsagenden Änderung auf: „Am Tag der Knechtschaft nimmt Zeus dem Menschen die Hälfte seiner Vernunft.“ Damit wird deutlich: „Der Versklavungsvorgang macht den davon betroffenen Menschen zu einem halben Menschen.“14 15 Körperliche Arbeit dient nur den Lebensnotwendigkeiten, deren animalischer Anteil die Seele beherrscht. Sklaven und Arbeiter, die einen Großteil ihrer Zeit mit Arbeit verbringen, sind demnach stark ihren animalischen Anteilen ausgesetzt, ihre vernünftige Seele wird unfähig in Freiheit zu leben. In diesem Verständnis vollzog sich während des Lebens als Sklave ein Wandel vom Menschen zum „Haustier“. So wie die Ochsen der armen Leute wurde ein Sklave in das Joch der Sklaverei gespannt und verlor seine menschliche Würde. Sklaven waren meist Kriegsbeute, damit Eigentum des Siegers, in dessen Heimatland sie sklavische Arbeit verrichten mussten. Dieser Umstand bedurfte damals keiner weiteren Rechtfertigung. Andererseits stand es aber jedem frei, seinen Sklaven die Freiheit zu schenken und ihnen ihre Würde zurückzugeben, denn viele der Kriegsgefangenen waren in ihrer Heimat gebildet, von hohem Rang und oft selbst Halter von Sklaven. Die Sklaverei des Altertums hatte nichts gemein mit jener Entwicklung, die der Sklavenhandel später genommen hat. In der Antike waren Sklaven selten und wertvoll, und ob sie gut oder schlecht behandelt wurden, kam auf ihre Besitzer an. Viele wurden bezahlt und konnten sich später freikaufen, konnten Ausbildungen machen oder machten „Karriere“ in ihrem Haushalt. Insgesamt gehörten sie viel mehr zur Familie als jene Sklaven, die einige Jahrhunderte später als billige Arbeitskräfte dienten und immer noch dienen.
Die besondere Entwicklung vom Wert der Familie hier in Europa verdanken wir den Römern, die mit zunehmender Verbreitung des Christentums noch an Bedeutung gewann. Den Römern war die Familie wesentlicher Lebensinhalt, während die Teilnahme am öffentlichen Leben nachrangig war. Die Orientierung an der Familie und die Konzentration auf innerfamiliäre Angelegenheiten führte dazu, dass sich auch immer mehr Nichtchristen vom öffentlichen Leben fernhielten. Der völlig unpolitische Charakter der frühen christlich Gläubigen geht auf die frühen römischen Collegien zurück. Sie wurden später zu Bruderschaften, die auf familienähnlichen Strukturen aufbauten. Erst als Corpus, in dem alle gleichberechtigt waren, viel später als sich das gleichberechtige Zusammenleben in Ordensgemeinschaften als zunehmend schwierig erwies, bekam der Körper einen Kopf, das Oberhaupt, dem alle zu gehorchen hatten. Ausgehend vom großen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Einfluss wurde von manchen christlichen Orden die strenge, familiär organisierte Struktur mit starker Orientierung an einer Führungspersönlichkeit ab der Neuzeit in wirtschaftlichen Unternehmen zu Organisationszwecken eingeführt und an bürokratische Institutionen angepasst.
Die Gesellschaft änderte sich. Mit Erstarken des aufkommenden Christentums, in dem Menschen als Gleiche behandelt wurden, fallen die Grenzen zwischen dem Raum für Freie und dem Raum für Unfreie. Handeln als alleinige Tätigkeit der Freien verlor seine Bedeutung; es entstand ein öffentlicher Raum für alle, in dem erstmals etwas ganz Neues passiert.
Die klare Trennung zwischen Haushalt und Politik verschwindet nach dem Untergang des römischen Reichs. Später kommt der öffentliche Raum als gesellschaftliche Konstruktion in Form eines Nationalstaates dazu, der politisch zu einer Funktion der Gesellschaft wurde. Die ursprünglich dem privaten Bereich zugerechneten familiären Notwendigkeiten des Haushaltens treten in Form kollektiven Haushaltens einer Nationalökonomie mehr und mehr in die Öffentlichkeit. Die Regelung der gemeinschaftlichen Angelegenheiten übernimmt zunehmend die Politik, die sich am antiken Haushalt orientiert.
In die entstehende Kluft zwischen privat und öffentlich, dem familiären und politischen Raum treten nun mehr kirchliche Institutionen. Mit ihren prachtvollen heiligen Stätten haben sie einen religiösen Bereich geschaffen, der sich in starkem Kontrast zum weltlichen Bereich des sonst „finsteren“16 Mittelalter abgrenzt.
Hannah Arendts Themenkreis
a) Das geglückte Leben.
Eudaimonia. Aristoteles versteht darunter so viel wie „gut leben“ oder „gut gelebt zu haben“. Eudaimon kann man mit „Wohlbefinden des Daimon“ übersetzen, ein kleiner Geist, der, auf der Schulter „seines“ , Menschen sitzend, ihn durchs Leben geleitet und den wir heute vielleicht mit einem Schutzengel vergleichen könnten. Das geglückte Leben unterscheidet sich wesentlich von momentanen Stimmungslagen, in denen wir uns glücklich fühlen, oder vom „Glück-haben“ aufgrund einer glücklichen Fügung. Was Aristoteles mit einem geglückten Leben verbindet, ist ein sich durch das gesamte Leben ziehendes Grundgefühl. Geborgen in der Gesellschaft, dem Gemeinwohl verpflichtet und dem Streben danach, stets das Gute zu tun. Die Stärkung seiner Vortrefflichkeiten, den Fokus auf das Wesentliche gerichtet ohne das Große-Ganze aus den Augen zu verlieren sind Dinge, die von klein an eingeübt werden müssen und sich erst im Erwachsenenalter als feste Grundhaltung und ethische Ausrichtung, zeigen. Glück als höchstes Gut, auf das wir alle hinstreben, bedeutet vielleicht nicht für jeden das Gleiche, aber letztendlich will jeder ein guter Mensch gewesen sein. Die lebenslange Ausrichtung am Guten schlägt sich in einer positiven und wohlgesonnen Grundhaltung nieder, die einen großen Teil der Identität ausmacht und nach vollendeter Lebensgeschichte über das Wesen – „wer einer war“ und was man über ihn zu sagen hat, Aufschluss gibt. Dabei ist das sich Abarbeiten an kleinen Zwischenzielen schon der Weg zu einem übergeordneten Endziel. Der Weg und wie wir uns auf ihm bewähren ist das Ziel. Kontinuierliches Bemühen, das eigene Leben nicht irgendwie, sondern entsprechend den eigenen Möglichkeiten zu gestalten und nach bestem Wissen und Gewissen gelebt zu haben, führt automatisch zu Eudaimonia, meinte Aristoteles.
b) Denken & Erkennen
In der Überlieferung galt das In-Gedanken-versunken sein als ein sich Bewegen durch Gedankengänge. Man konnte liegen und sitzen, stehen oder gehen, und niemand merkte etwas von der gedanklichen Geschäftigkeit, was in der Antike dem Verbot zu arbeiten entsprach. Seit Platon gilt Denken als innerer Dialog, der nach außen als Untätig sein in Erscheinung tritt, innerlich, aber intensiv beschäftigt und keineswegs mit jener inneren Leere zu tun hat, in der auch das Selbstgespräch verstummt. Denken als Grundlage des Erkennens ermöglicht Geist und Seele sich darauf vorzubereiten, die Wahrheit, die nicht in Worte gefasst werden kann, zu begreifen. Aristoteles ist zwar der Überzeugung, dass der Mensch ein politisches Wesen ist und begründet das mit seinen im täglichen Zusammenleben gemachten Erfahrungen, sieht aber nicht im logos dessen größte Fähigkeit, sondern in „nous“, der Fähigkeit zur Kontemplation – des Menschen höchstes Vermögen, um erkennen zu können, wovon es keinen Logos gibt. Ziel und damit Ende des Philosophierens ist ein Zustand der Versunkenheit, die keiner Sprache bedarf. Anschauung und womöglich daraus folgende Erkenntnis lassen sich mit dem platonischen Wort für Staunen, der Quelle der Philosophie, in Beziehung bringen. Das Gefühl, welches beim Betrachten entsteht, erstaunen lässt und womöglich in Planen und Fertigen übergeht, gehört nicht in den Erfahrungsbereich des Handelns, sondern des Denkens. Handeln steht diametral zum Betrachten, da Handeln spontan oder kalkuliert und aus Berechnung passiert.
Kontemplation; die Hingabe an Problemstellungen und die Vertiefung darin ermöglicht, sich einer Frage aus verschiedenen Blickwinkeln zu nähern und Für und Wider gegeneinander abzuwägen; verschwindet ab der Neuzeit aus der Gesellschaft – Denken gilt als Zeitverschwendung. Stattdessen wird Arbeiten und Gehorchen, gemäß Platons Politeia durchgesetzt. Wenige wissen und befehlen, Viele aber wissen nichts und befolgen nur Befehle. Die Unterscheidung zwischen körperlicher und geistiger Arbeit ist für Adam Smith einfach. Für ihn ist Denken keine Arbeit, sondern ähnlich unproduktiv wie die Arbeit einer Magd.
Wir unterscheiden Denken und Erkennen. Denken ist eine wertfreie Art der Betrachtung ohne Anfang und Ende. Im Denken verfolgen wir kein bestimmtes Ziel. Dem Denken gehen zwar Annahmen und Ahnungen voraus, aber ob man dabei zu einem Schluss kommt oder sich in Gedanken verstrickt, spielt keine Rolle. Wertfreies und zielloses Nachsinnen ist der erste Schritt eines Verwirklichungsprozesses, in dem alles zuerst erdacht werden muss, bevor es erstens die Form einer geistigen Konstruktion und zweitens eine reale Gestalt annehmen kann. Dem Denken folgt der Funke der Erkenntnis und markiert den Beginn des Sammelns, Ordnen und in Beziehung setzen von Wissen. Weitere tiefgreifendere Erkenntnisse folgen. Der Pfad der Erkenntnis verfolgt ein durch Neugier und praktische Erwägung gesetztes Ziel. Wurde das angestrebte Ziel nicht erreicht, ist zwar das Ziel verfehlt, das Ergebnis ein anderes als erwartet, aber der Erkenntniswert besteht dennoch. Vom Denken und Erkennen muss die logische Verstandestätigkeit, die natürlichen Gesetzen unterworfen und damit messbar ist, noch unterschieden werden.
Wäre der Logos unsere größte Fähigkeit, wäre der Mensch tatsächlich ein animal rationale. Wir könnten nur logisch denken und nichts außerhalb einer logischen Erklärung erkennen. Unser Alltag bestünde nur aus rationaler Optimierung: Nutzen/Zweck, richtig/falsch, Schwarz/Weiß, Problem/Lösung. Unsere technischen Hilfsmittel wären dann tatsächlich Homunculi – künstlich geschaffene Menschen, die ausschließlich unsere Produktivität steigern. Die Funktionsweise unserer Computer beruht auf dem alten Prinzip der Arbeitsteilung, der Vereinfachung und Automatisierung. Was sie so attraktiv macht, ist ihre immense Beschleunigung zu relativ geringen Kosten. Unser Denken verbessern sie nicht, im Gegenteil, je mehr wir an unsere Denkkrücken auslagern, umso mehr verliert unser Gehirn seine Fähigkeit der Weiterentwicklung. Mit bloßem Abtippen geht die Fähigkeit des Zuhörens, Erfassens und Schreibens verloren. Kurze Sätze verringern die Fähigkeit, in großen Zusammenhängen zu denken. Bilder und Emoticons verringern die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen, eigene Hypothesen aufzustellen und sie anschließend zu hinterfragen. Der Einsatz von Maschinen verringert die Mengen an kulturell entstandenen Finger- und Handfertigkeiten. Was unsere Denkkrücken hervorbringen, ist weder neu, noch sind ihre Werte neutral; selbst, wenn sie „selbstlernend“ sind, lernen sie nur, woran und womit sie üben. Ein Homunculus weiß nichts von alten oder neuen Werten, er weiß überhaupt nichts von Werten und kann demnach auch keine Zusammenhänge bewerten. „ Echtes Lernen ist an einen physischen, spürenden Körper gebunden“, sagt Harald Welzer. Der Mensch ist ein Mensch unter vielen und reagiert unentwegt auf neue Reize und Veränderungen. Wenn wir uns nur an den Mustern der Logik orientieren, machen wir uns unempfänglich für menschliche Belange. Wir machen als menschliche Wesen keinen Schritt vorwärts sondern erschaffen bloß immer weitere Maschinen. Als Wesenheit entwickeln wir uns nicht, erlangen keine neuen Erkenntnisse, erweitern nicht unser Bewusstsein und lassen unsere sozialen Fähigkeiten verkümmern.
c) Handeln & Sprechen
Akustisch mit Geschrei und gestisch mit Händen und Füßen auf sich aufmerksam zu machen, ist die wohl ursprünglichste Art zu handeln und geht sicher auf den Wunsch, in Beziehung zu treten, zurück. Vom Erscheinen des Menschen in der Welt bis zum aktiven In-Erscheinung-Treten vergeht nicht viel Zeit. Der Mensch hat sowohl allein oder in Gruppen lebend von Anfang an aktiv begonnen seine Umwelt nach seinen Bedürfnissen zu gestalten und handelnd und redend in die Welt hinein gewirkt. Wäre es nicht so gewesen, wüssten wir nichts über unsere Vorfahren, es gäbe keine Wandzeichnungen, keine Gravierungen, keine Figuren, keine Knochenflöten. Manche uralten Vermächtnisse zeigen uns Völker in ihrem Lebensalltag. Aber wie viele alte Kulturen mag es gegeben haben, die gekommen und gegangen sind, ohne Spuren zu hinterlassen? Schaut man heute auf die Welt, jagt einem der Gedanke, was von uns in Erinnerung bleiben wird und was man in hunderten Jahren finden wird, einen Schauder über den Rücken.
Handeln und Sprechen sind Zeichen der Beziehung zu allem anderen. Mensch muss für seine Gebürtlichkeit, die Fähigkeit jeden Tag Neues zu beginnen, Verantwortung übernehmen und zeigen, dass er seiner Freiheit zu handeln würdig ist. Die Verbindung von Handeln und Sprechen ist unverzichtbar, denn nur wo Worte und Taten aufeinander folgen, zeigt sich deren realisierende Macht. Worte ohne Taten sind leer / Taten ohne Worte gewalttätig stumm. (Emanuel Kant)
Während Arbeiten und Herstellen oft wortlos gelingt oder auf Symbole reduziert ist die das Miteinanderarbeiten erleichtern, bedarf jedes menschliche Handeln der Worte und Gesten. Sich redend und handelnd im öffentlichen Raum zu zeigen, ist eine Offenbarung der eigenen Persönlichkeit und nicht selten mit dem Risiko des Sich-angreifbar-Machens oder schlimmer des „Sich-bloßstellens“ verbunden. Konkret erkennbar werden Handeln und Sprechen erst durch Heraustreten aus der Masse, was bedeutet, jene Anonymität aufzugeben, in der man geborgen ist. Die Gegenwart der Wenigen oder Vielen, die unser Handeln und Sprechen miterleben und aufzuzeichnen gibt dem Geschehen eine reale Bedeutung. Die Aufgabe von Anonymität kann aber nicht nur für einen selbst zum Risiko werden, sondern für alle, die mitverbunden sind; sie sind ihrerseits aufgefordert mitzumachen und sich zustimmend oder ablehnend zu zeigen.
Ohne das „Wer jemand ist“ und ohne das „Wer Verantwortung trägt“ wird Handeln beliebig und tritt als Mittel zum Zweck des Gewinnens der nächsten Wahl auf. Der Hinweis Verantwortung tragen zu wollen allein reicht nicht. Um glaubhaft vermitteln zu können, dass man für die Last der Verantwortung bereit ist und bei der Bewältigung schwieriger Aufgaben nicht zögern wird, müssen dem Reden Taten folgen. Fehlt der Handlungsimpuls oder jede Problemlösung immer weiter in die Zukunft hinaus geschoben, wird das Miteinander in der Gesellschaft zerstört. Parteien reiben sich im Kampf um Wählerstimmen auf und treten vor Angst, die Wählergunst zu verlieren, auf der Stelle. In Wirklichkeit wissen Volksvertreter nicht mehr, was das Volk will. Ihre Sprache und die Sprache der Medien sind von Schlagwörtern geprägt, die Spaltungen in immer weitere Gesellschaftsschichten hinein tragen. Sprechen, insbesondere die Fixierung auf positive Ausdrücke mit gleichzeitigem Vermeiden unangenehme Tatsachen anzusprechen, wird zum Gerede und gibt keinen Aufschluss mehr darüber, was zu tun ist. Reden ohne Handeln dient einer von Parteiinteressen geleiteten Nützlichkeit und was dabei verloren geht, ist die Eigenschaft, mit der Reden die ursprüngliche Produktivität übersteigt und damit erst Bedeutung erhält.
Was im Handlungsprozess nie sichtbar wird, ist der Denkprozess. Denken, ersinnen und erkennen muss durch einen bleibenden Prozess verdinglicht werden. Das weltumspannende Beziehungsgeflecht, welches beim Reden über jemanden entsteht, ist mit unterschiedlichsten Ereignissen verwoben. Geschichten und Ereignisse hinterlassen Spuren zwischen den Individuen und setzen sie in Beziehung. Die „gesellschaftlichen Verflechtungen“, wie der Soziologe Norbert Elias sie in seiner Zivilisationstheorie nennt, werden von allen Menschen gemeinsam gebildet. Die sich ändernden Umstände spiegeln die sich ändernden Beziehungen wider. Die Umstände, in denen Menschen leben, ändern sich mit, und durch sie ändern sich die Menschen. Jede Handlung bildet einen fortlaufenden Faden an aufeinander folgenden Ereignissen, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Agieren und Reagieren folgen in scheinbar sinnlosen und sich widerstrebenden Mustern. Wege kreuzen sich, Ziele werden verhindert, Ziele werden gefunden. Manche Perspektiven werden verändert, manche verfestigt. Wer im Umgang mit Menschen deren Individualinteressen, Handlungsmotive und Bedürfnisse unberücksichtigt lässt, widmet den Folgen seines Handelns zu wenig Aufmerksamkeit, aber den menschlichen Faktor außer Acht zu lassen rächt sich immer. Im Behaviorismus schreibt Kurt Kotrschal17 wird der Mensch als triebgesteuert und konditioniert, ohne eigene Vorstellung, verstanden und zeigt sich im Homo oeconomicus 18 als ein ausschließlich am Gewinn orientiertes Wesen ohne eigene Bedürfnisse und Motive. Zu Ulrike Guerots Buch „Der neue Bürgerkrieg. Das offene Europa und seine Feinde“ schreibt Sebastian Brand: „Eine politische und ökonomische Philosophie, für die keine Gesellschaft mit ihren vielfältigen Beziehungsgeflechten, Organisationen, Netzwerken, Institutionen existiert, und die nur den Markt als verbindenden Mechanismus ansonsten atomisierter und unverbundener Unternehmen und Haushalte kennt, eine solche Philosophie hat die Gesellschaft bereits auf ein reines Aggregat, auf eine bloße Menge einzelner Akteure reduziert.“ 19
d) Arbeiten & Herstellen
Arbeiten
Um Arbeit zu erleichtern oder sich ihrer gar zu entledigen, hatten sich schon Erfinder der griechischen Antike daran gemacht selbstorganisierende Geräte zu erdenken. Schon dort kommen gehende und fahrende Automaten vor. Aristoteles meinte dazu, man könnte sich wohl eine Welt denken, in der „jedes Werkzeug auf Befehl sein Werk verrichten würde ... wie die Statuen des Dädalus20 oder die Dreifüße des Hephästus21, die selbständig die Versammlung der Götter betraten. Dann würde eben das Weberschiffchen weben und das Plektron die Lyra schlagen ohne eine Hand, die sie führt. Das würde in der Tat bedeuten, fährt Aristoteles fort, dass das Handwerk ohne den Handwerker auskommt; aber es würde nicht heißen, dass der Haushalt ohne Sklaven bewirtschaftet werden könnte. Sklaven sind keine Werkzeuge zum Herstellen von Gegenständen, sondern lebende Arbeitsgeräte, deren Dienst sich so erneuert und so verzehrt wie der Lebensprozess, dem sie dienen.22 Sklaven waren für Aristoteles in bedauernswerter Weise einem doppelten Zwang unterworfen, den eigenen Notwendigkeiten und der Notwendigkeit einem Herrn zu dienen.
Der Aufstieg der Arbeit zur ehrenhaftesten aller Tätigkeiten begann bereits mit John Locke, der im menschlichen Körper die Quelle allen Eigentums sah. Adam Smith sah in Arbeit die Quelle des Reichtums, wenn damit etwas von Wert geschaffen wird. Aber den Höhepunkt dieser Gedanken lieferte Karl Marx, als er im „System der Arbeit“ feststellte, dass Arbeit die Quelle aller Produktivität ist. Karl Marx beschäftigte sich thematisch hauptsächlich mit Arbeit. Adam Smiths Anliegen war die Entfaltung der gesellschaftlichen Kapitalakkumulation. „Seine „unsichtbare Hand des Marktes“, die der schottische Philosoph 1759 in seinem Werk „Theorie der ethischen Gefühle“ anführte, sorge dafür, dass sich der gesellschaftliche Reichtum mittels des Marktes gerecht verteile; es regele sich im Grunde alles von selbst. Allein: Der heutige Verweis auf Adam Smith ist oft ein anachronistischer Taschenspielertrick. Denn Smiths Vorstellungen des Laissez-faire, so unterstrich die Philosophin Elizabeth Anderson in ihrem Buch „Private Regierung – Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden)“, beruhte auf ganz anderen, nämlich vorindustriellen Voraussetzungen. Entsprechend seiner Zeit hatte Smith eine Wirtschaft vor Augen, die vornehmlich aus selbstständigen Kleinbauern und Kleinunternehmern bestand. Die Freigabe der Märkte, so glaubte der Denker, führe dazu, dass kapitalintensive Großunternehmen und Aktiengesellschaften im Wettbewerb unterlägen, da sie weniger innovativ und effizient seien. In Smiths Vorstellung einer aus unabhängigen Bauern, Handwerkern und Händlern bestehenden Ökonomie führt Deregulierung deshalb nicht zur Konzentration, sondern vielmehr zur Streuung des Eigentums. Deshalb schien ihm die Spannung zwischen Privateigentum und Demokratie weitestgehend aufgelöst.“23 John Lockes Interesse galt der Errichtung und Bewahrung von Privateigentum als Grundlage der Gesellschaft. Obwohl ihnen allen bekannt war, dass mit Arbeit im herkömmlichen Sinn nichts von Dauer geschaffen wird, versuchten Locke, Smith und Marx diesen Widerspruch durch unterschiedliche Herangehensweisen zu lösen, denn alle drei sahen in ihr die produktivste aller menschlichen Fähigkeiten.
Bei John Locke findet man in der 1689 veröffentlichten „Zweiten Abhandlung über die Regierung II“ die deutlichste Neubewertung der Arbeit seit Beginn der Neuzeit, indem er das Recht auf Eigentum aus der damit verbundenen Arbeit herleitet und jedem Menschen per Geburtsrecht der gleiche Anteil an allem, was die Welt zur Verfügung stellt, zusteht. Gleichzeitig vertritt er aber auch die Meinung, dass jedem nur so viel zusteht, wie er zum Leben braucht, damit nichts verschwendet wird und jeder genug bekommt. Für John Locke war der Besitz von Privateigentum ein menschliches Recht, welches sich jeder aus den von Gott gegebenen Gaben durch Arbeit aneignet und damit zur Versorgung aller beiträgt, indem er z.B. einen Acker kauft, ihn bestellt und die Früchte seiner Arbeit jenen zur Verfügung stellt, die keinen Acker besitzen.
Adam Smith hielt nur für wertvoll, was lange genug vorhielt, um gegen etwas anderes getauscht werden zu können. Er unterscheidet zwischen jener „Arbeit, die den Wert eines Gegenstandes, auf den sie verwandt wird, erhöht und jener Arbeit, die diese Wirkung nicht hat. So vermehrt ein Fabrikarbeiter den Wert des Rohmaterials, das er bearbeitet um den Wert des eigenen Lohns und den Gewinn des Unternehmers, seine Arbeit ist also produktiv. Dagegen erzeugt die Arbeit beispielsweise eines Dienstboten nirgendwo einen solchen Wert. Natürlich verdienen auch die Dienstboten einen Lohn, obgleich im strengen Sinne ihre Arbeit unproduktiv ist und die Leistung im selben Augenblick untergeht, in der sie geleistet wird, ohne eine Spur oder erkennbaren Wert zu hinterlassen, mit dem man später wieder eine entsprechende Leistung kaufen kann“24.
In der romanischen Sprachfamilie ist die Unterscheidung von Arbeit und Herstellen insofern bedeutend, da mit Arbeit alle Alltagsarbeiten, mit denen nichts von Dauer er- oder geschaffen wurde, bezeichnet wurden. Gartenarbeit, Sorgearbeit, Reproduktionsarbeit, Kinder versorgen, Aufräumen und Kochen haben weder Anfang noch Ende und sind Teil des natürlichen Kreislaufs von Entstehen und Vergehen. Das den Notwendigkeiten unterworfene menschliche Leben wird erst durch reproduzierende Arbeit lebendig gehalten. Das einzige Gerät, das diesen Tätigkeiten am nächsten kommt, wäre ein perpetuum mobile, in etwa das, was ein Sklave war, endlos »tätig« in seiner Lebendigkeit wie der lebendige Organismus, dem es dient. „Weil sich der Nutzen der Arbeitsgeräte in ihrem Gebrauchtwerden erschöpft, kann die Arbeit der spezifischen »Produktivität« der Werkzeuge niemals gerecht werden, zu deren Wesen es gehört, daß »something more results from them than the mere use of the instrument“ «25 (dass aus ihnen mehr resultiert als der bloße Gebrauch des Gerätes) 26.
Über die durch die Arbeit erzeugten „guten Dinge“, wie John Locke die lebensnotwendigen Konsumgüter beschreibt, schreibt Hannah Arendt: „Unter allen Gegenständen, die wir in der Welt vorfinden und die uns umgeben, besitzen die Konsumgüter den geringsten Grad an Beständigkeit. […] Weltlich gesehen sind sie die unweltlichsten der Weltdinge – im Sinne von menschengemacht – und gerade darum die natürlichsten, die der Mensch hervorbringt“. Die zum Verzehr und Verbrauch geschaffenen Arbeitsprodukte gehören nicht in unsere Dingwelt, da sie nur hergerichtet und zubereitet werden müssen, um sie verbrauchen zu können. Für Hannah Arendt ist das gerade das Kennzeichen der Arbeit – das Produkt überlebt den Herstellungsprozess nur kurze Zeit und nichts bleibt nach dem Verzehr übrig. Materie wird zerstört und das entstandene Arbeitsmaterial wird zu etwas Neuem zusammengefügt. Der verzehrende Aspekt der Arbeit zeigt sich nur von unserem weltlichen Standpunkt aus. Weltliche Dinge erhalten ihren Wert als bleibende Gegenstände in der Schaffung von Mehrwert durch deren Produktion. Umgekehrt ist der Herstellungsprozess als die Vernichtung von natürlichem Material das Gegenteil eines Naturkreislaufs. Aus Naturstoffen werden Dinge mit neuen Eigenschaften und neuem Aussehen gemacht, etwas, was nach Bedarf gebraucht wird und ganz in die Menschenwelt gehört. Nichts verdirbt und nichts zerfällt, was haltbar gemacht und dadurch aus unserem weltlichen Blickwinkel heraus, aufgewertet wird. Karl Marx wollte die Wiedereingliederung der Arbeit in den natürlichen Prozess erreichen und sieht in Arbeit ein Wechselspiel zwischen Mensch und Natur, in dem die Natur alles zur Verfügung stellt. Der Naturstoff wird „humanisiert“, indem der Mensch seine Kraft und Ausdauer zur Bearbeitung einsetzt. Der Mensch wird „naturalisiert“, indem er sich in Gedanken auf den Naturstoff und dessen Bearbeitungsmöglichkeiten einlässt. Der arbeitende Mensch, der durch Formveränderung Naturstoffe den menschlichen Bedürfnissen anpasst, ist eins mit der Natur und nicht der Natur entfremdet.
Die Angleichung der Arbeit an das Herstellen als ebenbürtig lässt animal laborans‘ Ansehen steigen. Eine neue Trennlinie wird gezogen zwischen produktiver Arbeit, die Dinge von Wert schafft, und unproduktiver Arbeit als diejenige, die Verbrauchsdinge erzeugt, die verzehrt werden. Darauf folgen weitere Unterscheidungskriterien, zB: die Unterscheidung zwischen erlernter und ungelernter Arbeit, für die es keine Kenntnisse braucht, und der Unterscheidung zwischen Kopfarbeit und Handarbeit.
Alles, was wir tun, tun wir in der von uns geschaffenen Welt. Alles, sogar die als Natur wahrgenommenen Kulturlandschaften, wurden über Jahrhunderte hindurch durch Abholzen, Aufstauen und Kultivieren, durch Abtragen und Aufbauen erschaffen. Mit den modernen Produktionsweisen ist zwischen Arbeit und Herstellung eine tiefe Kluft entstanden. Der Vorgang der Herstellung lag früher von der Vorstellung über etwas, vom Planen bis zum Fertigstellen in einer Hand. Mit der industriellen Produktion wurde die Fertigung eines Dings in einzelne Handgriffe zerlegt und verfremdet. Die gedankliche Verbundenheit mit dem ursprünglichen Material und was daraus werden wird, ist vielfach verloren gegangen. Herstellungsprozesse in ihrer Gesamtheit des Planens, der Kenntnis und Auswahl des benötigten Materials, des Vorbereitens, die präzise Reihenfolge und Dauer der notwendigen Arbeitsschritte schwinden aus dem Gedächtnis.
Herstellen
Der Beginn einer Herstellung ist ebenso klar erkennbar wie dessen Ende, nämlich dann, wenn das Ding seine endgültige Gestalt erhalten hat. Der Herstellungsprozess von Waren zum Verkauf ähnelt nur insofern jener der Arbeit, da nach jeder Fertigstellung mit einem neuen, gleichen Ding begonnen wird. Herstellen bedeutet, dass Dinge von anhaltendem Wert und Dauer gefertigt werden – Dinge, die gebraucht werden und sich langsam abnutzten. Um Arbeit mit Handwerk gleichsetzen zu können, entsann man sich der landwirtschaftlichen Arbeit. Als Beispiel zur Gleichsetzung von Arbeit und Herstellen diente der Ackerbau. Ein einmal hergerichtetes Feld bleibt Feld, indem es die Ernte überdauert, ein gepflanzter Wald bleibt auch nach Entnahme von Holz und Wild als Wald bestehen. Warum die frühen Ökonomen auf die Unterscheidung zwischen Handwerk und Arbeit dennoch Wert legten, ist, dass sie noch auf das Privateigentum angewiesen waren, von dem sie lebten. Arbeitsprodukte wurden eingelagert und verzehrt. Sie konnten kaum angehäuft werden und erhöhten den Reichtum der Eigentümer kaum. Erst mit der Möglichkeit der Kapitalbildung wurde auch aus Lebensmitteln bewegliches, zu handelndes Kapital. Damit setzte sich vermehrt das Wort Arbeit für Herstellungstätigkeiten durch.
Die Erfindungen und Verfeinerungen bestehender Arbeitsgeräte hat aus animal laborans auch einen Handwerker gemacht und damit wesentlich zur Arbeitserleichterung beigetragen. Homo Faber ist Erfinder und Macher aller menschengemachten Dinge. Er ist Herr der Natur, Herr seiner Selbst, seines Tun und Lassens. Unabhängig von Allen und Allem steht es Homo Faber frei, etwas hervorzubringen und es zu zerstören, wenn es nicht seinen Vorstellungen entspricht.
Unbewegtes Staunen ist in der mittelalterlichen, christlich orientierten vita contemplativa wieder zur Hauptforderung geworden. Um in Kontemplation versinken und sich der Betrachtung des Schönen und Wahren hingeben zu können, musste Homo Faber nicht erst überredet werden. Der wesentliche Unterschied zwischen vita contemplativa und Vita Activa liegt im aktiven Ruhenlassen jeder Arbeit, um sich der reinen Betrachtung hinzugeben. Was dem Arbeiter Ausdauer, Geduld und die Freude nach geleisteter Arbeit ist, sind dem Handwerker die Bewunderung schöner Handwerkskunst, Kraft, Stärke und die Bestätigung, etwas von Dauer erschaffen zu haben. In der Beschreibung der „Arbeitsfreude“ ist es nicht nur die Freude ein Werk vollbracht zu haben, sondern auch die Versunkenheit, mit der man sich einer Arbeit widmet und die heute als „Flow“ bezeichnet wird, eine Tätigkeit, bei der man die Welt um sich vergisst und sich ganz darin verliert. Für die besondere Stellung, die das Handwerk in der Vita Activa einnimmt, ist die dem Herstellungsprozess vorausgehende Vorstellung des „Ur“-Models von grundlegender Bedeutung. Die Idee wird zum Plan, später zum Model und dient als Einzelstück der Produktion weiterer identischer oder ähnlicher Gegenstände. Das vorgestellte Idealding verschwindet nach dessen Herstellung nicht, sondern kann endlos gedacht, überarbeitet und neu gestaltet werden. Die Idealvorstellung eines Dings gilt als Vision, die man nur noch erschaffen muss, doch jeder Versuch, dieser Vision gerecht zu werden, scheitert, wenn Idee und Notwendigkeit nicht zu etwas Brauchbaren verschmelzen.
Hätte der frühneuzeitliche Zweifel nichts anderes bewirkt als der Kontemplation den Vorrang über das Tätigsein einzuräumen, wäre nur die Ordnung der Antike wieder hergestellt worden, in der philosophische Betrachtung zur höchsten Tätigkeit zählte. Die Schwierigkeiten dieser Verkehrung und Neuordnung begannen erst, als nicht mehr das herstellungsleitende Modell das Sinn-Ziel war, sondern der Produktionsprozess an Wichtigkeit zunahm und letztlich die Rolle des Sinns übernahm. Nicht die präzise Ausfertigung zählte, sondern dass etwas hergestellt wurde. Es ging nicht mehr darum, welch ein Ding herzustellen war, sondern darum, wie, wie viele und zu welchem Preis.
Solange Kontemplation und Vernunft als höchste menschliche Fähigkeiten gesehen wurden, lag zumindest der vormodernen politischen Philosophie jede Anwendung von Gewalt fern. „Bis in die Neuzeit galt Gewalt als äußerste „Notwendigkeit“ und Mittel, welches einer Begründung bedurfte,“ schreibt Hannah Arendt. Erste Belege von Folter gibt es in der Tat erst im Übergang Spätmittelalter zu Neuzeit, steht in Wikipedia zu lesen. Ob man sich tatsächlich an der beim Herstellen angewandten Gewalt orientierte, kann man nicht so genau sagen. Die Fantasie, mit der manche Foltergeräte entwickelt wurden, weist jedoch in Richtung herstellerischer Talente. Karl Marx‘ berühmtes Wort von der Gewalt als Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht, entspricht der damaligen Überzeugung, dass Geschichte von Menschen gemacht wird und dementsprechend gewaltvoll verläuft. Im damaligen Europa der großen Umbrüche kam keine Revolution, keine Staatsgründung ohne Anwendung von Gewalt aus.
e) Natalität & Pluralität
Niemand war in der Welt, bevor der Mensch als Jemand in die Welt kam. Der Anfang, der der Mensch ist, insofern er Jemand ist, ist ein Wesen, welches mit seiner Geburt neu beginnt und an jedem weiteren Tag in der Lage ist neu beginnen zu können. Neuanfangen und Handeln sind grundsätzlich menschlichen Ursprungs und entziehen sich jeder Berechenbarkeit.
Das Faktum der Natalität beruht darauf, dass mit jedem Menschen etwas einzigartig Neues entsteht und in jeder Weise neu beginnt. Hannah Arendt stellt die Frage „Wer bist du?“ zentral in den Raum. Diese Frage kann nur durch Sprechen und Handeln unter seinesgleichen verständlich beantwortet werden und darüber Aufschluss geben, wer jemand ist und Verantwortung für sein Leben trägt. Denn jede Geschichte verliert ihre Bedeutung und gerät in Vergessenheit, wenn sie sich keinem bestimmten Ereignis und keiner bestimmten Person zuordnen lässt. Will man über die Einzigartigkeit einer Person erzählen, muss man sich an Aussagen und Ereignisse halten, die unmittelbar und eindeutig mit dieser Person in Zusammenhang stehen. Solche Erzählungen geben nicht nur Aufschluss über das Wer-dieser-Jemand-ist, sondern ermöglichen auch ein einfacheres Knüpfen von Beziehungen. Jede Vorstellung geht mit einem kurzen Überblick der eigenen Person einher, denn ohne jeden Anhaltspunkt ist es schwer, mit Fremden in Beziehung zu treten. Fremdheit, Vorurteile und Verallgemeinerungen sorgen für eine „Vorsortierung“ in Schubladen. Diese „Vorsortierung“ hat sich für unser Überleben als essenziell heraus gestellt und ist daher genetisch verankert. Wir müssen also, um in Beziehung treten zu können, diese Hürden überwinden, Vertrauen aufbringen und im Kennenlernen unsere Meinungen den realen Bedingungen anpassen.
Im Unterschied zu den uns bekannten Eigenschaften und Talenten, die uns freistehen zu zeigen, ist das „Wer man ist“ der eigenen Kontrolle entzogen und wird hauptsächlich von unserem Gegenüber bestimmt. Die Beschreibung eines Menschen scheitert schon an der Beschreibung des Menschseins. „Der Vergleich rationalistischer Erklärungsversuche mit den Erkenntnissen der empirischen Naturwissenschaft macht sicher: Reale Menschen genügen keinen ideologisch-philosophischen Konstrukten. Wenn doch, dann reflektieren diese Konstrukte evolutionäre Prinzipien. Kein Wunder, sind doch ihre Schöpfer auch Menschen, die sich durch "menschliche Universalien" auszeichnen, teils komplexe Eigenschaften in Interaktion mit ihrer Umwelt, die allen Menschen unabhängig von ihrer Kultur, qualitativ gemeinsam sind.“27 (Kurt Kotrschal)
Unsere menschliche Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit (Pluralität) als Voraussetzung zu gemeinschaftlichem Handeln zeigt sich auf zwei Arten, als Gleichheit und Verschiedenheit. Ohne Wesensgleichheit gäbe es kein Verständnis und kein Ein- und Mitfühlen-Können. Vor allem aber gäbe es kein gemeinschaftliches Planen einer Zukunft, in der auch nachfolgende Generationen leben wollen. Wesensgleichheit vermittelt Verbundenheit unter Fremden und ermöglicht Ausgleich zwischen unterschiedlichen Zugehörigkeiten. Nur im Urvertrauen auf das Gemeinsame im Verschiedenen war es unterschiedlichen Familien und Clans möglich Städte zu gründen, in denen sie miteinander leben und sich gemeinsam gegen andere verteidigen konnten. Die Betonung des Verbindenden hat Zusammengehörigkeit gefördert und zum Entstehen von Gemeinwesen beigetragen.
Ohne Verschiedenheit gäbe es keine Individualität. Es bedürfte keiner Sprache und keiner Mimik, da alle das gleiche denken und tun würden; wir wären Klone. Mit der heutigen Fokussierung auf das Einzelne und Besondere wird die Absage an allgemein Gültiges auf die Spitze getrieben. Universelle Normen und Werte, die über Jahrzehnte oder Jahrhunderte in gemeinsamer Übereinkunft den Alltag bestimmt und vielfach auch einfacher gemacht haben, werden hinterfragt und über Bord geworfen. Der Zusammenhalt bröckelt und lässt Gruppen von Menschen haltlos zurück. Jeder muss seine Einzigartigkeit präsentieren. Doch hat man das Gefühl, dass sich all diese Individuen mehr denn je gleichen. Was sie als Individuum auszeichnet und was als individuell gilt, scheint vorgezeichnet und modisches Accessoire. Die Bedeutung der Verschiedenheit lässt sich anhand von individuellen Besonderheiten verdeutlichen. Der individuelle Typ ist das, was alles und jedes unterscheidet. Und doch gleichen sich Einzelne in ihren Eigenarten, andere in ihrer modischen Akzentuierung, um einen bestimmten Stil zu pflegen. Jede Festlegung eines Einzelnen ist gleichzeitig dessen Differenzierung von anderen. Das Gleiche ist nicht dasselbe. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, welches sowohl seine Verschiedenheit als auch seine Gleichheit im Sprechen und Handeln zum Ausdruck bringen kann.
f) Tätige Güte & Verbrechen
Nur tätige Güte, wie Hannah Arendt das Gute nennt, und Verbrechen entspringen noch aus der schützenden Fremdheit und sind nur in Form eines Retters oder Täters sichtbar. Der eigentliche Charakter dieser Person bleibt sowohl dem Opfer gegenüber als auch gegenüber dem Geretteten verborgen, beide vollziehen ihr Tun innerlich distanziert. Vom Standpunkt des Miteinander aus betrachtet, handelt es sich bei beiden um Randerscheinungen des Politischen im Sinne von nicht alltäglich. Retter wie Täter tun, was sie in einem bestimmten Augenblick für notwendig halten, ohne dabei ihre Anonymität preiszugeben.
Hannah Arendt hebt in Vita Activa zwei Dinge hervor, die im Verborgenen geschehen, tätige Güte und das Böse. Das Phänomen „tätige Güte“ spielt in der Geschichte des politischen Denkens eine wesentliche Rolle, obgleich es erst mit Aufkommen des Christentums entsteht. Das „Gute“ oder „die Güte“ haben nichts mit Qualität oder Nützlichkeit gemein, sondern beschreiben die Art des Handelns und der dahinter stehenden Gesinnung. „Tätige Güte“ war, was Jesus nachweislich gelehrt hat, schreibt Hannah Arendt; sie dient keinem Zweck, hinter ihr verbirgt sich keine eigennützige Absicht. Weisheit und Güte kann man nur um ihrer Selbstwillen pflegen – die Liebe zu ihnen entsteht im und durch das Tun. Wenn Weisheit und Güte allgemein wären, müssten wir nicht danach trachten, das eine oder andere zu erreichen, sagt Aristoteles und sagt auch, um gut sein zu wollen, bedarf es vor allem der entsprechenden inneren Ausrichtung, der Erziehung und einer lebenslangen, selbstreflektierenden Betrachtung. Wer Gutes tun will, muss sich auch jeden Tag für das Gute entscheiden, sagt Hannah Arendt. Wer gut sein will, kämpft mit seinem Gewissen, weiß um Konsequenzen und muss die Verantwortung für sein Tun übernehmen. Weiter sagt Hannah Arendt, wer böse handelt, weiß auch, was er tut, kann so oder so handeln und hat sich nicht FÜR das Gute entschieden. Er kümmert sich kaum um Konsequenzen, übernimmt kaum Verantwortung, ihn plagen vor allem keine Gewissensbisse. Da sich kaum jemand für ein Leben als schlechter Mensch entscheiden würde und lieber Böse sein würde als Gut, ist die böse Tat eine NICHT-Entscheidung. Nicht prinzipiell gegen das Gute und nicht prinzipiell für das Schlechte
Die Verborgenheit, die sowohl tätige Güte als auch die Philosophie anstreben, unterscheidet sich darin, dass der Philosoph mit sich selbst genug hat, aber wer Gutes tun will, kann sich nicht zurück ziehen, weil er die anderen braucht. Der Philosoph, der sich entschließt, die Niederungen der menschlichen Angelegenheiten zu verlassen, geht in die Einsamkeit, um mit sich selbst alleine zu sein. Er wird unter dem Himmel der Ideen nicht nur das wahre Wesen von allem finden, sondern auch sich selbst, im Dialog „zwischen mir und mir selbst“ (Platon). Der Philosoph lebt allein, während er mit und unter anderen lebt; ihm sind seine Gedanken Gesellschaft genug.
Auch wenn von tätiger Güte kaum jemand Notiz nimmt, weil es sich oft um sogenannte Kleinigkeiten handelt, die kaum vollbracht schon wieder in Vergessenheit geraten, geschieht sie immer öffentlich. Tätige Güte hält Machiavelli28 für zermürbend, jedenfalls für jene, die hilfsbereit und gerecht sein wollen, aber unter denen zu leiden haben, die ihnen im Weg stehen. Wer einfach nur gut sein will, hat keine Möglichkeit, sich gegen Übeltäter zu behaupten. Aus diesem Grund wollte Machiavelli die Menschen lehren nicht (mehr) gut zu sein, denn im öffentlichen Bereich ist tätige Güte unmöglich und zermürbend. Machiavelli lebte als Politiker und Diplomat in einer Zeit der Fürsten und Kaufmannsfamilien, und – da ständig mit Begehrlichkeiten und Animositäten konfrontiert –, wusste er, wovon er sprach. Seine berechtigte Forderung bestand darin, dass der Fürst von Klugheit als moralischem Motiv geleitet wird und nicht, wie damals üblich, von primitiven Gelüsten. Seiner Meinung nach sollte, wenn schon der Zweck die Mittel heiligt, dieser Zweck allen Leuten zugutekommen und nicht nur wenigen. Auch Thomas Hobbes, der nach Machiavelli lebte, wünschte sich eine starke Hand. Zu einer Zeit, in dem kaum jemand lesen und schreiben kann, braucht es jemanden, der für Sicherheit und Ordnung sorgt und sich nicht an den Begehrlichkeiten der Wohlhabenden orientiert.
Güte, die in der Öffentlichkeit eine altruistische Rolle spielen will, wird auch vor Gewalt nicht zurückschrecken und sich dennoch auf der richtigen Seite wähnen. Diese Güte ist nicht mehr einfach gut, sie will Einfluss nehmen und ihre Ziele verwirklichen. Wer mit der Botschaft auftritt, nur in guter Absicht zu handeln, wofür jedes Mittel recht sein muss, dem vertraut die Masse auch dann, wenn sich hinter der Maske des Guten Hass, Gewalt und Zwang verbergen. Wird das Spiel nicht rechtzeitig durchschaut, geht der Glaube an das unbedingte Gute verloren. Vertrauen in eine gute Gesellschaft wird unwiederbringlich zerstört. Dieses Phänomen tritt besonders in Zeiten großer Umbrüche zutage und geht mit autokratischen und technokratischen Tendenzen der Regierungen einher. Tritt soziale Distanzierung und Abgrenzung vermehrt als gesamtgesellschaftliches Phänomen, in Form eines als Freiheit empfundenen Individualismus, auf, wirkt er sich besonders in Zeiten großer Unsicherheit und sozialer Turbulenzen zerstörerisch auf die Gesellschaft aus. Weite Teile des öffentlichen Bereiches gehen verloren. Die Menschen fühlen sich einander fremd und reagieren zunehmend misstrauisch und aggressiv. Selbstredend ziehen sie sich auf ihre geschützten Räume zurück und reduzieren die ohnehin schon geringe politische Teilnahme weiter. Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche sind Zeiten, in denen Menschen vermehrt nach Sicherheit suchen. Während der öffentliche Raum zunehmend enger wird, das Gute in der Gesellschaft in Bedrängnis gerät, der Spielraum des sich Wohlverhaltens abnimmt und man auf seine Wortwahl achten muss, finden Menschen bei Gruppierungen, Gleichgesinnte, Schutz und Anerkennung. Dass es dann gerade solche Gruppierungen mit zweifelhafter Agenda sind, die den größten Zulauf haben, ist womöglich darauf zurückzuführen, dass ihre Anziehung offensiver ist und ihr Auftreten dem entspricht, was Zurückgewiesene besonders brauchen.
g) Mittel & Zwecke
Wir sind heute fähig Naturprozesse zu reproduzieren, aber offensichtlich nur auf zerstörerische Weise. Einmal begonnen, ist Innehalten keine Option mehr. Die Vorstellung, dass der erzeugte Gegenstand wichtiger ist als der Herstellungsprozess gilt für unsere Gegenwart längst nicht mehr. Produziert wird, um den Prozess des Produzierens aufrecht zu erhalten. Ob ein Herstellungsvorgang nützlich ist und sich lohnt, hängt heute von vielen Faktoren ab, am wenigsten vom Bedarf. Die mittelalterlich geprägte Handwerksmentalität stellte sich mit der Begründung; Handwerk und Technik sollen sich am Nutzen und praktischen Bedarf ausrichten, Werkzeuge und Maschinen sollen das Leben erleichtern und Menschen nicht zum Sklaven von Maschinen machen, gegen den aufkommenden, protestantischen Utilitarismus des 18. Jhdts.
Die Zweckdienlichkeit eines Dings misst sich seit ein paar Jahrzehnten an dessen Neuheit, Modernität und Design und nicht mehr an Hochwertigkeit. In dem Maß wie Oberflächlichkeiten zunehmend das Leben bestimmen, ist der Schein, die Oberfläche, zum Maßstab für Produkte geworden. Lange Haltbarkeit, Reparaturmöglichkeit, Verwertbarkeit sind heute keine Kriterien, mit denen sich Kunden beschäftigen, sondern günstigst reproduzierbarer Firlefanz, der zwar Modernität, einfache Handhabung und Bequemlichkeit suggeriert, aber keinen tatsächlichen Mehrwert bietet. Natürlich kann die Frage nach dem Zweck auch an jeden hergestellten Gegenstand gestellt werden. Wirft man aber den Blick auf die Folgen endloser Produktionsketten und Unverwertbarkeit nach Verwendung, so kann diese Frage nur so beantwortet werden, dass der Zweck der Produktion der bestimmende Faktor ist und nicht dessen Wert. Die Zweck-Mittel-Kategorie ist unbegrenzt und auf alles anwendbar, sie erzeugt ihrerseits endlose Ketten an Mitteln und Zwecken in beständiger Abfolge oder, wie Nietzsche es formuliert hat, „Zweckprogressus infinitum“ – ein sich ständig wiederholender Prozess ohne Ende in einer konsequent utilitaristisch organisierten Welt.
Wird Politik, werden politische Entscheidungen als zukunftsorientierte Projekte verstanden, die einer sorgfältigen und vertrauensfördernden Planung bedürfen, kommt man rasch zur Einsicht, dass kurzfristige Vorteile und die Verwendung von zwar Gewinn garantierenden, aber langfristig schädlichen Mitteln und technischen Lösungen fehl am Platz sind. Wir kämen weiters zum Schluss, dass für Ziele wie stetes Wirtschaftswachstum, ungehinderter freier Handel, und Technologisierung um jeden Preis eben nicht jedes Mittel recht sein kann; denn wäre jedes Mittel recht, würden wir über kurz oder lang auch den Einsatz von Gewalt rechtfertigen und/oder hinnehmen, schreibt Hannah Arendt. Für Hannah Arendt bedeutet Gewalt, über jene Macht zu verfügen, die durch Drohungen oder Sanktionen, durch Überreden oder Manipulation in der Lage ist, den eigenen Willen gegen den Willen anderer durchzusetzen. Sie meint: „Ein Problem dieser Zeit (1957) ist, dass die alleinige Ausrichtung auf Zwecke so allgegenwärtig ist, dass kaum ein Thema besprochen werden kann, ohne sich des „um zu“ bedienen zu müssen.“ Selbst im privaten Bereich muss alles einem Zweck dienen, Ziele müssen ausgesprochen und erreicht werden oder Nutzen im Sinne von Geld oder Macht ermöglichen.
Die menschenzentrierte Weltanschauung hat den Menschen zum gebrauchenden Endzweck bestimmt. Allein, dass wir etwas brauchen, macht Sinn. Die Redewendung „dass etwas Sinn macht“ verweist auf den utilitaristischen Hintergrund amerikanischer Denkweise, in der Sinn „an und für sich“ nicht existiert, sondern „gemacht“ werden muss. Was die Natur uns bietet und kostenlos zur Verfügung stellt, hat eben nur Sinn, wenn wir es auch brauchen können. Die Welt – Tiere, Pflanzen und Menschen eingeschlossen – ist ein großer Gratis-Selbstbedienungsladen mit ausschließlich Mitteln unserer gegenwartsfixierten Zwecke ohne jeden Selbstzweck. Kann man es nicht unmittelbar verarbeiten, ist es zumindest Beifang, Abraum, Ausschuss, Ungeziefer oder Altstoff und damit wieder Mittel für einen Industriezweig, um Gewinn zu generieren.
„Naturphilosophie hat es auch lange vor Schelling gegeben, aber keiner, auch in den mehr als 200 Jahren Geistesgeschichte, die folgen sollten, geht so weit wie Schelling. In allen Modellen und Theorien der philosophischen Tradition ist die Natur bloß „geschaffene Natur“, natura naturata, wie es später bei Baruch de Spinoza heißt. Dass die Natur, und zwar die endliche Natur, das Leben auf diesem Planeten, auch natura naturans, also „schaffende Natur“ sein könnte, fällt keinem ein. Kreative Produktivität wird nur der intelligiblen Natur eines höheren Wesens vorbehalten, vor dessen unaussprechlicher Schöpfungsabsicht alle Dinge so gut wie nichts sind, salopp gesprochen: bloßer Tand.“29
Nicht der ursprüngliche und wesentlich langsamere Herstellungsprozess degradiert Naturdinge zu Gebrauchsmitteln, sondern die extrem rasante Ausweitung von Produktion um der Produktion willen, in deren Folge auch jene Menschen zu unterliegen drohen, denen es auf Grund ihrer Herkunft oder ihrer gesellschaftlichen Stellung nicht möglich ist Endzweck zu sein, sondern wieder nur Produktionsmittel. Den ursprünglich weltlichen Charakter einer Fabrik, als Ding in unsere Dingwelt gehörend, ist vor Jahren verloren gegangen. Der 365 Tage und Nächte produzierende Rhythmus der Maschinen hat unser ursprüngliches Leben abartig verändert. Apparate, die früher zu unserer Verwendung bereit standen, haben ihr eigenes „Leben“ entwickelt, drängen sich immer weiter in unsere Privatsphäre vor und übernehmen Handgriffe, die unser Leben erleichtern sollen, aber einerseits eine enorme Menge an Ressourcen verbrauchen, aber kaum wirklich nützlich sind und über kurz oder lang im (exportierten) Sondermüll landen. Computer übernehmen Suchen, Denken und Erinnern, das Ein- und Ausschalten, das Öffnen und Schließen. Längst sind wir zu ihrem „Schalttier“ (animal expedire) geworden und wieder Mittel, um-zu betätigen. Bildschirme, Tasten und Knöpfe fordern Tag und Nacht Aufmerksamkeit. Herrscht längere Zeit Ruhe, wird die Stille unerträglich. Stehen Computer und Maschinen noch im Dienst unserer Bedürfnisse oder ist es nicht längst umgekehrt? Als gebrauchende Endzwecke stehen wir als Mittel im Dienst von Computern und Apparaten, die wiederum im Dienst der Produktion stehen, und schon wird der Zweck-an-sich zum Sinn-Ziel. Alles, was von Maschinen produziert wird und alles, was über Bildschirme flackert, ist auch nützlich, ohne dass Mensch es braucht.
Aristoteles verstand zwar den Menschen als das höchstes Seiende, befand aber, dass der Natur aufgrund ihrer inneren Zielgerichtetheit (teleologie) ein eigenständiger, von menschlichen Interessen unabhängiger Wert zukommt. Jede Pflanze, jedes Tier verfolgt seinen ureigenen Daseinszweck. Im Widerspruch dazu lässt Platon Protagoras im Homo-Mensura-Satz30 die Feststellung machen: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, dass sie sind, der Nichtseienden, dass sie nicht sind.“ Allein der Mensch bestimmt aufgrund seiner Deutungshoheit, was Etwas und was Nichts ist. Er ordnet und verzweckt nach seinem Nutzen und wird sich nicht davon abhalten lassen, seinen Bedarf zum Maßstab zu nehmen. Der Wind ist dann nicht mehr nur der Wind, die Sonne nicht einfach Sonne, der Stein nicht einfach Stein, sondern Naturkraft oder Rohstoff, den man sich nutzbar machen muss.
Schon im 17. Jhdt äußerte John Locke sich kritisch über mögliche negative Konsequenzen des Denkens in „Zweck-Mittel-Kategorien“ und schrieb, dass es niemandem erlaubt sein dürfe, eines Menschen Körperkraft zu besitzen oder über sie Macht zu haben. Bei Kant finden wir die Formulierung, dass kein Mensch je Mittel zum Zweck sein darf; im gleichen Gedanken wird festgehalten, dass der Mensch Zweck-an-sich ist und Kant ihn damit zum Herrn über die Natur macht, die er nach seinen Bedürfnissen gestalten kann.
h) Macht & Machtraum
Wo Menschen gemeinschaftlich in Beziehung treten, entsteht ein Handlungsrahmen, der gerade einmal so lang dauert, solange der gemeinschaftliche Gedanke aufrecht erhalten werden kann. Aus den frühzeitlichen Handlungsräumen sind Orte der Begegnung, Gemeinden, spätere Städte und Staatsgründungen hervorgegangen. Was diesen Orten gemein war, war ihr öffentlicher, politischer Wirkungsbereich, in dem Alltägliches besprochen werden konnte; was sie zusammen hielt, war das von diesen Räumen ausgehende ermöglichende Machtpotential.
Macht klingt zwar ähnlich wie MACHEN, geht wahrscheinlich aber auf das Wort „magh“ zurück und hat etwas mit vermögen, können und möglich zu tun. Hannah Arendt sieht in Macht vor allem den ermöglichenden Faktor von machen, einen natürlichen Gegenspieler von Gewalt, der als Durchsetzungsmacht ohne Gewaltanwendung auskommt. Für Hannah Arendt ist die Bedeutung von „etwas ermöglichen“ eng an die Praxis des Anfangens sowie an die Möglichkeit der Teilhabe in einer Gruppe gebunden. Im positiven Sinne geht sie davon aus, dass jemand, der Macht besitzt, sich seiner schöpferischen Kraft bewusst ist und sie nutzt, um größtmögliche Freiheit durch umfassende gesetzliche Rahmenbedingungen zu ermöglichen. Macht als Wirkmacht verstanden vermag sowohl Ungleichheit als auch Übermacht zu eliminieren. Natürlich ist sich Hannah Arendt aus eigener Erfahrung aber auch darüber bewusst, wie Macht und Gewalt zusammenwirken um ihren Einfluss vergrößern, ihre Macht zeigen und sich politische Institutionen der Gewalt bedienen. In vorgeblich nötiger Gewaltanwendung sieht sie aber gerade kein Zeichen von Macht, da sie ihren ursprünglich ermöglichenden Charakter untergräbt und nicht selten in Gewaltherrschaft endet. Hannah Arendt sieht im Nicht-Zurückweichen vor dieser Staatsgewalt die einzig mögliche Form des Widerstands.
Der Wille zur Macht entspringt für Hannah Arendt einem Gefühl der Ohnmacht. Angesichts politischer Umstände sieht man sich gezwungen, die notwendigen Veränderungen selbst einzuleiten. Jemand steht auf und handelt. Handlungsmacht besitzt niemand von sich aus, sie wird durch andere verliehen, und erst die, die Macht verleihen und mittragen, machen eine begonnene Handlung real und wirkungsvoll. Man sagt, was gesagt werden muss, und tut, was getan werden muss. Den Worten folgen unmittelbare Taten. Diese reale Macht ist unabhängig von materiellen Faktoren, da sie auf Zustimmung angewiesen ist und auf jener Ausstrahlung beruht, die Menschenmassen seit jeher anzieht und verstummen lässt, sobald dieser Jemand zu reden beginnt. Die auf Zustimmung von vielen entstandene Legitimität von Macht kann über einen längeren Zeitrahmen hinweg politische Stabilität gewährleisten. Jeder Machtinhaber ruft eine gegnerische, ebenfalls nach Macht strebende Gruppe auf den Plan, und erst mit Entstehen einer oppositionellen Meinung bleibt der öffentliche, politische Raum wach und lässt nicht vergessen, dass Macht immer wieder neu verliehen und damit legitimiert werden muss. Wird Macht nur verwaltet, ohne dabei im Sinne der Vielen zu handeln, verliert sie ihre Kraft und die Menschen wenden sich ab. An schleichendem Machtverlust, der schließlich in Handlungsohnmacht übergeht, geht der politische Körper zugrunde.
Das Wesen der Macht liegt demnach in der Bündelung von Kräften. Im Gegensatz dazu ist das Kennzeichen einer Diktatur oder Autokratie die Isolierung bzw. die Entfernung vom Volk, vom Wähler. Nicht nur, dass ein einzelner Herrscher oder eine Gruppe sich von den Bürgern entfernt, das Hauptproblem ist die gezielte Zersplitterung der Bürger untereinander. Das Schüren von Misstrauen, Fehlen von Sicherheit und das Verbreiten von Angst, verunmöglichen öffentlichen Widerstand durch auf Vertrauen basierendem Austausch und gemeinschaftliche Gegenwehr. Widerstand bildet sich nur in kleinen, flexiblen Gruppen, wo jeder jeden kennt und einander vertraut wird. Diese Grüppchen agieren aus dem Untergrund heraus und setzen auf Zermürbung. Ihr Vorteil besteht in der Kurzlebigkeit ihres Handlungsrahmens, der mit Auflösung der Gruppe verschwindet. Gruppen organisieren sich kurzfristig und gehen sogleich wieder in der anonymen Masse unter. Die Möglichkeit, sich als Einzelner oder kleine Gruppen der Gewalt zu entziehen, ist ungleich höher als für eine Widerstandspartei, obgleich sie den gleichen Einschränkungen und Überwachungen ausgesetzt ist.
Dennoch muss eine absolutistische Herrschaftsform kein Ort der Unproduktivität oder Gewaltausübung sein, im Gegenteil – wie erfolgreich eine Gesellschaft mit absolutistischer Herrschaft sein kann, hängt davon ab, wie das Land geführt wird und wie viel Freiheiten den Einzelnen zuteil werden. Die Tyrannis selbst ist unpolitisch, schreibt Hannah Arendt, und kann sowohl zu Utopia werden als auch in Naziherrschaft enden, aber immer ist es die Herrschaft Weniger über Viele. Je mehr eine Staatsform zum Machtgebilde wird, was besonders häufig auf ältere Demokratien zutrifft, umso schwerer wird es für Einzelne und kleine Gruppen sich Gehör zu verschaffen. Demokratisch gebildete Mehrheiten können dank stärkerer Verflechtungen und Abhängigkeiten unerwünschte Gruppen mundtot machen, sie benachteiligen oder demütigen. Die Macht der Mehrheit kann eine Ermöglichungsmacht- oder eine Verhinderungsmacht sein. Organisierte Kriminalität, Vetternwirtschaft, Korruption und Willkür zeigen uns, wie in wohlorganisierten Interessensgemeinschaften eine Hand die andere wäscht. Um im Zirkel der Macht aufgenommen zu werden, zählen weder Können oder Wissen, sondern Angepasstheit, Zugehörigkeit und Kapital. Das Unwägbare an diesen Machtverhältnissen ist, dass Macht unmittelbar entzogen wird, wenn sich jemand gegen eine stillschweigend übernommene Vereinbarung stellt und keinem höheren Zweck mehr dient.
i) Freiheit & Souveränität
Mit Schritten, die wir setzen, und Worten, die wir sprechen, wirken wir auf unsere Mitmenschen ein. Ein Schritt zu viel, ein falsches Wort, und schon nimmt das Unheil seinen Lauf, selbst wenn wir gerade vorher noch die besten Absichten verfolgten. Jeder Handelnde trifft auf die gleiche Handlungsfreiheit aller anderen; und anders als Homo Faber es von seinen leblosen Materialien gewohnt ist, folgt auf Handeln Zuspruch oder Ablehnung. Antworten bedürfen eines angstfreien, wohlwollenden Rahmens, in dem jeder seine Position vertreten darf, ohne Strafe fürchten zu müssen.
Mit jeder Handlung treten wir anderen Freiheiten entgegen, begrenzen fremden Aktionsradius und setzen die eigenen Freiheiten aufs Spiel. Was also heißt, Freiheit kann nur bewahrt werden, wenn man sich jeder Handlung enthält. Hören wir aber auf zu handeln, setzen wir keine Schritte mehr und reden keine Worte, wird jeder zu einem kontaktlosen Einzelwesen, hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. Für die Gesellschaft bedeutet das, dass Beziehungen weniger werden und jeder mit jedem im Wettkampf steht. Die Masse an Gleichen unter Gleichen, das „Allgemeine“ und das allgemein gültige existiert nicht mehr. Jeder ist ein herausragendes Individuum und „Mensch mit besonderen Fähigkeiten“31, welcher sich nun nicht mehr nehmen lassen wird, alle anderen als Untermenschen zu behandeln. Das Selbst als Besonderheit ist neuer Lebenszweck geworden, der auch gezeigt werden muss.
Hat ein Geschehen einen unheilvollen Lauf genommen, wird es müßig, dem Handelnden Spontanität vorzuwerfen, denn der Handelnde konnte nicht alle Folgeereignisse überblicken. Die Freiheit, tun zu können, was man will, ist trügerisch, denn unversehens hat man sich in Unvorhersehbarkeiten verstrickt, die andere ins Unglück stürzen. Ebenso sinnlos ist es, gegen eine Weltordnung zu hadern, in der jeder handelnde Mensch zu seinen Taten stehen muss, wenn er von seiner Freiheit Gebrauch macht. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma scheint in Souveränität zu liegen und dem Abstand, den der Weise zwischen sich und den zwischenmenschlichen Bereich legt. Orte, in denen man frei ist zu handeln und frei davon zur Rechenschaft gezogen zu werden, findet man nur weit ab jeder Zivilisation, in Wüsten, auf Bergen und in Wäldern. Auf niemanden angewiesen zu sein und unabhängig von anderen leben zu können klingt reizvoll, führt aber geradewegs zu anderen Formen der Herrschaft – der Herrschaft über sich selbst, indem man sich jedem Impuls der sozialen Teilhabe widersetzt, und der Macht anderen zu verbieten sich zu nähern. Will jemand in einem sozialen Gefüge und völlig unabhängig leben, bedarf es jener, über die man Gewalt ausüben kann und die sich beherrschen lassen. Freiheit mit Souveränität gleichzusetzen ist falsch. Souveränität widerspricht der menschlichen Abhängigkeit von Mitmenschen und Umwelt. Freiheit widerspricht dieser Abhängigkeit hingegen nicht, im Gegenteil Freiheit ist laut Christoph Möllers32 ein Produkt der Gesellschaft. Freiheit entsteht erst durch den Rahmen des menschlichen Zusammenlebens. Im Bestimmen von Regeln, die vor allem Fehlverhalten einschränken, wird die größtmögliche Freiheit und Gerechtigkeit für alle gewährt. Freiheit lässt sich nur anhand der Unfreiheit anderer erkennen.
Uneingeschränkte Handlungsfreiheit endet seit Menschengedenken in Maßlosigkeit und Egoismus. Wenn sich zu viele Mitakteure mit ihren Individualinteressen ineinander verstricken, ist es unmöglich, alle Folgeerscheinungen im Auge zu behalten. Unter mangelnder Orientierung am Gemeinwohl, an Raffgier und Rücksichtslosigkeit leiden alle. Immer wieder war man gezwungen, Skrupellosigkeit mit verbindlicher Gesetzgebung einzudämmen dabei aber so viel Handlungsfreiheit wie möglich zu erhalten und sich nicht in Privatleben einzumischen. Wo viele Menschen zusammen leben, verlieren mit der Zeit selbst strengste Regeln ihre Schärfe und müssen an die wechselnden Umstände angepasst werden. Diese Anpassungen sind in Phasen gesellschaftlicher Instabilität besonders wichtige, vertrauensbildende und stabilisierende Maßnahmen, um zu zeigen, dass die Belange der Bürger ernst genommen werden. Nur Sicherheit und Vertrauen stärken den Glauben an das Gemeinwohl. Die Tugend des Maßhaltens, als eine von klein an trainierte Selbstbeschränkung, war seit der Antike von großer Bedeutung. Dabei hat Maßhalten nichts mit Verzicht zu tun, sondern mit nicht brauchen und galt gemeinhin als vernünftig und gerecht.
j) Versprechen & Vergeben
Dass ein Ereignis einen guten Ausgang nimmt, bedarf es des Vertrauens in sich und seine Umwelt. Geht etwas schief, kann nur die menschliche Fähigkeit zu verzeihen Erleichterung verschaffen. Wenn wir in Frieden leben und nicht ständig Rache nehmen wollen, sind wir auf Vergeben und Vergessen angewiesen. Als Menschen sind wir uns der Konsequenzen unseres Handelns bewusst. Nur wir erkennen, ob eine Handlung dumm, gefährlich oder gar verantwortungslos war; und selbst „gut gemeint“ ist häufig das Gegenteil von gut. Der geschichtliche Hintergrund, wie ein Ereignis zustande kam, ist wesentlich, um Vergebung in Erwägung ziehen zu können. Welche Motive gab es für diese Handlung? Was ist mein (unser) Anteil? Welche Folgen konnte man vorher schon erahnen und welche nicht? Lässt man individuelle Schicksale außeracht, wird Vergeben beliebig, hat nichts mehr mit Gerechtigkeit zu tun, und wem vergeben wird und wem nicht, ist reine Glückssache.
Verzeihen und ein Versprechen geben und halten zu können sind vertrauensbildende Fähigkeiten, die gute Beziehungen erst ermöglichen; sie schaffen einen Bereich der Sicherheit, wo sonst nur Chaos und Vergeltung herrschen würden. Hannah Arendt schreibt dazu, „Wenn wir unter Moral mehr verstehen dürfen als die Gesamtsumme der jeweils geltenden Sitten, die sich historisch stetig wandeln und von Land zu Land verschieden sind, so kann Moral sich im Politischen auf nichts anderes berufen als auf die Fähigkeit Versprechen zu halten, und auf nichts anderes stützen als auf die Bereitschaft zu vergeben, als die einzigen Moralvorschriften, die außerhalb von Erfahrung und Vermögen liegen, keine Maßstäbe an das Handeln legen und direkt dem menschlichen Miteinander entstammen.“ Gerade weil es um die Person geht und nicht um deren Tat, unterliegen Verzeihen und Versprechen keinem allgemeinen moralischen Gesetz, sondern der jeweiligen Einschätzung und der Umstände, in denen ein Ereignis stattfand.
Verfehlungen – unbeabsichtigt oder nicht – sind alltägliche Vorkommnisse. Die soziale Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit ist auf die Möglichkeit der Vergebung angewiesen, denn nur Verzeihen und Nachsicht ermöglichen einen Neuanfang. Dabei liegt die eigentliche Herausforderung darin zu akzeptieren, dass niemand alles wissen konnte. Manche wollen das eine gewusst haben, mache das andere – es kommt auf die persönliche Einschätzung an, was man zu bedenken in der Lage ist und was nicht. Das Verständnis für allerlei Unvorhersehbarkeiten und Fehlbarkeiten führt zur Erkenntnis, dass die Betroffene selbst einander vergeben müssen. Im Mittelpunkt des Vergebens steht der Schuldige mit seiner Abbitte und dem Wunsch, dass ihm verziehen wird. Das Wer in „Wer vergibt?“ und das Wem in „Wem vergeben wir?“ zeigen, dass Verzeihen ein zwischenmenschlicher Akt ist. Wer einer Schuld entbunden wurde, weiß, dass Unrecht immer Unrecht bleiben wird und nichts ungeschehen gemacht werden kann. Was dem Täter nach dem Vergeben bleibt, ist das Wissen um die eigene Schuld, mit der er umzugehen lernen muss, um selbst einen Neuanfang wagen zu können.
Könnten wir einander nicht vergeben und jemanden seiner Verantwortung entbinden, würde aus jeder Handlung mit unvorhersehbaren Folgen ein Sündenfall, der von Generation zu Generation weiter gereicht wird und letztendlich zu einer untragbaren und lähmenden Schuldenlast anwächst. Ohne Verzeihen würden endlos Vergehen auf- und gegengerechnet. Heute, da wir in Zeiten leben, in denen nicht vergessen und nicht vergeben wird, schrieb Rudolf Burger33 Folgendes:
“Tatsächlich hat die dauerhafte Memorierung von Großverbrechen seit unvordenklichen Zeiten keine Folgeverbrechen verhindert, sondern diese im Gegenteil oft genug hervorgerufen und legitimiert: Denn die beste moralische Voraussetzung für Unmenschlichkeit ist ein gutes Gewissen, gesichert durch Erinnerung an eigenes Leid. Dass die Erinnerung an das Böse vor dessen Wiederholung schützt, ist also eine höchst fragwürdige These, auf historische Erfahrung stützen kann sie sich nicht; sie fördert allenfalls den Rollenwechsel von Opfern und Tätern. Und doch wird die Formel in verschiedenen Fassungen gebetsmühlenartig wiederholt, und ihre Kritik kommt einem moralischen Tabubruch gleich. "Wer die Geschichte vergißt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen" - dieser Satz hat fast schon die Würde eines Axioms, und er nimmt die Gestalt eines kategorischen Imperativs zum erinnernden Gedenken an, wenn es um die monströsen Untaten des Nationalsozialismus geht. Jeder, der ihn [den Satz] bestreitet oder auch nur in Zweifel zieht, setzt sich dem Verdacht aus, die Verbrechen zu verniedlichen und ihrer Wiederholung Vorschub zu leisten. Gleichwohl kann die These sich weder auf apriorische Evidenz noch auf eine theoretische Begründung oder historische Erfahrung berufen, nicht einmal auf Plausibilität: Zu allen Zeiten erschien den Menschen das Gegenteil richtig, und das Vergessen können als moralische Leistung, welche die Kette des Unheils durchbrach. Das Gebot ist daher selbst ein historisches Novum, zumindest seit dem Ausgang der Menschheit aus mythischer Vorzeit: Jeder Mythos ist ein genealogischer Schuld/Opfer-Zusammenhang, dessen narrative Weitergabe im Bewußtsein der Generationen ein »kollektives Gedächtnis« (Halbwachs) schafft, welches das Unheil fortwälzt. Es war eine zivilisatorische Leistung ersten Ranges, als es der griechischen Philosophie gelang, das mythische Erinnerungsgebot zu durchbrechen und an seine Stelle dessen Negation zu setzten: Das Gebot, nicht zu erinnern. Aus dem Griechischen stammt auch jenes Wort, das ursprünglich einfach »Nicht-Erinnern« heißt: Amnestie. Es taucht als normativer Begriff in der hellenistischen Kultur des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts auf und meinte nicht einen individuellen Straferlaß, sondern eine kollektive Verpflichtung, an zugefügtes Leid nicht mehr zu erinnern. So sollte der Haß besänftigt und der Friede gesichert werden. Wie der Althistoriker Christian Meier gezeigt hat, ist in der Geschichte nach Kriegen und Bürgerkriegen immer wieder beschlossen worden, der vielerlei Untaten, der Verbrechen, Morde, Massaker, Versklavungen und Vertreibungen, die in ihnen verübt wurden, nicht mehr zu erinnern, und zwar unabhängig vom Ausmaß und der Qualität dessen, was jeweils angerichtet worden war. Natürlich kann Vergessen nicht auf Beschluß erfolgen, Nicht-Erinnern aber kann man sehr wohl um des Friedens willen beschließen, und man kann sich um das Vergessen bemühen. Genau das ist in unzähligen Fällen geschehen. Die Beispiele, die Meier nennt, reichen von der Attischen Amnestie 403 v. Chr., welche einen Bürgerkrieg beendete, über eine Rede Ciceros, die er zwei Tage nach der Ermordung Caesars im römischen Senat hielt, um einen Bürgerkrieg zu verhindern (»Alle Erinnerungen an die mörderischen Zwistigkeiten sind durch ewiges Vergessen zu tilgen«), über das Edikt von Nantes, in dem Heinrich IV. »erklärt und verordnet«, die Erinnerung an das Geschehene soll »ausgelöscht und eingeschläfert« sein, den Westfälischen Frieden (»Beiderseits soll das ewig vergessen und vergeben, alle Beleidigungen, Gewalttätigkeiten, Schäden und Untaten derart gänzlich abgetan sein, daß alles in ewiger Vergessenheit begraben sei«) bis zu einem Gesetz Ludwig XVIII., welches das Gedenken an den Terror der Revolution untersagte und sogar das Vergessen der Königsmörder, der Mörder seines Bruders, befahl, »um die Kette der Zeiten neu zu knüpfen«, wie es hieß. »Alles Recht ist verjährtes Unrecht«, schrieb Theodor W. Adorno in der Negativen Dialektik.
In der Regel war also alles, was in Kriegen, Bürgerkriegen und Revolutionen an Gewalttätigkeiten und Greueln geschah, mit dem Friedensschluß abgetan und erledigt. Daß mit dem Friedensschluß auch die Amnestie verbunden sei, liegt schon im Begriff desselben, heißt es bei Kant. Umgekehrt galt in der gesamten europäischen Zivilisationsgeschichte die Maxime »Niemals vergessen!« nicht als Mahnung, eingedenk des vergangenen Schreckens seine Wiederholung zu verhindern, sondern als militante Kollektivverpflichtung, unter günstigeren Bedingungen wieder zu mobilisieren; nicht als Friedensformel, sondern als Kampfparole: Was wäre den Völkern am Balkan nicht alles erspart geblieben, hätten die Serben die Schlacht am Amselfeld irgendwann einmal vergessen ... Erst das mythogene zwanzigste Jahrhundert, das auf der Spitze technologischer Modernität und bürokratischer Rationalität Verbrechen tellurischen Ausmaßes im Namen quasireligiöser, eschatologischer Heilslehren hervorgebracht hat, hat auch mit der zivilisierenden Tradition des Nicht-Erinnerns gebrochen und das archaische »Niemals vergessen!« als moralische Verpflichtung wieder in Geltung gesetzt. Das beginnt schon mit den Friedensverträgen von 1919, in denen von den Siegermächten eine Entschuldigung für die Ereignisse von 1914 - 1918 ausdrücklich zurückgewiesen wurde und steigert sich nach 1945 zum biblischen Pathos eines elften Gebotes: »Du sollst niemals vergessen!« Damit aber bleiben die Geister lebendig. Die Mahnung Winston Churchills blieb ungehört: Er forderte in seiner berühmten Züricher Rede von 1946 über die Notwendigkeit eines vereinten Europa einen »segensreichen Akt des Vergessens«. …“34
Die Rache als der natürliche Gegenspieler des Vergebens ist die Kraft, die nicht vergessen will und nicht vergeben kann. Sie ist jene Gewalt, die auf Verfehlungen mit Aufwiegen und Heimzahlen reagiert, damit eine Kaskade gegenseitiger Racheakte in Gang setzt und sich mit jedem Mal tiefer in Gewalt verstrickt. Nicht die kleinste Verfehlung wird vergessen, nicht sein gelassen – nie soll der Schuldige zur Ruhe kommen und frei von Verdacht. Der Verdacht steht über allem. Dieser Gerechte wechselt vom Opfer zum Richter und Henker in Personalunion und findet dabei selbst niemals Ruhe.
Trotzdem – auch Verzeihen hat seine Grenzen, denn natürlich kommt es immer auch darauf an, was jemandem verziehen werden soll. Nicht alles lässt sich vergeben und nicht alles vergessen, als einzige Alternative zur Vergebung bleibt dann nur die „gerechte“ Strafe als einmalige Maßnahme. Die Abgeltung einer Strafe ist der Versuch einen Schaden wieder gut zu machen und sollte mit der Einsicht einher gehen, einen eigentlich unverzeihlichen Fehler gemacht zu haben, sowie dem Versprechen, nächstes Mal vorsichtiger zu sein. Auf der anderen Seite sollte mit Abgeltung der Schuld wiederum das Vergessen stehen, welches einen Neuanfang ermöglicht.
Das, was Kant „das radikal Böse“35 nennt ist eine Neigung gegen sittliche Normen zu handeln – eine anthropologische Konstante, einfach nur menschlich, keine Ausnahme sondern allgegenwärtig. Es ist die Option, sich so oder so verhalten zu können. Der Hang Böses zu tun, liegt in der Natur des Menschen und lässt sich nicht ausmerzen. Wer sich nicht an sittliche Normen halten will, bestimmt für sich, was als gut oder böse zu gelten hat. Das „radikal Böse“, als Maximalform des Bösen, lässt sich bei Hannah Arendt nur mit Gewalt gegen Gewalt bekämpfen. Dem Bösen ist jede Menschlichkeit fremd und kann weder verziehen noch bestraft werden.
Verzeihen ist, außer im Begnadigungsrecht, kaum Teil der heutigen politischen Kultur und findet sich hauptsächlich im zwischenmenschlichen Bereich, obgleich es auch zwischen Völkern, Bevölkerungsgruppen und zwischenstaatlich immer wieder als Notwendigkeit zur Anwendung kommt. In politischer Hinsicht findet sich Vergeben als moralischer Wert nur bei den Römern in der „Schonung der Besiegten.“„ Römer, denke daran, mit deiner Herrschaft die Völker zu regieren, den Frieden mit römischer Lebensart zu verbreiten, die Besiegten zu schonen und die Hochmütigen zu vernichten.“ (Lat.: Tu regere imperio populos, romane, memento, pacique imponiere morem, parcere subiectis et debellare superbos.)
Versprechen schaffen für kurze Zeit Sicherheit, wo keine Sicherheit gegeben ist, ermöglichen Vertrauen in die Zukunft und Raum zur Planung. Ohne darauf vertrauen zu können, dass Versprechen gehalten werden, wären wir jeder Unvorhersehbarkeit ausgeliefert. Nietzsche schreibt dazu: Der »freie« Mensch, der Inhaber eines langen unzerbrechlichen Willens, hat in diesem Besitz auch sein Wertmaß: von sich aus nach den andern hinblickend, ehrt er oder verachtet er; und ebenso notwendig als er die ihm Gleichen, die Starken und Zuverlässigen (die welche versprechen dürfen) ehrt, – also jedermann, der wie ein Souverän verspricht, schwer, selten, langsam, der mit seinem Vertrauen geizt, der auszeichnet, wenn er vertraut, der sein Wort gibt als etwas, auf das Verlaß ist, weil er sich stark genug weiß, es selbst gegen Unfälle, selbst »gegen das Schicksal« aufrechtzuhalten –: ebenso notwendig wird er seinen Fußtritt für die schmächtigen Windhunde bereithalten, welche versprechen, ohne es zu dürfen, und seine Zuchtrute für den Lügner, der sein Wort bricht, im Augenblick schon, wo er es im Munde hat.“36
Wer sich an Versprechen hält und eine Abmachung einhalten will, lässt den Empfänger in Geborgenheit zurück und ankert damit auch sich selbst. An ein Versprechen gebunden, lässt man sich nicht so leicht von seinem Plan abbringen.
Im Unterschied zum Verzeihen ist das Versprechen seit dem römischen Verfassungsrecht (6./7. Jhdt n. Chr.) fest in der abendländischen Kultur verankert und spielt in Form von Verträgen und Abkommen eine große Rolle. Komplizierter werdende Handels- und Produktionsweisen machen es ab dem Mittelalter notwendig, immer umfangreichere Verträge abzuschließen und sich nicht mehr nur auf mündliche Verträge zu verlassen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Franziskaner Mönche, die sich besonders auf das Vertragswesen spezialisierten, ohne (damals) selbst Verträge abgeschlossen zu haben.
Der große Vorteil aller auf Verträgen beruhenden Staatsformen ist, dass die Gewähr der Handlungsfreiheit einen positiven Modus darstellt. In jeder Vertragsbindung ist das Risiko der grundsätzlichen Unabsehbarkeit des Handelns bereits einkalkuliert.
Macht und Versprechen definiert Hannah Arendt als Begleiterscheinung gemeinsamen Handelns, die umso bedeutender werden, je größer Handlungsräume sind. Je größer die Gruppe und je größer ihr Wunsch, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, umso größer wird die von ihr ausgehende Macht. Das Einschwören auf ein Ziel oder einen Führer, als Eid oder Schwur, hat eine sich selbst verstärkende Wirkung. Machtbereiche und Herrschaftsansprüche werden bis heute mit Einschwörungsriten gefestigt. Die Handlungsmacht Einzelner kommt nur aufgrund der Ermächtigung von vielen zustande. Handlungsraum ist hier zugleich Machtraum, der bei einer eingeschworenen Gruppe über deren vorübergehenden Auflösung erhalten bleibt, während lose Gruppen ihren Handlungsraum nur so lange aufrechterhalten können, solange sich alle im gleichen Raum befinden.
Im weiter gefassten Bereich menschlicher Angelegenheiten finden wir bei Hanna Arendt den respektvollen Umgangen, den wir unseren Mitmenschen angedeihen lassen sollen. Mit „Respekt“ hätte Aristoteles eine politische Gemeinschaft / Freundschaft beschrieben, die er „homonoia37 “ nannte und weder der Nähe noch der Intimität bedurfte. „Freundschaft“, so Aristoteles, „ist in Hinsicht auf das Leben (in der Gemeinschaft) höchst notwendig, denn ohne Freunde möchte niemand leben, auch wenn er die übrigen Güter alle zusammen besäße.“ Sie ist es, die „die Polis zusammenhält“ und zwar weit über den „Nutzen“ und den „gegenseitigen Vorteil“ hinaus, insofern die „Gemeinschaft in der Polis nicht nach dem Vorteil des Augenblicks, sondern nach dem, was das Leben als Ganzes voranbringt“, strebt. Und Freundschaft ist auch Bedingung der Möglichkeit von Politik als Selbstbestimmung der Gleichen – die Kraft, an der sich die Macht der Mächtigen bricht (oder brechen kann). Zu erinnern ist da an die bemerkenswerte Tatsache, dass das erste politische Denkmal, das die Bürger der Polis Athen um 510 v. Chr. auf ihrer Agora aufstellten, einem Freundespaar gewidmet war: Harmodios und Aristogeiton hatten 514 v. Chr. einen Tyrannenmord an Hipparchos, dem Tyrannen Athens begangen.“38 Respekt drückt die grundsätzliche Achtung vor der Person aus, unabhängig von ihren Eigenschaften. Die Würde des Menschen und das damit einhergehende Recht auf respektvollen Umgang ohne Vorverurteilung sollte für jeden einen hinreichenden Beweggrund darstellen Unverzeihliches zu verzeihen, um dessentwillen, wer er ist. Die moderne Sichtweise, dass man sich Respekt erst verdienen muss, um seiner würdig zu sein, geht wieder auf ein Mittel-Zweck-Denken zurück und ist ein Zeichen fortschreitender Entpersonalisierung des öffentlichen, gesellschaftlichen Lebens.
k) Geschichten & Helden
Alles irdische Leben hat Anfang wie Ende, und dazwischen liegt eine verdinglichte Biografie, meint Aristoteles. Einzelne, aufeinander bezogene Tätigkeiten, die, sofern sie ausreichend Zusammenhänge aufweisen, eine bleibende Geschichte ergeben. Das Resultat dieser Geschichten ergibt in ihrer Gesamtheit eine Menschheitsgeschichte, die sich Jahrtausende zurück verfolgen lässt; und hätten die Menschen nicht schon früh begonnen ihre Spuren, auch in Form von Erzählung, zu hinterlassen, wir wüssten nichts über unsere Vorfahren und nicht, woher wir kommen.
Die ursprüngliche Art zu handeln ist das freie und unabhängige Handeln an sich, ohne hintergründiger Absicht. Denn was uns die Geschichte immer wieder lehrt, ist, dass besonders jene Vorhaben scheitern, die dafür geplant wurden, in die Geschichte einzugehen. Was von diesen Vorhaben meistens in die Geschichte einging, war eine Katastrophe oder ein Zufall als unbeabsichtigtes Hauptereignis – ein „Nebenprodukt“. Ließen sich Pläne ohne Weiteres verwirklichen, könnte jede Geschichte schon vorher geschrieben werden und jeder wüsste über deren Ausgang Bescheid. Die zeitlich verbundene Aneinanderreihung von scheinbaren Zufallsereignissen ergibt erst jenen sinnvollen Zusammenhang, in dem wir die Geschichte rückwärts verstehen. Fortlaufende Ereignisse, gewollt oder zufällig, haben genau zu jenem Jetzt geführt, an dem wir heute stehen. Wäre die Geschichte anders verlaufen, würden wir an einem anderen Heute stehen, alles wäre ganz normal – wir wüssten es nicht anders. Die Verkettung von Umständen zeigt, dass Geschichte sich aus Geschichten ergibt, die zwar ineinander greifen, aber auch anders hätten kommen können. Die Möglichkeiten, eine beliebige Wendung zu nehmen, sind unbegrenzt.
Eine erzählte Geschichte wird nicht von einem Jemand entwickelt, der alle Möglichkeiten überschaut; sie passiert, und Unvorhersehbares ist ihr Inhalt. Eine Geschichte mit bekanntem Ende kommt nie ohne Drahtzieher, „rotem Faden“ oder einem Schicksal aus, an dem sie sich entlang entwickelt. Schon Platon brauchte eine „unsichtbare Hand“, die für die sich ergebende Geschichte verantwortlich zeichnet, im Hintergrund alle Fäden hält und beliebig an einem zieht. Menschliches Handeln gleicht laut Platon einem Puppenspiel von Hand gelangweilter Götter, die zwischendurch für Chaos und Unwägbarkeiten sorgen. Die Menschen ziehen heute selbst an ihren wenigen Fäden mal überlegt, mal chaotisch und/oder panisch, mal aus Spaß und mal aus Zorn, aber immer ziehen mehrere in unterschiedliche Richtungen.
In erfundenen Erzählungen nimmt der Verfasser die Rolle des Drahtziehers ein und lässt seinen Helden die Geschichte erleiden. Schon bei Homer waren die Heroen freie Männer, die am trojanischen Krieg teilnahmen und kaum vorhatten, in einem Epos die Hauptfiguren abzugeben. Wie auch im richtigen Leben ergeben sich heroischen Eigenschaften fast beiläufig aus einer situativen Notwendigkeit heraus, und ohne es zu ahnen tritt ein Alltagsmensch aus der Geschichte als Held hervor. Auch eine heroische Tat, das Gute, entwickelt sich im Beziehungsgeflecht, ihr Verlauf ist dem, der anfängt, aus der Hand genommen und ergibt sich durch ein plötzlich eintretendes Ereignis, welches Tatkraft und Entschlussfreudigkeit fordert. Entschlussfreudigkeit bedeutet nicht, sich wagemutig und unüberlegt ins Abenteuer zu stürzen, sondern im Bewusstsein der anstehenden Konsequenzen auch die Verantwortung zu übernehmen, dabei war die Bereitschaft Verantwortung zu tragen schon Teil der Persönlichkeitsentwicklung. Die Grundlage, das Gute tun zu wollen, ist seit Kindheit eingeübt und im Moment der Handlungsnotwendigkeit reflexhaft abrufbar. Heldengeschichten beginnen zwar mit einer geplanten Handlung, deren Verlauf aber nimmt eine Wendung um die andere. Unser Held, der uns meistens von Anfang an bekannt ist, bringt die Geschichte zu einem guten Ende. Helden denken sich ihre Geschichte nicht aus, sie erleiden sie. Manchmal können sie davon erzählen, manchmal aber auch nicht; und dann braucht es jemanden, der um die Geschichte weiß und sie aufschreibt oder erzählt. Erst diese seit jeher erzählten Geschichten haben aus einzelnen Ereignissen ein durchgängiges Werk an Sagen und Mythen mit unzähligen Helden werden lassen, das sich bis in alle Ewigkeit fortschreiben lässt. In Dramen und Tragödien sind Handeln und Sprechen so eng an das Geschehen gebunden, dass die Geschichte in ihrer ganzen Tragweite nur schauspielerisch verdinglicht werden kann. Für kurze Zeit wird die Bühne Schauplatz heldenhafter Ereignisse. Will man die Begebenheit in vollem Umfang erfassen und handlungsgetreu wiedergeben, ist die intellektuelle Auseinandersetzung mit geschichtlichen Verhältnissen von essenzieller Bedeutung.
Hauptsächlich sind die Geschichten, Geschichten des Misslingens. Die Zerstörung der Welt konnte abgewehrt werden, das Böse konnte niedergerungen werden. Wir wissen, dass Geschichte schon immer von den Siegern geschrieben, notfalls umgeschrieben wird und von ihren Helden und Märtyrern handelt. Seit alters her mussten die aufgeschriebenen Ereignisse bedeutend gewesen sein. Was erst in Stein gemeißelt und später auf Papyrus, Pergament und Papier geschrieben wurde, musste für Volk und Feinde – mögliche Herausforderer und nachfolgende Generationen – entscheidend gewesen sein. Kriege, Feindschaften, Friedensverträge, Hungersnöte und Katastrophen fallen darunter. Wir erfahren nicht, wo und wann alles gut lief, wie lange Friedenszeiten dauerten und wie die Gesellschaft jenseits von Konflikten und Mühen funktionierte. Manches kann man durch Ausgrabungen und Erforschen in Erfahrung bringen, vieles muss aber dazu interpretiert werden. Manche haben positive Vorstellungen von früheren Zeiten, manche haben negative; und je nachdem wird das Gefundene gedeutet. Wir haben viele Wissenslücken in überlieferten Alltäglichkeiten und meinen, das frühere Leben muss ein grausames gewesen sein. Sicher war es weniger bequem als unser heutiges, aber da diese Leute nichts anderes kannten, sahen sie diesen Mangel an Bequemlichkeit nicht.
i) Beginnen & Zu-Ende-bringen
In den Geschichten hören wir von Menschen, die ihre Heldentat selbstlos und allein begangen haben, so wie in „Wilhelm Tells“ Zitat, „Der Starke ist am mächtigsten allein!“ In Wirklichkeit beruht diese Aussage auf einem Irrtum, denn sowohl physische als auch psychische Stärke erweisen sich für das Handeln als wertlos, wenn unüberlegt, ohne Hilfe, ohne Zuspruch und ohne gutem Willen gehandelt wird. Wie ohnmächtig jemand, trotz seiner Stärke ist, zeigt sich erst, wenn niemand ihm Gehör schenkt und keine Zustimmung erfolgt. Ohne Unterstützung anderer lässt sich nichts von ausschlaggebender Reichweite verwirklichen. Hannah Arendt erinnert uns daran, dass sowohl im Griechischen wie Lateinischen das Handeln in zwei Stadien unterteilt war und es jeweils zwei Worte mit verschiedenen Bedeutungen gab; wobei im Altgriechischen Archéin für anfangen, anführen, befehlen, herrschen stand, und Práttein für ausführen und an ein Ende kommen. Handeln ohne Bezug zu den anderen, die den Resonanzraum gestalten, ist nicht möglich, denn „mitgefangen/mitgehangen“. Der Unterschied liegt darin, dass es sich um ein „Mithängen“ im Beziehungsgewebe handelt, ob man nun will oder nicht, jeder wirkt mit. Nicht umsonst sind Wirkwaren auch Fadensysteme: Wenn ein Faden reißt, halten auch die anderen nicht mehr.
In beiden Sprachen hat sich im Gebrauch das Wort für „zu Ende bringen“ durchgesetzt. Dass aber jemand erst, mit Unterstützung anderer, beginnen muss, um etwas auch zu einem guten Ende bringen zu können, ist in Vergessenheit geraten. In der politischen Sprache wird der Begriff des Herrschens und Führens zwar noch verwendet, die spezifische Bedeutung des Beginnens und Anführens ging jedoch verloren und ist teilweise sogar in Verruf geraten. Dabei verweist die Wortgeschichte auf eine Zeit, in der ein Herrschender immer auch Anführer war, in einer Schlacht voran geritten ist und der erste war, der zu kämpfen begonnen hat, mit gutem Beispiel voran ging und sein Wort hielt. Handelnd in Aktion treten passiert seit Gründung der ersten Städte auf zwei Ebenen, in der Funktion des Befehlens als Vorrecht des Anführers und in der Pflicht der Untergebenen dem Befehl zu folgen. Beide waren voneinander abhängig, und jeder wusste, wer der andere war. Ein Anführer kam als Erster und ging als Letzter; ihm war bewusst, dass er nur durch die Mithilfe der anderen etwas erreichen konnte. Im Handlungsverlauf waren beide gleichberechtigt und unbedingt aufeinander angewiesen. Der Anführer musste sich auf seine Leute verlassen können, genauso wie die Gefolgschaft sich darauf verlassen musste, gute und richtige Anweisungen zu erhalten.
Die Aufteilung in zwei voneinander unabhängige Vorgänge lässt später kein eigentliches Handeln mehr erkennen. Befehl und Vollstreckung, Beginnen und Vollbringen werden zu separaten Teilen. Herrscher und Beherrschte kennen einander nicht mehr und verbünden sich nicht mehr. Der König führt nicht mehr in die Schlacht und kämpft auch nicht mehr Seite an Seite mit seinen Soldaten. Die Soldaten ihrerseits sind auf eine Anweisungshierarchie angewiesen, die nicht mehr für jeden erkennen lässt, wer den Befehl gegeben hat. Das Schicksal der einen hat nichts mehr mit dem Schicksal der anderen zu tun. Wer herrscht, bleibt isoliert in der Position des Anfangenden. Was bleibt, ist die Initiative, aus der das Trugbild entstanden ist, dass der Starke am mächtigsten allein ist.
Mit der im Mittelalter beginnenden Bürokratisierung verlor die Befehlsgewalt ihre Angriffsfläche, die Hierarchie wurde undurchsichtig. Einzelne konnten aus gutem Grund, um häufige Selbstjustiz im Zaum zu halten, nicht mehr direkt angesprochen und zur Verantwortung gezogen werden. Die ausführenden Corps konnten kaum Einwände vorbringen und kaum Verbesserungen vorschlagen. Was aus der Bevölkerung kam, musste den langen Weg der Bürokratie gehen und wurde (wird) dabei in unterschiedliche Zuständigkeitsbereiche aufgesplittert. Das Problem am bürokratischen Weg ist dabei nicht die Dauer, sondern die aufgeteilten Verantwortlichkeitsbereiche, was früher notwendig war wird irgendwann zum Ballast, wenn Niemand Verantwortung trägt.
Die ursprüngliche Stärke, initiativ zu werden und etwas in die Wege geleitet zu haben, kommt heute als die hauptsächliche Leistung zur Geltung. Runde Tische, Konferenzen, Ankündigungen täuschen Aktivität vor wo sie aufgrund vieler unterschiedlicher Interessen unmöglich geworden ist.
NEUZEIT
Drei große Ereignisse standen an der Schwelle der Neuzeit und bestimmten die letzten Jahrhunderte.
a. Die weltumspannenden Eroberungsfeldzüge der Europäer und ihre Kolonialisierungsbestrebungen.
b. Die Reformation und die damit einhergehende Enteignung von Kirchen und Klöstern hat nebenbei zur Enteignung einer breiten Bevölkerungsschicht einerseits und Vermögensanhäufung andererseits geführt.
c. Schließlich die Entwicklung des Teleskops, mit dem eine neue Ära der Forschung eingeläutet wurde.
Das Teleskop gilt dabei als Synonym für die bis heute andauernde Inbesitznahme der Erde und des Weltalls durch Wissenschaft.
Diese drei Ereignisse stehen am Beginn der Neuzeit um das 15. Jhdt. Zu dieser Zeit gibt es noch keine umfassende Rebellion. Handwerk, Handel, Interessen und Motive sind traditionell in der Kleinteiligkeit des Mittelalters verwurzelt, insofern ziehen die vielen Entdeckungen von Ozeanen, Kontinenten und der bis dahin völlig unbekannten Pflanzen-/ Tier- und Menschenvielfalt alle Aufmerksamkeit auf sich. Die kleine Eiszeit, beginnend im 14. Jhdt, hat Europa mit Kältewellen und Missernten heimgesucht, in der die Bevölkerung von Hungersnöten und Krankheiten geplagt dahin gerafft wurde. Sie machte aus dem freundlichen Gott, der für alle und alles sorgt, einen strafenden Gott. Der erschütterte Glaube an die Güte Gottes macht es den aufstrebenden Protestanten leicht, ihren Glauben an einen rächenden Gott, der Wohlverhalten mit wirtschaftlichem Erfolg belohnt, weiter zu verbreiten, schreibt Philipp Blom in seinem Buch „Die Welt aus den Angeln“. Die aufgetretene Kluft zwischen Christen und Protestanten überzieht Europa mit nie da gewesenen überregionalen Machtkämpfen. Erstmals wurden Freunde und Verwandte zu Feinden, gegen die man in den Krieg ziehen musste.
Kein Wunder, dass in Anbetracht dieser großen Umwälzungen dem Teleskop wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde, diente es doch vorrangig der Beobachtung von Himmelskörpern. Aber so gering die anfängliche Aufmerksamkeit auch war, so unvorhersehbar weitreichend war der Erkenntnisgewinn bei dessen Einsatz. Nicht nur, dass man damit die Bewegungen der Sterne beobachten konnte, auch die Erde ließ sich überblicken und begann ab nun zu schrumpfen. Das Fernrohr ermöglichte, Land aus der Ferne zu erkennen, wo vorher nur eine große Wasserfläche zu sehen war. Schiffe mussten nun nicht mehr nur entlang der Küsten navigieren und konnten immer größere Strecken zurück legen. Die Ferne, die es nun per Schiff zu erschließen gab, ließ sich damals nur in Monaten und Jahren berechnen und bedeutete für den Einzelnen den Einsatz von Lebenszeit und eine lange Zeit der Entbehrungen. Sobald man jedoch zu messen beginnt, bleibt nichts unermesslich, und selbst die größte Ausdehnung kann zu einem Modell werden, welches man mit Händen umfassen kann. Die Ferne rückte näher, wurde greifbar und Sehnsuchtsort auf einem Globus, auf dem es noch viel zu entdecken gab. Um einheitliche Angaben machen zu können mussten einheitliche Maßeinheiten, Urmeter (1791) und Urkilogramm (1878) eingeführt werden. Der Siegeszug dieser technischen Entwicklung (Fernrohr) begann also damit, dass sie Entfernungen schrumpfen und den Horizont ausdehnen ließ. In dem Moment, in dem wir begannen, die Erde aus der Vogelperspektive zu betrachten, begannen wir uns abzulösen, uns ihrer zu entfremden. Wir sahen uns immer weniger als Teil des großen Ganzen und immer mehr als Herrscher über die uns umgebende Natur zu der uns nicht mehr zählten.
Die Philosophie der Neuzeit fängt mit Descartes‘ Satz, dass man an allem zweifeln darf – ja muss!, an und findet sich in den beiden Fragen Descartes‘ wieder. Als erstes in der Frage, ob denn alles, wovon wir meinen es wäre wahr, vielleicht ein Traum ist? und zweitens, wie wir wissen können, dass etwas, wo von wir glauben, dass es wahr ist, wirklich wahr ist? Wenn wir nicht ergründen können was wahr ist, dann kann auch ein böser Geist, ein „dieu trompeur“ sich damit vergnügen, die Menschen an der Nase herumzuführen. Descartes will, dass seine Fragen die gesamte Philosophie anstecken, und an die Stelle des Staunens treten. Am Zweifel und an den sich daraus ergebenden Fragen muss sich die Philosophie in Zukunft bewähren. Ist überhaupt etwas? Oder wie Leibnitz in einer Grundfrage formuliert „Warum es eher Etwas, aber nicht Nichts gibt, wenn das Nichts doch einfacher und leichter ist als das Etwas?!“ Diese Methode, die Wirklichkeit zweifelnd zu erfragen, blieb vorerst auf einen kleinen Kreis um Descartes beschränkt. Alsbald wurde diesen Philosophen klar, dass weder Vernunft noch Verstand, sondern nur von Menschen erdachte und hergestellte Hilfsmittel neue Möglichkeitsräume öffnen. Für Homo Faber ergab sich daraus ein breites Feld neuer herzustellender Dinge und neue, bessere Herstellungsverfahren.
Wenn sich dem Auge Jahrhunderte lang eine um die Erde kreisende Sonne zeigt, sich das aber als falsch heraus stellt, wird Sein von Erscheinen getrennt. Es gibt plötzlich nichts mehr, worauf man einfach vertrauen kann. Scheinbares muss sich ab nun berechnen lassen um als wahr zu gelten. Schon Demokrit ist der Umstand, dass Begriffe von Größe und Gestalt der sinnlichen Wahrnehmung entnommen sind, nicht entgangen. Im Anschluss an den Ausspruch „dem Brauche nach farbig, süss, bitter, in Wahrheit aber die Atome und das Leere“ lässt er die Sinneswahrnehmungen zum Verstand sagen: „Armer Verstand, von uns nimmst du deine Beweisstücke und willst uns damit besiegen? Dein Sieg ist dein Fall!“. 39 Bestimmungen von z.B. Größe und Geschmack sind keine Eigenschaften von etwas, sondern werden subjektiv, sinnlich wahrgenommenen, der Verstand aber sieht in ihnen nur chemische Vorgänge, Maßtabellen und Anhäufungen von Atomen. Für sich genommen ist aber keines von beiden die Wirklichkeit. Die Neuzeit ist die Zeit der großen Umbrüche. Obgleich Descartes‘ Zweifel angebracht ist, zeigte sich, wie wichtig es ist zu vertrauen. Nur im Vertrauen, gepaart mit Vernunft und Klugheit, lässt sich sinnlich Wahrgenommenes abgleichen und bewerten.
Reformation
Die Reformation, ein so grundsätzlich anderes Ereignis wie die Verfügbarmachung der Natur, konfrontierte die Menschen mit einem ähnlichen Phänomen der Entfremdung, der innerweltlichen, die man auch als eine Art des ausgestoßen seins sehen konnte. Max Weber sah sie im Zusammenhang mit der Enteignung der Bauernschaft zu Beginn der Neuzeit als unvorhersehbare Folge der Enteignung des Kirchengutes. Gelderwerb und die enge Verflechtung zwischen Staat und Kirche galten in der katholischen Kirche als zwar notwendiges, aber auch im eigentlichen Sinn bedeutungsloses Übel, dem man sich nicht widersetzen konnte. Diese Weltsicht änderte sich mit Aufkommen des Protestantismus schlagartig. Man setzte nun auf strikte Trennung zwischen Staat und Kirche. Wenn wirtschaftlicher Erfolg als sichtbares Zeichen der Gnade Gottes gilt verbringt man ein gottgefälliges Leben am besten arbeitend und nicht betend. In der freudlosen Interpretation des Christentums durch Jean Calvin war die Prädestinationslehre wohl wesentlichster Bestandteil. Die Idee der Erwählung stellte den protestantischen Beitrag zur „Umerziehung“ des westlichen Menschen vom Untertanen zum Bürger und letztlich zum Konsumenten dar. Die neue Moralvorstellung verkehrte vormalige Laster wie Strenge und Wohlstand zu Tugenden und setzte im Umkehrschluss Armut mit Lasterhaftigkeit und Faulheit gleich. Wer arm war, war ausgeschlossen von Gottes Wohlgefallen, denn jeder Mensch ist da, wo er ist, weil er es verdient – so die Theorie. Entsprechend dieser Annahme war die Angst vor dem gesellschaftlichen Absturz groß, wer zurück fiel, fiel nicht nur in der Gesellschaft zurück, sondern auch in der kirchlichen Gemeinschaft. Zugehörigkeit, für die einen, bedeutete immer auch Ausschluss für andere. Nur wer ausreichend konsumieren konnte, konnte es sich auch leisten an der Messe teilzunehmen, anstatt arbeiten zu müssen.40
Die rein auf Kapitalbildung ausgerichtete Wirtschaft entwickelte sich und bekam immer mehr Bedeutung. Die protestantisch regierten Länder waren moderner, die Leute wohlhabender und gewannen einen immer größeren Vorsprung gegenüber katholischen Ländern. Besonders den nach England und Amerika ausgewanderten Calvinisten gelang es, ihr Ideal von wirtschaftlichem Wohlergehen und persönlicher Freiheit zu verwirklichen, und legten damit die Basis für den amerikanischen Kapitalismus. Unter einem Leben in Arbeit mit knapp bemessenen Ruhezeiten litten zwar auch die Protestanten, aber für wirtschaftlichen Erfolg und Gottes Anerkennung lohnte sich jede Mühe. Finanzieller Erfolg trat an die Stelle von Kontemplation und wurde neuer moralischer Maßstab. Erfolg haben müssen ist heute unüberhörbares Mantra in allen westlich orientierten Ländern. Die steigende Geschwindigkeit, mit der wirtschaftliche Entwicklungen voran getrieben wurden, bewirkte einen Verlust an Bodenhaftung und der Fähigkeit, sich in Betrachtung zu vertiefen. Der Wille zum Fortschritt ist zum Synonym einer substanzlosen Gesellschaft geworden, die sich immer schneller um sich selbst dreht. Fragt man heute jemanden nach seinem Ziel, folgen automatisch Antworten „nach Erfolg, Geld, Ansehen“.
Die Enteignungswelle der frühen Neuzeit führte zum Zusammenbruch des feudalen Wirtschaftssystems, in dem sich eine kleine Oberschicht aus hohem Klerus und Adel auf brutalste Weise an der armen Landbevölkerung bereicherte. Der Feudalismus entstand noch auf Basis der Sklavenhaltergesellschaft in der Übergangszeit von Spätantike/Frühmittelalter und Mittelalter. Stammesadel u. Heerführer der germanischen Stämme rissen große Ländereien an sich und verteilten sie unter ihren Vertrauten, wobei die ursprünglich freien Bauern zu Leibeigenen wurden. Grund und Boden war Eigentum des Feudalherrn ebenso wie ein beschränktes Recht an den leibeigenen Bauern und deren Ernte. Erst mit Beginn der Bauernaufstände wurde die Feudalordnung erschüttert und führte nach langen Kämpfen zumindest zur Abschaffung der Leibeigenschaft. Aber nicht die Bauern haben die Siege errungen, sondern die aufstrebende Bürgerschaft. Sie sah in den bäuerlichen Aufständen eine Chance sich selbst an die Spitze zu setzen. Die Bauern traten in kleinen unkoordinierten Gruppen auf, lediglich mit ihren Arbeitsgeräten bewaffnet, hätten sie ohne die Unterstützung wohlhabender Bürger keine Chance gehabt sich der Feudalherrschaft zu entledigen. Die Hilfe der Bürger bedeutete für die bäuerliche Bevölkerung jedoch nicht, dass sie nicht mehr ausgebeutet wurden. Es bedeutete, dass die feudale (persönliche) Ausbeutung nun durch kapitalistische (sachliche) Ausbeutung ersetzt wurde. Die ursprünglich dörfliche Warenproduktion verlagerte sich zunehmend in die wachsenden Städte, wo die ersten kapitalistischen Fabriken entstanden. Örtlich gebundene Handwerker wurden durch Umstrukturierung in den Ruin getrieben und ihrer Betriebsmittel beraubt. Brutale Gewalt und Raub standen an der Tagesordnung, ganze Dörfer wurden geplündert und ausgelöscht. Die Gewalt der Ausbeuter beschleunigte nicht nur die Kapitalakkumulation, sondern auch die kapitalistische Produktionsweise, indem das vorgefundene Raubgut bei den Fabrikanten abgeliefert wurde.
Die kapitalistische Produktion hat zwei Hauptvoraussetzungen:
1. Das Vorhandensein einer Masse Besitzloser, denn nur „freie“ Menschen ohne Existenzgrundlage sind gezwungen, sich bei den Kapitalisten zu verdingen.
2. Akkumulation von Kapital zur Schaffung kapitalistischer Großbetriebe unter dem Schutz des Staates.
Um, zum Beispiel in England, den Bedarf an Wolle für die Industrie decken zu können, wurden die Bauern von ihren ursprünglich freien Höfen verjagt, damit Gutsherren dort Schafe züchten konnten. Der neue Besitzer wurde von der Streitmacht des Staates geschützt, die Plünderung und Verjagung der Bauern akzeptiert. Massen an besitzlosen Bauern und Handwerkern bevölkerten die Straßen der Städte. Um sie von dort weg zu bringen, wurden sie in Arbeitshäuser gesperrt und mit roher Gewalt an Lohnarbeit gewöhnt. 41
ANIMAL LABORANS
Dass Arbeit Freude bringen sollte, war einer Landbevölkerung, die in Arbeit nur notwendige, dem Lebenserhalt dienende Plagerei sah, schwer zu vermitteln und musste vielfach mit Gewalt durchgesetzt werden. Die Einhegung von Land (Lösung der Menschen von ihrem Grund) setzte massenhaft Arbeitskraft frei, Arbeitskraft, die vorher in familiären Selbsterhalt investiert wurde. In einer Gesellschaft, in der alles zur Ware wird, wird eben auch Arbeitskraft zur Ware. Nach John Locke ist der kurioseste Warenbesitzer der Mensch, indem er seinen Besitz in Form von Arbeitskraft als Ware anbietet. John Locke empfand das Verhältnis zwischen Herrn und Knecht als natürliche soziale Beziehung. Der Gedanke aber, sich als Marktteilnehmer zu fühlen, der seine Arbeitskraft verkauft, war neu und musste entsprechend hergeleitet werden. John Lockes Begründungen haben dazu geführt, dass auch heute noch das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer nicht als Herrschaftsverhältnis verstanden wird, sondern als Geschäftsbeziehung zwischen freien Menschen, in der einer seine Ware – Arbeitskraft – anbietet und der andere sie kauft. Herrschaftsverhältnisse entstehen nur dort, wo Menschen auf Gelderwerb angewiesen sind und sich nicht frei entscheiden können, was sie tun wollen. Was für die individuelle Arbeitskraft bezahlt wird, ist Frage des Ausverhandelns und bekommt damit eine rechtliche Dimension. „Da jedes arbeitende Individuum als (potenzieller) Eigentümer erscheint und die Lohnabhängigen sich ihr Eigentum (die von ihnen gekauften Waren) durch ihre eigene Arbeit "verdienen", scheinen sie die Früchte ihrer Arbeit zu ernten. Erfolg wird so auf Fleiß und Leistungsfähigkeit zurückgeführt, Misserfolg im Umkehrschluss auf Versagen.“42
Der Begriff „Arbeitskraft“ geht auf Karl Marx zurück, und was er in seinem Werk beschreibt, ist die der Arbeit innewohnende Produktivität, beruhend auf der Kraft des menschlichen Körpers. Arbeiter, die per Arbeitsteilung zu Subjekten in der Produktionskette werden, produzieren nicht nur für sich, sie produzieren mehr, als ein Produkt an Leistung wert ist. Aus zu Waren gewordener Arbeitskraft lässt sich die Mehrwerttheorie herleiten. Die menschliche Leistungsfähigkeit ist nach getaner Arbeit nicht nur nicht erschöpft (ausgeschöpft), sondern sogar in der Lage Überschuss zu produzieren. Arbeiten ist, was der Mensch von sich aus macht; was er produziert, ist Nebenprodukt seiner Produktivität, über die jeder in ähnlichem Maß verfügt. In Sachen Produktion unterscheidet Karl Marx nicht zwischen leichter und schwerer Arbeit, sondern misst Produktivität an für den Lebensprozess benötigten Erfordernissen. Was erzeugt wurde und welche Qualität die Ware aufweist, das kümmerte Marx nicht, er konzentrierte sich lediglich auf die Tätigkeiten des Subjekts und ließ damit die objektiv weltlichen Eigenschaften der produzierten Dinge außer Acht. Der Unterschied zwischen einem Brot und einem Tisch ist zweifellos bedeutender als der Unterschied zwischen Bäcker und Tischler, das Produkt mag unterschiedlich sein, aber die Arbeitskraft unterscheidet sich beim Bäcker kaum von jener des Tischlers. Beide sind Menschen und beide leisten etwas.
„In seiner Schrift «Das Elend der Philosophie» von 1847 beschreibt er, wie sich der Arbeitsablauf dem immer schneller werdenden Takt der Maschinen unterordnet. „Die Zeit ist alles, der Mensch ist nichts mehr, er ist höchstens noch die Verkörperung der Zeit“. Das Ende der Arbeit ist erreicht, wenn abends die Glocke schrillt und die Maschinen zum Stillstehen kommen – nicht, wenn die Arbeit erledigt ist, denn das ist sie in der Fabrik nie.“43 Für Marx darf Arbeitskraft nur als Mittel zur Herstellung eines bestimmten Gegenstandes gesehen werden. Nie soll Arbeitskraft der Zweck sein, nie die Arbeit der Zweck. Auch für Marx galt, dass Produktivität erst damit anfängt, dass sich etwas zum Verkauf eignet. Etwas zu arbeiten reicht nicht, es muss auch verkauft werden können. Was Menschen für sich arbeiten (zu Hause) wird nicht verkauft und ist demnach unproduktiv. Produktions- und Reproduktionsarbeit stellt sich bei Marx folgendermaßen dar: die Mehrwert erzielende Arbeit wird aus den durch Produktion erzielten Einnahmen entlohnt. Der Lohn entspricht den Kosten, die für jeden Arbeiter anfallen, um sich einen Tag am Leben zu erhalten (Tagelöhner), und ist wiederum Teil jenes Arbeitsprodukts, welches vom Lohn am Markt zurück gekauft werden muss. Um gewinnbringend wirtschaften zu können, müssen aus Sicht des Kapitals, Reproduktionskosten so niedrig wie möglich gehalten werden. Wenn der Arbeitsprozess mit Fertigstellung eines Produkts erlischt, dann handelt es sich in Wirklichkeit um Herstellung, und kein Arbeitsprozess könnte davon befreien, mit jedem Ding von neuem beginnen zu müssen. In der Arbeit mit Maschinen tritt der Mensch in Form einer Funktion auf, in dem er deren reibungsloses Funktionieren garantiert. – Mensch verliert seinen Status als Person und wird Subjekt in einer Arbeitskette.
Im 19. Jhdt war Fabrikarbeit schwer, gefährlich und eintönig, Karl Marx wollte die Menschheit von dieser Art Arbeit befreien, denn „Freiheit beginnt, wo Arbeit, die durch Not und Zweckmäßigkeit bestimmt wird, endet. Aber wie soll man die Menschen von Arbeit befreien, wenn in Arbeit ihre größte Stärke liegt?“ Im Zwang, arbeiten zu müssen, erkennt Marx eine Art Selbstentfremdung und richtet seine Kritik nicht nur gegen eine Gesellschaft, die im Menschen nur einen Produzenten von Produkten sieht, sondern auch gegen jene, die zulassen, dass man sie auf ihre Arbeitskraft reduziert und nach ihrer Leistung und den hervorgebrachten Gegenständen beurteilt. „Früher als alle anderen Ökonomen verstand Marx, dass der Kapitalismus dynamisch ist und sich mit statischen Kategorien nicht fassen lässt: … Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht." Zudem sah er im Kapitalismus eine globale Entwicklung, die nicht an den deutschen Grenzen endet: „Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen."44
Hegel45 und Christentum fallen im Glauben zusammen, dass die Kolonialreiche Europas sich in höchster Mission befänden und die Bekehrung der Heiden und deren wirtschaftliche Ausbeutung die Erfüllung eines göttlichen Willens seien. Von nun an waren Demokratie und freie Märkte die Exportartikel der westlichen Welt, insbesondere der Vereinigten Staaten, die sich den messianischen Mantel um die Schultern hängten und ihre historische Mission gewinnbringend mit der Erschließung neuer Märkte und der Sicherung von Rohstoffvorkommen verbinden konnten.46
Im Laufe der Neuzeit wandelte sich Arbeit vom Kreuz der armen Leute in etwas, was jeder haben musste. Arbeiten zum Gelderwerb trat zunehmend in den Mittelpunkt öffentlichen Interesses. Wer anständig sein wollte, hatte (und hat) auch Arbeit, irgendeine Arbeit. Aus Organisationsgründen wurde Arbeiten vom Heim in Produktionsstätten verlagert und gewann als Erwerbsarbeit die Vormachtstellung gegenüber politischem Handeln im Sinn des Gemeinwohls. Produktivität wurde zum Wirtschafts-Wachstumselement. Aber, gerät der öffentliche Raum als Raum der Begegnung immer mehr ins Hintertreffen, fehlt der Raum, in dem Menschen sich entfalten und verwirklichen können. „Was bleibt dann davon übrig, dass der Mensch lebend sein Selbst erfährt?“ (Richard David Precht). Wer täglich 18 Stunden arbeitet, hat kein Bedürfnis mehr danach, sich redend und handelnd der Öffentlichkeit zu präsentieren.
„Der Segen der Arbeit, den man auch „Arbeitsfreude“ nennt, ist die menschliche Art, der Seligkeit des Lebendigen teilhaft zu werden. Die Seligkeit, die ein arbeitsreiches Leben verspricht, ist dort zu spüren, wo Mühsal und Lohn einander im regelmäßigen Rhythmus folgen. Kein Herstellungsprozess vermag das zu leisten“, schreibt Hannah Arendt. Die Lust an der Arbeit und an der damit verbundenen Möglichkeit Wohlstand zu schaffen, hat die Neuzeit in „das Glück der größten Zahl“47 verallgemeinert und damit zum Ideal erhoben, was ohnehin der Lebenswirklichkeit der arbeitenden Menschen entspricht.
Anfangs war es nebensächlich, ob jemand einen Beruf erlernt hatte. Die Zerlegung von Arbeitsprozessen in einzelne Handgriffe brachte es mit sich, dass Vorkenntnisse nicht unbedingt notwendig waren. Der Einsatz von Maschinen und erste Organisationsmethoden bewirkten den ersten großen Produktionsanstieg. Die moderne Arbeitsteilung und spätere Spezialisierung begannen damit, einen Unterschied zwischen bloßer Ausführung eines Handgriffs und hochwertiger Facharbeit zu machen. Es machte erstmals wieder einen Unterschied, ob man eine Maschine immer im gleichen Tempo und mit der gleichen Handbewegung zu bedienen hatte oder ob Fachkenntnisse über Material und dessen Bearbeitung nötig waren, um zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu gelangen. Mit Unterstützung von mehr technischen Mitteln ist es gelungen, Arbeiter und Maschinen aneinander anzupassen; und nun erwartete man sich durch den Einsatz von mentalen Steuerungsmöglichkeiten wie der Verhaltenslehre weitere Produktionssteigerungen, sofern sich diese auch im Arbeitsmilieu anwenden ließen.
Gemeinwohlorientiertes Handeln im öffentlichen Bereich bedarf der Koordination und Organisation, um gemeinschaftliche Aufgaben bewerkstelligen zu können. Auf ein universelles Organisationsprinzip aufbauend, welchem auch die menschliche Fähigkeit zu handeln zugrunde liegt, haben Arbeitsteilung und Organisation zur Spezialisierung von Berufen geführt und die moderne Arbeitswelt revolutioniert. Im Prinzip besteht die ursprüngliche Arbeitsteilung darin, dass viele Arbeiter die immer gleichen Handgriffe erledigen und viele gleiche Dinge gleichzeitig herstellen. Dabei setzen viele Menschen ihre gebündelten Kräfte zugleich und in Übereinstimmung ein. Das Wunderbare daran ist, dass kollektive Arbeitskraft unerschöpflich ist. Ermüdete Arbeiter werden im Schichtbetrieb ausgetauscht. Die Arbeit hat kein Ende, sie dauert fort, bis die Produktion gestoppt wird.
„Wo aber die Arbeitsteilung über das betriebliche Umfeld hinausgeht, wird zugleich ein abstraktes, überindividuelles System nötig, das die einzelnen Tätigkeiten aufeinander bezieht und miteinander vermittelt. Da niemand alle Tätigkeiten selbst ausführen und auch nicht über alles Wissen verfügen kann, das sich aus den verschiedenen Tätigkeiten ableitet, führt von nun an die berühmt-berüchtigte unsichtbare Hand die Geschicke der Menschheit als Ganzes: eine nicht mehr zu lokalisierende Macht, die kein Mensch und keine Institution für sich beanspruchen kann, die aber die verschiedenen Tätigkeiten, Betriebe und Branchen miteinander in Relation bringt und dafür sorgt, dass ihre unproduktiven Varianten quasi von selbst verschwinden. Natürliche Selektion wie in der Evolution. Was funktioniert und was nicht, darüber kann am Ende nur der Markt entscheiden. … Die Idee dabei: Der Output von Betrieben und Volkswirtschaften lässt sich deutlich steigern, wenn sich die Arbeiter auf einzelne, spezialisierte Tätigkeiten konzentrieren und sich ihr Wissenserwerb weitestgehend auf ihren Berufsbereich beschränkt. (Spartenübergreifendes Wissen, Allgemeinbildung und an allem interessierte Generalisten sind von gestern.) Die Vereinzelung der Arbeit im Betrieb bringt dann ganz neue Tätigkeitsprofile hervor, die auf einzelne Arbeiter verteilt und synchron verrichtet werden. Und insofern die Arbeitsteilung auch auf volkswirtschaftlicher Ebene umgesetzt wird, erhöht sich mit der Ausdifferenzierung der Tätigkeiten auch die Pluralität individuellen Wissens“. 48
Einerseits war es möglich immer mehr zu produzieren, da immer mehr Arbeiter zur Verfügung standen, andererseits mussten immer mehr Bedürfnisse und Abhängigkeiten, mangels Möglichkeit zur Selbstversorgung, gestillt werden. Mehr Leute wurden in den Arbeitsprozess hineingezogen und konnten sich, da die Produkte immer billiger wurden, auch mehr leisten. Fürs erste nahm der gesamtgesellschaftliche Wohlstand zu. Die Umstände, dass der Bedarf an Gütern höher war, die Industriebetriebe weniger, die Produktivität im Vergleich zu heute wesentlich geringer und die Produktion regional im Umland stattfand, hatten damals zur Verbreiterung allgemeinen Wohlstands beigetragen. Aber auch der Enteignungsprozess zog mit zunehmender Produktivität immer weitere Kreise. Auf ehemals freiem Land wurden mehr und größere Fabriken, mit der entsprechenden Menge an Baracken für die Unterkunft der Fabrikarbeiter, gebaut. Schon John Stuart Mill zeigte sich besorgt über zubetonierte Landschaften und das Verschwinden wilder Pflanzen, die der Landwirtschaft zum Opfer fielen. Sieht man Bilder aus der damals größten Stadt der Welt, London, mit unzähligen, qualmenden Fabrikschornsteinen, kann man Mills Besorgnis nachvollziehen. Der Unterschied der Kapitalakkumulation zu heute ist nicht, wie oft angenommen, eine mit Konsumgütern übersättigte Gesellschaft. Denn sehr vielen Menschen fehlt es nach wie vor am Notwendigen. Heute sind es Dinge wie die Ungleichverteilung des Kapitals. Das Vermögen wird weniger als je zuvor in Gemeinwohl und gerechte Löhne investiert und kommt nicht mehr in der Gesellschaft an. Heute wird Kapital in die freien Finanzmärkte gesteckt um dort zu „arbeiten“, aber Geld arbeitet nicht.
Geräte und Instrumente, die der Arbeitserleichterung dienen, sind selbst keine Arbeitsprodukte, sondern Werkzeuge und somit Produkte des Herstellens; sie gehören, obgleich sie auch konsumiert werden, zu den Gebrauchsgegenständen. Jede Benutzung vermindert ihren Wert nicht aber ihre Qualität. Zwar erleichtern Geräte und Werkzeuge den Arbeitsvorgang, sie sind zur Arbeit aber nicht immer notwendig. Ihre Funktion als verstärkende und vervielfältigende Hilfsmittel konnte und kann vielfach auch von Haustieren erbracht oder aus Wasserkraft gewonnen werden. Ihre Rolle im Arbeitsprozess ist zwar zweitrangig, aber erst durch ihren Einsatz wurde die enorme Steigerung der Arbeitskraft möglich, mit der ein Vielfaches an benötigten Konsumgütern erzeugt werden konnte. Während Animal laborans mit seinen Werkzeugen arbeitet, verlieren sie ihren instrumentalen Charakter. Arbeiter und Maschine verschmelzen zu einem Gerät, als wären sie für jeden individuell angepasst. Je besser Maschinen an die Bedürfnisse der Menschen angepasst sind, umso fließender und harmonischer ist die Verbindung in einem eigenartigen, gemeinsamen Rhythmus, schreibt Hannah Arendt. Über die sich in den Städten ansammelnde freie Arbeitskraft sagte Karl Marx voraus, je produktiver die industrielle Produktion wird, umso mehr wird die Verdichtung der frei werdenden Zeit nach wirtschaftlichen Kriterien vorangetrieben. Wenn Arbeit mit der Zeit immer leichter wird, kann in der gleichen Zeit mehr produziert werden. Ohne zu wissen, dass sie gezwungen werden, erledigen die Arbeiter immer mehr, denn wichtig war und bleibt das Bestehen im Prozess und die Weiterentwicklung ihrer Fähigkeiten. Die Produktivität steigt ganz ohne großartige Investitionen und wenn, wie seit einigen Jahrzehnten, auch die Löhne und Gehälter stagnieren, schlägt sich Produktivität vorrangig in Gewinn nieder.
Je fortgeschrittener die industrielle Entwicklung, umso weniger wurden Werkzeuge und Maschinen dazu geschaffen, tatsächlich das Arbeiten zu erleichtern. Vielmehr Gewicht bekamen mit der Zeit anfallende Produktionskosten. Die bedienenden Menschen mussten sich immer weiter unterordnen und wurden zu produzierenden Subjekten, bloße Arbeitsmittel, während der ungehinderte Lauf der Maschinen zum Zweck wurde. Die Subjektivierung, in der nach Althusser49 dem Individuum eine Position unter Vielen in einer Struktur zuteil wird, spiegelt ein Charakteristikum der modernen Gesellschaft auch am Arbeitsplatz wider. Ein modernes Subjekt geht nicht mehr für sich, um der Sache willen arbeiten, sondern um seiner Rolle als Subjekt gerecht zu werden. Die bestehende Marktideologie hat sich nur durch Subjektivierung des Individuums verwirklichen lassen und bleibt nur durch Subjekte aufrecht. Der Mensch versucht immer sich anzupassen, was in der Natur seiner Bedingtheit liegt. Was ihm wertvoll und wichtig scheint, versucht er in sein Leben zu integrieren. Im Falle der Maschinen, die nicht nur benutzt, sondern auch betreut, überwacht, gewartet und repariert werden, stellt sich nur noch die Frage: wie leistungsfähig und schnell können Maschinen werden, um noch der Bedienung von Menschen zu bedürfen, oder anders herum, ab wann ist es besser, selbstorganisierende Maschinen einzusetzen? Weitere Fragen stellen sich angesichts leerer Fabrikhallen und Büros. Wo findet man Menschen, die billiger arbeiten als Maschinen, und wie lange dauert es noch, bis man Menschen generell durch Maschinen ersetzen kann?
Für Karl Marx war die menschliche Produktivität das Höchste; er meinte sogar, dass weder Gott noch Vernunft den Menschen zum Menschen macht, sondern Arbeit. Sie gehört zwar nicht prinzipiell zum menschlichen Wesen, man kann sehr gut ohne Arbeit leben, unbedingt gehört Arbeit aber zum autonomen Leben. Zu Adam Smith grenzt er sich hier insofern ab, als er in Arbeit kein grundsätzlich menschliches Bedürfnis sieht. Im Gegenteil, für ihn hat Arbeit weder etwas mit Lust noch mit Unlust zu tun, sondern allein mit ihrer Notwendigkeit. Was Karl Marx damals, in Anbetracht englischer Fabrikshöllen, gewiss nicht gesehen hat, war, dass Arbeit und Fleiß automatisch zu Wohlstand führen. Dennoch befand Marx, dass nur der Arbeiter, welcher Mehrwehrt für den Kapitalisten schafft, produktiv ist und bezahlt werden soll. In diesem Sinne, so sein Gedanke, müsste es doch möglich sein, jede unproduktive Arbeite als Relikte der Vergangenheit betrachten zu können und nach Möglichkeit abzuschaffen. Keine Arbeit mehr für sich selbst im und am eigenen Haus, sondern bezahlte, produktive Arbeit für jemanden schafft echten Mehrwert. Die enormen Möglichkeiten industrieller Produktion sollen nicht länger durch unproduktive Tätigkeiten behindert werden.
Kopfarbeit, als einzige Tätigkeit, die „den freien Mann nicht schändete“, genoss in der Antike hohes Ansehen, gewann dann aber erst wieder am Weg zur Moderne an Bedeutung, als der Bedarf an geistigen Arbeiten – Kalkulieren, Planen und Organisieren – zunahm. Denkarbeiten waren den freien Berufen zugeordnet; für jede Arbeit musste ein Beleg über deren Nützlichkeit erbracht werden, was gerade bei Denkarbeit schwierig war, so dass immer mehr Beamte auf vollwertige Anerkennung ihrer Arbeit drängten. Das Urteil Adam Smiths über diesen Wunsch fällt entsprechend kritisch aus, in dem er die Intellektuellen für nicht fähig hielt, auch nur das Geringste dessen zu leisten, was ein gewöhnlicher Handwerker zu leisten vermag, und ihre Arbeit am ehesten der des Hausgesindes gleicht, da sie nichts von Dauer produzieren.
Der innere Widerspruch der klassischen, politischen Ökonomie war von Anfang an der, dass obgleich Nützlichkeit als oberstes Prinzip des Utilitarismus galt, die Nützlichkeit von Produktionsgütern als zweitrangig angesehen wurde und hinter jener von Produktivität lag. Das heißt, die Ökonomie orientierte sich selbst nicht an jenen Tätigkeiten, die sich auf das Notwendige bezogen, wie es für animal laborans sinnvoll gewesen wäre, sondern stellte die Masse an hergestellten Dingen in den Vordergrund. Masse statt Klasse! Wenn aus allem, naturgegeben oder gemacht, ein Objekt des Konsums geworden ist, gibt es nichts mehr, was um seiner selbst willen gemacht wird oder um seiner selbst willen existiert. Jeder Gedanke, jeder Handgriff wird schon im Entstehen auf seine Nützlichkeit hin überprüft. Die produktive Arbeit hat den Blick auf die Verwirklichung von Zwecken gerichtet, die im nächsten Schritt zu einer Politik von Herrschern über Beherrschte führte und letztendlich Gewalt förderte. In einem von Gewalt durchdrungenen Herrschaftssystem gibt es keinen Platz für menschliches Handeln.
Wie konnte es dazu kommen, dass Arbeit (ponos) – in der Antike verachtet und Sklaven überlassen – in unserer modernen Gesellschaft zur höchsten Tätigkeit aufstieg? Zwar stieg „das Arbeiten gehen“ zur wichtigsten Tätigkeit in der Gesellschaft auf, es wird aber nicht jede Arbeit gleich bewertet. Die Arbeiten mit dem größten gesellschaftlichen Ansehen sind nicht auch jene, die am meisten für die Gesellschaft leisten und/oder am besten abgegolten werden. Man könnte fast sagen, dass die Einteilung des Aristoteles immer noch gültig ist. Je geringer die körperliche Anstrengung und je geringer der Nutzen für die Allgemeinheit, umso höher wird die Art der Arbeit sowohl im Ansehen als auch finanziell bewertet. Je mehr körperliche Arbeit und je mehr Reproduktionsarbeit, umso geringer das Ansehen und umso geringer der Lohn.
Arbeiterbewegung
In einer Gesellschaft von Arbeitern ohne Eigentum steht das nackte Überleben im Mittelpunkt der Interessen. Jeder Gedanke dreht sich darum drohende Knappheiten zu vermeiden. Des Platzes in der Welt beraubt und dem Überlebenskampf ausgeliefert ist sowohl Ausgangspunkt wie Grundbedingung dafür, wie die Ausbeutung der Arbeitenden in Kapital verwandelt wurde und immer noch wird. Die Trennung des Herstellens und Arbeitens von Produktionsmitteln wie Boden und Werkzeuge war ein Weg andauernder Gewaltanwendung. Der Unternehmer stellte Geld und Gut zur Verfügung, die Arbeiter ihren Körper, wofür sie gerade einmal so viel Lohn bekamen, um nicht zu verhungern, und genötigt waren, am nächsten Tag wieder ihre Arbeit zu verrichten. Die Arbeits- und Elendshölle aus dem Anfangsstadium des kapitalistischen Wirtschaftssystems währte bis zur Gründung erster sozialistischer Vereine, als die Gesellschaft sich als Ganzes zu verändern begann.
Das allgegenwärtige Elend begünstigte die Entstehung einer neuen sozial geprägten Kultur, in der das Klasseninteresse vorgab, wofür man stand und wofür es zu kämpfen galt. Die Zugehörigkeit zu einer offenen Gesellschaft ersetzte das fehlende Eigentum. Die Gesellschaft als Gesamtkonstrukt stellte allen zugängliche Räume, Volksheime, Badehäuser, Volkstheater u.a. zur Verfügung, sorgte für Bildung und Verbesserungen am Arbeitsplatz; und wer an den Segnungen dieser neuen Sozialordnung teilhaben wollte, hatte eben auch die Pflicht, sich ihren Bedingungen zu fügen und sein Handeln am Gemeinwohl zu orientieren, was ohnehin dem Naturell der Arbeiter entsprach.
Sich während der Arbeit psychisch und physisch aufeinander einzulassen, führte zu ähnlicher Lebensgestaltung. Sich wie ein Gleicher unter Gleichen zu verhalten und den vorgeschriebenen Weg nicht zu verlassen wurde den Arbeitern schon fast in die Wiege gelegt. Statt Individualität erfuhr Gemeinschaftsgefühl die ganze erzieherische Aufmerksamkeit. Die selbstgewählte Gleichförmigkeit an Arbeitsplatz und sozialem Umfeld, zeigte sich in ähnlichen Ansprüchen an das gute Leben. Fabriksarbeiter waren mehr von ihren sozialen Bedingungen und ihrer Gemeinschaft abhängig als selbständige Handwerker und Handelnde es jemals hätten sein können. Weder Berufsethos noch Einzelleistungen machten einen Arbeiter stolz, sondern das gemeinsam Vollbrachte. Das Unternehmen, für das sie arbeiteten und dem sie ihre Loyalität entgegenbrachten, gewährte ihnen im Gegenzug ihr tägliches Einkommen, Schutz und Sicherheit. Umso härter traf es die arbeitende Gesellschaft, als Loyalität und Flexibilität nur mehr einseitig gefordert wurde. Unternehmen ihre Produktion auf günstigere Standorte verlagerten, Arbeiter fast beliebig ausgetauscht werden konnten und Löhne eher sanken als stiegen. Ein Arbeiter tut, was notwendig ist und hinterfragt kaum. Seine natürliche Organisationsform ist der Arbeitstrupp, angeführt von einem Vorarbeiter. Somit ist Arbeit, wie auch häufig schon in der Antike, die einzige Tätigkeit, die gemeinschaftlich verrichtet wird. Jeder Arbeitsvorgang verlangt, sich dem Rhythmus der Maschinen und Kollegen anzupassen. Aus diesem Hang der Arbeiter, eine Gemeinschaft zu bilden, leiten sich alle sozialen, gesellschaftsrelevanten Werte ab. Arbeiten mag auf den ersten Blick unpolitisch sein, antipolitisch ist es aber nicht. Der Widerspruch zwischen einer politisch produktiven Arbeiterklasse und der scheinbar antipolitischen Natur arbeitender Tätigkeit lässt sich durch einen Blick auf die historische Bedeutung der Arbeiterbewegung ersehen. Der hauptsächliche Unterschied zwischen Sklaven und Arbeitern ist politisch betrachtet der, dass Arbeiter nicht nur individuelle Freiheit genießen, sondern auch im politischen Bereich emanzipiert sind. Der eigentliche Wendepunkt trat mit der Abschaffung des Klassenwahlrechts ein. Solange das Wahlrecht an Besitz gebunden war, glich der Status eines Arbeiters nur jenem eines freien Sklaven, der zwar bürgerliche, aber keine politischen Rechte besaß. Dass die Arbeiter zahlenmäßig mehr waren und stetig mehr wurden, spielte dabei keine Rolle. Der Zwang zu arbeiten, um überleben zu können, hielt die Arbeiter lange Zeit von jedweder Bildung fern. Ein Hauptziel der sozialistischen Bewegung war daher, Arbeitern kostenlose Bildung zu ermöglichen, um ihnen die Teilhabe am politischen Geschehen zu sichern. Bis dahin war es für die Arbeiterkinder unmöglich eine Schule zu besuchen oder auch nur ein Buch zu lesen – sie mussten, wie ihre Eltern, arbeiten, um überleben zu können. Im emanzipatorischen Bestreben, Arbeit gesellschaftsfähig zu machen, ging es um nichts weniger als die Ausgestaltung einer solidarischen Gesellschaft. Augenfällig an der Arbeiterbewegung waren Stolz und Würde, mit der sie ihre Zusammengehörigkeit zeigten. Ihre Arbeitskleidung wurde zur identitätsstiftenden Uniform und ihr Name Programm. Mit den Arbeitern betrat eine neue politische Klasse die öffentliche Bühne. Obgleich zahlenmäßig allen anderen überlegen, konnten Veränderungen in der Gesellschaft nur allmählich durchgesetzt werden, denn schon damals waren Politik und Wirtschaft eng verflochten und die Gesellschaft von wirtschaftlichen Interessen geleitet. Soziale Randthemen, mit denen Sozialisten auch andere Gesellschafts-schichten erreichten, erleichterten die Durchsetzung vieler Verbesserungen für alle, zumal sich auch immer mehr Bürger der Bewegung anschlossen. Dieser Umstand, dass sich unterschiedlichste Gruppen am Aufstieg der sozialistischen Bewegung beteiligten, stellte die an Gleichförmigkeit orientierten Arbeiter vor neue Herausforderungen. Sie mussten sich unterschiedlichen Interessen öffnen und ihre Bestrebungen neu ausrichten. An diesem Gestaltungsprozess konnte man gut ersehen, dass nur durch das Ungleiche im Gleichen, Utopien verwirklicht und Ziele erreicht werden können. Der konsensorientierte Interessensausgleich für bestimmte Vorhaben kann eben nur durch Bewusstseinsbildung und Kenntnisnahme verschiedener Lebensbedingungen erreicht werden. Dafür bedurfte es der Fähigkeit und des Willens, über ideologische Gräben hinweg zu sehen und alle Menschen als gleichwertig und gleichberechtigt anzuerkennen.
Der Unterschied einer notwendigen Angleichung unterschiedlicher Gruppeninteressen zum Gleichsein innerhalb einer Ethnie, liegt in einer vorrübergehenden An-u. Abgleichung von Wissen, Interessen und Bedürfnissen. Im Verhandlungsprozess bleiben die unterschiedlichen Gruppen oder Individuen ihrem Wesen oder ihrer Verbundenheit treu wohingegen es sich bei einer Gleichartigkeit um die Art handelt: In der Zusammenkunft unterschiedlicher Ethnien erfahren und erkennen wir uns als gleichartig obgleich wir durchaus unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse haben.
In der Geschichte der Revolutionen zwischen 1848 und 1956 hat die europäische Arbeiterklasse das einzige Kapitel geschrieben, das zur Hoffnung auf politische Produktivität berechtigt, schreibt Hannah Arendt. Schließlich war es den Gewerkschaften zu verdanken, dass die Arbeiterklasse vollständig in die Gesellschaft eingegliedert wurde und allen Arbeitern Sicherheit, Prestige und politische Macht einbrachte. Das Revolutionäre der Arbeiterbewegung war ihr Anspruch auf eine eigene soziale Staatsform. Die historischen Momente der Arbeiterbewegung waren jene, in denen der arbeitende Teil des Volkes seinen Vorstellungen Ausdruck verliehen und begonnen hat bessere Arbeitsbedingungen und soziale Gerechtigkeit einzufordern.
Die Befreiung der arbeitenden Klasse von Unterdrückung und Ausbeutung lässt sich auch an der Abnahme von Gewalttätigkeiten am Arbeitsplatz messen. Was heute selbstverständlich ist, musste hart erkämpft werden. Aber schon Karl Marx ahnte, dass mit der Emanzipation der Arbeit nicht nur ein Zeitalter der Freiheit hereinbricht, sondern dass es auch gegenteilige Folgen geben wird, wenn die Masse an ursprünglich freien Menschen immer restriktiver in das Joch der Notwendigkeit gezwungen wird. Das Ziel einer bevorstehenden Revolution musste daher die Befreiung des Menschen von jeglicher Arbeitsnotwendigkeit sein, was für ihn so viel hieß wie freiwillige, selbstbestimmte Arbeit in einem erträglichen Zeitrahmen.
Die Zeit des Sozialismus war gekommen. Die Möglichkeit wieder Privateigentum zu erwerben, milderte die Dringlichkeit auf Arbeit zum Gelderwerb etwas und schaffte Freiraum, um sich politischen Themen zu widmen. Nur in einer Gesellschaft ohne Existenzangst kann sich jenes öffentliche Interesse am gesellschaftlichen Leben entwickeln, welches für eine lebendige Demokratie notwendig ist.
Wenn das leitende Interesse nicht mehr dem Eigentum und dessen Erhalt gilt, sondern dem Gelderwerb, wird aus Arbeit und Aneinanderreihung von Lebenszeit ein kollektiver, unendlicher Prozess, in dem sich laut Karl Marx die vergesellschaftete Menschheit mit allen ihr innewohnenden Notwendigkeiten entfaltet. So gesehen hat Marx das Absterben des öffentlichen Bereichs bereits kommen sehen und geahnt, dass sich der Mensch in einer reinen Arbeitsgesellschaft nicht länger den Geschehnissen der Welt widmen wird. In einer vergesellschafteten Menschheit wird Privatheit zu einem Teil von öffentlichem Interesse. Alles muss offengelegt und transparent gemacht werden – nichts darf im Verborgenen passieren, weitgreifende Überwachungsmaßnahmen werden von der Massengesellschaft mehr oder weniger unbemerkt implementiert. Arbeit und Konsum werden lebensbestimmend. Der öffentliche Raum, in dem die Gesellschaft zueinander findet, obliegt der Nutzenmaximierung. Die Freiheit des politischen Handelns als das, was wir tun, wenn wir miteinander umgehen, und der Austausch verschiedener Lebensentwürfe verlieren dagegen an Bedeutung. Allgegenwärtiges Misstrauen zerstört das Beziehungsgeflecht bis in die Familien hinein. Dabei sind Fragen, wie wir uns das Zusammenleben vorstellen und wie wir es organisieren müssen, damit alle gut leben können, bedeutsam, können dann aber nicht mehr geklärt werden.
Gesellschaft
Die britische Kulturhistorikerin Fay Bound Alberti weist in ihrem Buch 50 darauf hin, dass die Wurzeln der Einsamkeit bis in die Zeit der Industrialisierung, als Fabrikarbeit, Disziplinarinstitutionen und Geldökonomie frühere Netzwerke sozialer Verbundenheit unterminierten, zurückreichen. Im Englischen etwa fand das Wort «loneliness» erst seit 1800 Verbreitung. Die neoliberale Epoche der letzten Jahrzehnte hat diese Entwicklung noch deutlich verstärkt. Von klein auf hören wir, dass jeder seines eigenen Glückes oder Unglückes Schmied sei. Wir lernen schon in der Schule, uns in Konkurrenz zu anderen zu definieren. Wir bekommen gesagt, dass Anerkennung und Reichtum für jeden erreichbar seien, wenn man sich nur genügend anstrengt und möglichst viele andere aus dem Rennen wirft. Dabei ist diese Ideologie eine offensichtliche Lüge: Dass alle an die Spitze kommen, ist unmöglich, denn die Spitze ist nur dadurch definiert, dass sie auf einer Pyramide von unzähligen Menschen ruht, die sie tragen.
Auf politischer Ebene hat die zunehmende Vereinzelung dazu geführt, dass kollektives Handeln und Selbstorganisation in größerem Stil für viele überhaupt nicht mehr vorstellbar sind. Gesellschaftliche Weichenstellungen werden als Summe individueller Entscheidungen verstanden – ob als Konsumentin im Supermarkt oder als Wähler an der Urne. Diese Konsumdemokratie ist ausgesprochen praktisch für all jene, die den Status quo einschließlich sozialer Ungleichheit und Raubbau am Planeten so lange wie möglich aufrechterhalten wollen. Große systemische Veränderungen, die etwa Infrastrukturen oder Eigentumsverhältnisse betreffen und sich nur auf einer kollektiv-politischen Ebene realisieren lassen, stehen so gar nicht zur Debatte.
Die Einsamkeit und Entfremdung beziehen sich nicht allein auf die menschliche Mitwelt, sondern auch auf die Welt der Tiere und Pflanzen. Während wir unseren Kindern in Bilderbüchern und Filmen noch immer idyllische Bauernhöfe aus Omas Zeiten zeigen, sieht die Realität in der Regel vollkommen anders aus: Industrielle Tierhaltung und automatisierte Massenschlachtungen dokumentieren die extreme Entfremdung im Umgang mit Tieren, die zu bloßen Objekten im Räderwerk der Geldvermehrung degradiert werden. Das Verhältnis zur nichtmenschlichen Natur ist strukturell schizophren: Empathie, Sorge und Wertschätzung sind auf einen sehr engen Kreis begrenzt, etwa den eigenen Hund und den Garten, während die großen Kreisläufe der Nahrungsmittelproduktion ausgeblendet und einer gnadenlosen Ausbeutungslogik preisgegeben werden. 51
Wie und in welche Richtung sich eine Gesellschaft entwickeln soll, ist ein langfristiges Projekt, muss über Generationen hinweg geplant werden und geht über die Lebenszeit Einzelner weit hinaus. Heute gilt die Regierung, von Wahl zu Wahl, als äußerster Rahmen in den Veränderungen angegangen werden (können), das ist viel zu kurz, um einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess anzugehen. Dabei darf man sich nicht scheuen, sich an Wünschen und utopischen Vorstellungen zu orientieren. Diese Wünsche und Vorstellungen sind die Wegbereiter zur Verbesserung jedweder Lebenswirklichkeit. Auch wenn Utopien sich nicht gleich und nicht vollständig umsetzen lassen, so entsprechen sie doch dem, was Mensch sich von der Zukunft erhofft. Ohne einen öffentlichen Rahmen und einer interessierten, selbstbewussten Gesellschaft, die nicht vorrangig Wirtschaftsinteressen bedient entsteht keine tragfähige Zukunftsperspektive, die ein besseres Leben vor Augen hat.
Der mittelalterliche Begriff „Gemeinwohl“ galt ursprünglich für gemeinsam verfolgte Gruppeninteressen, die sowohl geistig als auch materiell sein konnten. Während die Mitglieder der Gruppe weiter ihren Geschäften nachgingen, übernahm eine Person die Aufgabe, sich für ihre gemeinschaftlichen Interessen einzusetzen, ähnlich heutiger Kammern und Bünde. Dieser Gesellschaft gehörten zur damaligen Zeit nur eine kleine Gruppe von Besitzern und Eigentümern an. Nach und nach wollten immer mehr Bürger ihrer öffentlichen Aufgaben enthoben werden, zogen sich aus politischen Ämtern zurück und überließen Verwaltungsaufgaben den dafür auserkorenen „Schultheissen“ oder Statthaltern. Sie zahlten dafür Steuern und nahmen an Feldzügen teil. Verwaltung und Politik war Sache der Amtsinhaber und diente dem Schutz der Vermögen ihrer Bürger. Der Schutz von privatem Eigentum galt nie der Bevölkerung oder Personen, sondern immer der Kapitalbildung. Kapitalbildung und Staatenbildung ging Hand in Hand – das eine hätte ohne das andere nie stattgefunden, schreibt Katharina Pistor.52
Die Wirtschaft, ursprünglich Privatinteresse, ist zum Mittelpunkt aller staatlicher Interessen geworden, ebenso ist Arbeit als ursprünglich private Angelegenheit in die staatliche Verwaltung über gegangen. Der Staat sollte wirtschaftliches Treiben nicht nur ermöglichen, sondern möglichst auch dessen Erfolg garantieren. Defizite und Unterstützungen werden vom Staat aufgefangen und getragen, die Gewinne werden zur Gänze privatisiert. In den Privatbereich ausgelagert wurden im Gegenzug alle dem Gemeinwesen dienlichen Aufgaben, auch Spendentätigkeit, damit wurden Ressourcen zur Unterstützung der Wirtschaft frei. Die letzten Jahrzehnte wurden nahezu alle karitativen Spendenaktivitäten auf die privaten Haushalte ausgelagert. Großspendenevents (Licht ins Dunkel, div. Carity Veranstaltungen) dienen hauptsächlich Marketingprojekten, um private Spender zu ermuntern. Im Gegenzug hat sich der Staat immer mehr der Unterstützung sozialer Einrichtungen entledigt, was ganz im Sinne David Ricardos und Adam Smith war, denn keinesfalls soll der Staat für das Wohl seiner Bürger aufkommen.
Der öffentlich zugängliche Raum in der gemeinsamen Welt versammelt Menschen, trennt sie aber gleichzeitig. Hannah Arendt hat das Bild eines Tisches gewählt, der Menschen verbindet, indem man sich um ihn versammelt, gleichzeitig aber durch seine Gegenwart getrennt bleibt. Wenn die Dinge, durch die wir im gemeinsamen Raum verbunden sind, fehlen, sind wir ohne Bezug – beziehungslos – und werden zur Massengesellschaft. In einer Massengesellschaft gehört jeder einer anonymen, gleichförmigen Masse an, in der echte Individualität zunehmend reduziert und auf Konformismus gesetzt wird. Was in der antiken Polis undenkbar war und im Laufe der Neuzeit zum Normalzustand wurde, veranlasste Hannah Arendt zu einer fundamentalen Kritik. Die Ökonomisierung hat nicht bei der Konstitution einer neuen Öffentlichkeit Halt gemacht, sondern hat zu einer neuen, veränderten Gesellschaft geführt: der Massengesellschaft. Mit Entwicklung der Massengesellschaft werden Polis und Oikos umgekehrt. Mit der Ökonomisierung der Öffentlichkeit übernimmt die Herrschaft des Niemand und dominiert den Alltag absolut – Niemand ist verantwortlich, niemand wird zur Verantwortung gezogen. Das Maß der Vergesellschaftung erreicht in der unablässig sich ausdehnenden Massengesellschaft einen Höhepunkt in Kommunikationsnetzwerken. Teilnehmer werden erfasst und kontrolliert, außenstehende Gruppen werden marginalisiert. Unter dem Deckmantel der Wahrheit, der Gemeinsamkeit und im Sinne des Guten wird individuelles Handeln, welches für die politische Ordnung53 und eine individuelle Selbstbestimmung unersetzbar ist, untergraben, schreibt Shoshana Zuboff.
Was Hannah Arendt unter Öffentlichkeit versteht, bezieht sich auf zwei eng verbundene Phänomene, die aber keineswegs identisch sind:
1) Öffentlichkeit als alles, was öffentlich sichtbar, hörbar und zugänglich ist. Die allgemeine Teilhabemöglichkeit versichert uns eine gemeinsame Realität, indem wir zur gleichen Zeit hören, sehen oder wahrnehmen, was alle Beteiligten wahrnehmen können.
2) Öffentlichkeit ist aber auch das Gemeinsame und Verbindende. Wir als Gesellschaft sind die Öffentlichkeit, so wie in der Antike alle Athener die Polis waren – eine Schicksalsgemeinschaft, die in guten und in schlechten Zeiten als Staatskörper verbunden ist.
Mit Beginn der Ökonomisierung der Gesellschaft verabschiedete sich der neuzeitliche Bürger vollends aus dem politischen Bereich, obgleich er doch erst durch seine politische Präsenz zum Bürger wurde, und überlässt Verwaltungsaufgaben den dazu Beauftragten.
Im Mittelalter führen zunehmendes Wirtschaftswachstum und komplizierter werdende Geschäftsmodelle zu vermehrter Akzeptanz schriftlicher Verträge, worin sich ausgerechnet die Mitglieder des Franziskanerordens immer mehr vertiefen. Die dauernde Beschäftigung mit Besitzlosigkeit machte sie zu Experten jenes Reichtums, den es zu vermeiden galt. Einer der bedeutendsten Köpfe dieser Zeit war Petrus Johannis Olivi, sein Traktat (Tractatus de contractibus 1295) gilt als Meilenstein in der Geschichte des ökonomischen Denkens. Olivi formulierte darin die ersten modernen Theorien des Preises und den Unterschied zwischen Kapital und Geld, in dem er dem Kapital nicht nur einen Wert an sich zuschreibt, sondern einen vorwärtsstrebenden, gewinnerzeugenden Charakter erkennt. Auf die Franziskaner geht auch die Unterscheidung von Eigentum – umfassende Herrschaft über eine Sache –, Besitz – Verfügungsrecht über eine Sache – und Nutzungsrecht, zurück. Sie formulierten das Paradox der Preisbildung, Ansätze der Grenznutzenlehre und analysierten weiter die Eigenschaften des Kapitals sowie die Theorie über Preisbildung von Waren und Dienstleistungen. Vom Franziskaner Luca Pacioli (1445 - 1514 oder 1517) wird erstmals die doppelte Buchführung genau beschrieben, und Richtlinien ökonomischen Handelns im Spannungsfeld zwischen Gewinnstreben und Gemeinwohl entwickelt. (Wikipedia) Grund für die besonderen Kenntnisse der Franziskaner in diesem Bereich war, dass sie aufgrund ihrer Besitzlosigkeit immer unterwegs waren und auf ihren Reisen mit ebenfalls reisenden Kaufleuten zusammentrafen. Auch auf den Plätzen und Märkten der Städte mischten sie sich gerne unters Händlervolk und bekamen so einen guten Einblick in die Anliegen der Geschäftsleute. Generell verbrachten sie, im Gegensatz zu anderen Orden, viel Zeit unter Menschen und halfen, wo sie konnten, da ihnen die Probleme der Zeit bekannt und selbst oft davon betroffen waren. Eine besonders schwere Sünde zur damaligen Zeit war der Wucher. Um nicht des Wuchers bezichtigt zu werden, suchten viele Händler bei ihren Beichtvätern, die oft dem Franziskaner Orden angehörten, Rat. Die Franziskaner wiederum, mussten sich umso mehr damit beschäftigen, je mehr Fragen und Probleme an sie herangetragen wurden, schreibt Annette Kehnel.54
Ab dem späten Mittelalter wird das Politische, in Form einer großen Familie, vom Gesellschaftlichen eingenommen und entsprechend organisiert. Familien dienen zwar schlecht als Vorlage zur Organisation eines Staates, waren aber dennoch ein naheliegendes Konzept, welches schon Platon als Grundlage für Utopia diente; nur der organisatorische Bereich musste neu geschaffen werden, und was dabei entstand, war eine Herrschaft durch Bürokratisierung, in der alles geregelt wird. Die Herrschaft eines Niemand in Form unterschiedlicher Institutionen mit unterschiedlichen Kompetenzen beginnt. Fern jeder persönlichen Verantwortlichkeit tritt die neue Verwaltung als Kollektiv auf, bestimmt und steuert. Die ständig wachsenden Städte zwang deren Verwaltungen zu immer weiteren Ökonomisierungsschritten. Bald hatte der Niemand seinen Sitz nicht mehr im jeweiligen Ort, sondern wurde durch einen Verwaltungsapparat mit entsprechenden Befugnissen ersetzt, der keine weitreichende Verantwortung zu übernehmen hatte. Der Entstehungsprozess von Geboten, die aus der Ferne erlassen werden, erschließt sich nicht mehr für jeden. In der Gemeinde brauchte es nur noch ein paar Menschen, die diese Gesetze verstehen und zur Ausführung bringen konnten. In Folge bedurfte es in den neu entstehenden Staaten keines Anführers mehr, der für die Rechte seiner Sippe eintreten musste, sondern nur noch Ämter und Behörden in denen Informationen zusammenfließen und entsprechend koordiniert werden. Statt Familieninteressen traten Gruppeninteressen in den Vordergrund. Mehr und mehr Gruppen begannen sich zu organisieren, um sich im Verwaltungsapparat Gehör zu verschaffen und um ihren Einfluss zu sichern. Die ersten Zünfte formierten sich. Die Zunftmitglieder standen zu allen Zeiten zueinander und trugen entsprechende Trachten oder Wappen. Zünfte waren nicht nur rein ökonomisch ausgerichtet, sondern auch sozial und garantierten Absätze, Qualität, Preise und Löhne, manchmal wurden sogar Renten an Hinterbliebene ausbezahlt. Vielfalt und Größe der Gruppen nahmen zu, ebenso der Druck auf das Individuum sich gruppenkonform zu verhalten. Spontanes, von Interessen geleitetes Handeln wie in der Antike und im Mittelalter üblich konnte kaum noch verwirklicht werden. Die gesellschaftlich angestrebte Egalität mit Beginn der Neuzeit war mit Deindividualisierung und der Nivellierung von Interessen und Bedürfnissen verbunden. Wer sich gegen geltende Normen stellte, galt als Außenseiter.
Die bildliche Vorstellung dessen, was man gerade herzustellen gedenkt, ist zwar für den Bereich des Herstellens Voraussetzung, im Bereich politischen Handelns erscheint Planbarkeit aber als Trugbild. Besteht man in bürokratischen Ordnungen darauf, dass sich alles von oben herab steuern lässt, bedeutet das, dass man Unvorhersehbarkeiten entweder von vorneherein ausschließt oder ignoriert. Damit riskiert man, die Menschen an der Basis, die sich unverstanden, gegängelt und übergangen fühlen, zu verlieren. Handeln bleibt immer unberechenbar, insofern müssen Folgen oder gar Konsequenzen in staatliche Überlegungen miteinbezogen werden, was dann aber wieder jene Flexibilität voraussetzt, die Bürokratien meistens fehlt, um Ordnungen an real gegebene Bedingungen anpassen zu können. Beides, blinder Aktionismus aufgrund von Meinungsumfragen und Stillstand aus Sorge um die nächste Wahl, bringen das bürokratische Regelwerk in Schwierigkeiten.
Schon früh und immer wieder neu hat man versucht, das Handeln vieler Einzelpersonen, deren Ziele sich nicht nur radikal unterschieden, sondern oft sogar widerstrebten, durch eine Tätigkeit zu ersetzen, die nur einer Person bedurfte, die von Anfang bis Ende Herr ihres Tuns blieb. Hannah Arendt meint, dass jeder Versuch, der Vielfalt Herr zu werden, früher oder später an einen Punkt kommt, an dem man beginnt die Öffentlichkeit auszuschalten, was unbedingt in Einzelherrschaften, Autokratien, mündet. Von offener Tyrannis bis zu den verschiedensten Abarten der Demokratie, bietet kein System die Lösung für alle Probleme. Im Absolutismus ist nicht Grausamkeit das vorherrschende Merkmal, sondern die Vernichtung des öffentlich-politischen Bereichs durch Ausschaltung des Pluralismus, der auch jetzt wieder ausgeschaltet zu werden droht. Von der offiziellen Botschaft abweichende Meinungen werden entsprechend abgelehnt oder gar sanktioniert. Herrscht ein Diktator über sein Volk in der Weise, dass er zwar alle öffentlichen Geschäfte allein, ohne die Beteiligung der Bürger, führt, dann endet das nicht zwangsläufig in brutaler Gewaltherrschaft – im Gegenteil, die Gesellschaft fühlt sich wohl, weil alles in bester Ordnung scheint, und niemand zweifelt diese Ordnung an. Sind die politischen Verhältnisse stabil, wird der Staat umsichtig und zukunftsorientiert geführt, kann eine Gesellschaft davon auch profitieren und sich entwickeln.
Der Rückzug der wohlhabenden Bürger aus der Politik allein erklärt noch nicht, wie es zur Bürokratieherrschaft gekommen ist. In der Bürokratie treffen zwei Besonderheiten aufeinander: der Konformismus und die Macht der großen Zahl. Immer mehr politische Entscheidungen werden aus Modellrechnungen und Statistiken abgeleitet. Erst die Masse an Menschen hat den Gesetzen der Statistik Gültigkeit für das Gemeinwesen verschafft. Einerseits, weil die Standards des auf wirtschaftliches Wachstum ausgerichteten Gemeinwesens eine allgemeine, da statistisch errechnete und definierte Gültigkeit erlangt haben, andererseits hat der Konformitätsdruck in der Gesellschaft ein Maß angenommen, in dem jedes Abweichen von gesellschaftlichen Normen unerwünscht war. Dem Sich-Verhalten-Konformismus folgten die ersten Wirtschaftstheorien, indem man begann die Gesellschaft zu analysieren und einzuteilen. Bürokratie funktionierte umso besser, als man begann, alles und jedes statistisch zu erfassen und entsprechende Normen für richtig und falsch festzulegen. Alles, was vom Durchschnitt abwich, war entweder zu gut oder zu schlecht, fiel aus dem Rahmen und hatte keine Bedeutung mehr. Der Mittelwert wurde zum Normwert und ausgehend von bürokratischen Institutionen alsbald auch von der Gesellschaft übernommen. So unrichtig der Behaviorismus im Einzelnen zutreffen mag, auf das „Sich-verhalten“ Vieler treffen seine Gesetze immer zu, schreibt Hannah Arendt. Die Wahrscheinlichkeit, dass „Sich-verhalten“ als bürgerliche Tugend übernommen wird, steigt, während gleichzeitig die Zahl derer abnimmt, die sich abseits der Norm verhalten wollen. Mit wachsendem Gruppendruck und stetigem Sinken der Toleranzgrenze wird es verunmöglicht, sich gegen die Mehrheitsmeinung durchzusetzen, demokratische und liberale Werte werden dabei systematisch untergraben.
Die Menschen der Neuzeit wurden von den Ereignissen überrollt. Viele unterschiedliche, kurz aufeinander folgende Denkweisen der Neuzeit überforderten die Menschen und nahmen ihnen jene Handlungsmaßstäbe, die in unruhigen Zeiten Halt versprachen, insofern fanden sie in bürokratischen Strukturen auch wieder Halt. Schon bevor Ende des 18. Jhdts zum Nützlichkeitsprinzip noch das Glückskalkül kam, war klar, dass es Homo Faber nicht gelingen konnte, seinen lebensbestimmenden, handwerklichen Werten erneut Gültigkeit zu verleihen. Seit das Prinzip „des größtmöglichen Wohlbefindens der größten Zahl“ in der Gesellschaft Einzug hielt, gilt die Überzeugung, dass alles Seiende Funktion und Ausdruck eines Prozesses ist, in dem die Interessen des Menschen ganz oben stehen. Dieses Prozessdenken steht dem Ideal einer am Herstellen orientierten Denkweise diametral gegenüber. Denn, wenn der Wert eines Produkts an seinem zu erzielenden Gewinn gemessen wird, ist jede Investition in dessen Qualität nicht nur unnötig, sondern hinderlich. Qualitativ hochwertige Erzeugnisse verringern nicht nur die Nachfrage sie verhindern auch, dass die zu produzierende Menge gering bleibt und sich die Umsiedlung auf günstigere Standorte nicht lohnt. Im Sinne der Gewinnmaximierung muss der Preis niedrig sein, dafür müssen entweder die zu produzierenden Stückzahlen erhöht werden oder die Produktionskosten sinken, gelingt beides – umso besser! Das Nützlichkeitsprinzip richtet sich zwar an die Menschen, aber wenn Gebrauchsgegenstände nicht mehr primär dem Gebrauch dienen und nicht mehr nach Nützlichkeit beurteilt werden, ist der Wert der Dinge zweitrangig. Wenn Dinge zu „Nebenprodukten“ der Produktionsprozesse geworden sind und die produzierten Dinge nicht mehr Endzwecke sind, dann geht es nicht mehr um eines Dings Nützlichkeit. Eine Welt, die in gemachten Dingen keinen essenziellen Wert sieht, erkennt in ihnen auch keine nachrangigen Werte; das ist der wahre Wertverlust in der Welt des Homo Faber. Das Nützlichkeitsprinzip lässt sich allenfalls noch auf den Produktionsprozess anwenden. Was immer Produktivität steigert und/oder die dafür notwendige Anstrengung reduziert, gilt prinzipiell als nützlich; und die Maßstäbe hierfür sind nicht mehr Zweckmäßigkeit, Handhabung, Haltbarkeit und Reparaturmöglichkeit, sondern das durch den Kauf entstandene Wohlbefinden – das Kauferlebnis!
Glaubensverlust
Die neuzeitliche Wende vollzog sich in einer durch das Christentum geprägten Gesellschaft, deren Grundüberzeugung von der Heiligkeit des Lebens sich weder durch die Säkularisierung55 noch durch den Niedergang der christlichen Religion erschüttern ließ. Aus dieser tiefen Verankerung lässt sich erahnen, dass die christliche Heilsbotschaft, von der Unsterblichkeit des Einzelnen und die Hinwendung zu Würde und Toleranz in menschlichen Angelegenheiten mit großer Wucht in die Gesellschaft der Antike eingebrochen war. Die totale Umkehr damaliger Wertvorstellungen gab dem bröckelnden Ansehen der Polis den letzten Rest. Angesichts einer möglichen Unsterblichkeit der Christen konnte dem Trachten nach weltlicher Unsterblichkeit keine große Bedeutung mehr zukommen. Politisches Handeln sank vom höchsten Rang menschlichen Strebens auf das Niveau einer einfachen Betätigung, denn wozu sollte ein potenziell unsterbliches Wesen nach irdischem Ruhm trachten?
Möglicherweise hat sich der urchristliche Begriff der Unsterblichkeit am römisch-politischen Weltbegriff orientiert und an die potenzielle Unsterblichkeit des Gemeinwesens angeknüpft. Das Gemeinwesen gilt im antiken Rom zwar als grundsätzlich unvergänglich, kann aber an politischen Sünden zugrunde gehen. Ebenso gibt es in der urchristlichen Lehre die Möglichkeit der Unsterblichkeit, die nur durch das Begehen einer Todsünde verloren geht. Die christliche Vorrangstellung des Lebens zog eine Angleichung aller Tätigkeiten der Vita Activa nach sich. Arbeiten, Herstellen, Handeln und Kontemplation sind gleichermaßen notwendig und haben ihre Berechtigung im menschlichen Dasein. Die Geringschätzung der Reproduktionsarbeit, wie in vor allem in der frühen griechischen Antike üblich, wurde von ihrem Makel befreit und sollte jene Anerkennung erhalten, die ihr zusteht. Aber über die heute allgegenwärtige Verherrlichung der Arbeit lässt sich im Neuen Testament nichts finden aber schon gar nicht lässt sich darin eine Rechtfertigung der neuzeitlichen und auch später üblichen Ausbeutung finden. In der mittelalterlichen, christlichen Philosophie, vor allem bei Thomas von Aquin lesen wir, dass Arbeit eine Pflicht für jene ist, die sonst keine Mittel haben, sich am Leben zu erhalten, mit Betonung auf „Pflicht, sich am Leben zu halten“, nicht aber, um Mehrwehrt in Form von Produktivität zu erzielen. Für Thomas von Aquin ist die lebenserhaltende Funktion von Arbeit, Art und Weise sein Leben zu verbringen, so wie jedes Lebewesen tut was getan werden muss, um zu überleben. Das Christentum hat sich immer am Primat der vita contemplativa orientiert und solange wie möglich daran festgehalten, dass ein Leben in Kontemplation besser ist als jedes tätige Leben. Aus dieser Sichtweise heraus wäre es in der mittelalterlichen Philosophie nie zur Verherrlichung der Arbeit gekommen, denn das Einzige, wozu Jesus im neuen Testament anhält, ist, im menschlichen Sinn zu handeln, initiativ zu werden, Zivilcourage zu zeigen und Gutes zu tun.
Angesichts dessen, dass die christliche Lehre auf Glauben und Vertrauen baut, kann nur der kartesische Zweifel dem Christentum so schweren Schaden zugefügt haben, dass sich das Arbeitstier mit so durchschlagenden Konsequenzen zur Geltung bringen konnte. Vertrauen, Glauben und Hoffen waren mit einem Schlag verloren. Das Leben war nun wieder so sterblich wie im Altertum, diesmal für alle; und nach Luther war die Welt noch unzuverlässiger und härter geworden als sie es vorher war. Die Hoffnung auf ein besseres Leben nach dem Tod wich der Enttäuschung darüber, dass man kein besseres Leben nach dem Tod erwarten konnte, wenn einem die Erbsünde unlösbar anhaftet.
Ihre Tage mit immer mehr Arbeit an Maschinen verbringend, hatten sich die Menschen so sehr von ihrer sinnlich wahrnehmbaren Realität und Erdverbundenheit entfernt, dass selbst jene die noch an das glaubten, was sie für wahr hielten, dem optimistischen Versprechen erlagen, dass nur technischer Fortschritt und steigende Produktivität ihr Leben verbessert. Damit wurde das Denken der Menschen nicht bodenständiger, es wurde nur der Glaube ans Jenseits durch den Glauben an eine bessere Zukunft durch mehr Arbeit ersetzt. Man gewann damit nicht einmal ein besseres irdisches Leben statt eines Himmels, im Jenseits. Nach dem Verlust an Vertrauen und Glauben blieb nur die Orientierung an einer einfachen Kosten-Nutzen-Rechnung (Jeremy Bentham 1748 – 1832), die in den Lust- und Unlust-Empfindungen veranschaulichte wie man sich anhand seiner Berechnungen zu fühlen hat. „Denk positiv! Jedes Unglück hat auch eine gute Seite! Wenn man keine negativen Wörter verwendet, sind alle automatisch glücklich!“ Man bemühte sich, im Menschen ein vernünftiges Wesen zu sehen, kam dann aber bald zum Ergebnis, dass Mensch trotz aller Fortschritte zu irrationalem Verhalten neigt und man sich nicht darauf verlassen kann, dass jemand eine kluge Entscheidung trifft. Man fragte sich warum? Was bewegt die Menschen dazu unvernünftige Entscheidungen zu treffen? Und was ist überhaupt Vernunft? An diesem Punkt begann die wissenschaftliche Forschung sich aufzutrennen. Ein Teil begann das Innenleben der Menschen und seine Umwelt, die rational-rechnerische Verstandesfähigkeit zu erforschen, der anderer Teil befasste sich mit der Erforschung des irrationalen Gefühlslebens. Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften entwickelten sich; und was zwischen einem wirklichkeitslosen Verstand und irrationaler Leidenschaftlichkeit als Bezugspunkt übrig blieb, war das Leben selbst.
Jeremy Benthams „Lust- und Unlust-Kalkül“ hatte den Vorteil, dass jeder sein momentanes Glück ausrechnen konnte. Jeder konnte anhand einer Liste errechnen, ob seine positiven oder negativen Gefühle überwogen. Die Differenz zwischen Lust und Unlust ergibt das Glück als eine leicht zu berechnende Befindlichkeit, die erfreulicherweise von keinen äußeren Umständen beeinflusst wird. Ob jemand arm oder krank ist, Arbeit hat oder nicht, am Arbeitsplatz gemobbt wird oder nicht, es spielt für Benthams Idee keine Rolle, jeder ist selbst für sein Wohlbefinden verantwortlich. Sie entspricht jener neuzeitlichen Philosophie, die das den Menschen Gemeinsame nicht in der Welt und deren Lebensbedingungen, sondern in deren gleichen Eigenschaften sieht. Da jeder gleich ist, lässt sich, unabhängig welches Leben jemand führt, für jeden das Gleiche errechnen. Diese Idee wird vielfach auch heute noch in Beraterkreisen gepflegt. Egal was zu welchen Lebensbedingungen geführt hat und wie man sich fühlt, wichtig ist das Ziel und wie man es zu erreichen gedenkt. Immerhin hat jeder die Möglichkeit, ja die Pflicht seine Lebensumstände selbst in Ordnung zu bringen und sollte die eigenen Probleme nicht auf die Gesellschaft abwälzen. Mit dem Hedonismus der Antike hatte diese neue Weltanschauung nichts gemein, auch wenn der frühe Hedonismus gerne auch als Glücksstreben gedeutet wird. Das damalige Leitmotiv war die Vermeidung von Leid und Schmerz. Im Altertum waren es die real existierenden Gefahren in der Welt, die den Menschen Angst machten und sie bewogen, sich aus ihr zurückzuziehen. Die neuzeitliche Strömung entspringt dagegen dem Misstrauen am Menschen und dessen Unvollkommenheit – sowohl was seine Sinneswahrnehmungen anbelangte als auch seine Fähigkeit vernünftig zu sein. Die Verderbtheit der Menschen hatte ihren gedanklichen Ursprung in der puritanischen Sinnesfeindlichkeit und den zu Tugenden erklärten Lastern vergangener Zeit, schreibt Hannah Arendt. Wie bei einer Art Buchführung wurden mit mathematischer Gewissheit Verdienste im Haben und Sünden im Soll verbucht, streng darauf bedacht, ausreichend Verdienste und Wohlverhalten und damit auch Kapital zu sichern. Für die Kluft, die das Denken der Spätantike, von dem des Puritanismus trennt, ist es unwesentlich, wodurch sie genau entstand, aber die absurde Vorstellung einer exakten Moralwissenschaft, die es erlauben würde, den Intensitätsgrad menschlicher Empfindungen zu messen und in entsprechende Verhaltensregeln umzusetzen, hätte alleine wahrscheinlich nicht ausgereicht, den Einfluss auf die Geistesgeschichte der englischsprachigen Welt zu sichern. Die Menschen der Spätantike bedurften keiner derartigen Rechenkünste. Sie, die durch epikureische und stoische Schulen gegangen waren und sich an ihnen orientierten, zeichneten Selbstdisziplin und Charakterbildung aus. Ihr erstrebenswertes Ziel war das Gute an sich, so Hannah Arendt weiter.
Der gesellschaftliche Mensch in einer vergesellschafteten Menschheit mit vergesellschafteter Produktionsweise deutet auf ein Endstadium der Gesellschaft hin, in dem es auch kein Klasseninteresse mehr gibt, sondern nur ein alles beherrschendes und dirigierendes Interesse, dessen Subjekt erst die Klasse und dann die klassenlose Menschengesellschaft ist. Damit verschwindet die letzte Spur von Handeln aus dem Tun der Menschen, nämlich die Triebfeder, die immerhin noch in den egoistischen Interessen am Werk ist. Laut Hannah Arendt stolpert diese Gesellschaft in eine Zeit, in der dem Menschen die Fähigkeit zu handeln abhandengekommen sein wird. Wenn aber des Einzelnen Leben Sinn haben soll, kann es nur an jedem selbst liegen es zu erhalten. Dafür braucht es keine spezifischen Fähigkeiten, denn eingefügt in reproduzierende Arbeit wird sowohl für das eigene als auch für das Leben der Familie gesorgt.56
HOMO FABER
In seinem Buch „Hände“ schreibt Jochen Hörisch, von einer Krise der Handarbeit und des Handwerks. Was für Hegel das absolute Werkzeug war und für Grobes genauso gut zu verwenden wie für Feines, musste gegenüber Kopfarbeit zurücktreten. Wichtiger als jede Handfertigkeit sind nun Medienarbeit, Wissenschaft und Werbung. Mit Verlust der Handfertigkeit geht auch der Hausverstand verloren. Wozu selbst etwas in Erfahrung bringen, wenn alles schon vorgegeben ist? Jede noch so kleine Tätigkeit wird mit großem Aufwand hergestellt, an technische Geräte ausgelagert und automatisiert. Wir haben weiter vorne gelesen, dass schon in der Antike Handarbeit und Hausarbeit in die Innenräume verbannt waren, und jene Leute, die diese zu verrichten hatten, entweder Sklaven, Frauen oder Banausen waren, jedenfalls unwert am politischen Leben teilnehmen zu dürfen. Angesichts der Übermacht von Unternehmen wie Google oder Amazon, die, ohne etwas Handgreifliches zu produzieren, Milliardengewinne abschöpfen, sieht es so aus, als würden wir wieder in so eine Zeit eintreten. Längst sind es Unternehmen wie BlackRock oder Amazon, die unser Leben aus der Ferne bestimmen; wir hingegen haben es uns in einem unpolitischen Leben eingerichtet und uns unseren Gestaltungsraum durch den simplen Satz „there is nothing like society“ wegnehmen lassen. Wir nehmen nicht mehr nur, nicht am politischen Leben teil, sondern beginnen mehr und mehr jene zu verurteilen, die sich gegen Übergriffe auflehnen und sich das Ruder nicht so leicht aus der Hand nehmen lassen wollen. Obgleich sie sich doch für Anliegen einsetzen, die jeden irgendwie betreffen und dafür (noch wagen) auf die Straße zu gehen.
Benjamin Franklin bezeichnete den Menschen als „toolmaking animal“, und nirgends kommt der weltliche Charakter der produzierten Werkzeuge so sehr zum Vorschein wie in Arbeitsprozessen, bei denen sie die einzigen Dinge sind, die sowohl den Herstellungsprozess als auch den Konsum überdauern. Will man ein Meisterstück schaffen, ist Ruhe zum ungestörten Denken und Planen unerlässlich. Kunstfertigkeit und Technik wurden lediglich an den Gesellen weiter gegeben. Der Meister wachte von Anfang an über die fachgerechte Herstellung und gab das Ding erst frei, nachdem er es für gut befunden hatte. In Bedrängnis kam die Einheit zwischen meisterlicher Handwerkskunst und Produkt, als immer weniger in der eigenen Werkstatt gemacht werden konnte, dafür aber immer günstiger und umfangreicher in Fabrikhallen produziert wurde. Obgleich die Erzeugung von Produkten in kontaktloser Isolierung von Marx als Selbstentfremdung verstanden wurde, ist es nun einmal so, dass präzise Handarbeit kaum in der Öffentlichkeit, sondern in dafür vorgesehenen Räumen ausgeübt wird. Handwerkern reicht es, wenn ihre hergestellte Dingwelt den äußeren Rahmen für jeden Erscheinungsraum bildet und sie über ihre Werke mit dem politischen Bereich verbunden bleiben. Die Menge der gleich hergestellten Dinge nivellierte nicht nur deren Qualität auf ein leicht zu produzierendes Niveau, es wurde dazu auch billiger und konnte von allen gleichermaßen erworben werden. In der neuzeitlichen Moderne wurde mit Aufkommen großer Produktmengen aus den handgemachten Einzelstücken Massenware. Hobbyhandwerk und Kennen alter Herstellungstechniken dienen heute der Behübschung von Museen, sind Teile des kulturellen Erbes oder werden bei Mittelalterfesten vorgezeigt. In der Romantik kippte dieser Trend vorübergehend und das besondere, handgemachte Einzelstück wurde wieder bedeutend. Hannah Arendt möchte das am Beispiel des Genies erläutern. Bei Kunstwerken wurde es bald üblich, dass nicht mehr das Werk und dessen Ausdruckskraft bewertet wurden, sondern wer signiert hat. Der Künstler war das Kunstwerk, in dem er Einzigartiges zu schaffen vermochte. Der erste Designer war übrigens Charles Frederick Worth (1825 - 1895), er hat das „Label“ als Markenzeichen zu etwas gemacht, was man haben musste und somit den Namen über das Produkt gestellt.
Das hergestellte Ding ist ein Endprodukt. Das Produkt hat einen Zweck, dessen Herstellungsprozess Mittel war und in das Produkt übergeht. Produkt- und Herstellungsprozesse werden heute hauptsächlich von der „Zweck-Mittel-Kategorie“ bestimmt, weder der Nutzen noch die Zweckfrage eines Produkts sind maßgeblich. Homo Faber stellt alles „um zu“ her, in dem seine Produkte immer Mittel waren, um etwas Nützliches damit zu machen; insofern kam er nie in die Lage, seine Produktionsweise rechtfertigen zu müssen, denn nie hat er im Herstellungsprozess den Zweck gesehen. Im Denken der „Zweck-Mittel-Kategorie“ finden auch weder Folgen noch Schäden ihre Berücksichtigung, diente das ursprüngliche Ziel doch dem wirklichen Nutzen, Arbeitserleichterung. Das ursprüngliche Mittel (die Produktion) wurde zum Zweck-an-sich. Gut ist, was nützt! Die Aporie57 des konsequenten Utilitarismus als eigentliche Weltanschauung des Homo Faber kann man als eine inhärente Unfähigkeit verstehen, zwischen Nutzen und Sinn zu unterscheiden. Hannah Arendt betont , „…, dass Homo Faber „keine andere Kategorie kennt als die Zweck-Mittel Kategorie, und daher unfähig sei „Sinn zu verstehen“; für Sinnhaftigkeit bringt Homo Faber kein Verständnis auf. In der utilitaristischen Weltanschauung sind Nutzen und Nützlichkeit die eigentlichen Maßstäbe für die Welt der Menschen. Dies sei auch der Grund für Homo Fabers „Glückskalkül“, weil innerhalb des Utilitarismus „das um-zu“ der eigentliche Inhalt des „um-willens“ geworden sei, was nur eine andere Art zu sagen ist, daß, wo der Nutzen sich als Sinn etabliert, Sinnlosigkeit erzeugt wird.“58
und die Öffentlichkeit
Homo Faber ist für das Schaffen seiner Werke auf keinen öffentlichen Bereich angewiesen. Werkstätten, Arbeitsräume und Bürostuben sind sein Refugium. In Bürokratien regiert der Typ Homo Faber; und wenn Mensch meint, in Erscheinung treten zu wollen, um auf sich aufmerksam zu machen und zu zeigen „wer er ist“, so widerspricht das Homo Fabers Überzeugung. Ein Handwerker muss nicht zeigen „wer er ist“ – er zeigt, was er gemacht hat. Sein Werk überdauert ihn auf jedem Fall selbst, wenn er unbekannt bleibt. Der einzige öffentliche Bereich, auf dem der Handwerker präsent war und blieb, ist der Waren- und Tauschmarkt. Nicht um andere Menschen zu treffen und zu erfahren „wer derjenige ist“, sondern um seine Waren anzubieten und neue Techniken kennen zu lernen. Die Persönlichkeit und damit das „Wer-einer-ist“, der zu dem steht, was er tut und Verantwortung dafür übernimmt, hat sich weder im Produktionsbereich noch in der Handelsgesellschaft durchzusetzen vermocht.
Die moderne Fertigungswiederholung anhand einer Vorlage unterscheidet sich von Arbeit insofern, als dass es sich beim Arbeiten um das Tun handelt, ohne dafür einen Plan zu benötigen. Herstellen, ist die Verdinglichung einer Idee, die immer einer Planung bedarf. Der Wunsch nach Herstellung einer weiteren Vervielfältigung wird von außen an den Handwerker herangetragen. Ein Meisterwerk wird immer nur einmal gemacht und wenn es nicht auf Anhieb gelingt, übt er seine Handfertigkeit so lange, bis es in Perfektion vor ihm steht. Homo Faber hat sich an Planung, Messen, Wiegen, Einordnen und Regeln orientiert, um jedes „natürlich“ entstandene Chaos seiner handwerklichen Ordnung zu unterwerfen. Die zunehmende Austauschbarkeit seiner hergestellten Waren und Relativierung ihrer Werte sowie die Frage nach dem WIE beraubte Homo Faber seiner fixen Maßstäbe, die für ihn nicht nur Regelwerke, sondern auch Handlungsleitfaden im gesellschaftlichen Zusammenleben waren. Für Homo Faber gibt es keine relativen Normen, Maßstäbe und Gewichte und auch Geld ist nur ein von Menschen geschaffenes Ding, dessen Wert auf Vertrauen basiert und zum Tausch mit etwas anderem eingesetzt wird. Bricht auch noch der sozialorientierte, öffentliche Raum für politisches Handeln weg, entsteht mit Homo Faber an der Spitze der Gesellschaft, ein Klima des Wettstreits, um zumindest Rangordnungen fest zu legen. Jeder befindet sich mit jedem im Wettkampf um den besten Platz, den höchsten Gewinn, das erfolgreichste Unternehmen, etc. Jeder baut für sich einen Bunker, verteidigt sein Eigentum und beharrt auf seinem Standpunkt, nur das individuelle „besser als …“ zählt, die Gesellschaft kommt nicht mehr zur Ruhe. Shoshana Zuboff schreibt: „Weil mehr und mehr dazu gezwungen sind, ihre Lebensbedingungen nur noch zu verwalten, ohne ihre dahinterliegenden Werte zu hinterfragen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines dystopischen Überwachungsstaates, in dem der freie Handlungsspielraum kleiner und kleiner wird. Unterschiedliche Meinungen werden als Spaltung der Gesellschaft und „offene Gräben“ beschrieben. Gräben und Spalten, die zu vermeiden sind und, falls sie auftreten, unbedingt geschlossen werden müssen, um wieder Kontrolle zu erlangen und Konformismus zu schaffen. In Gesellschaften, in denen der Leistungsgedanke alle Lebensbereiche durchzieht und Alles und Jedes nach Zielen und Zwecken bewertet wird, gibt es auch bald nichts mehr, was nicht diesen Kriterien unterworfen wird. In einer auf reine Zweckdienlichkeit ausgerichteten Gesellschaft ist klar, dass das freie, politische Handeln nur so weit akzeptiert und ermöglicht wird, wie es für die Stabilität des bestehenden politischen Systems von Nutzen ist. Solange das System stabil ist, darf auch das Arbeitstier am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.“59
Kapitalismus
Max Webers Theorie zu den Ursprüngen des Kapitalismus in der protestantischen Ethik, ist sein Nachweis, dass ein Teil unserer Handlungen darauf ausgerichtet ist in den Himmel zu kommen.
Stellen wir uns Homo Faber als den Gründer des Kapitalismus vor, dann hat der öffentliche Raum keine Bedeutung für ihn, denn weder Kapital noch Handwerk sind dem öffentlichen Bereich zugänglich. Was Homo Faber übersieht, ist, dass jede Gesellschaft ein Minimum an Öffentlichkeit braucht, um sich der gemeinsamen Wirklichkeit zu vergewissern. In der, der Allgemeinheit zugänglichen Öffentlichkeit wird Realität geschaffen und abgestimmt was wahr und richtig ist. Nur dort kann erkannt werden, wo Realität gemeinsam geteilt und im gegenseitigen Austausch immer neu erfahren wird. Lebt jeder für, ohne Kontakt zu anderen Singularitäten, entstehen lauter subjektive Lebenswirklichkeiten und keine verbindende gemeinsame Geschichte. Laut Harald Welzer ist Wahrheit eine Orientierungsfunktion unter sozialer und kultureller Übereinstimmung. Was und wann etwas im gesellschaftlichen Zusammenleben als wahr gilt, darüber bestimmen sozial definierte Wahrheiten und Übereinstimmungen, die sich in historischen Zeiträumen immer wieder ändern. Was als wahr oder unwahr angesehen wird, gilt im kleinen Bereich der Familie ebenso wie in Regionen oder Ländern. Im Alltagsgespräch ist Wahrheit von der sozialen Konstruktion abhängig und gilt nur dann als wahr, wenn Übereinstimmung herrscht. Kommt jemand aus der Gruppe zu einer anderen Erkenntnis, kommt es darauf an, wie viele sich dem Neuen anschließen oder wie viele in ihrer bekannten Wahrheit verweilen wollen. Will man erreichen, dass Werte in der Gesellschaft sich ändern, muss man dafür sorgen, dass sich die gemeinsam geteilte Wahrheit ändert. Wahrheitsverändernde Funktionen haben vor allem jene Medien, die in der Gesellschaft weit verbreitet sind und regelmäßig konsumiert und geteilt werden. 60 Das Mediengeschehen war von Anfang an auch interessengeleitet und dient entweder der Staatsmacht, den Geldgebern oder deren Eigentümern, aber immer nur kurze Zeit den Interessen der Bürger. Je mehr sich ein Medium Verbreitung findet umso reizvoller die Möglichkeit der Einflussnahme durch Werbung, Inserate oder Artikel.
In Zeiten, in denen Leichtgläubigkeit und Verallgemeinerung zunehmen und der gegenseitige Austausch wegfällt, beginnt der gemeinsam erfahrbare Bereich zu bröckeln. Die Erfahrungen vieler verschiedener Lebenswirklichkeiten durchwirken einander nicht mehr, das Beziehungsgeflecht bekommt an manchen Stellen Löcher, an anderen Stellen wird es dicker und undurchlässiger. Stadtbevölkerung gegen Landbevölkerung, wissenschaftlich Gebildete gegen jene mit schlichten Berufen, Alleinerziehende gegen Millionäre – jeder bleibt in seinem Bereich. Das gab es immer, aber wenn sich Mensch nicht insgesamt für menschlich legitime Rechte einsetzt, beginnt die Zeit, in der jeder gesellschaftsübergreifende Austausch auch staatlich hintertrieben wird. Der diesen notwendigen Austausch ermöglichende öffentliche Bereich muss von den Menschen selbst geschaffen und gepflegt werden.
Die Werktätigkeit des Homo Faber verbraucht Unmengen an Material, welches erst gewonnen und bereitgestellt werden muss. Gewinnen, verändern, bereitstellen, verarbeiten zu etwas – all das hinterlässt Spuren, indem aus etwas ursprünglich „Wertlosen“ etwas „Wertvolles“ erzeugt wird. Gewaltanwendung spielt in jedem Herstellungsprozess eine wichtige Rolle. Sägen, Hämmern, Pressen, Bohren, Nägel einschlagen, nichts formt und ordnet sich von selbst. Aus der Antike wissen wir, dass man sich bei der Schaffung von Gesetzesgrundlagen am Herstellungsvorgang orientiert hat. Bedenkt man diesen Zusammenhang, kann man davon ausgehen, dass bürgerliches Wohlverhalten auch mit Gewalt durchgesetzt werden kann.
Bürokratie – mechanistisches Weltbild
Der Regulierungsstaat ist hervorragend darin, endlose Vorschriften, Richtlinien, Aktionspläne und Verfahrensoptimierungen zu erstellen. Das ist sein Lebenselixier. Veröffentlicht zum Beispiel der National Security Council eine nationale Sicherheitsstrategie, entwerfen auf dieser Basis andere staatliche Aufsichtsbehörden weitere Vorschriften für ihre Bereiche. Die von ihnen beaufsichtigten Behörden verwenden diese, um ihre eigenen Richtlinien zu erstellen – und so weiter. Auf dem Papier sieht der Staat bemerkenswert gut vorbereitet aus. Doch auf dem langen Weg nach unten zu den kleineren Verwaltungseinheiten reguliert sich das System zu Tode. … Die Unzufriedenheit mit diesem System nimmt seit Jahren zu. Der bürokratische, unnahbare Regulierungsstaat erscheint den Bürgern zu Recht als ein verantwortungsscheues Konglomerat, dessen Verwalter viel besser erklären können, warum sich nichts ändert, als eine gestaltende Rolle zu übernehmen. 61
Homo Faber ist zum unangefochtenen Herrscher über alle Weltdinge geworden. Er begann Löcher in die Erde zu bohren, Wälder zu roden und ganze Berge abzutragen. Er widmete sich den Fragen an die Natur von Etwas und entwickelte erste Erkenntnisse, begann später Prozesse anzustoßen, die sonst nur außerhalb der Erde, im Weltall, zu finden sind. Er tauchte in Meerestiefen ab, um nach Rohstoffen zu suchen und stieg zum Himmel auf mit dem Wunsch, irgendwann das Weltall besiedeln zu wollen. Einzig der Zweck-Mittel-Kategorie verpflichtet wurden weder die aufstrebende Industrie noch die moderne Wissenschaft in die Pflicht genommen, begangene Fehler wieder gut zu machen. Sie, die Wissenschaft, wurde lediglich darin bestärkt weiter zu forschen und gemachte Fehler durch neue Techniken auszubessern. Nach Homo-Faber-Art werden dabei die gleichen Mittel zur Wiedergutmachung angewandt wie schon für den Fehler. Albert Einsteins Zitat: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“, passt in jede Zeit, in der mit blindem Vertrauen auf Fortschritt gesetzt wird. Unbeirrt setzt man den Weg des Fortschritts in animal laborans Manier weiter, ohne in Erwägung zu ziehen, dass man etwas Schädliches auch einfach bleiben lassen könnte. Und eben das lässt an die der Arbeit anhaftende Sinnlosigkeit denken. Die Zeit bevor die Entwertung aller jener Werte begann, für die Homo Faber ursprünglich einstand und in der er Dinge von Wert und Dauer geschaffen hat, war verloren. Homo Faber gelangte zur Erkenntnis, dass er wieder neue gültige Maßstäbe für seine Tätigkeiten finden musste und verlagerte seinen Arbeitsplatz in die neuen Amtstuben. Homo Faber hat sich neuen Dingen zugewandt, die einer anderen seiner Fähigkeiten bedurfte, dem organisatorischen Bereich in den neu entstehenden Nationalstaaten. Ab dem 17. und 18. Jhdt wurde emsig an einer Theorie geforscht, mit der man in wissenschaftlicher Exaktheit politische Institutionen und damit die Verwaltung der menschlichen Angelegenheiten in den neu entstehenden Staaten schaffen konnte.
Prozessdenken
Ein Staat sollte funktionieren wie ein Uhrwerk, ein Bienenvolk (Bernard Mandeville62 ) oder wie jener Superorganismus „Leviatan“ 63,wie ihn sich Thomas Hobbes vorstellte und dabei erstmals in Prozessen dachte. Gemäß der Vorstellung einer Weltmaschine forschte Hobbes daran ein Gemeinwesen zu schaffen, welches wie eine Art künstliches Lebewesen funktioniert. Hobbes Versuch, das planmäßige Vorgehen bei Herstellungsprozessen in die politische Theorie zu integrieren, war insofern von großer Bedeutung, da er als Vertreter des damaligen Rationalismus erstmals versuchte, naturwissenschaftliche Regeln auf menschliche Angelegenheiten anzuwenden. Auch Adam Smith‘ „unsichtbare Hand“ sollte das Zusammenleben neu organisieren und vereinfachen. Obwohl seine unsichtbare Hand nur einmal in seinen Werken vorkommt, führte diese Hand u.a. zum heutigen Homo Oeconomicus und dessen Marktliberalismus, in dem man von jeder staatlichen Regulierung absehen und dem Markt als eine Art Wesenheit möglichst viel Freiheit zugestehen muss. „Die moralischen und religiösen Elemente des Marktfundamentalismus mit seiner Anbetung der Märkte in all ihren Befindlichkeiten (besorgt, deprimiert, nervös, robust, optimistisch) und seinen Propheten, die ihre Orakel auf unseren Bildschirmen interpretieren, mit der Transzendenz des Konsums und der Stammesidentität der Marken sind schon oft beschrieben worden. Wie jede andere Religion kann auch die Religion von Bulle und Bär nur florieren, wenn sie auf das, was vorher war, aufgepfropft wird.“64 Dabei gehörten der liberale Traum und der freie Markt immer zusammen. Die Aufklärer des 17. und 18. Jhdt, die diese Ideen zum ersten Mal umfassend debattierten, waren begeistert von den Möglichkeiten der Märkte und der Möglichkeit, damit eingefahrene soziale Hierarchien zu zerschlagen. Der freie Markt als Antwort auf alle Übel sollte der Gesellschaft dienen, Innovation und Produktion fördern, die Armut bekämpfen und Wettbewerb ermöglichen, aber selbst den radikalsten Denkern des 18. Jhdt wäre es nicht eingefallen Preiskontrollen abzuschaffen, um die wenigen effektiven Steuerungsmittel, über die ein Staat verfügte, auch noch zu unterbinden. Der freie Markt ebenso wie Allmende waren niemals frei. Es bedurfte immer der Aushandlungen und Absicherung durch Verträge. Jeder Markt braucht ein Gemeinwesen mit bindenden Regeln, einen Staat, um funktionieren zu können, er baut auf den Ressourcen und dem Wohlstand des Staates auf. 65
Die Übertragung des mechanistischen Weltbilds auf alle Lebensbereiche wäre zum Scheitern verurteilt gewesen, wenn nicht die Anwendung des Prozessbegriffs auf alle möglichen Lebensbereiche auch gleichzeitig zu einem rigorosen Wertewandel geführt hätte. Die ursprünglichen Werte hatten sich noch nach den alten philosophischen Schulen ausgerichtet, die sich ihrerseits rein an den menschlichen Tätigkeiten orientierten. Aristoteles schreibt darüber in seiner „Metaphysik“, dass das praktische, rein planende Denken und die politische Wissenschaft zu den untersten Formen des Erkennens gehören, denen das praktische Wissen, welches das Herstellen begleitet, übergeordnet ist. Aus ursprünglicher, philosophischer Sicht stehen Anschauen und Herstellen in enger Beziehung zueinander. Von Platon und Aristoteles bis in die Neuzeit wurde philosophische Tiefe daran gemessen, wie begriffliches Denken dem Staunen gerecht werden könnte.
AUFKLÄRUNG
Zu keiner Zeit davor hat es im Leben und Denken der Menschen derartige Umwälzungen gegeben wie zu Descartes‘ und Galileis Zeiten. In der frühen Neuzeit hielt das mechanistische Weltbild Einzug, welches sich an einem menschlichen Herrschaftsbild orientierte, das sich die Welt untertan macht und sie nach seinen Bedürfnissen umgestaltet. Wenn Hannah Arendt von der neuzeitlichen Weltentfremdung schreibt, dann meint sie diejenigen Entfremdungstendenzen, in denen sich Mensch als Herrscher über alle Natur sieht und den eigenen Ursprung als Naturwesen abschüttelt und beginnt in die Natur hinein-zu-handeln.
In-die-Natur-hinein-Handeln hat mit kleinen Versuchen begonnen. Aus den Versuchen wurden Fertigkeiten, die unsere Welt auch nachhaltig negativ veränderten. Heute ist die naturwissenschaftliche Forschung in der Lage Vorgänge in Gang zu setzen, deren Folgen unabsehbar sind und einmal begonnen nicht mehr ohne weiteres rückgängig gemacht werden können. Im breiten Feld der Forschung lassen sich viele Dinge finden, die wir besser nicht fertig ausreifen hätten lassen. Selbst wenn ursprünglich etwas eine gute Sache war, Mensch ist in der Lage alles so lange zu optimieren, bis es sich letztendlich gegen ihn selbst richtet.
Mit zunehmender Vorrangstellung der industriellen Produktion nahm auch der Bedarf an naturwissenschaftlichen Experimenten zu. Nahrungsmittelknappheit durch Ernteausfälle führten zu einer veränderten Fragestellung. Aus den Fragen über das „WAS es ist“ und „WARUM etwas ist“ wurde die moderne Frage nach dem „WIE funktioniert etwas?“ und „WIE können WIR das auch, und noch besser machen!“. Wie können mehr Lebensmittel bereitgestellt werden? Wie kann man die Natur zähmen, Flüsse eindämmen und Äcker trocken legen? Dazu wollte man so viel wie möglich über natürliche Vorgänge lernen, Abläufe studieren und selbst nachahmen, um nicht mehr den Unbilden der Natur ausgeliefert zu sein. Die veränderte Fragestellung und die Ähnlichkeit zwischen einer Versuchsanlage für Experimente und einem Herstellungsvorgang, bewog Homo Faber vorerst einmal, sich der Wissenschaft und ihren Experimenten zu widmen. Die Vielzahl an neuen Erkenntnissen führte zu einer übergeordneten Erkenntnis, nämlich, dass man nur wirklich wissen konnte, was man selbst in Erfahrung gebracht hatte. Was Mensch selbst herstellen kann, macht ihn von Natur und Umwelt unabhängig.
Die auf Versuchsanordnungen begrenzten Tätigkeiten, Beobachten und Ablesen, entsprechen dann aber doch nicht Homo Fabers handwerklichem Naturell. Vor allem dann nicht, wenn der Prozess-Begriff an die Stelle des Seins-Begriffs rückt. Herstellen ist für ihn Mittel zum Zweck und nicht Zweck in Form eines Prozesses. Wenn dann auch noch der Prozess etwas ist, was nur anhand von Datenreihen erfasst werden kann, fällt jeder Bezug zum Selbstgeschaffenen weg. Handwerker erschaffen Dinge, Wissenschaftler schaffen Wissen. Nun galt auch für den Herstellungsprozess das Bild einer verkehrten Welt66, in der Entwicklung und Produktion wichtiger wurden als der Zweck eines Gegenstands.
Die durch die neuzeitliche Naturwissenschaft ermöglichte Naturbeherrschung zog laut Hannah Arendt aber auch die weitaus größte Konsequenz – die Erdentfremdung – nach sich. Die Beherrschung der Natur und die Verringerung ihres Bedrohungspotentials degradiert Natur zur schönen Kulisse unseres Daseins, der man sich mit den geeigneten Mitteln jederzeit entledigen kann. Hartmut Rosa beschreibt es als Entfremdung durch bloße Weltreichweiten-Vergrößerung, ohne sich jemals etwas anzueignen. Mit Satelliten weiter hinaus. Mit Mikroskopen weiter hinein. Mit dem Flugzeug weiter weg. Alles muss jederzeit technisch beherrschbar und verfügbar sein.67 Ohne sich auf etwas einzulassen und damit in Resonanz zu treten, entsteht keine Beziehung zu den Dingen, die uns umgeben. Man sieht etwas, um es gesehen zu haben, genießt, um genossen zu haben, verreist, um verreist gewesen zu sein. Naturwissenschaften, die auf Naturbeherrschung abzielen, reduzieren den Naturbegriff auf physikalische und berechenbare Formeln und entziehen so der Natur als etwas Wertvolles und zu Bewahrendes die Aufmerksamkeit. Es gibt dann keinen Wert an sich mehr den die Natur vermitteln könnte. Sowohl die Kosten der Naturzerstörung als auch der Gewinn, den wir aus dem Vorhandensein von intakter Natur und ihrer beständigen Produktionsleistung erzielen, gerät aus unserem Wahrnehmungsbereich und tritt erst wieder ins Bewusstsein, wenn etwas nicht mehr da ist oder nicht mehr funktioniert. Harald Welzer meint dazu, unser Wohlstand ist nicht auf Können und unsere Innovationsfreudigkeit zurückzuführen, sondern auf das Vorhandensein aller notwendigen Güter, die wir nahezu kostenlos und unbepreist aus der Natur entnehmen.68
Die ersten neuzeitlichen Entfremdungstendenzen, auch in kultureller Hinsicht, haben die bisher gültigen Gesellschaftsstrukturen zerfallen lassen. Schon damals haben unablässige Selbstkontrolle, Selbstbeobachtung, Selbsterkenntnis und Selbstoptimierung die fehlende Bodenständigkeit nicht zurück gebracht, sondern nur dazu geführt, dass allerhand Geräte entwickelt wurden, die uns Beobachtungstätigkeiten und Kontrolle abnehmen in der Hoffnung, dass aus den Fugen geratene Leben wieder zu stabilisieren. „ Die Moderne ist ein Produkt der Angst. Im Kern ein Versuch des Menschen sich selbst Sicherheit zu schaffen, als es ihm dämmerte, dass kein Gott sie ihm bereiten kann. Waren bis in die Mitte des 18. Jhdts die meisten Menschen Europas noch davon überzeugt, dass Gott der Herr der Geschichte ist und Katastrophen Teil eines höheren Sinngefüges, mit denen der Allmächtige sündige Menschen straft, so bricht dieser Glaube im Laufe des 19. Jhdts in sich zusammen. Die Industrialisierung reißt die Menschen aus ihren seit Jahrhunderten vertrauten Lebensräumen und katapultiert sie in die Trostlosigkeit der explodierenden Städte an Hochöfen, Bergwerken und in Produktionshallen. Damit gehen zugleich traditionelle Sozialgefüge und Rollenvorstellungen unter. Die durch Rituale und Feiern gegliederte Lebenswelt zerbricht. Das trostspendende Vokabular des Christentums mit seinen agrarischen Bildern wird zunehmend unzeitgemäß.“69
Nach der französischen Revolution begann mit Descartes im 17. Jhdt eine neue Zeit mit unbändiger Freude über alles Moderne. Die philosophischen Strömungen seit Descartes unterscheiden sich von vorangegangenen Philosophien durch eine intensive Suche nach Möglichkeiten das Selbst zu betrachten und alle gemachten Erfahrungen auf das Bewusstsein zu reduzieren. Denn mit dem Schwinden der kirchlichen Allmacht schwand auch der Glaube an ein gutes Leben im Jenseits. Müde nach der Zeit der vielen Kriege und Kämpfe, der Ausbeutung und der Armut blieb also nichts anderes mehr, als sich auf sich selbst zu besinnen und das eigene Innenleben zu durchforschen. Die rasante Ausbreitung der modernen Gesellschaft hat jahrhundertealte Traditionen über Bord geworfen und viele Veränderungen erzwungen.
Galilei
Galileis Demonstration der Gesetze der fallenden Körper hielt man lange für den Beginn der modernen Naturwissenschaft, aber ohne die Erfindung des Fernrohrs hätte es wohl kaum so früh einen Weg zur modernen Astrophysik gegeben, schreibt Hannah Arendt. Die Zeit war reif. Bald nach Galileis Demonstration folgte der Versuch, das Gesetz der fallenden Körper auch auf Bewegungen der Himmelskörper anzuwenden.
Dennoch war nicht Galilei der erste, der die Erde im Weltall verortete und Himmel und Erde trennte, sondern die antike Philosophie. Die Astronomen ihrerseits bedurften wiederum nicht erst des Teleskops, um festzustellen, dass die Erde um die Sonne kreist. Vor Galilei haben bereits die Philosophen Nicolaus Cusanus und Giordano Bruno sowie die Astronomen Kepler und Kopernikus das zentristische Weltbild in Frage gestellt. Der damalige Wissensdurst, gepaart mit Unbedarftheit, führte zu tiefgreifenden Erkenntnissen, indem natürliche Vorgänge auf das Weltall angewendet wurden. Die Unerschrockenheit, mit der herkömmliche Lehren in Frage gestellt wurden, bezahlte man nicht selten mit dem Tod wie Giordano Bruno, der 1600 als Ketzer am Scheiterhaufen hingerichtet wurde. In Zeiten, in denen man allzu leicht zum Ketzer gestempelt und gefoltert wurde, war es dann oft das geringere Übel, für abweichende Ansichten keine Aufmerksamkeit zu erlangen. Solange die Astronomen sich mit ihren mathematischen Formeln beschäftigten, unter sich blieben und ihre Ideen nur im kleinen Kreis diskutierten, nahm die kirchliche Gemeinschaft auch kaum Notiz von ihnen. Das änderte sich schlagartig, nachdem Galilei mit seinen Beobachtungen die ersten Hypothesen bestätigte. Eine neue Wirklichkeit war geschaffen und konnte nicht mehr unbeachtet bleiben. Das bisher vorherrschende Weltbild geriet ins Wanken und führte zu Descartes‘ Zweifel und zu Nietzsches „Schule des Misstrauens“ wie er sie einmal nannte und meinte, dass „nur auf der festen Grundlage einer unnachgiebigen Verzweiflung fortan die menschliche Seele sich ihre Heimatstätte mit Gewissheit bauen kann.“
Die Vorstellung einer die Sonne umkreisenden Erde war schon länger als Idee bekannt, konnte aber nicht bewiesen werden. Ideen entstehen zu unterschiedlichen Zeiten an mehreren Orten, an ihnen zählt nicht das Neue, sondern ihre zeitlose Allgegenwärtigkeit. Jeder kann, rein durch Beobachtung, einen ähnlichen Schluss ziehen. Was vor Galilei niemand getan hatte, war, dass er ein künstliches Hilfsmittel benutzte, um die Möglichkeiten einer sinnlichen Wahrnehmung zu erweitern. Damit konnten Regionen, die bisher der Spekulation vorbehalten waren, nun direkt beobachtet werden. Im Wesen der Ferne liegt, dass sich alles in eine indifferente Menge auflöst und sich jede Menge in Konfigurationen fügt, die der mathematischen Kurve zukommen, wenn man beweisen kann, dass sich ein mathematisches Formelsystem für jedes Universum finden lässt, dann kommt der Tatsache, dass unser Weltall sich rein nach zu berechnenden Gegebenheiten ausrichtet, keine philosophische Bedeutung mehr zu, schreibt Hannah Arendt. Mit Descartes‘ analytischer Geometrie70 gelang es, Numerisches auch räumlich darzustellen. Damit war eine physikalische Wissenschaft entstanden, die nur mehr auf mathematische Prinzipen angewiesen war und deren Strukturen dem entsprechen, was der Mensch in der Lage ist zu erkennen.
Kontemplative Betrachtung schied zum Erkenntnisgewinn zunehmend aus. Gewissheiten mussten auf anderem Weg erlangt werden. Galileis Überzeugung war, dass man nur durch Experimente, Versuch und Irrtum zu universell gültigen Ergebnissen kommt. Jeder Versuch, jedes Misslingen führt zu mehr Wissen, mehr und umfangreicher als sie durch reine Betrachtung je hätten werden können. Diese in der Praxis und im Labor erzielten Erkenntnisse können immer wieder aufs Neue korrigiert oder bestätigt werden. Für Hannah Arendt stellt Mathematik ein Erkenntnisideal dar, das noch nicht einmal indirekt mit Gegenständlichem befasst ist. Gemeinsinn wiederum, so findet Aristoteles, sei der Sinn, durch dem sich die Gemeinsamkeit der Welt dem Menschen erschließt und alle Sinneswahrnehmungen verbindet – das Sehen mit dem Fühlen und das Riechen mit dem Schmecken. Durch die Verbindung der wahrgenommenen Unterschiedlichkeiten können wir schlussfolgern, was es ist.
Descartes
Vernunft ist bei Descartes wie bei Hobbes die Fähigkeit des Schlussfolgerns und Induzierens, das ist es auch, was in der Neuzeit unter gesundem Menschenverstand verstanden wird. Die alte Definition, den Menschen als animal rationale zu bestimmen, erhält hier ihre besondere Stimmigkeit als das Wesen, welches sich von anderen Tieren durch die Fähigkeit des Schlüsse Ziehens unterscheidet.
Descartes hat nicht einfach nur gezweifelt, befürchtet oder festgestellt, dass alles, was er wahrnimmt oder jemals wahrgenommen hat, womöglich falsch ist oder gar nicht existiert. Es war die Zeit der Aufklärung und des generellen Hinterfragens. Ursprünglich ging es darum neuen Erkenntnissen Raum zu geben, Forschende und ihre Entdeckungen nicht zu verurteilen, sondern sie ohne Angst weiter forschen zu lassen und das entstandene Wissen zu verbreiten. Emanuel Kant hat in seinem Aufsatz „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ den Satz „Wage zu wissen!“ (Sapere aude 1784) als Leitspruch der Aufklärung bekannt gemacht. Jeder ist demnach selbst dafür verantwortlich Wissen zu erlangen und sich dabei nicht auf andere zu verlassen, die einem sagen, was richtig oder falsch ist. Die Aufklärung des 18. Jhdts hat die Menschen darin bestärkt, sich zu informieren und ihre Meinung zu äußern.
Descartes‘ Zweifel ist umfassend, beginnt bei der Fehlbarkeit seiner Sinneswahrnehmungen, nagt an seiner Vernunft und befällt dann auch noch seinen Glauben. Sein Glauben beruht auf der Nachvollziehbarkeit seiner Wahrnehmung; und wenn sich nicht nachvollziehen lässt, worauf der Glaube beruht, gibt es für niemanden mehr irgendeine Gewissheit. Was den kartesischen Zweifel so bedeutend macht, ist nicht einfach die Theorie, dass der menschliche Verstand der Wahrheit nicht mächtig wäre. Es ist vielmehr das Unbehagen über die Frage, ob denn Sichtbarkeit als Beweis für Wahrheit gelten kann, denn bisher hat dies niemand angezweifelt. Dass sich viele Menschen im gleichen Maße irren können, wie beim Bild einer die Erde umkreisenden Sonne, zeigt das gesamte Ausmaß des Misstrauens und der daraus resultierenden Erkenntnis, dass sich Wahrheiten womöglich nur noch durch technische Hilfsmittel erkennen lassen.
In diesem Sinn hat Descartes vielleicht schon vermutet, was die Gesellschaft mit ihrem Glauben noch zu verlieren droht, ihre Kultur, ihre sozialen Strukturen und ihre stabilisierenden Werte. Geht der Glaube verloren, verlieren die Menschen den sinngebenden Halt und suchen nach anderen vielversprechenden Ideologien – der Mensch bedarf der Metaphysik schon allein aus dem Bewusstsein heraus, eine kosmische Besonderheit darzustellen. Die Vorstellung eines bösen (Gottes-) Geistes, der den Körper bewusst in die Irre führt, will Descartes aus der Welt schaffen. Er meint, wenn Gott diese Welt geschaffen hat wie sie ist und ich zweifle an ihr, bin ich es der zweifelt, es liegt an meinem Denken und nicht an dem, was ich in der Welt vorfinde. In diesem Sinne wollte er beweisen, dass man sowohl an einen Gott als auch an eine unsterbliche Seele glauben kann, auch wenn man versucht, natürliche Phänomene, mittels Kausalerklärungen zu belegen. So folgt dem Zweifel der angemessene Schluss, dass Stimmigkeit und Nachvollziehbarkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis einen guten Kompromiss darstellen. Auch wenn der Menschen Geist nicht Maß der Dinge und der Wahrheit ist, so Descartes‘ Überzeugung, kann er doch zweifellos das Maß dessen sein, was er bejahen oder verneinen kann. Gibt es keine Wahrheit, so kann es doch Wahrhaftigkeit geben und Verlässlichkeit, wo Gewissheit unmöglich ist. Die Lösung der sich ergebenden Probleme konnte wieder nur aus dem Zweifel kommen, denn wenn alles zweifelhaft ist, ist nur der Zweifel wirklich. Descartes schließt von der logischen Evidenz, dass wenn ich zweifle, ich mir des Zweifelns bewusst sein muss, auf eine den Bewusstseinsvorgängen inhärente Gewissheit und eröffnet damit der philosophischen Forschung ein neues Feld: das der Selbstreflexion.71
Noch bevor die aufkommenden Geisteswissenschaften der Frage nachgehen wollten: „Wenn das Bewusstsein auch nur ein Teil der eigenen Wahrnehmung ist und nie mit der Außenwelt in Berührung kommt, ist der Mensch dann überhaupt fähig, etwas außerhalb seiner selbst Stehendes in seiner Gesamtheit zu erfassen?“, haben die neuzeitlichen Umwälzungen bereits dafür gesorgt, dass Mensch sich selbstreflexiv in sein Bewusstsein zurück zieht. Ein real existierender, tatsächlich gesehener Baum ist als Erinnerung ebenso im Bewusstsein verankert, wie ein Baum als Gegenstand eines Traums, aber weder der eine noch der andere Baum können aus dem Geist heraus je reale Gestalt annehmen. Das Geniale an der Selbstreflexion und Grund für deren Einfluss auf die intellektuelle Entwicklung liegt unter anderem darin, dass der Zweifel an einer real existierenden Außenwelt dadurch gebannt wurde, dass es alles weltlich, gegenständliche außen vor lässt; und was hätte die moderne Denkart besser auf die zukünftigen technologischen Entwicklungen vorbereiten können als die Auflösung der objektiven Welt in subjektive Bewusstseinsdaten.
Die Fragestellung, „… ob man ohne Körper denken kann“ 72 führt Descartes zur Erkenntnis, dass man nicht nur kann, sondern muss, wenn alles, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können, zweifelhaft ist. „Einzig daran, dass ich es bin, der zweifelt, wenn ich an allem zweifle, kann ich nicht zweifeln. Hier ist eine Täuschung, selbst durch einen bösen Gott (deus malignus) unmöglich. Alles, so Descartes, kann von mir getrennt werden, ohne dass ich diese Selbstgewissheit des Denkenden einbüße: „Ich“, das ist bei Descartes eine Funktion, keine körperliche Figuration, kein Mensch, kein „Gefüge von Gliedern,“ … Andererseits kann ein körperloses ICH nicht denken, da es nichts hat, worauf es sich beziehen kann, nichts fühlt und nichts wahrnimmt, es weiß also auch nicht, ob es irrt oder zweifelt.
Descartes‘ Selbstreflexion „Cogitatio“ hat den eigenen Bewusstseinsinhalt zum Gegenstand. Hier begegnet der Mensch immer nur sich selbst. Das „sich-seiner-selbst-bewusst-Sein“ ist dem ständigen Zweifel eine beruhigende Antwort, in dem es zwar nichts über die Wahrhaftigkeit des Wahrgenommenen aussagt, aber man weiß zumindest, dass man es selbst ist, der wahrnimmt. Für René Descartes und die, die ihm folgen, stellt die Aussage „Ich denke, also bin ich“ (cogito, ergo sum) einen archimedischen Punkt73 dar, denn auch wenn ich denke „Ich bin nicht“, sei da zweifellos ein Ich, das denkt. In Descartes‘ Satz: „Ich denke mich denkend“ bezweifelt er nicht die Existenz von Wahrheit an sich, sondern sieht Wahrheit als das, was einer gedachten Wirklichkeit entspricht.
Die sich durch die Entdeckung des archimedischen Punkts ergebende Problematik umgeht Descartes dadurch, dass er diesen Punkt, der eigentlich weit außerhalb der Erde liegt, in den Menschen selbst verlagert, der nun seinen Bezugspunkt selbst wählen kann. Dieser Winkelzug erlaubt, mathematische Gleichungen und Beweise an die Stelle sinnlicher Wahrnehmungen zu setzen. Es erlaubt der Wissenschaft die Übersetzung aller Phänomene und Prozesse in Formeln und Symbole, womit es der Wissenschaft möglich wird, sich in einer Welt zu bewegen, die zum Erkenntnisgewinn keines Gemeinsinns mehr bedarf. Der Mensch soll sich nicht mehr daran orientieren, was er sieht oder hört, sondern den wissenschaftlichen Erkenntnissen folgen. Aus der Verankerung des archimedischen Punkts in den Menschen selbst eröffnet sich die Möglichkeit, die „verkehrte Welt“ ständig bei sich führen zu können. Das war zwar wegbereitend für Mathematik und technische Physik, aber der umfassende Zweifel konnte damit nicht zerstreut werden.
Aus Descartes‘ Zweifel ist Nietzsches Verzweiflung an einem denkenden Ich geworden. Nietzsche fragt „ wer oder was der Mensch ist, wenn kein göttlicher Logos die Welt durchwaltet, an dem und an dessen Wahrheit der Mensch durch seinen forschenden Geist Anteil gewinnen vermöchte“ Nietzsche hat den Verlust der alteuropäischen Geistmetaphysik im Zusammenhang mit Darwins Evolutionstheorie gesehen und will den durch den Darwinismus an den Tag beförderten Schrecken des Daseins in einem schönen Schein verhüllen. Seine Philosophie, so erklärt er, ist umgedrehter Platonismus, je weiter ab vom wahrhaften Seienden, um so reiner und schöner ist es. Das Leben im Schein als Ziel. Mit dem Schlüsselsatz „Alles ist das Ich“ vertritt er eine Art empirischen Idealismus74.
Philosophie
Die philosophische Theoriebildung als eine durch Denken gewonnene Erkenntnis wurde auf den Platz bloßer Arbeitshypothesen verwiesen. Über ein Problem nachzusinnen, um betrachtend in Kontemplation versunken einer Theorie auf den Grund zu gehen, wurde seit der Etablierung der exakten Wissenschaften für überflüssig und unproduktiv angesehen. Die Wissenschaft erhob kaum noch den Anspruch darauf eine letztgültige Wahrheit finden zu wollen und hatte auch mit dem ursprünglichen, philosophischen Wahrheitsbegriff nichts mehr gemein. Dabei waren es nicht die Fragen nach einer Wirklichkeit, die die Philosophie in Bedrängnis brachten. Es war die Methode. Die Philosophie hat keine Möglichkeit, jene sich wiederholenden und damit beweisbaren Ergebnisse zu liefern, die der geforderten Wissenschaftlichkeit entsprechen. Die Philosophie als Impulsgeber und Welterklärer verlor ihren Halt in der Gesellschaft und damit ihren Anspruch auf fachübergreifende Kompetenz. Mehrere Versuche, einen neuen Platz zu finden, scheiterten an der kurzen Dauer mancher ideologischen Strömungen, die in der Flut ständig neuer, sich überholender Erkenntnisse nicht bestehen bleiben konnten. Die vormalige Deutungshoheit, mit der sich Philosophie in vielen Bereichen einbrachte und fachübergreifende Überlegungen anstellte, konnte nicht zurückgewonnen werden, sie kämpfte um ihre Daseinsberechtigung. Die neue Wissenschaft genügte sich selbst, musste weder allgemein verständlich noch der allgemeinen menschlichen Vernunft zugänglich sein und wies den Weg zur experimentellen Grundlagenforschung.
Zur gleichen Zeit kam auch die politische Philosophie in Bedrängnis, denn auch sie hatte keine Antworten mehr auf die Fragen der voranschreitenden Technologisierung und wissenschaftlichen Entwicklungen. Die ursprünglich generalistisch denkenden Philosophien spalteten sich immer weiter in spezialisierte geisteswissenschaftliche Richtungen. Was in der Philosophie der späten Neuzeit geschah, war nicht nur jenen Unsicherheiten geschuldet, die durch eine als trügerisch empfundene Wirklichkeit hervorgerufen wurden. Die Gesellschaft zieht sich in sich selbst zurück und entdeckt in der Selbstreflexion des Bewusstseins eine Art inneren Sinn mit eigenen Gesetzmäßigkeiten. Die Erforschung der sich ständig ändernden Wahrnehmungen und Empfindungen ebnet den Weg für neue philosophische Wissenschaften. Die Pädagogik, Psycho“physik“ und Sozialwissenschaften entstanden. Seit Platon in seinem Höhlengleichnis aus „der Staat“ die Philosophie dazu aufruft umzukehren und damit die Abkehr von der homerischen Weltordnung einläutet, ist klar, dass es Umkehrungen von Wertigkeiten immer gegeben hat. Die Geschichte der Philosophie ist auch eine Geschichte des gesellschaftlichen Wandels, der Ab- und Hinwendungen, und lehrt, dass sich Systeme nicht nur ändern können, sondern müssen, wollen sie in unruhige Zeit ihr Überleben sichern.
Seit Descartes seine Philosophie an wissenschaftlichen Ergebnissen auszurichten versuchte, versuchte die Philosophie, in den neuen Wissensgebieten Fuß zu fassen, hinkt tatsächlich aber immer hinterher. Die Philosophen wurden entweder Wissenschaftstheoretiker, ohne dass die Wissenschaft von ihren Theorien Gebrauch machte, oder sie wurden, wie Hegel forderte, Ausdrucksorgane der Zeit, in dem sie jeweilige Gestimmtheiten in begrifflicher Exaktheit wiedergaben. Ob nun die Philosophie sich als Naturphilosophie oder Wissenschaftstheorie an den Naturwissenschaften orientiert oder als Existenzphilosophie an den Geschichtswissenschaften, ihr Bemühen etwas zu verstehen und sich mit einer Wirklichkeit, die ohne sie zustande gekommen ist, auszusöhnen, möchte man meinen, dass der menschliche Geist auf keinem anderen Gebiet so große Einbußen erlitten hat, schreibt Hannah Arendt.
Die pragmatische Orientierung der neuzeitlichen Philosophie hat der kartesischen Weltentfremdung auch noch das Nützlichkeitsprinzip als oberstes Leitprinzip hinzugefügt. Der Mensch stellt nun selbst fest, was seinem Denken über Nützlichkeit entspricht. Die alte Überzeugung Homo Fabers, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist, wird zum allseits akzeptierten Gemeinplatz. Als produktiv gilt nur, womit Mehrwert geschaffen werden kann, und Denken schafft keinen Mehrwert, sondern gilt als Zeitvertreib für jene, die es sich leisten können. Denken oder etwas zu tun, woraus kein finanzieller Nutzen gezogen werden kann, gilt damit als sinnlos. Die damit einhergehende Beurteilung politischen Handelns nach Prinzipien des Herstellens ist demnach ebenso dazu verdammt „nützlich“ und „produktiv“ zu sein. Zeit für Muße bleibt da keine mehr, und selbst Marx hat es nicht anders gesehen, als dass man den legitimen Anspruch der Arbeiterklasse nach Gerechtigkeit ausschließlich an deren Produktivität messen muss.
Wissenschaft
Anstatt wie bisher der Natur zu vertrauen und ihr so zu begegnen, wie sie ist, begannen Mensch Apparate zu bauen, die ihm dabei helfen, noch genauer hinzusehen und zu erkennen, wie die Natur funktioniert und wie sie beschaffen ist. Der sich daraus ergebende Zuwachs an Wissen ist nicht zu leugnen und war für vieles, was wir heute wissen, tragfähige Basis, auf die nur noch aufgebaut werden musste. Das Misstrauen gegenüber unseren Empfindungen und die Angst davor getäuscht zu werden führten zur Entwicklung immer besserer und genauerer Apparaturen, deren Erkenntnisgewinn hauptsächlich dazu dient die Kontrolle zu behalten oder wieder zu erlangen. Der Wunsch, alles bis ins kleinste Detail sehen und berechnen zu können, blieb dabei nicht ohne Konsequenz. Die Welt ist atomisiert, wir schenken immer kleineren Kleinigkeiten Beachtung, die Blickwinkel sind kleiner geworden, der geistige Horizont enger und spitzfindig auf Details fokussiert; das große Ganze, das Zusammenspiel verschiedener Systeme und ihre Abhängigkeiten voneinander haben wir dabei völlig aus den Augen verloren. Das archimedische Verlangen, einen Punkt außerhalb der Erde zu wissen und damit die Erde aus den Angeln zu heben, hat sich nur unter den Bedingungen eines Wirklichkeitsverlusts erzielen lassen. Immer noch an die Erde gebunden werden menschliche Belange so gehandhabt, als hätte unser Handeln keinen Einfluss auf das irdische Leben. Wir können nach Belieben schalten und walten, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen.
Unter Laborbedingungen folgten auf Hypothesen kontrollierte Experimente. Wenn man sich über das WIE klar wurde, konnten Vorgänge unter Naturbedingungen in Gang gesetzt werden. Nach dem WIE folgte keine weitere Frage nach dem „WARUM“, keine Frage nach den Risiken und keine Frage nach Langzeitfolgen. Wesentlicher war die Fortschrittlichkeit der Forschung. Jeder Erfolg machte sicherer, dass sich mathematische Berechnungen unabhängig von Naturbeobachtungen anstellen ließen und bequem vom Schreibtisch und später vom Computer aus vorgenommen werden können. Man musste nicht mehr abwarten, bis etwas passierte, sondern konnte für vieles Analysen, Konzepte und Prognosen anstellen, deren Ergebnisse in Form von Tabellen, Formeln, Computersimulationen und Diagrammen angeliefert wurden. Das permanente Hinterfragen von Ergebnissen blieb und wurde Wissenschaftsalltag. Viele Forscher glauben, der Natur näher zu kommen, wenn sie im Labor immer weiter nach dem WIE fragen. Aber das Wesen der Natur lässt sich auch im Wissen nach dem WIE nicht erkennen und zeigt hier die Grenzen jeder forschenden Aktivität, nämlich, dass sich sowohl die Natur der Erde als auch die des Weltraums jeder sinnlichen Wahrnehmung, auch jenen entzieht, die um das WIE wissen. Mit Verschwinden des sinnlich Gegebenen schwindet auch das Übersinnliche und damit die Möglichkeit beides zu denken und sich darin zu Hause zu fühlen.
Eine auf Formeln reduzierte Wissenschaft setzt sich über alle Sinneswahrnehmungen hinweg und lässt keinen Raum für Spekulation, Vermutung, Vertrauen oder Metaphysik. Auch für unsere Zukunft werden Berechnungen angestellt, aber Zukunft kommt einfach und hält sich nicht an lächerliche Menschenprognosen. Dabei wäre es in Zeiten großer Umbrüche, und die erleben wir gerade, zu fragen wohin wir wollen und was zu tun wäre.
Vor nicht allzu langer Zeit wurde „Fortschritt zum Ziel an sich“ definiert. Fortschreiten, nicht stehen bleiben und schon gar nicht zurücktreten prägt die Gesellschaft heute mehr denn je. Dabei wären Stehenbleiben und Zurücktreten genau das Richtige, um erstens den Weg wiedererkennen zu können und zweitens zu fragen, wo wir eigentlich in diesem Tempo hin wollen. Was muss verändert werden? Was muss bewahrt werden und in die Zukunft mitgenommen werden? Wie wollen wir leben? Brauchen wir tatsächlich Reisen zum Mars? Brauchen wir Androiden?
Wirtschaft
Mit Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsform bekommen Wirtschaftsinteressen Vorrang vor öffentlichen Interessen. Die Wirtschaft soll sich ohne politische Eingriffe und frei von gesellschaftlicher Verantwortung entfalten können. Die aufstrebenden Industrien verlagern damit ihre wirtschaftlichen Herausforderungen in die öffentliche Hand, beanspruchen damit aber staatliche Unterstützung und Gewährleistung finanzieller Sicherheit. Wie man heute sagt: „Kosten, Verluste und die Reparatur von Umweltschäden werden sozialisiert, Gewinne werden privatisiert und kommen nicht mehr der Allgemeinheit zugute. Das stückweise Abrücken von der bürokratischen Theorie hin zur politischen Praxis ließ Homo Faber an die höchste Stelle menschlicher Tätigkeiten rücken. Mehr denn je zeigt sich heute das typische Verhalten des Handwerkers, nämlich die Tendenz, jede Handlung nach ihrem Wert, in Form eines möglichen Ertrages, zu beurteilen.
In John Lockes Wirtschaftstheorie spielte das Wort „Worth“ (Geldwert, Bedeutungswert, …) noch eine Rolle, wurde später aber durch den Ausdruck „Value“ (Tauschwert, Gebrauchswert) ersetzt. Seither dominiert in der unternehmerischen Praxis die Gleichsetzung von Geld und Wert. Dadurch machte man beides an jenem „Wert-Punkt“ fest, der auf Schätzen, Bewerten und Taxieren zurückgeht. Die Verquickung von „worth“ mit „value“ führte dazu, dass es etwas mit Wert-an-sich nicht mehr gibt. Was in dieser Bewertung zählt, ist der Wert eines Dings im Vergleich mit und im Verhältnis zu einem anderen Ding. Im Vergleich Ware mit Ware wird alles relativiert und nach subjektiven Kriterien beurteilt.
Alles natürlich Vorhandene wird zum „gratis“ verwertbaren Material, da Naturdinge keinen Wert-an-sich haben. Was gebraucht wird, wird der Natur entnommen, auf einem Markt angeboten und erhält dort einen Marktwert, der dem entspricht, was jemand bereit ist auszugeben. Was immer man nimmt, erst der Umstand, dass es jemandem Nutzen bringt, verarbeitet werden kann und damit Mehrwert schafft, macht etwas an sich Wertloses wertvoll. In erschreckender Weise kann man sehen, wie Tiere zu auf Hochleistung getrimmtes Gebrauchsmaterial werden. Der Kontakt zu Nutztieren wird in modernen Ställen weitgehend eingeschränkt. Man hält das Vieh auf Distanz, um schädlichen Emotionen erst gar nicht entstehen zu lassen und es immer mehr als nützliches Ding behandeln zu können. Für der Tiere Wohlergehen wird kaum noch Verantwortung übernommen, selbstredend führt diese Abkapselung zu Verrohungstendenzen in der Landwirtschaft. Es kann nicht mehr lange dauern, dann sind auch Menschen nur noch arbeitendes Material, wie der Ausdruck „Humanressourcen“ bereits nahelegt. Die Sklaven der Antike waren im Gegensatz zu heutigen Sklaven wertvoll und konnten nicht beliebig ausgetauscht werden, man musste dafür sorgen, dass sie gute Dienste leisten konnten – ganz im Gegensatz zur industrialisierten Nachschubbeschaffung, die bereits zur Zeit der Kolonialisierung ihren Anfang nahm. „Der Mensch ist arbeitendes Verbrauchsmaterial und wird nach seinem Verschleiß ausgetauscht. Im industriell organisierten Nachschub-System aus Produktion und Bereitstellungsunternehmen kommt es zu keinem Mitarbeiterengpass – Nachschub ist immer gewährleistet.“75
Es gibt aber noch einen anderen, möglicherweise relevanteren Grund, an dem man das Versagen Homo Fabers illustrieren kann. David Humes radikale Kritik an der Philosophie der Überlieferung setzt am Kausalitätsprinzip an. Vieles was uns als Ursache und Wirkung erscheint, muss nicht im Prinzip von Ursache und Wirkung seinen Ursprung haben. Vielmehr ist es häufig eine Vorstellung davon, dass automatisch B auf A folgt. In natürlichen Abläufen folgt B nicht zwangsläufig auf A – es scheint manchmal nur so, als wäre das der Fall. Diese Kritik ebnet dem späteren Evolutionsprinzip den Weg. Der neuzeitliche Wendepunkt in der Geistesgeschichte liegt in der Ablöse vom pragmatischen Bild des Uhrmachers, der alle seine hergestellten Uhren transzendiert, schreibt Hanna Arendt und auf jede gelungene Uhr eine noch bessere folgen lässt. Aus diesem Bild lässt sich eine organische Entwicklung zum immer Besseren hin ableiten. Aus einem niederen Wesen entwickelt sich ein höheres Wesen, bis hin zum Menschen, der sich seinerseits immer weiter entwickelt und verbessert. Nicht nur wir werden immer besser, auch alle unsere Produkte werden es; und das heißt für uns Fortschritt. In einem an dem Phänomen organischen Wachstums abgelesenen Evolutionsvorgangs gibt es aber nichts Kausales, schreibt Hannah Arendt, „… es sei denn, man wolle behaupten, dass die Knospe Ursprung der Blüte ist.“
Liberalismus
Die frühen Ökonomen vermuteten schon bald einen engen Zusammenhang zwischen dem Funktionieren der Wirtschaft und menschlichem Verhalten, wobei ihre Grundannahme war, dass Menschen steuerbar sind und vorhersehbar handeln. Diesen Zusammenhang beschreiben sowohl Adam Smith in seinem Text psychologische76 Prinzipien, als auch Jeremy Bentham, in „Das Prinzip der reinen Nützlichkeit.“77 An diesen Auffassungen hat sich im liberalen Kapitalismus seit der Neuzeit kaum etwas verändert.
Hannah Arendt schreibt über den liberalen Utilitarismus, dass er in eine unhaltbare kommunistische Fiktion über die Einheit der Gesellschaft gezwungen wurde. Hinter der liberalen Unterstellung von einer Harmonie der Interessen steht immer die kommunistische Fiktion eines Grundinteresses, das man dann in allgemeinen Begriffen wie „allgemeine Wohlfahrt“ wiederfindet. Die liberale Ökonomie also ist demnach einem „kommunistischen Ideal“ gefolgt, nämlich „dem Interesse der Gesellschaft überhaupt“. Das Problem dabei: Der Begriff einer Gesellschaft „überhaupt“ läuft darauf hinaus, dass die Gesellschaft als ein einziges Subjekt aufgefasst werden muss. 78 Es war nicht erst Marx, sondern schon die ersten liberalen Wirtschaftstheoretiker, die zu einer „kommunistischen Fiktion“ greifen mussten, von einem Interesse der Gesellschaft sprachen, welches mit „unsichtbarer Hand“ (Adam Smith) das gesellschaftliche Verhalten aller Menschen leitet und dafür sorgt, dass die sich ständig widerstreitenden Interessen auszugleichen.
Auf Enteignung folgte Bürokratie als Kontroll- und Ordnungssystem. Nachdem immer mehr Menschen in die wachsenden Städte kamen und zumindest untergebracht werden mussten, bedurfte es der entsprechenden Ordnungs- und Verwaltungseinrichtungen. Zusammengepfercht hausten die Neuankömmlinge oft unter unerträglichen Wohnverhältnissen. Viele Menschen waren von Krankheit gezeichnet oder durch Unfälle entstellt und mussten ohne jede Unterstützung um ihr Überleben kämpfen. Laut David Ricardo (1772 – 1823) und entsprechend dem damaligen Wissen ist die Vermehrung von Kapital gottgegeben. Im Matthaeus Evangelium (25:29) heißt es: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“ Ricardo meint, dass Armut, Leiden und Übel zum Leben armer Leute gehört und Eingriffe in ihre Lebensumstände nur kurzfristige Verbesserungen mit sich bringen. Da Lohnerhöhungen auf Kosten des Profits gehen, so vermutete er weiter, werden sich Löhne langfristig nur im existenzsichernden Bereich bewegen. Für Adam Smith war ebenso klar, dass die einzige legitime Aufgabe eines Staates im Schutz der Reichen vor den Armen besteht. Keinesfalls besteht sie darin, öffentliche Güter für Notleidende bereit zu stellen, selbst wenn es die Menschlichkeit gebietet ihnen zu helfen. Diese Hilfe aber soll freiwillig von Wohlhabenden, von privaten Organisationen oder aber von Ordensgemeinschaften organisiert werden.
„Der Gedanke einer liberalen Demokratie bildet sich in der Aufklärung aus; und auch wenn die Menschheit heute vielfach in Demokratien lebt, sie zu gestalten und ausgewogen zu bewahren war und bleibt schwierig.“79 „Demokratie und Liberalismus sind unterschiedliche Dinge, wie schon bei Friedrich von Hayek zu lesen war. „Beim Liberalismus geht es um das Ausmaß der Regierungsgewalt, bei der Demokratie darum, wer diese Gewalt ausübt“; und Ingeborg Maus 80 erklärt „, … dass der kulturelle Liberalismus in einem gewissen Widerspruch zum Konzept der Demokratie steht, der sich auch nicht hinter dem Begriff der „liberalen Demokratie“ verbergen lässt. Denn der Begriff der „Demokratie“ ist eng mit dem der „Volkssouveränität“ verbunden.“ Unsere Realität aber, so Ingeborg Maus weiter, ist durch „Entscheidungsprozesse“ gekennzeichnet, die durch die „Verflechtungen von Staats- und Wirtschaftsbürokratie“ die Volkssouveränität unterlaufen. Die „Handlungen politischer, wissenschaftlicher und ökonomischer Akteure“ seien sogar „in einer Weise vernetzt“, dass sie „selbst den Begriff der Entscheidung überhaupt in Frage“ stellten.“ 81
Kapitalistische Marktwirtschaft
Im antiken Griechenland war die Agora der ursprüngliche Teil der Polis, ein zentral gelegener Platz, an dem mehrere Wege sich kreuzten. Erst mit An- und Zusammenwachsen kleiner Orte wurde die Agora zum allgemeinen Versammlungsplatz und hauptsächlicher Bestandteil der entstehenden Polis. Auf der Agora wurde das gemeinsame öffentliche Leben ausverhandelt, als Marktplatz und Tauschmarkt bot sie den Handwerkern die Möglichkeit ihre Waren anzubieten. Was heute von der Agora geblieben ist, sind die später entstandenen Säulenhallen, denn im Laufe der Zeit wurden die Bereiche des Herstellens vom Politischen getrennt und separate Plätze und Kultstätten eingerichtet, an denen ungestört Verhandlungen und Wettkämpfe stattfinden konnten. Ab der Neuzeit trennte man den politisch handelnden Menschen vollends vom öffentlichen Bereich, indem Politik sich immer mehr in geschlossenen Räumen abspielte. Verhandlungen und Beschlussfassungen wurde mehr und mehr Sache von Berufspolitikern. Zwar wusste man um die gesellschaftsgestaltende Bedeutung des öffentlichen Raums, aber von weit größerer Bedeutung war die freie Entfaltung der Wirtschaft und ihrer Produktivität. Das Mitwirken der Bevölkerung wäre hier hinderlich gewesen. Öffentliches, allen zur Verfügung stehendes Gut wurde – weil nicht gewinnbringend – privatisiert und diente nunmehr der Kapitalbildung. Der heute noch bekannte Markplatz mit all seinen öffentlichen Verwaltungsgebäuden, Statuen und Gedenksteinen war Tauschmarkt, Reparaturmarkt und „Altwarenhandel“ – alles konnte einer neuen Bestimmung zugeführt werden. Die meisten Berufe des Mittelalters drehten sich demnach um Reparatur und Instandhaltung. Erst in zweiter Linie wurde neu angefertigt und hergestellt, und natürlich haderte man auch damals schon mit der Konkurrenz; aus dieser Zeit stammen viele Vorschriften, die Händlern und Produzenten Rechte verwehrten oder zuteilten, schreibt Annette Kehnel82.
Wir befinden uns in vorkapitalistischer Zeit. Ein Handwerksbetrieb besteht aus nur aus dem Meister und wenigen Gesellen, hauptsächlich jenen, die der Meister selbst ausbildet und die später den Betrieb übernehmen sollen. Die Herstellung der Waren richtet sich nach dem örtlichen Bedarf. Die verwendeten Rohstoffe und die handwerkliche Technik machen nur einen geringen Einsatz an Produktionsmitteln und Kapital erforderlich. Der frühneuzeitliche Handwerksmarkt war der letzte öffentliche Bereich, in dem das Vorzeigen des Herstellens und Zeigen des Produkts noch üblich waren. Zu Adam Smith‘ Zeiten wird meisterliches Können erst von Bedarfsbefriedigung abgelöst und später zunehmend produktorientiert. Nicht mehr der Stolz auf die eigene Handfertigkeit ist ausschlaggebend, sondern welche Produkte nachgefragt werden, sich gut verkaufen lassen und günstig herzustellen sind. Da sich die Angebote zunehmend ähneln, treten jene Fähigkeiten in den Vordergrund, die im Konkurrenzkampf gefragt sind. Um etwas verkaufen zu können, muss man Aufmerksamkeit erregen, wenn sich Öffentlichkeit zunehmend für Modernität und Preis interessiert.
Das sich in der Neuzeit entwickelnde Bild einer kapitalistischen Marktwirtschaft beginnt sich vor gut 200 Jahren auszuformen. Kleine Handwerksbetriebe werden von arbeitsteiligen Manufakturen abgelöst. Arbeitsteilung bzw. Spezialisierung steigert die Produktivität, der Kapitaleinsatz an Produktionsmitteln nimmt zu. Darauf folgen Fabriken mit schweren Arbeitsmaschinen, an denen viele Menschen Beschäftigung finden, aber auch viele zu Tode kommen. Der Einsatz an Arbeitsmitteln und Kapital ist enorm, ebenso wie die Menge an produzierten Waren, die nicht mehr alle vor Ort verkauft werden können. Die Suche nach neuen Absatzmärkten beginnt. Fabrikbesitzer und Handelsunternehmer werden zu verschiedenen Akteuren der kapitalistischen Marktwirtschaft. Die gesellschaftliche Wirtschaft spielt sich nun auf zwei Märkten ab, dem Arbeitsmarkt, in dem Arbeiter ihre Arbeitskraft als Ware anbieten, und dem Warenmarkt, auf dem alle erzeugten Waren angeboten werden.
„… Verkehrsvermehrung und Ressourcenübernutzung bildeten nach der Jahrhundertwende für Rathenau 83 keinen Anlass, sein konsequentes skalenökonomisches Entwicklungsmodell in Frage zu stellen. Auch die Gefahren der „diseconomies of scale“ bei zu starker Konzentration und Zentralisierung wurden mangels Erfahrung noch nicht gesehen. Die technische ‚Effizienzrevolution’ wie die relative Verbesserung der Ressourcenausnutzung durch den mechanisierten Großbetrieb blieb in seinem Wirtschaftsdenken auch noch ganz mit dem Wachstumsmodell verkoppelt: Jeder relative Spareffekt wurde Basis einer allgemeinen Absatzsteigerung und damit eines vermehrten Ressourcenverbrauchs. […] Dabei war sich Rathenau der Problematik dieser Spirale durchaus bewusst, doch behandelte er diese nicht in seinen ökonomischen Reflexionen, sondern in seinen kulturkritischen Betrachtungen über Mode, Tandartikel und seelenlosen Konsum. Die Vergeudung schien damit mehr als eine Frage des kulturell und sozial fehlgeleiteten Konsumverhaltens denn als Folge des eigendynamischen Wirtschaftsprozesses. Erst kurz vor dem Weltkrieg begann er, bezeichnenderweise in seinen kultur- und sozialphilosophischen Hauptwerken, den strukturellen Zusammenhang von Produktions-, Zirkulations- und Konsumsphäre als einen Gesamtzusammenhang zu sehen und den säkularen Rationalisierungsprozess selber zu problematisieren.“84
1918 kann man in "Kritik der Zeit" lesen: „… um den Bedürfnissen einer in so unerhörtem Tempo wachsenden Bevölkerung gerecht zu werden, »blieb den Völkern nur eins übrig: zu gänzlich neuen Gewohnheiten und Gesetzen des Lebens und Schaffens überzugehen zu dem Zweck, die irdische Produktion auf das Gewaltigste zu vermehren und sie der Milliardenzahl der Menschheit anzupassen. Dies war nur auf einem Wege möglich: wenn durch eine rücksichtslose Anpassung an den Zweck der Effekt der menschlichen Arbeit um ein Vielfaches gesteigert und gleichzeitig ihr Erzeugnis, das produzierte Gut, auf das Vollkommenste ausgenutzt werden konnte. Erhöhung der Produktion unter Ersparnis an Arbeit und Material ist die Formel, die der Mechanisierung der Welt zugrunde liegt.« Ihre Hilfsmittel sind Organisation und Technik. »Organisation, indem sie Produktion und Verbrauch durch Verteilung, Vereinigung, Verzweigung in die gewollten mechanischen Bahnen lenkt, Technik, indem sie die Naturkräfte bändigt und sie bald in gewaltigen Massenbewegungen, bald in chemischen Wirkungen, bald in elektrischen Strömen, bald in mechanisch-kunstfertigen Handgriffen – neuen Produktions- und Verkehrsorganisationen ausliefert ... Wenn somit die Mechanisierung ursprünglich in der Gütererzeugung wurzelt, so blieb sie nicht lange auf dies Gebiet beschränkt.« 85
Leopold Zieger (1881 – 1958) zitiert Walter Rathenau: "… Heute herrscht die Vorstellung: Mit meinem Geld kann ich machen, was ich will. Wenn es ... eine Ethik des Verbrauches geben wird, so wird man sagen ich kann nicht mehr machen, was ich will, sondern dies und jenes schickt sich nicht und deklassiert mich". Leopold Zieger ergänzt: In Summe ist festzuhalten, dass unsere gegenwärtige Ertrags- und Erwerbswirtschaft mit ihrem eingestandenen Endzweck der fortschreitenden Verwertung von Kapital auf der Tatsache akkumulierten Mehrwertes bzw. akkumulierter Mehrarbeit beruht, ... Die Werktätigen werden sich von der Idee der reinen Ertrags- oder Erwerbswirtschaft abwenden, die sie durch andauernde Mehrarbeit zu einer andauernden Schöpfung von Profit nötigt. Instinktiv … wird sie erneut die mittelalterliche Idee der Bedarfswirtschaft anstreben. Wirtschaft um des Mehrwirtschaftens willen enthüllte sich als asozialer Vorgang, solange die einzelne Arbeitskraft ausschließlich zum Endzweck produziert. Solange Arbeitskräfte tauschfähige Produkte an den Warenmarkt liefern, solange produzieren sie für jenen Gewinn, der dem Besitzer der Waren aus dem Tausch winkt. 86
Über den Wert der Arbeit schreibt Leopold Zieger weiter, „dass die in der Ware verdichtete Arbeit den Wert bestimmt, aufgrund dessen sie im Tauschgeschäft verhandelt werden kann. Tauschwirtschaft beruht also auf dem Fundament, dass Arbeit mit Wert gleichgesetzt wird. Nun muss man sich aber die Frage stellen, was Arbeit selbst wert ist. „Arbeit gleich Wert“ mag die grundsätzliche Tauschbarkeit von Waren erklären. Die Tatsache aber, dass im freien Tauschverkehr nicht Ware allein, sondern Arbeit als solche verhandelt wird, bleibt davon unberührt. Denken wir bei Wert zuerst an den Wert einer Ware, bleibt die marxsche Gleichstellung sinnvoll. Wenn wir uns aber darauf beziehen, dass es neben dem Tauschmarkt der Ware auch einen Tauschmarkt der Arbeit gibt und dass der Warenmarkt einen Arbeitsmarkt voraussetzt, verliert diese Gleichung ihren Sinn. Wer nur Waren kauft und verkauft, kann leicht den Wert der Waren an der darin geronnen Arbeit messen; aber wie misst der, der Arbeit statt Ware kauft, oder spezifischer – menschliche Arbeit –kauft? Gab man, als man ihm erklärte, Wert sei Arbeit und Arbeit sei Wert, gleich auch einen Wertmesser mit? Wohl kaum. … Besteht in Wahrheit der Wert der Arbeit in Arbeit, so ist der Kauf und Verkauf von Arbeit sachlich zurückführbar auf einen Tausch von Arbeit gegen Arbeit. Der Gedanke steckt in folgendem Dilemma: entweder erhält der Verkäufer der Arbeit vom Käufer derselben für 12 Stunden Arbeit das exakte Äquivalent in irgendwelcher Form, dann hätte der Käufer nicht das mindeste Interesse daran Arbeit zu kaufen. Oder der Verkäufer von Arbeit erhält von deren Käufer für seine 12 Stunden Arbeit nicht deren volles Äquivalent, sondern etwa 10, 8 oder 6 Stunden, dann fände hier überhaupt kein Tauschgeschäft mehr statt, welches seinem Begriff nach jeweils die genaue Wertgleichheit der ausgetauschten Güter fordert, sodass im ersten, wie im zweiten Fall der unmittelbare Tausch der Arbeit gegen Arbeit bei Marx eine der beiden Grundbedingungen vernichtet, auf denen er beruht.“87
Unabhängig davon, ob jemand etwas für einen Tausch- oder einen Warenmarkt produziert, der Markt an sich existiert immer und sei es „nur“ in Form eines Bedarfsmarktes, denn – wenn Bedarf besteht – kann jedes Ding zumindest getauscht werden. Der Tauschwert von etwas existiert nur in der Vorstellung der anderen, indem jemand meint, seine Ware hat diesen oder jenen Wert und entspricht jenem oder nicht jenem Gegenwert, der ihm im Gegenzug angeboten wird. Um eine (Wert)schätzung öffentlich äußern zu können, bedurfte es allerdings eines öffentlichen Bereichs, eines Markts. Der Tausch Ware-gegen-Ware wurde von einem Markt abgelöst, indem Geld gegen Ware getauscht wurde. Zur Ware wird ein Ding erst, wenn es als Ware produziert wurde und zu einem bestimmten Geldtauschwert auf einem Warenmarkt zum Marktwert angeboten wird. Der Marktwert ändert sich mit den jeweiligen Marktverhältnissen, die aus einem Ding ein Objekt der Begierde machen und ihm damit die Eigenschaft von Wert verleihen. Die einer Ware inne liegende Qualität ergibt sich einzig durch Veränderung des Gegenstands. Von sich aus verleihen weder Arbeit noch Material einem Ding seinen Wert oder Preis. Das Wertparadoxon wird zuerst bei John Law erklärt, indem etwas von großem Nutzen, aber geringem Wert (niedriger Preis) sein kann, aber andererseits etwas sehr wertvoll (hoher Preis) aber ohne jeden Nutzen ist. Auch bekannt als das „Wasser-Diamant-Paradoxon“ beschreibt es unter anderem den Wert von Kunstwerken. Wir erzeugen eben nicht nur Nützliches, sondern häufig auch Ziergegenstände, Schmuck oder festliche Roben. Was Antiquitäten so wertvoll macht, ist nicht nur Material und Können, sondern auch ein Hauch von Einzigartigkeit und Ewigkeit, der in ihnen steckt – die Seele des Handwerkers, wenn man so will. Manche Kunstwerke könnten benützt werden, aber ihr eigentlicher Zweck dient der sinnlichen Erbauung. Sie werden sorgfältig gepflegt und vor Umwelteinflüssen geschützt in Museen präsentiert. Dazu gehören sicher auch Grabbeigaben, die zur damaligen Zeit in Verwendung waren, deren heutiger Wert sich aber auf unseren Erkenntnisgewinn bezieht. Sie sind Zeugen der damaligen Lebensumstände, Vermittler über ganze Zeitalter hinweg und aus diesem Grund besonders wertvoll. Archäologische Ausgrabungsstücke zeigen uns, dass nur leblose Dinge längere Zeit überdauern können und liefern sogar als Scherbenstücke noch wertvolle Informationen. Denken, Sprechen und Handeln bedarf daher einer Vergegenständlichung, um als Ding zu überdauern und uns Geschichten aus längst vergangener Zeit zu erzählen.
Heute ist der Markt eng an Produktivität und Wirtschaftswachstum geknüpft. Dabei ist diese enge Verknüpfung hier in Europa erst nach dem 2. Weltkrieg entstanden. Die USA bestanden darauf, die damals relativ neue Methode das Wirtschaftswachstum zu berechnen, anzuwenden, wenn ein Land Geld aus dem Marshall-Plan bekommen wollte. Die Steigerung der Produktivität stand in Amerika für Modernisierung. Die Amerikaner wollten den Europäern vermitteln, dass auch die europäischen Länder so modern werden könnten wie Amerika, wenn sie auf Produktivität setzen und entsprechende Kennzahlen einführen88. Zu Marx‘ Zeiten war beständiges Wirtschaftswachstum noch kein Kriterium für wirtschaftliches Wohlergehen, dennoch sah er ein Problem in der Notwendigkeit des andauernden Konsums. Da Konsum sich auf den Einzelnen beschränkt sieht er die Lösung des Problems, nur unter den Bedingungen einer Vergesellschaftung. Wenn alle arbeiten, alle produzieren und ihre selbstproduzierten Produkte kaufen, ließe sich der auf Individuen begrenzte Konsum mit unbegrenzt vorhandener Arbeitskraft in Einklang bringen. Nur wenn alle endlos Geld für Konsum ausgeben können, fließt ausreichend Geld neu in die Wirtschaft zurück und hält damit den Produktionsprozess unendlich aufrecht. Der Fluch des Reichtums und dessen unbegrenzt vorhandene Mittel, wie sie nur eine im Überfluss lebende Gesellschaft bereitzustellen vermag, geht mit Gebrauchsgegenständen um, als seien sie zum Verzehr geschaffene Konsumgüter. Anstelle von Dauer und Haltbarkeit, den Idealen des Homo Faber, ist das Ideal eines animal laborans getreten, der sein Glück in der Endlosschleife von Erzeugen und Verkonsumieren findet. Da animal laborans ebenso unablässig konsumiert wie produziert, ist ihm als Konsument das gleiche Schicksal widerfahren wie Homo Faber mit seiner Produktion von Gebrauchsgütern. Als man entdeckte, dass man mit dem Verkauf von billigen Massenprodukten, die schnell verschleißen, mehr Gewinn erzielen kann als mit qualitativ hochwertigen Gebrauchsgegenständen, die man lange verwenden und reparieren kann, wurden aus den Konsumenten von Gebrauchsgütern Konsumenten von Konsumgütern in einer Wegwerfgesellschaft.
Die Unterscheidung von Mitteln und Zwecken ist nur im Herstellungskontext sinnvoll. Ob Mensch lebt, um zu arbeiten oder arbeitet, um nicht zu verhungern, stellt sich bei lebensnotwendigen Arbeiten und Anschaffungen nicht. Manche Arbeit dient der Notwendigkeit und muss getan werden, unabhängig davon, ob man Geld dafür bekommt oder nicht. Diese Frage stellt sich also nur, wenn Produkte keinen notwendigen Zweck erfüllen, sondern lediglich ein positives Lebensgefühl vermitteln wollen. Diese Gegenstände würden kaum fehlen, gäbe es sie nicht und werden nur erzeugt, um ständiges Wirtschaftswachstum zu generieren. Die Produktion von nicht notwendigen Gütern ist tatsächlich darauf angewiesen, dass Menschen leben, um zu arbeiten. Ist das positive Lebensgefühl zum Herstellungszweck geworden, muss das Ding nur noch einen Bedarf anreizen und zum Kauf animieren. Ob sinnvoll, brauchbar oder nutzlos spielt keine Rolle mehr, die Wirtschaft wurde von Bedarfswirtschaft auf produktorientierte Marktwirtschaft umgestellt.
PRIVAT – Eigentum und Besitz
In der Antike waren nur Sklaven ohne Eigentum und Besitz und damit auch rechtlos und ganz auf die Versorgung durch die Familie (sie waren Teil der antiken griechischen Familien) angewiesen. Von der Antike bis in die Neuzeit war Eigentum und später auch erworbener Besitz die Grundbedingung, um am öffentlichen Leben teilnehmen zu können. Bodenlos zu sein, hieß keinen Platz in der Welt zu haben. Bürgerrechte blieben nur jenen erhalten, denen trotz größter Armut dieser angestammte Platz erhalten blieb.
Man könnte meinen, dass Eigentum auf eine natürliche Ordnung zurückzuführen ist, aber wie Vieles, wovon wir denken, dass es das doch schon immer gibt, ist Eigentum ein menschliches Gedankenkonstrukt mit vielen Ungereimtheiten und Widersprüchlichkeiten. Eigentum und Besitz, früher streng getrennte Begriffe, werden heute, zum großen Schaden für das Gemeinwohl, synonym verwendet und gelten gemeinhin als Eigentum mit strengerem rechtlichem Schutz. Der Schaden für die Bevölkerung zeigt sich darin, dass ursprüngliche Fußwege und Trampelpfade nicht mehr benutzt werden können, weil sie sich nicht auf öffentlichem Grund befinden. Nur öffentliches Gut darf allgemein genutzt werden. Wenn Arbeit den öffentlichen Raum diktiert, wird der Platz für politische Aktivitäten immer kleiner, schreibt Hannah Arendt. Beides, der private (kleinbäuerliche) wie der öffentliche Raum, kamen mit der Enteignungswelle der frühen Neuzeit in Bedrängnis. Arbeit als Urform der Aneignung von Reichtum und Besitz und schließlich gar der Menschlichkeit bei Karl Marx, bekam im Laufe der Zeit jene Bedeutung, die wir heute kennen.
Die ganze Aufmerksamkeit gilt einer scheinbar automatischen Entwicklung, die dem Kapital eine „samenartige Bestimmung“ zuspricht, auf der die Impetus-Theorie nach Olivi89 zutrifft. Die politische Theorie sieht sich mit stetig anwachsendem Reichtum konfrontiert, dessen Anwachsen nicht nur bis heute anhält, sondern stetig zunimmt. Zur damaligen Zeit war es naheliegend, im Wachstumsprozess des Reichtums einen natürlichen Vorgang zu sehen und sprach dem neuen Geld eine innewohnende Magie zu. Aus Geld wird automatisch immer mehr Geld, ähnlich dem Zuwachs an Macht, wenn jemand bereits mächtig ist, schreibt Hannah Arendt. Auch im 18. u. 19. Jhdt hat sich an dieser Vorstellung nichts geändert, nach wie vor wurde Kapitalakkumulation wahlweise als Naturphänomen oder als der Wille Gottes gesehen, dem man sich nicht entgegenstellen darf. Menschliches Tun spielte, wenn überhaupt, eine geringe Rolle. Es gab zwar immer wieder Bestrebungen, die enorm zunehmende Kapitalbildung zu beschränken und mit Steuern zu belegen. Aber jeder Versuch, dieses „Naturphänomen“ staatlich zu kontrollieren, scheiterte mit dem Hinweis auf den Willen Gottes, schreibt Hannah Arendt.
Die menschliche Existenz schwankt zwischen Selbstbestimmung und der Abhängigkeit von anderen Wesen und Dingen. Um diese Gegensätzlichkeit ausleben zu können, brauchen wir einerseits einen Rückzugsort, in dem wir ungestört tun und lassen können, was wir wollen, andererseits aber auch den öffentlichen Raum, um uns zu zeigen, miteinander in Beziehung zu treten, Kontakte zu pflegen und um unterschiedliche Ansichten abzugleichen. Privateigentum und Privatsphäre sind die Voraussetzung, um sich mit der gemeinsamen Welt verbunden fühlen zu können, ähnlich Hannah Arendts Tisch-Beispiel ist der allen zugängliche, öffentliche Raum etwas, was uns gleichzeitig trennt und verbindet. Mit dem allmählichen Rückgang des Privateigentums reduzierte sich der Bereich der Privatsphäre. John Locke sagte, ohne Eigentum wissen wir auch mit dem Gemeinsamen nichts anzufangen. Um etwas sein Eigen nennen zu können, muss man sich und es abgrenzen können. So wie Freiheit nur erkennbar ist, wenn sie fehlt, ist das Eigentum nur erkennbar, wenn es vom Eigentum anderer unterschieden werden kann. Die dem Eigentum innewohnende Dringlichkeit als das, wovon man lebt, ist Ursache dafür, dass Eigentum (in der westlich orientierten Welt) an oberster Stelle der menschlichen Sorgen steht.
Dem privaten Bereich ordnete Hannah Arendt zwei positive Aspekte zu und beschreibt erstens die Dringlichkeit von Privatbesitz, um sich selbst versorgen zu können, und zweites die an Eigentum gebundene Geborgenheit. Privatsphäre und Geborgenheit bedürfen eines sicheren Platzes, zu dem niemand Zutritt hat, und das kann nur Privateigentum leisten. Einen Wohnsitz zu haben, der in direktem Zusammenhang mit dem Eigentümer steht und von Generation zu Generation weiter gegeben wird, ist an einen bestimmten Ort gebunden und identisch mit der besitzenden Familie. Eigentum war nicht nur der Platz in der Welt, auf dem man wohnte, sondern diente ursprünglich auch der Lebensmittelversorgung. Auf der eigenen Erde werden Tiere gehalten, Getreide angebaut und Obst und Gemüse gepflanzt. Blieb etwas übrig, konnte es am Markt angeboten und getauscht werden. Eigentum zur Sicherung der Lebensgrundlage – im Unterschied zu Besitz und Reichtum – zeigte, was einem in der gemeinsamen Welt privat gehörte, und wurde ummauert. Eingefriedetes Eigentum grenzte die private Welt zum öffentlichen Bereich ab; was außerhalb lag, galt als allgemein zugänglich und nutzbar.
Der Schutz von Privateigentum zählte seit jeher zu den elementarsten Grundbedingungen menschlichen Daseins und war immer von allgemeinem Interesse, welches mit zunehmender Besitzakkumulation aufgeweicht wurde. Anders der Besitz, man kann oder konnte etwas besitzen und reich sein aber durchaus ohne Eigentum in Form eines Hauses oder Grundstücks leben. Besitz gilt als unabhängig vom Wohnort und kann auch von jemand anderen mitgenutzt werden. Eigentümer und Besitzer müssen nicht identisch sein, ähnlich wie Pacht oder Leihgaben, auch Diebstahl gehört dazu. Wer pachtet oder stiehlt, ist in Besitz von etwas, ohne gleichzeitig dessen Eigentümer zu sein. Weil immer mehr in Besitz genommen wurde, ohne darauf angewiesen zu sein, wurden nach und nach Besitzrechte und Eigentumsrechte angeglichen. John Locke hat auf diese Unterscheidung zur Erklärung eines bestehenden Menschenrechts an Eigentum als ursprüngliche Aufteilung der gemeinsamen Welt aufgebaut und suchte nach einer Tätigkeit mit von sich aus aneignendem Charakter, etwas mit dem man sich der Dinge der Welt bemächtigen konnte, und fand die Lösung in körperlicher Arbeit. Wenn Arbeitsprodukte, die an sich keinen bleibenden Wert haben, dem Werk der Hände gleichgestellt und verkauft werden können, dann kann selbst mit unproduktiver Arbeit Kapital erwirtschaftet werden. Setzt man angeeigneten Besitz (ortsunabhängiges Kapital) mit Eigentum gleich, kann die Privatheit des Besitzes nur garantiert werden, wenn man ihn einzäunt und vom Gemeinsamen trennt. 90
Als notgedrungen immer mehr Menschen in Städte zogen, mussten sie erst ihr Hab und Gut zu Geld machen. Gab es nichts mehr zu verkaufen, waren die nunmehr Mittellosen gezwungen für Lohn zu arbeiten. Verliert jemand sowohl Eigentum als auch Besitz, bleibt für den Besitzlosen nur mehr das Gut seiner Arbeitskraft, die verkauft werden muss, um nicht zu verhungern. Enteignung einerseits und Aneignung andererseits ist eine weitere Art der Weltentfremdung als Besitznahme um des Besitzens willen. Will man eine florierende Wirtschaft, muss man einen Großteil der Bevölkerung ihres Eigentums und somit ihrer Lebensgrundlage berauben. Je weniger Leute sich selbst versorgen können oder wollen, umso größer wird die Abhängigkeit von bezahlter Arbeit und umso mehr muss an Dingen des täglichen Gebrauchs hergestellt, bereitgestellt und transportiert werden. Durch ortsunabhängige Kapitalbildung und Schaffung von Mehrwert durch Arbeitskraft konnte Besitz endlos vermehrt und zu immer mehr Reichtum angehäuft werden. Ohne Besitzzuwachs und Verwandlung von Reichtum in Kapital, wie noch im Mittelalter, bleibt Besitz entweder gegenständlich erhalten oder wird auf- und verbraucht, was dem natürlichen Verzehr entspricht. In der Neuzeit beginnt die Entwicklung des Kapitalismus. Besitz wird nun angelegt und investiert, statt ihn aufzubrauchen. Der Warentausch und die Funktion des Geldes als allgemein gültiges Kaufmittel legten dafür den Grundstein. Die Erzeugung von Mehrwert und Wertzuwachs durch menschliche Arbeitskraft wurde zum alles bestimmenden Zweck, der eine lange Zeit des Wohlstandszuwachs ermöglichte.
Auch die Entdinglichung von Besitz hin zu Kapital in Form beweglicher Güter wurde bereits von John Locke gedanklich vorweggenommen, indem er bemerkte, dass das ursprüngliche Eigentum im Menschen selbst liegt (Humankapital). Das Ureigentum des Menschen ist die seinem Körper innewohnende Arbeitskraft, wie sie später von Marx aufgegriffen wird. Weiter gedacht bedeutet das, dass der Mensch nicht länger auf Eigentum in Form eines Grundstücks und Gebäudes angewiesen ist. Für John Locke ging es in dieser These zwar darum sicherzustellen, dass jeder Anspruch und Recht auf Eigentum hat, aber wenn der Körper Eigentum ist und Körperkraft etwas, was man verkaufen kann, kann man doch wahrlich nicht von Enteignung sprechen. Den bodenlos gewordenen Ärmsten bleibt immer noch ihre Arbeitskraft, die sie auch auf ihren Feldern einsetzen müssten, denn ohne investierte Arbeitskraft wächst auch auf den Feldern nichts. Die damaligen wirtschaftlichen Interessen wendeten diesen Satz so, als würde schon allein der Besitz von Arbeitskraft das Überleben sichern. Allerdings gilt Eigentum als etwas, worüber man frei verfügen kann und niemand darüber bestimmen darf, wenn man nun aber gezwungen ist, lebensnotwendigerweise seinen Körper zu verkaufen, kann man nicht mehr von freier Verfügbarkeit sprechen.
Anders als oft formuliert war es nicht erst der Kommunismus, der mit Enteignungen begonnen hat, sondern bereits der frühe Kapitalismus. Durch den enormen Zuwachs an Besitz in den enteignenden Schichten konnte die Öffentlichkeit davon überzeugt werden, privaten Besitz als gottgegeben zu akzeptieren. Wie konnte nun Besitz mit Eigentum gleichgesetzt werden, wo doch Besitz ursprünglich nur dem Verbrauch diente? Dafür musste aus Besitz bewegliches, überall verfügbares Kapital91 werden und in Folge zum Gegenstand öffentlichen Interesses. Die Besitzenden begannen ihr Kapital zur Wahrung ihrer Interessen in der Öffentlichkeit einzusetzen. Während sich vornehmlich christliche Bürger aus dem öffentlichen Raum zurückzogen, verstanden es Protestanten in ausgezeichneter Weise Allianzen zu schmieden, indem sie danach trachteten, immer ihresgleichen an die entsprechenden Schalthebel zu setzen und ihren Einfluss von Generation zu Generation weiterzugeben. Schon in der Jugend beginnt die Ausbildung, die sich an wirtschaftlichen Grundsätzen orientiert. Aus dem Interesse der Vielen zum Wohle aller wurde mit der Zeit die Bedienung der Einzelinteressen von Wenigen. Es gab immer weniger Grund, sich vor staatlichen Übergriffen auf ihr Kapital schützen zu müssen. Liberalismus war für sie in erster Linie die Freiheit des Erwerbs von Kapital und dessen staatlich gewährleisteten Schutz. Genaugenommen wurde der andauernde Akkumulierungsprozess erst durch die Nichtachtung des Privatbesitzes möglich gemacht. Hannah Arendt wendet „Proudhons92 Diktum: „Eigentum ist Diebstahl“ in eine Aussage um, die dem Kern der Wahrheit wesentlich näher kommt. „Man ist nicht durch Diebstahl an Eigentum gekommen, vielmehr ist Kapital erst durch Diebstahl am Eigentum entstanden.“ Für John Locke war es noch selbstverständlich, dass jedem Menschen Eigentum zusteht, jeder Platz hat und genug Nahrung bekommt, wenn jeder nur das für sich beansprucht, was er braucht.
Der Kampf ums Eigentum befeuerte die verschiedensten Theorien, in denen es vorrangig um Rechtfertigung und Sicherstellung von Eigentum geht und ausdrücklich gegen den gemeinsamen öffentlichen Bereich. Bereits bestehende Rechte der Wohlhabenden mussten auch gegen die Übergriffe der neu gegründeten Staaten verteidigt und nötigenfalls geschaffen werden. Der Staat wurde als „notwendiges Übel“ und Verwalter öffentlichen Guts wahrgenommen. Öffentliches Gut, öffentliche Orte, die allen zugänglich waren, galten schon damals als „toter Bestand“, welcher sich nicht gewinnbringend vermarkten ließ und so bald als möglich privatisiert werden sollte.
Katharina Pistor schreibt dazu: „Der Staat deckt die Privatrechtsinstitutionen, aus denen Kapital besteht. … Diese Rechte funktionieren, weil der Staat seine Durchsetzungsgewalt hinter sie stellt und sie so gegen Dritte durchgesetzt werden können. Er garantiert, dass private Ansprüche gegenüber öffentlichen, rechtlich durchsetzbar sind. Wenn Netzwerke immer größer werden und es nicht mehr ausreicht, wenn sich Leute gegenseitig beobachten und kontrollieren können, ist man auf solche Rechte angewiesen. Deshalb ging der Aufstieg der Nationalstaaten und der Aufstieg des Kapitalismus Hand in Hand. … Im Kapitalismus geht es darum alles zu monetarisieren, z.B. ein Stück Land. Land wird erst dann zu einem wirtschaftlich einsetzbaren Gut, nachdem staatlicherseits Eigentumsrechte auf Land geschaffen wurden. Damit aus einem einfachen Gut Kapital wird, braucht es eine Reihe rechtlich codierter Eigenschaften. Katharina Pistor nennt sie „Priorität, Beständigkeit, Konvertierbarkeit und Universalität.“ „Diese rechtlichen Attribute kann man in Folge auch auf ganz verschiedene Güter aufpfropfen: auf Land, auf Firmen, auf Ideen, auf Wissen. All das kann man rechtlich so verpacken, dass es zu Kapital wird. Land war das erste Gut, das auf diese Weise monetarisiert wurde, indem wir Einzelnen Eigentumsrechte zugeordnet haben.“… 93 Heute besteht Kapital weitgehend aus Monopolen und Rechten an … und auf etwas, wie Norbert Häring in seinem neuen Buch „Endspiel des Kapitalismus – Wie die Konzerne die Macht übernahmen und wir sie wieder zurück holen“ ausführt.
MODERNE und SPÄTMODERNE
Die in der Moderne gemachten Fehler, die Überhöhung der industriellen Produktion, der Vorrang wirtschaftlicher Interessen gegenüber allen Mensch- und Naturbelangen sowie die Vorrangstellung der Mathematik und Physik gegenüber allen Geisteswissenschaften haben zu einem Raubbau an Ressourcen unbeschreiblichen Ausmaßes geführt und viele Menschen in Tod und Elend geführt. Die Bedürfnisse der Menschen kamen ebenso unter die Räder der Industrie wie die der Tiere, insgesamt aller Lebewesen. Wir reden schon von „Aufklärung 2.0“ ganz im Sinne fortschreitender Technologisierung, ohne damit zu beschreiben, was gemeint ist und wie unsere Gesellschaften nach einer Aufklärung 2.0 aussehen soll. In den letzten Jahrzehnten wurden keine ernstzunehmenden gesellschaftlichen Verbesserungen voran getrieben, Zukunftsvisionen kamen aus dem Silicon Valley und sind rein technischer Natur. Die westlich orientierten Gesellschaften kranken an vielfachen, oft indifferenten psychischen Problemen, für die technisch orientierte Visionen keine Lösung bieten können, sie bieten lediglich Lösungen für mathematische Probleme an, die alles Lebendige unberücksichtigt lassen. Ungeachtet dieses Befunds bauen weiterhin viele auf technischen Fortschritt und hoffen, wir wären dann aus dem Schneider, aber das ist zu kurz gedacht. Nahezu alle technischen Entwicklungen der letzten 100 Jahre haben lediglich unsere Effizienz und unsere Ausbeutungsstrategien verbessert. Bis zu den heutigen Apps, mit denen alles kontrolliert und überwacht werden kann, arbeiten wir nur an Produktionssteigerung, wir verlieren damit weitere kognitive Fähigkeiten und weiter an Naturverbundenheit.
Die Sprache ist eine technische Sprache, durchsetzt mit Anglizismen und „Hashtags“ wie in den Sozialen Medien üblich, in einer völlig globalisierten Welt, die in Wirklichkeit, echte Privatheit nicht mehr zulässt. Wer es nicht versteht, ist – wie schon beim beruflichen Scheitern – selbst schuld und darf auf kein Erbarmen hoffen. Im Sinne der „Holschuld“ kann sich heute doch jeder so viel informieren, wie er/sie mag. Alle Tore stehen offen, aber durchgehen muss er/sie schon selber.
Die Orientierung an Produktion und Markt ist fest in unserer Sprache verankert. Unser gesamtes heutiges Denken und Handeln lässt sich der Zweck-Mittel-Kategorie zuordnen. Alles dreht sich „um zu“. Um erfolgreich zu sein, um mehr Gewinn zu machen, um gesund zu bleiben. Die Erreichbarkeit eines kurzfristigen Gewinns hat die langfristige Ausrichtung auf ein insgesamt gutes Leben und dem guten Leben folgender Generationen völlig verdrängt. „Mit Aufkommen der Influencer wird auch noch der letzte Rest an Selbstwirksamkeit mit entsprechend selbstbestimmtem Leben angegriffen.“94 Alles wird vermarktet.
Seit Menschengedenken ist bekannt, wie unzulänglich sich der Mensch gegenüber Naturdingen ausmacht. Dabei wäre es seit der Antike darum gegangen, sich als Sterbliche an der unsterblichen Vollkommenheit der Natur zu messen. Die menschliche Widerstandskraft hält aus und macht weiter. Ihre Fähigkeit der Anpassung, ihre Vielschichtigkeit und Gewandtheit ist vielem überlegen, aber die letzten Jahrhunderte wurde das meiste an Energie in Zerstörung gesteckt. Der Mensch schreckt auch nicht davor zurück, sein eigenes Werk zu zerstören, wenn es nicht seinen Vorstellungen entspricht. Zu Hannah Arendts Zeit hat sich diese Zerstörungskraft – man möchte sie fast Zerstörungswut nennen – einen Punkt erreicht, an dem man alles Leben vernichten könnte. Atombomben sind mittlerweile weniger Thema als Atomkraftwerke. Die Zerstörung der Natur in all ihren Facetten reicht von Rohstoffplünderung bis Urwaldzerstörung, Artensterben, Klimawandel bis Tierhalteindustrie und moderne Sklaverei – nichts entkommt der Zerstörung. In der ARTE-Dokumentation „die Erdzerstörer“ wird seit den Anfängen der Industrialisierung nachgezeichnet, wie es so weit kam und welche Rolle dabei manche groß angelegte Marketingprojekte spielten. Schaut man auf die finanzielle Ausstattung von Lobbygruppen und Marketingunternehmen, kann man unschwer erkennen, dass mehr Energie – in Form von Kapital – auf die Zerstörung unserer Lebensgrundlage verwendet wird als in deren Erhalt. Die zugrundeliegenden Motive und Sachzwänge oder wer hinter dem Handlungstragenden an den Fäden gezogen hat, um die unsichtbare Hand wieder ins Spiel zu bringen, kann nur durch mühsame Recherchen in Erfahrung gebracht werden, aber selbst Recherchearbeit wird zunehmen erschwert, da sie kaum noch bezahlt wird. Erst die Geschichtshistoriker können erkennen, wer begonnen und wer umgesetzt hat. Es stellt sich dann heraus, dass für den entstandenen Schaden niemand mehr zur Verantwortung gezogen wird.
Alles was ursprünglich gut war und in guter Absicht erdacht wurde, wird im Denken der Mittel-Zweck-Kategorie und unter dem Druck der Gewinnmaximierung vom ursprünglich größtmöglichen Nutzen zum größtmöglichen Schaden getrieben.
Für Hannah Arendt sind Atomkraft und Raumfahrt die damaligen letzten Endpunkte jener Erdentfremdung, die zu Beginn der Zeit des Kapitalismus eingesetzt und zur vermeintlichen Herrschaft über die Natur geführt hat. Die Natur zeigt uns derzeit die Grenzen unserer Selbstüberschätzung. Die auf allen Ebenen fortschreitende Beziehungslosigkeit, die sich in einem Gefühl des Erhaben-Seins ebenso zeigt wie Unverbindlichkeit gegen über allen Lebewesen, führte zu ernsten Konsequenzen für unseres Dasein. Sich unverbindlich und überlegen zu fühlen, könnte mit Schweben in Verbindung gebracht werden, tatsächlich aber ist es kein leichtes, befreites Schweben, sondern eine Entwurzelung.
Handeln
Denken wir uns Handeln als einen sich verselbständigenden Prozess der Immer-Fort-Entwicklung, haben wir diesem Handeln einerseits die ungeheuerliche Erweiterung der menschlichen Möglichkeiten zu verdanken, andererseits aber auch viel an Kulturtechniken, an übernommenem Wissen und Können verloren – wir achten nicht mehr auf Zusammenhänge und leben in der Vorstellung, dass wir einfach so weiter machen können – hat ja bisher geklappt. Aber was, wenn nicht? Was, wenn wir irgendwann darauf angewiesen sind, uns in einer wirklich lebensfeindlich gewordenen Natur zu bewähren? Seit der Neuzeit hat sich der Mensch seiner handelnden Fähigkeiten so weit entledigt, dass nur im Forschungsbereich ein freier Handlungsraum übrig geblieben ist, schreibt Hannah Arendt. Gerade aber die wissenschaftliche Forschung hat sich entlang ihrer fortschrittlichen Möglichkeiten weit von ihrem Ursprung – der Verbesserung der Lebensqualität – weg entwickelt und dient nun vor allem wirtschaftlichen und technischen Interessen, allem voran Militär und Markt als hauptsächliche Entwicklungstreiber mit ausreichend monetären Kapitalressourcen.
Um höherer Zwecke willen musste die dem freiem Handeln innewohnende Willkür zu jeder Zeit unter Kontrolle gebracht werden. Im Altertum musste das Gute vor der Herrschaft der Schlechten geschützt werden, im Mittelalter war es der Schutz des Seelenheils, und seit der Neuzeit gilt es Produktivität und Fortschritt zu schützen. Seitdem wird Produktion mit Fortschritt gleichgesetzt – jedes Jahr ein bisserl mehr. Nebenbei geraten soziale Errungenschaften in Bedrängnis und werden, wenn möglich abgeschafft; die Natur und auch der Mensch sind Lieferant ohne eigenen Daseinszweck.
Handeln als Selbstzweck ist nicht abhängig von Sachzwängen, sondern geleitet von Vernunft und Notwendigkeit. Eine Massengesellschaft, wie Hannah Arendt sie kommen sah, ist für die Errichtung eines totalitären Herrschaftssystems die ideale Voraussetzung. Der Masse an Subjekten fehlt das Interesse an der gemeinsamen Welt, in der sich kaum noch stabiler öffentlicher Raum etablieren lässt. Fehlen die menschenverbindenden Elemente, werden in zunehmend totalitär geführten Herrschaften, Einzelne radikaler, totalitärer und intoleranter gegenüber ihren Mitmenschen. Damit wird verfestigt, was mit Entstehen der Massengesellschaft bereits angelegt wurde – allumfassende Entsolidarisierung. Im Subjektdasein geht das Selbst verloren und damit Selbstwirksamkeit, Selbstzweck und Selbstbewusstsein. Jeder ist ersetzbar, das Gefühl, dass es auf einen selbst nicht mehr ankommt, ist allgegenwärtig. Wer so fühlt, wird kaum neue Wege und Möglichkeiten ersinnen, geschweige denn neue Ideen handelnd umsetzen wollen.
In der Moderne, so beschreibt Hannah Arendt, kommt es zum Verlust der menschlichen Fähigkeit initiativ zu werden. Nicht nur Handeln als Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen und zu unterhalten, verliert sich, sondern auch die Fähigkeit, durch gemeinschaftliches Handeln neue Wirklichkeiten zu schaffen, geht verloren. Dabei wäre gerade das gemeinsame Handeln notwendig, um im historischen Sinn etwas bewegen und bewirken zu können. Anstatt etwas bewirken und neue Wege beschreiten zu wollen, wollen selbst junge Menschen vor allem angepasst leben, um erfolgreich zu werden, um „geliked“ zu werden und um keine Fehler zu machen. Jeder ist selbst ein kleiner Markt, stellt sich zur Schau, bietet sich an, hält sich fit, kleidet sich modern und hat das neueste Ding. In dieser gefallsüchtigen Umtriebigkeit verliert der Mensch nicht nur seine vielen zwischenmenschlichen Bezugspunkte, er verliert auch den Bezug zu seiner Umwelt, obgleich Teil derselben. Vor ein paar Sekunden noch – in zeitgeschichtlicher Dimension – war der Mensch Teil der Natur, und jetzt dreht sich alles um erzeugte oder durch Algorithmen generierte Dinge, eingeteilt in wahr und falsch oder Gut und Böse. Die Weltdinge sind vor der Dingwelt zurückgewichen. Der, der Neuzeit entwachsene Mensch, ist in der Moderne, die Welt und sich selbst als Teil derselben los geworden – nicht mehr selbstbestimmt lebendes Objekt, sondern ein in der Massengesellschaft aufgelöstes Subjekt. Selbstreflexion hat nicht dazu geführt, dass Mensch sich wieder als Teil der Natur begreift, sondern hat sich ganz in sich selbst zurück gezogen und glaubt nur noch, was Skalen und Datenblätter an Aussagekräftigem zu bieten haben.
Im Wissen darüber, was wir tun und welche Auswirkungen es auf die Umgebung hat, sind wir zwar weit fortgeschritten, aber das auf kurzfristigen Erfolg ausgerichtete Mittel-Zweck-Denken hindert uns daran, nach einer langfristig geplanten Strategie zu handeln. Was früher gang und gäbe war, nämlich dass Vorfahren auch die Zukunft im Blick behielten und entsprechend langfristig dachten, sich dabei auf ihr Gespür verließen und auf Erfahrungen setzten, ist kurzgedachtem Aktionismus gewichen. Die neoliberal-ideologische Durchdringung mit Hilfe von Pädagogen und Beratern hat ganze Arbeit geleistet und ist in alle Gesellschaftsschichten und Lebenssituationen vorgedrungen.
Markt
Unser heutiges Verhältnis zur Natur ist ein interessengeleitetes Machbarkeitsdenken. Dieser Entwicklung und der Vorstellung, dass wir weit über allen anderen Lebewesen stehen, haben wir zu verdanken, dass wir in die Natur hinein handeln als hätte sie nichts mit uns zu tun. Selbst in Ländern und Gegenden, wo die Bevölkerung noch im Einklang mit der Natur lebt und Tieren und Pflanzen ihren Platz als Mitgeschöpfe lässt, selbst dorthin will sich der Markt ausbreiten, selbst dort gibt es Entwicklungspotential. Dabei wurde schon mehrmals festgestellt, dass die vermeintlichen Segnungen der westlichen Werte nicht überall funktionieren. Im Gegenteil, die Menschen werden hauptsächlich ihrer überlieferten Lebensweise entfremdet, können sich immer weniger selbst versorgen, werden in das Joch der abhängigen Arbeit gespannt, müssen Düngemittel und Samen zukaufen und geraten so in Abhängigkeiten, die sie vorher nicht kannten. Wir kolonialisieren jetzt auf eine Weise, die helfen und unterstützen will, aber nicht ohne Hintergedanken, denn wir brauchen diese Märkte, um weiter wachsen zu können damit nicht all unser Fortschritt den Bach hinunter geht. Unser Handeln ist seit den 2000er-Jahren ganz an die Prinzipien des freien Marktes angepasst oder – wie Angela Merkel es ausdrückte – angepasst an eine marktkonforme Demokratie.
Privatisierte Märkte; die Teilnehmer des Marktes sind selbst DER Markt, ohne Konkurrenz marktbestimmend – wie Amazon. Google zB. Ist nicht mehr Teil der Wissensökonomie, sondern DIE Wissensökonomie selbst. Es sind keine Leute mehr in den Städten. Erst haben die Ketten den regionalen Handel abgeräumt und jetzt räumt der online-Handel die Ketten ab. Man kann sagen, das ist der Lauf der Welt, Städte verändern sich mit der Zeit. Wenn der Markt stirbt, gibt es keinen Grund mehr in die Stadt zu gehen. Wenn die Leute nicht mehr in die Städte gehen, sondern in ihrem regionalen Segment bleiben, dann bleibt etwas aus, was der Puls unserer Städte und unserer liberaldemokratischen Entwicklung war, nämlich die Agora, der Markt, das Forum. Menschen treffen sich zufällig in der Stadt und finden Themen, über die sie sich gemeinsam austauschen können. Das ist Öffentlichkeit. Öffentlichkeit ist, wenn viele Leute über das Gleiche reden, auch wenn sie unterschiedliche Meinungen haben. Wenn Leute sich nicht mehr treffen und reden, ist das der Verlust der Öffentlichkeit, das Aussterben bürgerlicher Kultur, der Verlust des Gemeinsamen und der Angelegenheiten, die alle angehen und von denen alle irgendwie betroffen sind. Wenn wir das zulassen, dann rückt die Selbstradikalisierung in den Vordergrund und verstärkt sich massiv, weil die gemeinsam gelebte, solidarische Verbindung verloren geht … 95
Wir kennen die Weltflucht der Philosophen, die sich mit ihren Gedanken aus der Welt zurück ziehen, um mit ihren Gedanken in Dialog zu treten. Die Weltlosigkeit des Massenmenschen ist von anderer Natur, unfreiwillig, im fremdbestimmten Arbeitsalltag entstanden. Der arbeitende Mensch wurde schrittweise von seinem Eigentum und damit seiner Eigenständigkeit getrennt. Die Arbeiter flohen nicht vor und aus der Welt, sie wurden in ein Hamsterrad gesteckt, aus dem sich niemand aus eigener Kraft befreien kann, und viele wollen jetzt auch nicht mehr befreit werden. Aus den über Generationen eingesperrten Wildtieren sind lebensuntüchtige Zootiere geworden, ständig in Angst vor Gefahr. Die Zukunftsversprechen sind immer noch die gleichen wie vor 200 Jahren, mehr Geld, mehr Wohlstand, weniger (Haus)arbeit. Der Fortschritt macht es möglich, dass wir auch zu Hause bald nichts mehr zu tun haben werden. Das, was wir selbst tun können, ist doch erst das, was Mensch ausmacht; auch wenn es anstrengend ist, macht es oft auch Freude, macht es Stolz. Vor Fernseher, Computer, Smartphone zu sitzen, erweckt nicht das gleiche Gefühl als etwas bewirkt zu haben. Was machen wir, wenn außer sozialen Versorgungsberufen kaum noch Arbeiten übrig bleiben? Der Markt war nie als Win-Win-Strategie gedacht – es gibt immer viel mehr Verlierer als Gewinner, aber das ist nicht Teil der erzählten Geschichte, die Menschen sollen ja mitmachen, erzählt Dennis Snower.96
Gesellschaft
Seit der Neuzeit wird individuelles Handeln zunehmend als Mittel zur Steigerung wirtschaftlicher Produktivität gesehen, immer besser zu werden und immer mehr zu leisten. Dieser Trend ist mittlerweile weit fortgeschritten. Gut ist man nicht mehr aus innerem Antrieb oder Bedürfnis, sondern um des Erfolgs willen – was aber ein anderes ‚Gut-sein‘ ist, nämlich eines, mit dem wir werten, aufwerten oder abwerten, je nachdem, was gerade en vogue ist. Die Strapazen eines Studiums nimmt man nicht mehr aus Interesse oder aufgrund bestimmter Fähigkeiten auf sich, sondern um höhere Einkommen zu erzielen und um nicht mehr manuell ‚arbeiten‘ zu müssen. Dasselbe gilt für das Gemeinwohl. Gemeinden sorgen nicht mehr für Gemeinwohl, sondern für Unternehmensinteressen. Sie stellen weder Gebäude noch Räume oder Plätze zu Verfügung, viele der allgemeinen Nutzflächen sind privatisiert und nicht mehr zugänglich. Selbst Gehsteige führen nur noch von Geschäft zu Geschäft und hören beim letzten Geschäft und nicht etwa am Ortsende, auf. Es werden keine Radwege gebaut und Gehwege instand gehalten – was der Allgemeinheit zur Verfügung steht, kostet Geld, es nützt niemanden und gilt heute mehr denn je als totes Kapital. Treffen, ohne dabei mit der Notwendigkeit des Konsums konfrontiert zu werden, sind rar geworden. Ab und an stehen Sitzbänkchen in der Natur, dort sitzt aber niemand, obgleich sie dazu einladen sollten. Es sind eben keine Orte des unverfänglichen Aufeinandertreffens, sondern Sitzplätze mit Firmenaufkleber, die erzählen, von wem sie gespendet wurden. Einerseits ist unbestreitbar, dass die enorme Produktionssteigerung nur durch den arbeitenden Menschen auf Kosten des Handelns im öffentlichen Bereich erzielt werden konnte. Andererseits ist ebenso unbestreitbar, dass nur der öffentliche Bereich allen gehört und von allen – ohne schlechtes Gewissen – genutzt werden darf, während der zur Schau gestellte private Besitz unzugänglich ist. Jedes Ereignis dient dem ökonomisierten Zeitvertreib in dem – passend zum Massenmenschen –eine Massenkultur geschaffen wurde, die in erster Linie dem Kommerz dient und sich lohnen muss. Weltweit gleiche Geschäfte, gleiche Artikel in den Läden und gleiche Styles. Die Welt ist nicht komplexer geworden, sie ist simpel geworden (Harald Welzer). Man muss keine Sprache lernen, muss Straßenkarten nicht mehr lesen können, kann aufgrund der gleichen Verpackungen und Aufschriften in allen Sprachen im Ausland kaufen, was man auch zu Hause kaufen würde. Bald wird uns auch mitgeteilt, was gesund ist oder man lieber nicht essen sollten. Mit der verbreiteten Kommerzialisierung von allgemeinem Gut geht die Lust Gemeinsames zu schaffen und zu erhalten, verloren.
Mit dem Verschwinden des öffentlichen Raums verschwindet auch die gemeinsam wahrgenommene Realität. Unterschiedliche Bevölkerungsschichten treten nicht mehr in Beziehung, sondern entfernen sich voneinander, beäugen sich argwöhnisch, misstrauen und stehen in unablässigem Wettkampf. Sich unvoreingenommen aufeinander einzulassen ist nicht mehr üblich. Feindseligkeit und Misstrauen dominieren den Alltag, denn hinter jeder freundlichen Geste steckt womöglich eine missgünstige Absicht – ein „Um-Zu“. Wettkampf und Misstrauen sind zu Hauptproblemen unserer Zeit geworden und marginalisieren besonders wohlhabende Gesellschaften. Gesellschaften kann man auf dem Boden unablässiger Wettkämpfe und beständigem Misstrauen weder erhalten noch aufbauen, denn Grundvoraussetzung für deren Funktionieren ist Vertrauen in die Bürger, seitens des Staates und zwischen den Bürgern. Gemeinsame, gruppenspezifische Erfahrungen werden nicht mehr mit und durch andere Gruppen relativiert. Häufig wird schon von klein an getrennt, Privatkindergarten, Privatschule, Privatuniversität, dann auf in den Beruf an eine möglichst gut bezahlte Stelle. Obgleich man jeden Kontinent bereist hat, gegen die Zerstörung des Regenwalds auftritt und durchaus offen für die Probleme der Leute auf anderen Kontinenten ist, ist man im Streben nach oben nie jemanden aus einem anderen Viertel begegnet, weiß man nichts über seinen Nachbarn und will nicht wissen, warum er oder sie anders denkt. Wenn unterschiedliche Lebensrealitäten sich nicht mehr gegenseitig durchdringen können, dringt man auch – im wahrsten Sinne des Wortes – nicht mehr zu den Menschen durch. Was fehlt, ist das gemeinschaftsbildende Element; der zwischenmenschliche Austausch ist nicht nur gesellschaftlicher Kitt, er wirkt auch ausgleichend und verständnisfördernd. Die offene Gesellschaft, in der alle auf ihre Weise willkommen sind, schließt sich und wird zur geschlossenen Gesellschaft – ähnlich einer Gemeinschaft, in der nur noch Auserwählte willkommen sind.97
Es ist ein Irrtum zu meinen, das wäre immer so gewesen – mitnichten. Die Zeit der mehr oder weniger gelebten Kooperation und der sozialen Rücksichtnahme war unser aller ursprüngliches Leben –aufgehoben und eingebettet sein in kleinen Gemeinschaften. Die Beschreibung „finsteres Mittelalter“ würde vermuten lassen, dass damals alles dunkel war – einschließlich der Seelen. Mitnichten, auch damals haben friedliche und glückliche Menschen gelebt. Die Menschen waren auf Zusammenhalt angewiesen und hatten trotzdem oder vielleicht gerade deshalb Freude am Leben. Im mittelalterlichen Europa wurden nicht nur die ersten Universitäten gegründet, es war auch die Zeit eines regen gesellschaftlichen Austausches, in dem der Umgang mit knappen Ressourcen vor allem von Nachhaltigkeit, Wiederverwertung und umsichtiger Nutzung geprägt war, schreibt Annette Kehnel. Wahrhaftig finster wurde es erst nach den ersten Enteignungswellen zu Beginn der Kapitalakkumulation.
Die heutige Massengesellschaft verfügt heute über eine große Zahl unterschiedlichster Medien. Was wahr ist und wahr zu sein hat, wird entweder von oben (wenige Medieninhaber) oder von akkordierten Medien, die um Reichweite, Einfluss und Werbeeinnahmen fürchten, vorgegeben. Framing steht an der Tagesordnung. Anders lautende Meinungen werden mangelhaft oder unvollständig wiedergegeben, Wissenschaftler mit differenzierenden Sichtweisen kommen kaum zu Wort. Echokammern werden, wie seit jeher, für bestimmte Interessen eingesetzt und sind nicht nur auf soziale Medien begrenzt, sondern umfassen den gesamten Medienkomplex. Nicht die Information ist der Zweck, sondern deren Einheitlichkeit „Message Control“, um einen bestimmten Effekt zu erzielen. Ein altbekanntes Werbekonzept besagt, wenn die gleichen Aussagen beständig wiederholt werden, glauben am Ende die meisten, was gesagt oder geschrieben wurde – unabhängig davon, ob eine Aussage richtig ist oder falsch. Es wirkt als gäbe es nur eine Gruppe mit Deutungshoheit. Die Dominanz einer Gruppe und Marginalisierung aller anderen macht den Austausch schwer und verunmöglicht Abstimmung.
„Für die Demokratie sind Spaltung und Eskalationsturbo in den sozialen Netzwerken noch kein Beinbruch, aber eine Herausforderung, sagt [Eli] Pariser. 98 Wenn sich zwei Personen unterschiedlichen Alters, Geschlechts oder unterschiedlicher politischer Präferenzen über ein Thema unterhalten, sprachen sie noch nie über exakt dieselbe Sache, erklärt er. Wer welche Information konsumiere, sei schon immer unterschiedlich gewesen. Ob jemand «Fox News» anschaut oder die «New York Times», kann er selbst wählen. Auch die Offline-Welt sah noch nie für alle gleich aus. Aber die Schnittmengen sind kleiner und die Gruppen grösser geworden. Parisers Theorie von den «Filter Bubbles» oder Echokammern hat sich teilweise überlebt. Aber je mehr sich Leute in personalisierten Feeds informierten, desto mehr verschwinde der gemeinsame Bezugspunkt. Wie weit der eigene Standpunkt abweicht, könne der Einzelne nicht mehr abgleichen, es sei denn, er gebe sich Mühe. «Es ist so schlimm gekommen, wie ich befürchtet habe», sagt er heute.“ 99
Es ist nicht das Problem unterschiedlicher Medien, wenn Leute sich in Meinungsblasen aufhalten, sondern oft auch das Fehlen der realen Bezugspunkte, der Menschen mit gleichen Vorlieben und gleichen Erfahrungen, reales Aufeinandertreffen ist schwieriger geworden. Der Wunsch, ernstgenommen zu werden, ergibt sich besonders daraus, wenn eigene Wahrnehmungen kaum noch mit der medial vorgebrachten Realität übereinstimmen. Wenn Geborgenheit fehlt und emotionale Intelligenz ebenso wie die Fähigkeit, sich auf andere einzulassen abnimmt, ist man auf Echokammern angewiesen. Dann ist es diese Gruppe, die ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelt und Austausch ermöglicht. Denn außerhalb der Meinungsblasen triftet die Weltsicht auseinander, Wahrnehmungen verfestigen sich zu Vorurteilen, Abwertungen und Überhöhungen der eigenen Identität.
Die Frage nach Transparenz stellt sich in digitalen Medienlandschaften unter neuen, zunehmend komplexen Voraussetzungen und verlangt nach veränderten Strategien. Die lange Zeit uneingeschränkter Hoheit der traditionellen Massenmedien über die Wirklichkeitskonstruktion wird durch eine algorithmische Ko-Konstruktion von Wirklichkeit ergänzt und verändert. Damit erhöht sich die Anzahl der demokratie- und transparenzrelevanten medialen Akteure deutlich. Es handelt sich großteils um Plattform-Unternehmen, die sich nicht als Medien, sondern als IT-Firmen definieren wollen, um weiterhin außerhalb der für Medien anwendbaren Regulierungen zu operieren. Doch de facto sind sie Teil des Mediensystems und erhöhen dessen Komplexität. Algorithmische Selektionsdienste wie Soziale Medien, Suchmaschinen, Newsaggregatoren, Scoring- und Empfehlungsdienste werden so zu einflussreichen sekundären Gatekeepern. Sie selektieren aus den von primären Gatekeepern vorausgewählten Nachrichten. Gleichzeitig ermöglichen sie Kontrolle und Kritik – auch an der vierten Gewalt, den traditionellen Medien – und werden so zu einer fünften Gewalt im Staat. Damit kommt es zu Machtverschiebungen in der medialen Landschaft, zu einem Bedeutungsverlust traditioneller Massenmedien im Meinungsbildungsprozess. Algorithmische Selektion hat sämtliche Stufen journalistischer Prozesse verändert, die Produktion, Distribution und den Konsum. All dies prägt die neuen Rahmenbedingungen dieser auf Transparenz abzielenden medienpolitischen Gratwanderung. Und zwar in Kombination mit einem konstatierten Vertrauensverlust in Medien, mit einem vielerorts erstarkten Populismus und dementsprechenden Angriffen auf Massenmedien mittels populistischen Kampfbegriffen wie Fake News und Lügenpresse. Algorithmische Auswertungen einer Big-Data-basierten Datenüberwachung erfassen neben Verhalten und Sozio-Ökonomie auch verstärkt Gesundheit und Emotionen. 100
„There is no such thing as society “– Die Worte Margret Thatcher’s haben Wirkung gezeigt. Die Gesellschaften haben sich mehr und mehr in Egoshootern aufgelöst. Die Gestaltungsräume wurden kleiner und Handlungsspielräume von Alternativlosigkeiten und Sachzwängen umgrenzt. In diesen Gesellschaften gibt es keine freien Assoziationen zum Aufbruch in eine bessere Zukunft wie in den Nachkriegsjahren. In Folge wachsen Kinder ohne Zukunftsperspektive auf und Harald Welzer sagt: „Fehlt aber die Vorstellung in der Gesellschaft, die Zukunft selbst gestalten zu können, verliert nicht nur die gerade aktive Generation die Handlungsperspektive, auch die nachfolgende Generation hat kein Bild von einer gelingenden Zukunft vor Augen.“101 Das Sterbliche in uns muss nach Aristoteles danach trachten herauszufinden, inwieweit wir zur Unsterblichkeit fähig sind und schreibt: „Doch darf man nicht denen folgen, die raten, man solle als Mensch an menschliche Dinge denken und als Sterblicher an sterbliche. Vielmehr müssen wir uns, soweit wir es vermögen, unsterblich machen und alles tun, um in Übereinstimmung mit dem Höchsten in uns zu leben.“102 Um unser Selbst (der Menschheit willen) ist wichtig sich eine andere, bessere Zukunft auszumalen und daran zu arbeiten diese Vision wahr werden zu lassen.
Verständlicherweise und entsprechend seiner Zeit betrachtete Adam Smith, als er am Buch „Wohlstand der Nationen“ arbeitete, das Streben nach Unsterblichkeit, welches die Bürger einer altgriechischen Polis umtrieb, argwöhnisch, er konnte nicht nachvollziehen, wie Bewunderung und Ansehen wichtiger sein sollten als materieller Lohn. Um reich zu werden, ist man auf niemanden angewiesen, da Kapital, wenn man es klug investiert, sich beständig vermehrt, während Anerkennung hingegen keinen Bestand hat, der Öffentlichkeit bedarf und ständig neu erkämpft werden muss.
Woran Mensch leidet, ist nach Hartmut Rosa das zutiefst gestörte Ungleichgewicht zwischen Arbeit, Hast, Konsum und Ruhezeit. Diese Unausgewogenheit durchsetzt alle Gesellschaftsschichten und führt seit Jahren zu immer mehr psychischen Störungen. Was vor wenigen Jahren noch eine Managerkrankheit war, betrifft nun diejenigen am häufigsten, die in prekären Lebenssituationen gefangen sind und keine Möglichkeit haben, ein selbstbestimmtes Leben zu leben. Es reicht eben nicht, schon den Übergang von Erschöpfung zur Ruhe als Glück zu empfinden. Bei diesem Zwischenstadium handelt es sich um kurzfristiges entspanntes Loslassen nach getaner Arbeit, möglichst auch mit Stolz verbunden, etwas geleistet zu haben, aber Glück? Glücklich sein, ist nichts, wonach man trachten oder suchen könnte, es ist selten und flüchtig, es hängt am Zufall, an dem, was Goethe die „Gelegenheit“ nannte , „die gibt und nimmt“. Im Leben glücklich zu sein ist ein andauernder Zustand des Mitschwingens mit den natürlichen Erfordernissen und ruhig zu sein, wenn Ruhe geboten ist. Der heutige Massenmensch kennt diese Ruhe kaum und ist ihrer kaum noch fähig. Lieber beschäftigt er sich pausenlos mit Konsumgütern, insbesondere jenen, die ihm Glück, Entspannung oder Erholung versprechen, dabei aber nur Ablenkung bieten und in fragwürdiger Weise Dinge abnehmen wollen, die Mensch selbst viel besser könnte. Diese Art einer weiteren Beschäftigung bietet keine Entspannung, wo Entspannung möglich wäre, sondern wechselt lediglich von einer Anspannung in eine andere. Mensch hat verlernt, was Muße, Ruhe und Entspannung ist, nämlich die Zeit der Kreativität, eine Zeit, in der das Gehirn an keine bestimmte Aufgabe gebunden ist, sondern Gedanken frei in Gehirnwindungen wandern und verharren können. Animal laborans nutzt seine Freiheit nicht, um qualitative Verbesserungen ins Leben zu bringen, sondern meint, er müsste sich die neue Anforderung nur anpassen und sich beständig selbst optimieren, um ihnen gewachsen zu sein, wie Bjung-chul Han schreibt.103 Was der heutige animal laborans dabei aber übersieht, ist, dass dieses Streben nach Perfektion keine echte Erfüllung ins Leben bringt. Im Glauben daran, dass technische Erfindungen all unsere Probleme lösen werden, ist das Glücksideal des heutigen animal laborans der Konsum. Wir kaufen, und was immer wir brauchen, die anderen machen das für uns. Das ständige Versprechen, dass wir irgendwann, wenn wir endlich genug geleistet haben, all unsere Probleme gelöst haben werden, lenkt den Blick auf das Tempo, mit der sich die Wirtschaft in eine Abfall-Wirtschaft gewandelt hat. Eine auf Vergeudung beruhenden Wirtschaft, die jedes Fleckchen Erde umgräbt, um an Rohstoffe zu gelangen. Die Gefahr einer solchen Gesellschaft, die in reibungsloses Funktionieren eingebunden ist, besteht darin, dass sie geblendet vom Überfluss vergisst, dass es immer noch Menschen gibt, die nicht einmal das Notwendigste besitzen.
Wir leben in einer Zeit der Zersplitterung. Alles wird in möglichst kleine Stückchen, Gruppen und Bestandteile zerstückelt. Was mit der wissenschaftlichen Suche nach den kleinsten Teilen begonnen hat, hat sich auch am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft durchgesetzt. Unser Alltag setzt sich aus Produktionsketten mit In-Time-Lieferung, Verwaltungsapparaten mit immer kleineren Zuständigkeiten und Informationen in immer kleineren Häppchen zusammen. Dienstnehmer sind für immer kleinteiligere Aufgaben zuständig, Forschungsprojekte sind oft spezialisiert und ohne jede Anbindung an angrenzende Forschungsfelder. Das vielfältige Können der Menschen wird kaum noch gefördert und nicht mehr eingefordert. Der nivellierte Massenmensch soll durch ein Alleinstellungsmerkmal aus dem Normalen heraustreten und einen multitalentierten Jemand zu einer ganz außergewöhnlichen Person mit einem Spezifikum machen, schreibt Andreas Reckwitz in „Gesellschaft der Singularitäten“.
Privat - öffentlich
Hannah Arendt wähnte sich 1957 im – in ihrem Sinne vermutlich - letzten Stadium einer Entwicklung, deren Merkmal ein Niedergang der europäischen Nationalstaaten war und die Schrumpfung der Erde sowohl in geografisch wie wirtschaftlich Hinsicht begann. Sie sah die Entstehung eines Menschengeschlechts voraus, welches sich an die Spitzen nationaler Gesellschaften gesetzt hat und die gesamte Erde als ihr Territorium und ihren Bereich der Einflussnahme in jedweder Hinsicht betrachtet. Solange die Enteignungsprozesse, deren Ingangsetzung zum gesellschaftlichen Wachstum führen und nicht zum Stillstand kommen, solange wird auch Weltentfremdung als fortlaufender Entwicklungsprozess anhalten. Die humanistische Vorstellung eines Weltbürgertums ist für Hannah Arendt eine Utopie, ebenso wie die widersprüchliche, sozialistische Vorstellung eines gesellschaftlichen Eigentums. Eigentum ist immer Privateigentum.
Als Erster sah J.J. Rousseau in Privatheit einen persönlichen Bereich, auf den der wachsende politische Einfluss keinen Zugriff hat. Der private Raum wird vom öffentlichen Raum, der allen gleichermaßen zugänglich ist, getrennt. Die ursprüngliche aristotelische Ordnung, Trennung von Politik und Familie, taucht in veränderter Form wieder auf. Zu Rousseaus Zeiten beginnt man, sich in die eigene Idylle zurückzuziehen und trennt Familie von Arbeit und Gesellschaft. Unsere Vorstellung von Privat unterscheidet sich kaum von Vorstellungen früherer Zeiten und unterscheidet nach wie vor zwischen Dingen, die entweder öffentlich oder im Verborgenen geschehen. Heute sieht Shoshana Zuboff104 in Privatheit eine Erfahrung des modernen Individuums und seiner Psyche, mit unverwechselbarer Innerlichkeit und Intimität. „ Privatheit, so Shoshana Zubhoff , ist seit der Aufklärung in einer Geschichte der Individualisierung entstanden, gleichzeitig mit der Idee universaler Menschenrechte und der Demokratie als politische Ordnung. Privatheit muss geschützt werden, weil in ihr zum Ausdruck kommt, dass jeder Mensch von Natur aus Respekt verdient und seine Würde gewahrt werden muss. Das emanzipatorische Versprechen des Internets war, dass jeder Einzelne zählt. Es kam dem Bedürfnis entgegen, möglichst effektiv selbstbestimmt leben zu können. Der Erfolg des modernen Kapitalismus beruht aber darauf, dass jede Art Privatheit unter Druck gerät und Öffentlichkeit mit Transparenz gleichgesetzt wird.“
„Transparenz bildet eine vorgelagerte Kategorie für das allgemeine, potenziell allen gleich zugängliche gesellschaftliche Makrophänomen der Öffentlichkeit ab. Demnach muss im Unterschied zur Bewertung der Öffentlichkeit als (Kommunikations-)Raum im Fall von Transparenz jeweils gefragt werden, für wen und in welchem Ausmaß etwas transparent ist, denn hier zeigen sich deutlich Machtgefälle und Ungleichheiten einer Gesellschaft. Wenn etwas für die Regulierungsbehörde transparent gemacht wird, so muss dies nicht für die Konsumenten gelten. Entsprechend dieser Abgrenzung zur Öffentlichkeit zählt Transparenz auch nicht zu den öffentlichkeitstheoretisch hergeleiteten Kriterien zur Überprüfung einer funktionierenden, demokratiefördernden Öffentlichkeit, deren Kriterien etwa Informations- und Diskursqualität, Freiheit, Vielfalt, Machtverteilung und Sicherheit darstellen. Die Herstellung von Transparenz ist ein ambivalentes Unterfangen, eine Gratwanderung zwischen wünschenswert und nicht wünschenswert. Sie ist eine wünschenswerte und vermeintlich einfache Strategie gegen Verzerrungen, Korruption und Vertrauensverlust in Gesellschaften, und gleichzeitig ein nicht wünschenswertes Phänomen, welches das demokratietheoretisch notwendige Maß an Privatheit und eine sozial, politisch und wirtschaftlich essenzielle Geheimhaltung gefährdet. So sind gläserne Bürger mit mangelnder Privatheit für liberale und deliberative Demokratien dysfunktional. Dies gilt auch für fehlende Geheimhaltungsmöglichkeiten bei politisch-diplomatischen Verhandlungen oder wirtschaftliche Prozesse, etwa zum Schutz von geistigem Eigentum und Innovationen.“
Normativ betrachtet ist die mit Transparenz gegenläufig verknüpfte Privatheit demokratiepolitisch wichtig, auch wenn diese Einschätzung in der Gesellschaft nicht umfassend geteilt wird oder bereits eine Post-Privacy-Welt attestiert wird. …
Bei zu viel Transparenz droht nicht nur das Untergehen in einer Informationsflut, sondern v.a. auch der Absturz in eine fragile, gläserne Welt mit erhöhter Verletzlichkeit benachteiligter Gruppen – das Eintauchen in eine Transparenzgesellschaft und Misstrauenskultur, die auf die Kontrolle der Bevölkerung und nicht auf das Vertrauen in diese setzt.“105
Für Hannah Arendt ist die elementarste Unterscheidung zwischen privat und öffentlich die, dass jeder Mensch das Recht auf Privatsphäre hat und selbst bestimmen kann, was als Privatangelegenheit gilt. Jeder menschlichen Betätigung wohnt der dazugehörende Ort inne. Das gilt besonders für die der vita activa innewohnenden Haupttätigkeiten, dem Arbeiten, dem Herstellen, Handeln und Denken.
Die Sklaverei und deren Verbannung in den Haushalt, ebenso wie die Situation der arbeitenden Klasse bis in die Neuzeit, ist den damaligen Lebensbedingungen geschuldet. Der allgegenwärtige Widerwillen gegen jene Vergeblichkeit, die der nie enden wollenden Arbeit innewohnt, und die Zumutung der Erkenntnis, dass nichts die gleiche Dringlichkeit erfordert wie gewöhnliche Arbeit mit ihrem ständigen Neubeginn, wiegt umso schwerer, als dass wir die einzigen sind, die, die Sinnlosigkeit dieser Mühen erkennen können. Conditio humana, bestimmt nach wie vor unser Dasein.
Arbeit
Alles, was dem Gelderwerb dient wurde zu Arbeit und bestimmt unser ganzes Leben, nur nennen wir es heute Projekt, um dem Ganzen ein höherwertiges Ansehen zu verleihen. Auch die Berufe haben schicke Namen bekommen, um davon abzulenken, dass es sich um schlichte, wenig anspruchsvolle Dienstleistung, Versorgungs-u. Reproduktionsarbeit handelt. An diesen Projekten arbeiten Singularitäten (Reckwitz), die extra für diese Aufgabe zusammen kommen; und so wie sie zusammen kamen, so trennen sie sich wieder, um an weiteren, einzigartigen Projekten zu arbeiten. Im projektorientieren Umfeld wird Konkurrenzdenken aufrecht erhalten, es entstehen keine längerfristigen Bindungen an den Arbeitgeber und keine dauerhaften Beziehungen zwischen Kollegen. Wenn jeder sein Bestes geben muss, befindet man sich unablässig im Wettkampfmodus um nicht zurück zu fallen. „Warum sollten wir gerade Sie einstellen?!“ Keine simple Frage, sondern ein Damoklesschwert die gute Performance von schlechter trennt. Der Projektleiter stellt Auftreten und Alleinstellungsmerkmal an und konsumiert spezialisiertes Können. Es zählt nicht der Mitarbeiter mit all seinen multiplen Fähigkeiten, sondern was er/sie, an Besonderem, zu bieten hat, wie er/sie sich darstellt (verkauft), und seinen/ihren Anteil am Projekt bestmöglich präsentiert. Es macht den/die Bewerber(in) zu Sklave und Sklavenhändler in einer Person. Entspricht die selbst dargebrachte Qualifikation nicht den Erwartungen, fällt es umso leichter sich von diesem Mitarbeiter zu trennen. Den Bewerbungsablauf einer künstlichen, scheinbaren Intelligenz zu überlassen, pervertiert den Vorgang zusätzlich. Es geht weder um einen fairen Prozess noch um Entscheidung nach objektiven Kriterien, es geht um Distanzierung und Entmenschlichung. Nach gemeinsamem Handeln wird auch miteinander reden, überflüssig (gemacht).
Der Kreislauf von Schaffen und Vergehen, Produzieren und Vernichten kann nur durch Konsum und Verbrauch aufrecht erhalten werden. Die maschinengetriebene Arbeitsteilung im endlos währenden Arbeitsprozess zwang den Arbeitern in beständig höherem Tempo ihren Rhythmus auf. Daraus wird ersichtlich, dass Arbeiten als Erschaffungsprozess und Konsumieren oder Verbrauchen zwei voneinander abhängige Formen des biologischen Kreislaufs sind, der endlos fortgesetzt werden kann, solange Bedürfnisse geweckt werden. Was wir erleben die vollständige Entkoppelung von Produktion und Bedarf. Längst wird nur noch um der Produktion Willen produziert, woraus sich eine endlose Reihe an „jetzt noch besser“(en) Wunderdingen ergibt, die sich geringfügig, durch billige, leicht einzubauende App-Anwendungen unterscheiden, aber in Wahrheit keine Verbesserung bedeuten. Diesen Bereich wollte Hannah Arendt freilegen, denn besonders der Arbeitsbereich verselbständigte sich schon damals. Diese Art der Arbeit macht den politischen Menschen inexistent. Die Vorstellungswelt des animal laborans ist auf Konsum gelenkt und begonnen hat alles mit den grandiosen Ideen des Edward Louis Bernays.106 Seither richtet animal laborans seine Interessen am zur Verfügung stehende Warenangebot aus und an den damit einhergehenden Wohlfühlfaktoren und Glücksversprechen.
Vergleicht man die moderne Welt mit vergangenen Epochen, so drängt sich zuerst der enorme Erfahrungsschwund auf. Denken ist zu bloßer Gehirnfunktion degradiert, welches nun selbst Rechenmaschinen besser können. Eine verkehrte Welt, in der bios politicos erst Homo Faber weichen musste und nun beide, der politische Mensch und der Handwerker, die Welt dem Arbeitstier abtreten mussten. Unsere einzig auf Arbeit ausgerichtete Welt ist nun ihrerseits im Begriff einen anderen Platz zu machen. Der Moment ist absehbar, wo auch die mit Arbeit verbundene Lebenserfahrung überflüssig zu werden droht. In den fortschrittlichen Ländern zeichnet sich bereits ab, dass die Arbeitsgesellschaft zu einer Gesellschaft von Jobholdern (Arendt) wird, in der kaum noch mehr als Funktionstüchtigkeit gefragt ist. Hannah Arendt schreibt: „Die einzige noch bestehende Aufgabe besteht darin, seine Individualität aufzugeben, in der die persönliche Mühe des Alltags noch registriert wird, um sich dann völlig beruhigt in den Alltag grau gekleideter Menschen einfügen zu können.“
Dabei ist das „Menschentier“ ist gar nicht so begabt, wie der technische Fortschritt es erahnen lässt, es sind viel eher der Erfindergeist, der Wille zur Fortentwicklung, das hartnäckige und unbeirrbare Weitermachen, die seine doch eher wenig stark ausgeprägten, natürlichen Sinne vergessen lassen. Und es war die Fertigkeit eine Vielzahl von Tieren zu domestizieren, sie für Menschendienste einzuspannen und später das gleiche mit Sklaven und Mitarbeitern zu probieren.
Schauen wir auf die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, sehen wir, dass Arbeitszeit eher wieder im Steigen begriffen ist und wir in manchen Bereichen durchaus von neuen ausbeuterischen Arbeitsverträgen reden können, deren Ziel es ist, die Reproduktionskosten zu drücken und Kosten an Arbeitsmaterial auf die Arbeiternehmer abzuwälzen. Ziel und Zweck liegen einzig in steigender Produktivität und steigendem Gewinn, der möglichst ohne Arbeitsleistung generiert wird.
Von der Antike bis ins Mittelalter wurde einmal mehr, einmal weniger gearbeitet und war den natürlichen Lebensbedingungen geschuldet. Im Frühstadium des Kapitalismus stieg das Pensum an zu leistender, bezahlter Arbeit immer weiter an und konnte erst nach Aufkommen des Sozialismus und heftiger Kämpfe wieder stufenweise gesenkt werden. Der beobachtbare Zeitraum, in dem Verkürzung der Arbeitszeit stattfand, wurde vom Frühstadium des Kapitalismus her gesehen und übergreift nur die Zeit ab Beginn der Industrialisierung. Betrachtet man auch die Zeit davor, in der hauptsächlich nach Bedarf gearbeitet wurde, hat sich an der zur Verfügung stehenden Freizeit wenig geändert. Viele Arbeiten waren früher zeitaufwändiger, wesentlich schwerer und mühsamer, dafür wurde aber nur das gearbeitet, was unbedingt nötig war, um den eigenen Bedarf zu denken. War kein Bedarf, ruhte die Arbeit am Hof und durften Werke auch stillstehen. Sobald es zu kalt oder zu finster wurde, war ohnehin Schluss für die meisten Tätigkeiten. Dank nahezu unbegrenzt zur Verfügung stehendem Strom wird der Feierabend heute bis in die Nacht hinein geschoben. Die Winterzeit, als allgemeine Zeit der Ruhe, wird durchgearbeitet. Die Industrie produziert in 3er- und 4er-Schichten Tag und Nacht, ohne still zu stehen. Stillstand ist in einer Welt des ständigen Wettkampfs zu teuer geworden.
& Politik
Der Weg zur Degradierung des Politischen zum Mittel für den „höheren“ Zweck maximaler Wirtschaftlichkeit ist längst gespurt. Wandel durch Handel zwingt die einen, bei Missständen die Augen zuzudrücken, und andere sich anzupassen, wobei Anpassung vom Stärkeren diktiert wird und nur als Wohlwollen getarnt daherkommt. Mit Erhaltung von Arbeitsplätzen um der Arbeitsplätze Willen, mit Wachstum um des Wachstums Willen, mit Fortschritt um des Fortschritts Willen werden keine gesellschaftlich erstrebenswerten Ziele verfolgt, sondern Anliegen von Wirtschaft und Finanzmarkt bedient. Statt der früher beabsichtigten Überwindung des Arbeitsjochs sehen wir einen Anstieg von Arbeitszeit und Erhöhung von Arbeitsdruck, nicht aber deren Überwindung, obgleich wir aufgrund gesteigerter Produktivität längst viel weniger arbeiten könnten, ohne an Wertschöpfung zu verlieren.
Wenn Animal laborans sich aus dem politischen Bereich zurückzieht, sich nur noch der Arbeit und seinem Konsum widmet, stirbt am Ende jede politische Aktivität seitens der Bürger ab. Der Staat wird zum bloßen Verwalter degradiert und übernimmt hauptsächlich den Schutz von Kapital.
Über die Jahre hinweg hat die Arbeiterbewegung an Bedeutung verloren, nicht zuletzt aus eigenem Verschulden. Sie wendete sich die letzten Jahrzehnte vermehrt den Interessen der Mittelschicht zu und hat dabei die Interessen ihrer Kernwählerschaft aus den Augen verloren. Noch schlimmer war, dass sich der Sozialismus nicht für die aufkommenden prekären Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit, Scheinselbständigkeit und Einzelunternehmen zuständig fühlte. Unter welchen Bedingungen gearbeitet wurde, spielte plötzlich keine Rolle mehr. Es wurde nicht mehr für mehr Rechte und bessere Bezahlung gekämpft, sondern gegen den Verlust von Arbeitsplätzen und Produktionsstätten. Der Verlust von Arbeitsplätzen wurde zur permanenten Drohkulisse und führte letztendlich dazu, dass alle notwendigen Anpassungen zur Installierung der liberalen Marktwirtschaft (Flexibilisierung, Globalisierung, niedrigere Löhne) ohne viel Aufhebens mitgetragen wurden – denn immerhin war es modern flexibel zu sein. Heute ist es nicht mehr das Wort „Arbeitsplätze“, welches kaltes Schaudern hervor ruft, sondern „Standortwettbewerb“. Wenn man schon die Arbeitsplätze nicht erhalten kann, dann doch zumindest, dass die großen Unternehmen bestehen bleiben, auch wenn wir ihnen Vorteile bieten müssen, die kleinen Gewerbetreibenden verwehrt bleiben.
Was wir tun, wenn wir arbeiten, war die zentrale Frage im von Hannah Arendt 1958 erschienenem Buch Vita activa oder vom tätigen Leben. Hannah Arendt kritisiert die neuzeitliche Tendenz Arbeit zu verherrlichen, politisches Handeln dagegen als sinnlos, ja überflüssig oder gar als Bedrohung für die Demokratie zu betrachten. Die Konsequenz einer solchen Haltung ist, dass der Mensch sich kaum noch handelnd in die Welt einbringt. Harald Welzer meint dazu107: „Seit Jahrzehnten können wir eine Zunahme von antipolitscher Einstellung beobachten, die Bürger sind nur noch Teilnehmer der Gesellschaft und keine gestaltenden Akteure mehr, sie lassen machen und nehmen, was ihnen vorgesetzt wird.“ Die Bürger sehen Politik als eine Art Lieferservice. Aber ohne eingehende Bestellungen, ohne Engagement für unsere Belange wird nicht serviert, was die Bürger wollen, sondern was diejenigen wollen, die mit Kapitalmacht ihre Interessen durchzusetzen verstehen.
Antipolitik lässt sich mit Argwohn gegenüber den staatlichen Institutionen und institutionalisierter Politik beschreiben. Ganz unpolitisch (apolitisch) ist Antipolitik aber nicht; Interesse wäre durchaus vorhanden; was fehlt, sind Wege der Einflussnahme. Der Mensch hat aufgehört seine Welt mitzugestalten und ist seit Jahrzehnten auf dem Weg sich zu entpolitisieren. Trotz vieler Möglichkeiten der aktiven Teilnahme gelingt es der breiten Wählerschaft nicht mehr, sich einzubringen. Das Gefühl der politischen Bedeutungslosigkeit findet hier seinen Ausgang. Der Mensch ist auf arbeitstechnische und konsumistische Aufgaben reduziert und vollständig auf Arbeit und den Kreislauf Produktion und Konsum angewiesen. Auch wenn wir in einer Demokratie leben, bleibt das, was der Demos will, ungefragt. Wenn alle das Gleiche anbieten, kann man schlecht wählen. Für Hannah Arendt ist bzw. war die Situation nicht ausweglos. Im gemeinsamen, öffentlichen Handeln erkennt sie die Chance des Menschen, seine Entfremdungstendenzen zu überwinden. Statt sich abzuschotten oder im Hyperkonsum zu versinken, müsse der Demos wieder politisch aktiv werden und in die Öffentlichkeit treten, auf Probleme hinweisen und Änderungen einfordern. Darauf bestehen aktiv mitgestalten zu dürfen und in Hannah Arendts Sinn‚ einen Neuanfang wagen. Hannah Arendts scharfe Analyse der „Jobholdergesellschaft“, in der das Individuum funktionieren muss, um sich zu erhalten, ist bis heute hochaktuell und wird es wohl noch eine Weile bleiben.
Wirtschaft – Industrie – Konsum
Stadien der Mechanisierung / Industrialisierung
Das Erste Stadium der Mechanisierung; die industrielle Revolution folgte unmittelbar auf die Einführung der Dampfmaschine. Rentabel machte den Einsatz der Dampfmaschine aber erst der Zugang zu scheinbar unerschöpflichen Kohle- und Erdölvorkommen. Die Maschinen konnten erstmals Tag und Nacht am Laufen gehalten werden.
Im Zweiten Stadium, dem der Elektrifizierung, konnten Vorgänge in Gang gesetzt und gehalten werden, die ohne Strom nie möglich gewesen wären. Erste Lampen und Laternen ermöglichten auch Arbeiten in der Nacht. In der fließbandtauglichen Massenproduktion wurden Produktteile nicht mehr geholt, sondern „angeliefert“. Der Einsatz von Fließbändern und immer mehr Maschinen führte zu einer Zersplitterung komplexer Arbeiten in einzelne Handgriffe. Produktionsgegenstand und Herstellungsprozess geben vor, welche Berufe und Fertigkeiten notwendig sind, wie sie aufeinander abgestimmt werden können und welches Material benötigt wird; für die einzelnen Handgriffe konnte man häufig auf gelernte Handwerker verzichten. Die Faktoren, Wegersparnis in der Fabrik und der Einsatz ungelernter Arbeiter, ermöglichten preiswertere und trotzdem qualitativ hochwertige Produkte, was zu einer enormen Produktionssteigerung führte. Heute sind wir ein gutes Stück weiter. Für Produktionsketten108 werden LKWs mit halbfertigen Produkten angeliefert und nach getaner Arbeit zum nächsten Fertigungsschritt geführt, immer dem günstigsten Standort nach.
Hannah Arendt vergegenwärtigt die Triebkraft des Prozesses der Weltentfremdung mit Blick auf das deutsche „Wirtschaftswunder“. Ein Wunder war es nur insofern, dass sich das bisherige Wachstum noch im Rahmen des bis dahin möglichen bewegte und nach dem Krieg in der Zeit des Wiederaufbaus alle bis dahin gültigen Normen, überstieg. Hannah Arendt schreibt: „Das deutsche Wirtschaftswunder dürfte in seiner Art ein klassisches Beispiel dafür sein, dass unter den modernen Bedingungen Zerstörung und Vernichtung von Privateigentum nicht zu Armut, sondern zu Reichtum führt. Für den Wiederaufbau des Vernichteten war es nur notwendig, dass das Land modern genug war, um auf Vernichtung mit erhöhter Produktion zu reagieren. Wirtschaftlich gesehen hat die Verwüstung des Krieges mit einem Schlag für etwas gesorgt, was sonst der langsamere Konsumprozess über lange Zeit hinweg hätte leisten müssen.“ Das Wunder zeigt laut Hannah Arendt weiter, dass der moderne Produktionsprozess bereits eine Triebkraft erreicht hatte, für die die deutsche Konsumkapazität nicht mehr ausgereicht hätte.
… zum Glück der Deutschen verzichteten die Alliierten auf eine Hungerpolitik, wie sie die deutschen Besatzer zuvor ausgeübt hatten, und importierten mit Unterstützung von ausländischen Privatpersonen, Verbänden und Kirchen zusätzliche Nahrungsmittel. Dennoch war beinahe ein Drittel der Deutschen krankhaft unterernährt. Auf den zweiten Blick aber zeigte sich, dass die Industriekapazitäten Deutschlands vom Krieg kaum in Mitleidenschaft gezogen waren. Die Anzahl der funktionsfähigen Maschinen und Fabriken lag 1948 auf demselben Niveau wie 1938. Auch die Demontagen der Alliierten in Westdeutschland fanden nicht in einem bedeutenden Ausmaß statt. Vom Krieg stark getroffen waren allerdings die Transportwege. Zerstörte Straßen und Schienen sorgten für Lieferengpässe. Mit der Aufrüstung im Dritten Reich gingen industrielle Modernisierungen einher und Übersiedler aus der DDR versorgten Westdeutschland mit einer großen Anzahl von gut ausgebildeten Arbeitern. Die finanziellen Mittel aus dem Marshall-Plan ermöglichten es Deutschland zudem problemlos, notwendige Rohstoffe zu importierten. Und die langen Jahre des Verlusts und Verzichts kurbelten die Binnennachfrage an. Alles in allem war das „Wunder“ ein Aufholprozess, der über ein Jahrzehnt brauchte, um abgeschlossen zu sein: Erst 1957 übertraf das Bruttoinlandsprodukt auf deutschem Boden wieder das Niveau von 1943. 109
Obgleich schon damals klar war, dass sich qualitativ hochwertige Produkte einerseits, und andererseits Bewahren und Wiederverwerten hinderlich auf die ständige Beschleunigung des Produktionsprozesses auswirken, wurde noch im Sinne Homo Fabers produziert, hauptsächlich Qualität vor Quantität. Erst ein paar Jahre später setzte sich Der Verkonsumierungszwang des animal laborans, mit all seinen Konsequenzen, durch. Hundert Jahre nach Edward Bernays erschienenem Buch „Propaganda: Die Kunst der Public Relations“ (1928) wissen wir, dass sich Marx‘ Hoffnung auf mehr Freizeit, um sich den schönen Dingen des Lebens zu widmen, nicht bewahrheitet hat. Nach Abdeckung der Grundbedürfnisse wurde die Produktion nicht heruntergefahren. Im Gegenteil, das Public Relation-Konzept von Edward Bernays ermöglichte den Übergang von bedarfsgesteuerter auf konsumgesteuerter Produktion. Damit begann der Aufstieg einer Werbeindustrie, die mittlerweile zu einem der größten Marktteilnehmer zählt und immer noch wächst. Waren es vorher einfache Konsumgüter von großer Nützlichkeit, guter Haltbarkeit und längeren Entwicklungsphasen, verkürzten sich die Produktionszyklen auf ein sich ständig wechselndes Angebot. Qualitative Anforderungen wurden reduziert, mitunter auch „Sollbruchstellen“110 eingebaut und Reparieren unrentabel gemacht. Mit immer neuen modischen Akzenten wurden neue Geschmacksrichtungen und Moden geschaffen, um den Bedarf aufrecht zu erhalten. Nützlichkeit war einem von Lustbefriedigung getriebenem Lebensgefühl gewichen. Schon der Anblick des Objekts der Begierde musste einen möglichst hohen Wohlfühlfaktor hervorrufen. Die Maschinerie kommt nicht mehr zum Stillstand. Autos, Mobiliar, Kleidung müssen immer weiter neu erzeugt werden. Was nicht verkauft wird, landet häufig auf Deponien häufig in armen Ländern, vernichtet deren eigene Produktivität und zerstört aufgrund fehlender Gesetze und Infrastruktur deren ohnehin fragile Umwelt.
Von der Reduktion der Arbeitszeit zum Wohlergehen aller sind wir genauso weit entfernt wie von der ursprünglichen Absicht des Utilitarismus „das größte Glück der größten Zahl“ zu verwirklichen.
Kennzeichen der modernen Wirtschaft ist also die Umstellung von der Herstellung von Gebrauchsgegenständen auf die Erzeugung von Arbeitsprodukten, die wir getrost Wegwerfprodukte nennen können. Erzeugt, um konsumiert zu werden, nicht, um sie, wenn nötig reparieren zu lassen, oder wieder zu verwerten. Die "Arbeitsgesellschaft" verkonsumiert alles, was unser Industriesystem verproduziert, die gesamte Umwelt, nichts bleibt verschont. Für den Konsumenten geht es um Wohlstand, für die Wirtschaft um Schaffung von Abhängigkeiten und um Aufrechterhaltung der Produktivität. Was Mensch für sich selbst macht, gilt als unproduktiv und darum machen wir das nicht (mehr) – es schadet der Wirtschaft. Je mehr Gegenstände, Lebensmittel oder Handgriffe zugekauft werden müssen, umso abhängiger wird Mensch von Dienstleistung und Produktion. Mit der Industriegesellschaft kamen auch immer mehr Fremdkörper in die Dingwelt. Abfall ist sogar in Ländern, die bis vor Kurzem kaum Müllprobleme kannten, allgegenwärtig. Der alte Hausverstand denkt noch, dass es sich um natürliche Dinge handelt, Dinge, wie sie die vorindustrielle Produktion hervorbrachte und die nach Bedarf weiter verwertet werden konnten oder rückstandslos verrotteten. Aber heutige Wegwerfprodukte verrotten nicht in dem Tempo, wie wir sie produzieren, im Gegenteil, ausgerechnet sie halten, gerechnet an menschlicher Lebenszeit, ewig. Im Gegensatz zu früheren Arbeitsprodukten verdirbt heute auch die billigste Fabrikware kaum mehr, jedes Gemüsesackerl hält nun schon mehrere hunderte Jahre, Fasern aus Hightech-Sportbekleidung findet man am Südpol – unverrottbar und für immer dort. Diese Haltbarkeit von an sich wertlosen Dingen haben Adam Smith und John Locke wohl nicht vorhergesehen, sonst hätten sie einen anderen, besseren Maßstab für Wert gefunden.
Zu Marx‘ Zeiten hatte sich das Verwalten und Regieren vor Ort schon völlig zu Gunsten eines gesamtstaatlichen Haushaltens verändert und war in jenen bürokratischen Verwaltungsapparat übergegangen, den wir heute kennen. Wir sehen seit langem auf eine zentralistische Bürokratisierung mit „Regieren aus der Ferne“ zurück. So wie Staaten dezentral regiert werden, gilt ähnliches nunmehr auch für Großkonzerne, die aus einer fernen Weltgegend über das Geschehen regionaler Betriebe wachen und mit „corporate identity“ gleiches Aussehen, gleiches Angebot und gleiches Verhalten, ein weltweit funktionierendes Wiedererkennungsmerkmal geschaffen haben, dem man sich nicht entziehen kann. Das gleiche gilt für den digitalen Sektor, ob es nun der Handel mit gesammelten Daten oder um beliebig vervielfältigbare Software geht; der Aufwand der Unternehmen ist niedrig, die Gewinne sind enorm. Die wenigen verbliebenen Unternehmen beherrschen den Markt absolut und dulden neben sich keine Konkurrenz. Liberal kapitalistisch geführte Unternehmen vernichten ihre Mitbewerber im Wettbewerb, was zwangsläufig zu Macht- und Kapitalkonzentration in den Händen weniger führt. Es sind die ersten Unternehmen, deren Kapital hauptsächlich auf Rechten beruht (Norbert Häring). Es ist unmöglich geworden etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen; man hat zu spät bemerkt, wie enorm der Zuwachs an ungegenständlichem Firmenkapital ist, welches nicht mehr jenen industriellen Produkten entspricht, für die heutige Gesetze gelten.
Die moderne Gesellschaft sah in unproduktiver Arbeit etwas, was es noch auszumerzen galt, und machte jede Art Dienstbarkeit zum Geschäft. Der Dienstleistungssektor begann sich mit Ausrufung der Dienstleistungsgesellschaft zu etablieren. Ursprüngliche Serviceleistungen – „Dienst am Kunden“ – wurden zum bezahlungspflichtigen Zusatzangebot einer Leistung, die man verkaufen konnte oder wie Roland Düringer111 sagte „Früher hat uns die Post gehört, heute können wir sie kaufen“ (Aktien). Heute übersteigt der breit ausgefächerte Dienstleistungssektor, allen voran Kapitaldienstleistungen und Marketing, jeden anderen Erwerbsbereich.
Die Gefahr, dass die menschliche Produktivität im industriellen Produktionsprozess untergeht, wird real. Man weiß schon, dass nur noch dort Menschen zur Arbeit eingesetzt werden, wo menschliche Arbeitskraft billiger kommt als der Einsatz von Robotern. Das gilt längst nicht mehr nur für Fabrikhallen, vieles lässt sich auch im Büroalltag und in der Landwirtschaft maschinell und per Computer abwickeln. Ganze Produktionshallen haben sich schon geleert und sind stattdessen mit Roboterarmen bestückt, die aus der Ferne von wenigen Menschen gesteuert werden können. Das gilt zumindest für einen Teil der Menschen. Für einen anderen, jene die wie Aristoteles schreibt, mit Versorgungsarbeit beschäftigt sind, nimmt Arbeit kein Ende, während sich in der Qualität der Anerkennung seit der Antike keine wesentliche Verbesserung aufgetan hat. Die meisten sind immer noch fest davon überzeugt, dass sie sich einfach nur mehr anstrengen müssen, um letztendlich jenen Erfolg zu haben, der ihnen zusteht. „Zeit ist Geld“, „der frühe Vogel fängt den Wurm“ sind nach wie vor gern gebräuchliche Redewendungen. Dabei ist Zeit für uns vergängliche Menschen – Lebenszeit, die man so oder so verwenden kann. Keinesfalls kann man Zeit mit Geld gleichsetzen. Wer Zeit auf Geld reduziert, entwertet jedes Menschenleben, in dem jede Minute an dessen Rentabilität gemessen oder danach gemessen wird, was geleistet hätte werden können, hätte Mensch sich nicht ausgeruht. "Speed kills!" Was Geschwindigkeit wirklich killt, ist unsere Zeit zur Erholung und Entspannung; da hilft es auch nicht, wenn ein Weniger an Zeit „intensiver gelebt“ oder besonders „genossen“ wird. Auch der Genuss ist zum Marketinggag verkommen. Genießen ist kein willkürlicher Vorgang, sondern stellt sich ein, wenn weder zeitlicher Druck noch Erfolgsanspruch – „ich muss das jetzt genießen“ – dahinter stehen. Dinge brauchen ihre Zeit sich zu entwickeln, aber wenn immer Wachstum mit Entwicklung gleichgesetzt wird, zeigt das schon, wo der Schwerpunkt festgemacht wurde, nicht auf Entwicklung hin zum Besserwerden, sondern am mehr von irgendwas. Wachstum und Entwicklung sind kaum einmal das Gleiche. Entwicklung führt zu Verbesserungen – technische, gesellschaftliche und persönliche – und zu mehr Erkenntnis. Möglicherweise zur Erkenntnis, dass ein Schritt zurück sinnvoller wäre als noch einer vorwärts, aber solche Gedanken sind natürlich abwegig, denn zurücktreten geht gar nicht.
„Für Friedrich von Hayek schreibt Dorian Hanning in Makroskop , war die Erkenntniskraft der arbeitsteilig partikularisierten Einzelnen stets beschränkt. Die Evolution – und nicht der einzelne Mensch – entscheidet letztlich über Erfolg und Misserfolg seines Tuns. Damit liegt der Schluss nahe, dass sich das Ideal der Evolution, die Schönheit ihres ungestörten Schaltens und Waltens, nur dann verwirklichen kann, wenn man sich ihr einfach überlässt. „Schuster bleib bei deinem Leisten!“, lautet dann im wahrsten Sinne des Wortes das Prinzip, nach dem sich der Einzelne am besten den Kräften der Evolution unterwerfen soll. Aus dieser Form der Erkenntnisskepsis motiviert sich bei Hayek nun folgerichtig auch eine Skepsis gegenüber dem Staat und seiner Steuerungsfähigkeit, die er auffallend häufig auch in moralische Begrifflichkeiten wie „Demut“ und „Anmaßung“ kleidet. Der Staat als Akteur soll die Evolution in ihrem Wirken nur bekräftigen. Laissez-faire! Alles, was darüber hinausgeht, mutiert umgehend zur Anmaßung des Eingriffs in die spontane Ordnung und ist in dieser Hinsicht immer schon restriktiv. Die Konsequenz: Jeder Zustand der Welt – egal wie unschön er für die konkrete Lebenswirklichkeit der Menschen auch sein mag – ist so zu akzeptieren, wie er ist, weil er immer schon Ausdruck einer evolutionären Logik ist. Wehe dem, der sich berufen fühlt, den evolutionären Prozess regulativ zu verändern. Die Strafe dieser Schicksalsmacht ist ihm dann sicher, denn sein Tun ist – bildlich gesprochen – falsche Evolution und sein Motiv anti-evolutionär.“112
Die Überhöhung der Produktivität und das von Hayek geforderte Sich-heraushalten aus marktwirtschaftlichen Belangen – es sei denn zum Wohle und Schutz von Kapital – hat uns mittlerweile an den Rand der Selbstzerstörung gebracht und zieht unwiederbringliche Zerstörung einmaliger Naturressourcen nach sich; es zeigt in Krisenzeiten, wo das soziale Gefüge auseinander bricht, weil Sozialleistungen nur mehr mit Mühe erbracht werden können; es zeigt, dass der Markt durchaus nicht alles regelt; und es zeigt, wieviel Infrastruktur die letzten Jahre an Privat abgetreten wurde und letztendlich doch der staatlichen Unterstützung bedarf, wenn sie reibungslos funktionieren soll. Die Verabsolutierung der „Zweck (Gewinnmaximierung) – Mittel und (Einsparungsmaßnahmen)-Kategorie“, Hand-in-Hand gehend mit der Überzeugung, dass sich alle menschlichen Motive allein darauf reduzieren lassen und dass das Prinzip des Nutzens sicher alle zukünftigen Probleme lösen wird, kennt kein anderes Mittel, als immer auf diesem Weg fortzuschreiten, um ans Ziel zu kommen.
„Kaum eine Generation vor uns, schreibt Hannah Arendt 1957, hatte so reichlich Gelegenheit, sich von den Konsequenzen der Mittel-Zweck-Kategorie zu überzeugen, indem alle Mittel, sofern wirksam, berechtigt sind eingesetzt zu werden, wenn sie einem (höheren) Zweck dienen. Es reicht nicht festzustellen, dass es Zwecke gibt, die nicht alle Mittel rechtfertigen, weil man einen Zweck nur in Bezug auf die angewandten Mittel rechtfertigen kann.“ Solange unser Denken sich um Mittel und Zwecke „um zu“ dreht, werden wir wohl kaum jemanden hindern können, jedes beliebige Mittel einzusetzen. Es wird sich für jeden Zweck jemand finden, der den Einsatz eines Mittels für passend und angemessen hält und das Ansinnen unterstützt. Fortschritt galt damals und gilt heute mehr denn je als etwas, was jedes Mittel rechtfertigt, sogar immer restriktiver werdende Maßnahmen des Staates. Hannah Arendt sieht Fortschrittsgläubigkeit als gefährliche Ideologie, wenn sie zur Rechtfertigung allen Handelns dient, und schreibt: „Jeder, der im Namen einer Ideologie, auch jener des Marktes als eine sich selbst regelnde Wirkmacht des Fortschrittes, den man immer weiter anstreben muss und ihn nicht in eine menschen-, tier- und umweltgerechte Ethik einhegen darf, handelt, wird zum Verwalter einer Ideologie, ohne jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wer so denkt, fühlt sich nicht schuldig, weil er nicht anders kann, als so zu handeln.“ Von Sachzwängen in ein Korsett von wenigen Handlungsoptionen gezwungen steht ihm das Hinterfragen von Anordnungen nicht zu. Für Hannah Arendt war der Gipfelpunkt dieser Entwicklung das Atomzeitalter, und sie schrieb: „Auch wenn wir anhand der Atombombe das enorme Vernichtungspotential gesehen haben, gibt es erste Anzeichen, in welchem Ausmaß die Umstellung der Technik auf Atomenergie unsere Welt verändern würde. Es geht hierbei nicht mehr um Entfesselung von Naturgewalten, sondern um Kräfte, die außerhalb des Irdischen, im Universum, angesiedelt sind, welche wir im täglichen Leben zu bändigen haben werden.“ Als Reaktion auf eine aus dem Gleichgewicht geratene Welt, in der die Verheißungen der modernen Technik in Bedrohung umgeschlagen sind, entwirft der Philosoph Hans Jonas 1970 die Grundlage einer neuen Ethik und formuliert einen neuen Imperativ: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“ „Durch die rasante Entwicklung neuer Technologien bleibt das Wissen über die eigenen Handlungsfolgen hinter der menschlichen Schaffenskraft zurück. Laut Jonas ist es das Dilemma der Moderne, dass für bisherige Ethiken die Reichweite von Handlungen noch einigermaßen überblickbar waren, aber mit zunehmender Technisierung und entsprechenden Forschungen liegen die Konsequenzen des Handelns vieler Beteiligter weit außerhalb unseres Horizonts, Folgeschäden können erst nach Jahren eindeutig zugeschrieben werden, manchmal auch nie. Zuviel an schädlichen „Segnungen“ ist schon in die Umwelt gelangt. Statt auf eine Risikoabwägung, bei der die Wahrscheinlichkeit einer negativen Handlungsfolge mit der Schwere ihres Schadens verrechnet wird, setzt Jonas auf das Vorsorgeprinzip. Seine „Heuristik der Furcht“ mahnt dazu, die schlimmstmögliche Handlungsfolge gegenüber der wahrscheinlichsten stärker zu gewichten. Je unsicherer die Folgen einer Entscheidung sind, desto größer ist die Verpflichtung zur Vorsicht.“113 Nachdem in Amerika die umgekehrte Strategie gilt – erst müssen negative Folgen bewiesen werden, um etwas verbieten zu können –gilt dieser Grundsatz auch immer mehr für Europa.
Der Zwang zum Wirtschaftswachstum wurde schon von John Stuart Mill und einige Jahrzehnte später auch von Max Weber kritisiert, der sich zu einer besorgniserregenden Prognose hinreißen ließ, was die Entwicklungsaussichten des kapitalistischen Wirtschaftens anging. „Der Kosmos der modernen Wirtschaftsordnung, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren werden, mit überwältigendem Zwang bestimmt, werde herrschen, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist“, schrieb Max Weber 1905114.
Hannah Arendt schreibt: „Das Beunruhigende am modernen Behaviorismus ist, dass sich diese Theorie als richtig erweisen könnte und das, was in der modernen Gesellschaft vorgeht, nicht nur theoretisch beschrieben wurde. Was in der Neuzeit so vielversprechend begonnen hatte, die Aktivierung aller menschlichen Vermögen und Tätigkeiten, scheint in steriler Passivität zu enden. Wenn der Wecker schrillt, stehen wir bereit. Der Markt bestimmt, was zu tun ist, und Rundumüberwachung sorgt dafür, dass wir uns entsprechend verhalten. Hannah Arendt schreibt: „Die Sozialwissenschaft errechnet Veränderungen für das Verhalten von Menschengruppen und für das Kollektiv bestimmte Verhaltensformen, unabhängig davon, wie zufällig einzelne Ereignisse erscheinen und wie frei sich Einzelne fühlen mögen. Das dürfte der Grund für diese Koinzidenz sein; so könnte es daran liegen, dass es bereits selbstverständlich geworden ist, gesellschaftliche Vorgänge so zu betrachten, als seien wir unserer menschlichen Existenz ebenso entrückt, wie wir von mikro- oder makrokosmischen Vorgängen entfernt sind. Selbst wenn wir noch bessere Apparate bauen, wir werden es nicht schaffen, sie alle sinnlich wahrnehmen zu können. Es gibt noch andere, ernstere Gefahrensignale, die darauf hinweisen, dass wir uns in jene Tiergattung zurückentwickeln, von der wir abstammen. Vom Standpunkt des archimedischen Punktes im Universum können menschliche Tätigkeiten nicht mehr im Einzelnen, sondern nur noch als Prozesse in Erscheinung treten. Aus sicherer Entfernung wirkt die moderne Motorisierung wie ein Mutationsprozess, in dem sich Menschen, ähnlich einem Schneckenhaus, nun in ein Metallgehäuse hüllen. Bis zu welchem Punkt der archimedische Punkt sich gegen uns wendet, zeigt die Durchdringung unserer Alltagssprache von naturwissenschaftlichen und technischen Ausdrücken – wenn z. B. vom „Leben“ der Atome oder von „Gesetzen des Zufalls“ gesprochen wird. Alles folgt der gleichen naturwissenschaftlichen Fluktuation.“ Und weiter: „Dieser feststellbare moderne Erfahrungsschwund kann nicht bedeuten, dass Mensch seiner Bedingtheit eigenen Vermögen verloren hat, denn ungeachtet der Aussagen vieler Wissenschaftler geht Herstellen, Tun und Arbeiten weiter, aber nur mehr auf Einzelne beschränkt, die eigentlichen weltorientierten Erfahrungen sind nicht mehr Erfahrungshorizont durchschnittlicher menschlicher Existenz. Ähnliches gilt für das Handeln, das nur noch im Sinne der Verursachung von Prozessen eine Rolle spielt, denn gerade das ist Vorrecht der Naturwissenschaft, welches durch ihr Eingreifen nicht nur das Labor des Physikers erweitert, sondern auch die Bereiche der menschlichen Angelegenheiten. Auch der wichtigste Aspekt, dem Vermögen zu handeln, bleibt auf wenige, die sich in diesem Erfahrungshorizont noch auskennen, beschränkt. Das Denken, möchte man hoffen, hat von diesen neuzeitlichen Entwicklungen den wenigsten Schaden genommen. Es mag unter bestimmten politischen Bedingungen verletzbarer sein als andere Vermögen. Jedenfalls ist es leichter, unter tyrannischer Herrschaft zu handeln als zu denken. Zu Unrecht galt Denken lange Zeit als Vorrecht Weniger, aber gerade darum darf man nicht annehmen, dass die Wenigen heute noch weniger sind. Das mag nicht von großer Bedeutung für die Zukunft sein, die nicht vom Denken, sondern von der Macht der handelnden Menschen abhängt. Hätten wir die verschiedenen Tätigkeiten der Vita activa nur von der Frage her betrachtet, welche Tätigkeit die tätigste ist, hätte sich vermutlich ergeben, dass das Denken alles andere übertrifft.“
Wissenschaft
Im Laufe der Neuzeit haben sich immer wieder Denkrichtungen von der Philosophie abgespalten. Die Philosophen als Vertreter einer Wissenschaft, deren Aufgabe es ist, den Überblick zu behalten und Verschiedenes in Beziehung zu setzen, begannen an ihrer Existenzberechtigung zu zweifeln. Und erst Ende des 19 Jhdts, als sich Neukantianer wieder an Kant erinnerten und in seinen Aussagen Wahrheiten entdeckten, die auch über viele Jahrzehnte verschiedenster Denkströmungen hinweg nicht ihre Kraft verloren hatten, konnte die Philosophie wieder den Boden unter den Füßen spüren und sich daran erinnern, worum es im Wesentlichen geht, den Menschen Wegweiser zu einem guten Leben zu sein.
Hannah Arendt schreibt: „Niemand hat vorausgeahnt, was die Theorien und Hypothesen der letzten 50 Jahre (1957) ermöglichten, dennoch beruht auch diese Entwicklung darauf, dass die Zweiteilung von Himmel und Erde aufgehoben und die Erde zu einem Sonderfall der unzähligen Körper im Weltall wurde. Der Wechsel vom heliozentrisch organisierten System zum Weltall, welches insgesamt um keinen Punkt zentriert ist, war für die Leistung der Wissenschaft ebenso entscheidend wie die Ablösung vom geozentrischen Weltbild durch das heliozentrische. Aus Einsteins Relativitätstheorie folgt, dass dem in Zeit und Raum erscheinenden Sein keine absolute Wirklichkeit zukommen kann. Diese Idee kam schon in Theorien des 17. Jhdts vor, deren zufolge bestimmte qualitative Zuschreibungen nur in Relation zu anderen Objekten bestehen.“ Erst als man dieses Faktum berechnen konnte, gewann die Aussage an Gültigkeit und konnte nicht mehr als Hirngespinst abgetan werden.
Erdentfremdung, als Wissenschaftsbestimmender Faktor, hat deren Charakter ebenso grundlegend verändert wie das Phänomen der Weltentfremdung die gesellschaftliche Entwicklung der Neuzeit. Die Forschung hat sich der bis dahin gültigen Maßstäbe und Maßeinheiten entledigt und ist in weitaus größere und kleinere Dimensionen vorgedrungen. Den Mathematikern gelang es sich auf einheitliche Symbole und Formeln zu verständigen. Mit Hilfe der abstrakten Symbolsprache konnten unterschiedlichste Dinge in Beziehung gebracht werden. Die ersten komplizierten Maschinen und Apparate wurden erdacht und gefertigt. Die ersten Statistiken wurden verfasst und die ersten Versuche zu Intelligenztests unternommen, wobei Intelligenztests auch heute noch hauptsächlich Fähigkeiten widerspiegeln, die sich auf mathematische Berechnungen herunter brechen lassen. Intelligenz aber ist eine kreative Leistung, die man weder berechnen noch erlernen kann. Jemandes IQ mag noch so hoch sein, wenn faktisches Wissen nicht oder nur teilweise in reale Problemlösungsstrategien übersetzt werden kann, bleibt man in einer theoretischen Welt gefangen.
Die heutigen mathematischen Formeln und Symbole enthüllen für uns keine idealen Formen mehr wie für Platon, der in Kreis oder Dreieck Urbilder sah und darin die Möglichkeit sich dem höchsten Guten anzunähern (Timaios). Die Zwecks ihrer einfacheren Handhabbarkeit und die Übertragbarkeit der entstandene Symbolsprache stellt für die breite Masse an Menschen nur Ungegenständlichkeiten dar, mit denen sie nichts anfangen können. Die Reduzierung der Computer auf Nullen und Einsen geht noch einen großen Schritt weiter und bietet den normalen Menschen nun keine Möglichkeit mehr, daraus nachvollziehbare Schlüsse zu ziehen.
Seit wenigen Jahrzehnten leben wir in einer von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt geprägten Welt. Die Kluft, die uns in Sachen Fortschritt von 3, 4, 5 Generationen trennt, lässt sich allein an Kerzenlicht versus Leuchtdioden erkennen und an Pferdefuhrwerk versus Weltraumraketen. Der Trennstrich zwischen Neuzeit und Moderne verläuft wissenschaftlich über Erkenntnisse zum menschlichen Verhalten hin zur technischen Physik und dem Bestreben, alles, was als wissenschaftlich gelten will an dieser technischen Physik zu messen. Errechnen, Messen, Kontrollieren, Prüfen und noch einmal alles Wiederholen waren in der Moderne die wesentlichen Forschungsschwerpunkte. Der menschliche Erfindergeist und die Fähigkeit weiter zu denken und zu entwickeln, machten es möglich, dass schon wenige Jahre, nachdem 1957 der erste Sputnik-Satellit ins Weltall geschickt wurde, weitere Raketen und Satelliten folgten. Selbstlernende Maschinen und Roboter wurden entwickelt – der Trend geht nunmehr zum Hybridwesen, um durch technische Verbesserungen die Fehlerquelle Mensch aus dem Weg zu räumen.
Für Hannah Arendt stellt Mathematik ein Erkenntnisideal dar, welches noch nicht einmal indirekt mit Gegenständlichem befasst ist. Sie führt nach Hegel offenbar in die für den gesunden Menschenverstand „verkehrte Welt“, in der Zeichen, Symbole und Listen größere Bedeutung beigemessen wird als der eigenen betrachtenden Erkenntnis. Sie, die Mathematik, sei – wie Whitehead115 meinte – „in der Tat das Resultat des auf dem Rückzug befindlichen Gemeinsinns“ und wird zunehmend als mentale Unvereinbarkeit zwischen real Wahrgenommenem und wissenschaftlichen Denken gesehen. „C.E.M. Joad 116 hielt das Weltbild der modernen Wissenschaft als unvereinbar mit dem gesunden Menschenverstand und schlug vor, ihn, einschließlich einer realistischen Sicht auf materielle Objekte, zu Gunsten der rein wissenschaftsbasierten Information aufzugeben. Es sieht so aus, als hätte sich Joads Idee nunmehr völlig durchgesetzt. Im Gemeinsinn, der anders als Physik und Mathematik sich leicht betrügen lässt, erschließt sich den Menschen die gemeinsame Welt und kann als erfahrbare Wirklichkeit geteilt werden. Die uns umgebende Natur ist auch dann real, wenn wir uns nicht gedanklich mit ihr befassen, und existiert ohne unser Zutun. Wissenschaftliche Theorien müssen sich immer neu beweisen und gelten erst dann als wahr, wenn sich bei jedem Test das gleiche Resultat erzielen lässt. Anderes gilt für die Philosophie. In der Philosophie können Annahmen ausgesprochen werden, die weder hinterfragt noch bewiesen werden können, z.B. die Frage nach einem lebendigen Gott ist eine Frage, die sich nicht schlüssig beantworten lässt, da Gott ein Konstrukt des menschlichen Geistes ist. Die Anforderungen, die an Physik und Philosophie gestellt werden, sind verschieden; so kann man auch den Vergleich zwischen Wissenschaft und Gemeinsinn sehen, es sind verschiedene Anforderungen. Der Gemeinsinn prägt unser Verständnis über die Welt und bestimmt unser tägliches Leben auf andere Weise als Wissenschaft es tut. Der Fehler liegt in einer Gegenüberstellung dieser beiden Welten, zwischen denen wir uns entscheiden sollten, es gibt aber keine Grund, uns für oder gegen etwas zu entscheiden, denn beide Welten, die Wissenschaft und der Gemeinsinn, haben nebeneinander ihre Berechtigung, schreibt Siobhan Chapman.“117
Hannah Arendt: „Wenn sich heraus stellt, dass es eine beliebige Anzahl verschiedener Universen gibt, dann könnte man doch auch meinen, man hätte es mit einer vorherbestimmten Einheit aus Mathematik und Physik zu tun, worauf wahrscheinlich der Verdacht folgt, dass selbst kleinste Teilchen ähnlichen Gesetzen folgen wie das Sonnensystem. Wenn dem so ist, dann bekommen wir vom Standpunkt der Astronomie her betrachtet Sonnensysteme zu sehen und vom geozentrischen Standpunkt aus betrachtet Neutronen und Ionen, wie sie um einen Atomkern kreisen. Es stellt sich heraus, dass – sobald man mit Mikroskopen und Teleskopen beginnt Regionen zu erforschen, die jenseits sinnlicher Wahrnehmungen sind – sich deren Strukturen und Regeln ähneln. Alsbald wird sich der menschliche Verstand regen und zu bedenken geben, dass es sich hier womöglich weder um makro- noch um mikrokosmische Phänomene handelt, sondern wir automatisch mit den Dingen vergleichen, die uns bekannt sind und anhand derer wir sie beschreiben können.“ Aus historischem Blickwickel betrachtet waren es nicht viele technische Entwicklungen, die zum heutigen, enormen Fortschritt führten. Oft waren es zufällige Entdeckungen oder Folgeerscheinungen, die einen Fehler oder ein unbeabsichtigtes Resultat zum alltäglichen Gebrauchsgegenstand werden ließen, z. B. Teflon, Post-it, Penizillin. Den wesentlichen Anteil am Fortschritt hatten der vermehrte Kohleabbau und die ersten erschlossenen Ölquellen, sie machten die benötigte Energie billig und verfügbar. Der Raubbau an Gütern in fremden Ländern, die Arbeitskraft von Fremdarbeitern, die ganzjährige Erntemöglichkeit in südlichen Ländern, die Verdinglichung von Tieren und das Auslagern unseres Müllproblems, hat uns wohlhabend gemacht. Trotz aller bereits sichtbaren Probleme wird am Kredo des ungebrochenen Wirtschaftswachstums festgehalten und führt immer schneller in eine Sackgasse der umfassenden Überproduktion mit einhergehender Ausbeutung der Natur. Immer schneller, immer mehr bedeutet, dass auch Rohstoffe und Naturrefugien immer schneller in Bedrängnis kommen. Hartmut Rosa sagt: „Das Schnellere setzt das Langsamere unter Druck. Nicht alle Lebenssphären lassen sich gleich unter Druck setzen und dynamisieren. Selbstregenerationskräfte, Selbstreinigungskräfte und Nachwachsen von Rohstoffen kommt zum Stillstand oder zum Erliegen. Die Verfügbarmachung von allem führt zur Entfremdung des Naheliegenden, das, was uns unmittelbar betrifft.“118
Die Reduzierung der wesentlichen Lebensinhalte auf Schaffung von Mehrwert hat Erwerbsarbeit zu unserem höchsten Gut und die Verpflichtung der Wissenschaft daran fest gemacht, für wirtschaftlichen Fortschritt zu sorgen. Die Vorurteile gegen nichts produzierende Geisteswissenschaften, nicht wissenschaftlich genug zu arbeiten, ist groß. Die immer kleinteiliger werdende Spezialisierung auf Teilbereiche einzelner Disziplinen hat den Blick auf das große Ganze, auf Zusammenhänge und Abhängigkeiten verstellt. Ihre Meinung, dass Generalisten sich zu wenig auf den Bereich ihres Fachs konzentrieren und letztendlich von nichts eine Ahnung haben gilt nach wie vor. Aber wie viele Erfindungen hätte es nicht gegeben, wenn nicht jeder der frühen Generalisten und Universalgenies irgendwann seinen Blick geweitet hätte?
Fußnoten
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1 https://de.wikipedia.org/wiki/Entfremdung
2 Han, Byung-Chul, koreanisch-deutscher Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor
3 Welzer, Harald: Alles könnte anders sein, 2019
4 Rosa, Hartmut: Prekäre Weltbeziehung, Zeit: 21:30 Youtube
5 Blom, Philipp: Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt. 2017
6 Weber, Max: Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, 1905
7 Die Entstehung der Polis, ihr ging die Kleisthenische Reform voraus, gilt als Meilenstein in der Entwicklung zur Attischen Demokratie, in der eine Durchmischung der Bürger in die Wege geleitet wurde. Wikipedia
8 Rosa, Hartmut: RESONANZ - Eine Soziologie der Weltbeziehung, 2018; https://www.youtube.com/watch?v=LE_7FvZ25Os
9 Homer, Neunter Gesang, Vers 440; https://www.gottwein.de/Grie/hom/od09de.php
10 Ottmann, Henning: Geschichte des politischen Denkens, Band 1.1: Die Griechen. Von Homer bis Sokrates, S. 14; https://books.google.at/books?id=kUm3DQAAQBAJ&printsec=frontcover&dq=henning+ottmann&hl=de&sa=X&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false
11 Keul, Hans-Klaus: Kritik der emanzipatorischen Vernunft: zum Aufklärungsbegriff der kritischen Theorie, S. 97; https://books.google.at/books?id=TUZwkYR-k_IC&printsec=frontcover&dq=inauthor:%22Hans-Klaus+Keul%22&hl=de&sa=X&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false
12 Die Bezeichnung geht ursprünglich auf „am Ofen stehend“ zurück und bezeichnete hauptsächlich einfache Kunsthandwerker, denen Aristoteles jede Form der Bildung absprach. Wikipedia
13 Frede, Dorothea: „Platon zu lesen, ist verführerisch“, Onlinemagazin Philomag 2020; https://www.philomag.de/artikel/dorothea-frede-platon-zu-lesen-ist-verfuehrerisch
14 Parmeides u. Timaios sind in Dialogform verfasste Werke Platons, in denen er über seine Ideen spricht. Parmenides will wissen, was es heißt, dass die Dinge an den Ideen teilhaben. Ist eine Idee, wenn sie in vielen Dingen gleichzeitig ist, jeweils als Ganzes in diesen Dingen oder jeweils zu einem Teil? Sokrates antwortet: als Ganzes. Ideen seien wie der Tag, der ja auch als einer und derselbe überall gleichzeitig sein könne. Reclam: Platon Parmenides / https://www.getabstract.com/de/zusammenfassung/parmenides/22507
15 Blauensteiner, Birgit, Diplomarbeit: „Die Sklaverei der athenischen Demokratie in klassentheoretischer Hinsicht“, S. 31; https://utheses.univie.ac.at/detail/18174#, Universität Wien
16 Die Bezeichnung „finsteres Mittelalter“ geht vor allem auf die Abgrenzung der Renaissance zurück, die sich auf die Ideale der Antike zurück besinnen wollte und den Entwicklungen der Neuzeit skeptisch gegenüber stand.
17 Kotrschal, Kurt: Mensch – woher wir kommen. 2019, S. 81 Vom Behaviorismus beeinflusst, neigte der Mainstream der Psychologie und Sozialwissenschaft der Ansicht zu, Verhalten wäre eher erlernt als umweltbedingt, Menschen daher beliebig form-u. erziehbar. …
18 Radiokolleg – Mangel und Überfluss - Von der Quantität zur Qualität. https://oe1.orf.at/player/20211130/659811 Dennis Snower (Präsid. d. Global Solution Initiative) sagt in einem Interview auf Ö1 über den Homo oeconomicus, dass auch er auf der Universität gelernt hat, so wie alle heutigen Mainstream-Ökonomen zu denken, und erst über die Jahre hinweg eine kritische Haltung gegenüber diesem Denken aufgebaut hat. Der Homo oeconomicus ermöglicht der Ökonomie ein einfaches Menschenbild, leicht vorhersagbar und leicht vermittelbar. Die Politik kann sich auf einfache Aussagen stützen, weshalb Ökonomen einen so großen Einfluss auf die Politik haben. Das Menschenbild des Homo oeconomicus beruht auf vereinfachenden Ideen und geht von 5 Annahmen aus. 1) Der Mensch hat nur individualistische Bedürfnisse. | 2) Das Einzige, was zählt, ist der Nutzen und die Frage, was es nutzt. | 3) Was nützt, sind Gebrauchsgegenstände und Konsum in jeder Form. | 4) Moralische Werte, hehre Ziele, zwischenmenschlichen Beziehungen und menschliche Bedürfnisse haben keinen Nutzen. | 5) Menschen handeln nur im Eigeninteresse, und wenn wir so tun, als ob wir jemanden begünstigen, dann nur, weil wir von eigenen Interessen geleitet sind. In der Gesellschaft gibt es eine ganz einfache Aufgabenverteilung. Die Zivilgesellschaft konsumiert. Firmen kümmern sich darum Gewinne zu machen. Die Regierung hat die Aufgabe Regeln in diesem Sinne zu gestalten. Auf dieser Basis lassen sich leicht Vorhersagen treffen, die aber kaum eintreffen. Die Vorhersagen sind unpräzise und lassen die wichtigsten Faktoren zwischenmenschlicher Beziehungen unberücksichtigt. Dieses weltfremde Weltbild hat zu den heutigen Krisen beigetragen, weil es Politik und Ökonomie blind gemacht hat. Es gibt zwar ein Umdenken, aber die Studenten lernen erst spät und nur in speziellen Lehrgängen davon. Über gesellschaftliche Belange geht man weiterhin schweigend hinweg. Weder werden Umweltschäden berücksichtigt noch gesellschaftliche Bedürfnisse wahrgenommen. Oberste Maxime ist Konsum und ein großer Anteil der Produkte wird nicht produziert, um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um ein Bild aufrecht zu erhalten. Die Jagd nach dem Glück ist eine große ressourcenverbrauchende, müllproduzierende Illusion, die den Lebensraum von Menschen, Pflanzen und Tieren zerstört.
19 Brand, Sebastian: Die europäische Republik als Ausweg aus dem Bürgerkrieg? Onlinemagazin Makroskop 2018; https://makroskop.eu/spotlight/tina-und-das-demokra-tier/die-europaische-republik-als-ausweg-aus-dem-burgerkrieg/
20 Gestalt der griechischen Mythologie, Erfinder, Techniker und Baumeister, Wikipedia
21 Gestalt der griechischen Mythologie, Gott des Feuers, Wikipedia
22 Aristoteles: Politik, 1253b 30−1254a 18
23 Markward, Nils: Eigentum verpflichtet: Die sichtbare Hand des Marktes, Onlinemagazin Philomag 2020; https://www.philomag.de/artikel/die-sichtbare-hand-des-marktes
24 Recktenwald, Horst Claus: Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen 2009, S. 272f,
25 Ashley, Winston: The Theory of Natural Slavery, according to Aristotle and St. Thomas, Dissertation der Universität Notre-Dame 1941
26 Arendt, Hannah: Der Mensch und die Arbeit, Augustheft 1960, Merkur # 150 https://www.merkur-zeitschrift.de/autoren/der-mensch-und-die-arbeit/
27 Kotrschal, Kurt: Mensch; Woher wir kommen, wer wir sind, wohin wir gehen, 2019, S. 8
28 Machiavelli, Niccolò: Principe, 153 „[...] „denn es liegt eine so große Entfernung zwischen dem Leben, wie es ist, und dem Leben, wie es sein sollte, daß derjenige, welcher das, was geschieht, unbeachtet läßt zugunsten dessen, was geschehen sollte, dadurch eher seinen Untergang als seine Erhaltung betreibt; denn ein Mensch, der sich in jeder Hinsicht zum Guten bekennen will, muß zugrunde gehen inmitten von so viel anderen, die nicht gut sind. Daher muß ein Fürst, wenn er sich behaupten will, die Fähigkeit erlernen, nicht gut zu sein, und diese anwenden oder nicht anwenden, je nach dem Gebot der Notwendigkeit.“ Principe, 119: Daraus folgert Machiavelli: „Deshalb ist ein Fürst, der seine Herrschaft behaupten will, häufig gezwungen, nicht gut zu handeln.“ (https://wiki.philo.at/index.php?title=Machiavelli_(Arbeit).
29 Neumann, Peter: Schelling und die Klimakrise, Onlinemagazin Philomag 2020; https://www.philomag.de/artikel/schelling-und-die-klimakrise
30 Der Mensch ist das Maß aller Dinge, die wohl bekannteste sophistische Lehraussage ist zu einem geflügelten Wort geworden.
31 Morin, Edgar: Die Menschheit kann der Kopilot der Natur werden, Onlinemagazin Philomag 2021; https://www.philomag.de/artikel/edgar-morin-die-menschheit-kann-der-kopilot-der-natur-werden
32 Möllers, Christoph: „Freiheitsgrade“. Elemente einer liberalen politischen Mechanik. 2020
33 Burger, Rudolf Österr. Philosoph 1938 - 2021
34 Burger, Rudolf: Re-Theologisierung der Politik? - Wertedebatten und Mahnreden. 2005
35 Kant, Emanuel in der Berlinischen Monatsschrift den Aufsatz „Über das radikal Böse in der menschlichen Natur“
36 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung: »Schuld«, »Schlechtes Gewissen« und Verwandtes, 1-10 http://www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche,+Friedrich/Zur+Genealogie+der+Moral/Zweite+Abhandlung
37 Homonoia wurde von den Griechen verwendet, um in der Politik des klassischen Griechenlands Einheit zu schaffen. Wikipedia
38 Krippendorff, Eckehart: Wahre Freundschaft - Freundschaft als politische Kategorie /https://www.lpb-bw.de/publikationen/dokumentationen/Freundschaft.pdf 1
39 Sehl, Erika: Erkenntnisontik in der griechischen Philosophie. Kritische Studien zur Geschichte der Lehre von einer Subjektivität der Sinnesqualitäten. 5. Band, Nr: 1, Seite 28f. Verlag Akt.Ges. Ernst Plates, Riga 1936
40 Blom, Philipp: Was auf dem Spiel steht, 2017, S. 82f
41 Penzel, Alexander: Die feudale Produktionsweise, Kap 8; Die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. Die gewaltsame Verjagung der Bauern von Grund und Boden. Die Anhäufung von Reichtümern, http://www.politische-oekonomie.org/Lehrbuch/kapitel_4.htm...
42 Nuss, Sabine: Privateigentum: Schein und Sein; https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/316448/privateigentum-schein-und-sein-essay/
43 Bleisch, Barbara: Zeitsouverän im Homeoffice, Schweizer Tagesanzeiger online 2020; https://www.tagesanzeiger.ch/zeitsouveraen-im-homeoffice-499299495496
44 Hermann, Ulrike: Karl Marx: Genial und manchmal falsch, Onlinemagazin Heise 2018; https://www.heise.de/tp/features/Karl-Marx-Genial-und-manchmal-falsch-3974623.html
45 Hegel, Georg Friedrich Willhelm 1770 - 1831
46 Blom, Philipp: Was auf dem Spiel steht, 2017, S. 96
47 Utilitarismus wird heute vielfach als Schimpfwort verwendet und das nicht ganz grundlos. Nutzen und Nützlichkeit war seit jeher etwas, worüber sich die Menschen den Kopf zerbrochen haben. Thomas von Aquin sah in Nützlichkeit ein Orientierungsprinzip persönlichen Handelns. Gut ist was nützt! Nicht umsonst richten die Menschen ihr Handeln auf einen Nutzen aus. Nicht das Ausrichten auf einen Nutzen wird als Problem gesehen, sondern darauf, was wir als Nutzen anerkennen. Die Beurteilung dessen, was von Nutzen ist, hat sich massiv verändert. Die Entstehung des modernen Utilitarismus orientierte sich am Wohlbefinden, daran was Lust und Freude (Befriedigung von Bedürfnissen) verursacht. Mit Fokus auf Bedürfnisse war es naheliegend, dass Nützlichkeit immer mehr mit Ökonomie, der Nutzentheorie und dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage in Verbindung gebracht wurde. Mit Entstehen des modernen Kapitalismus griff Jeremy Bentham im 18. Jhdt frühere Ansätze auf und systematisierte sie in "Introduction to the Principles of Morals and Legislation" als Grundlage des modernen Utilitarismus. Aus eben diesem modernen, auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Utilitarismus entstand der Liberalismus, von dem wir heute reden und zu dessen Entwicklung Adam Smith und Jeremy Bentham federführend beitrugen. Der Utilitarismus wurde auf Wirtschaftsinteressen reduziert. „Gut ist was nützt“ war kein gesellschaftliches Thema mehr, sondern ein wirtschaftliches. Alle gesellschaftlichen und staatlichen Interessen wurden an deren wirtschaftlichen Nützlichkeit gemessen. Wirtschaftliches Wachstum und Erfolg. Die Reduzierung auf den wirtschaftlichen Bereich hat das utilitaristische Prinzip "Das größte Glück der größten Zahl" pervertiert und im Einklang mit der protestantischen Ethik (Max Weber) alle gesellschaftlichen Interessen, zum Wohle Weniger, untergraben.
48 Hannig, Dorian: Unser aller Feind der Staat, Onlinemagazin Makroskop 2019; https://makroskop.eu/spotlight/tina-und-das-demokra-tier/unser-aller-feind-der-staat/
49 Althusser, Louis, französischer Philosoph. In den 1960er und 1970er Jahren hatte er großen Einfluss auf die Weiterentwicklung des Marxismus, Wikipedia
50 Bound Alberti, Fay: A Biography of Loneliness – The History of an Emotion, 2019
51 Scheidler, Fabian: Die Epidemie der Einsamkeit überwinden, Infosperber Onlinezeitung 2021 https://www.infosperber.ch/wirtschaft/wachstum/die-epidemie-der-einsamkeit-ueberwinden/
52 Pistor, Katharina: Der Code des Kapitals: Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft, 2020
53 Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018
54 Kehnel, Annette: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit, 2021, S. 353ff
55 Als Säkularisation wird ursprünglich die staatliche Einziehung oder Nutzung kirchlicher Besitztümer (Land oder Vermögen) bezeichnet. Im engeren Sinne versteht man darunter die Säkularisation während des napoleonischen Zeitalters (1799 bis 1821), bei der zwei Formen zu unterscheiden sind: einerseits die Aufhebung kirchlicher Institutionen und die Verstaatlichung ihres Besitzes (…), andererseits die Einverleibung der geistlichen Fürstentümer und Herrschaften des Heiligen Römischen Reiches durch größere Territorialstaaten. Vor allem das weltliche Dienstpersonal im Kloster sowie die unmittelbar vom Kloster abhängigen Handwerker und Gewerbetreibenden verloren ihre Arbeitsplätze und gerieten in eine bedrohliche Armut. Der enteignete – teilweise sehr große – Grundbesitz wurde oftmals dem Landesherrn bzw. Staat direkt zugeschlagen oder in Stiftungen eingebracht, um dem bisherigen Zweck weiter zu dienen. Die vermögensrechtlichen Folgen der Enteignungen stellen noch heute in Form der Staatsleistungen ein staatskirchenrechtliches Problem dar. Wikipedia
56 Geisen, Thomas: Arbeit und Subjektwerdung in der Moderne: Ein dialogue imaginaire zwischen Hannah Arendt und Karl Marx, 2011, S. 380
57 Aporie: philosophische Frage, die aufgrund ihrer Widersprüche unlösbar ist. Wikipedia
58 Müller, Oliver: Selbst, Welt und Technik: Eine anthropologische, geistesgeschichtliche und ethische Untersuchung (Humanprojekt, 11, Band 11), 2013, S. 271
59 Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, 2018
60 Welzer, Harald über den Wahrheitsbegriff: Verbietet das Bauen, 2020; https://www.youtube.com/watch?v=tyAP9MioNrw&t=743s / [Podcast] über Status Quo und Zukunft von Wirtschaft & Politik
61 Jones, Lee: COVID-19 entlarvt das Versagen des postpolitischen Staates, Onlinemagazin Makroskop 2020; https://makroskop.eu/spotlight/tina-und-das-demokra-tier/covid-19-entlarvt-das-versagen-des-postpolitischen-staates/
62 Mandeville, Bernard: Die Bienenfabel (1720) war eine Absage an jene persönlichen Tugenden, die zur damaligen Zeit überaus gepflegt wurden. Mandeville hielt diese Tugenden für hinderlich, wollte man auf Fortschritt und Wohlstand setzen. 300 Jahre später hat sich die Abkehr von persönlichen Tugenden im Homo oeconomicus dann tatsächlich durchsetzen lassen. Wikipedia
63 Der Staatsbegriff: In seinem Werk ,,Elements of law" setzt sich Hobbes noch mit dem Gegenstand des Rechts auseinander, geht in ,,Decive" auf den Bürger ein und konstituiert am Ende, im ,,Leviathan", das Modell eines absolutistischen Systems, in dem ,,der Staat als Einheit, als Person, als künstlicher Mensch, schließlich als deus mortalis in voller Größe sichtbar" wird. Es muß an dieser Stelle erwähnt werden, dass Hobbes zur Zeit des englischen Bürgerkriegs lebte, die Frage nach der besten Staatsform stellte sich ihm und seinen Zeitgenossen in brennender Dringlichkeit. Die kriegerischen Auseinandersetzungen schienen kein Ende nehmen zu wollen und waren, bis aufs letzte ausgereizt, nunmehr zu einer Gefahr für jeden geworden. (https://www.grin.com/document/101940))
64 Blom, Philipp: Was auf dem Spiel steht, 2017, S. 134f
65 ebd
66 Lachmann, Renate: Verkehrte Welt (lat. mundus inversus) Die in einem ägyptischen Bildtypus aus dem 2. Jhdt v. Chr. nachweisbare Vorstellung ist im europäischen Kontext erstmals greifbar bei Archilochos: Das kosmische Ereignis der Sonnenfinsternis von 648 wird zum Anlass, die Aufhebung aller Naturgesetze und das Unmögliche als Verkehrung der Weltordnung zu imaginieren. Im Griechischen wird die Vorstellung nicht begrifflich gefasst, sondern mit der aristophanischen Formel „das oberste zuunterst“ umschrieben. (Historisches Wörterbuch der Philosophie: https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.verkehrte.welt%27%20and%20%40outline_id%3D%27hwph_verw.verkehrte.welt%27%5D)
67 Rosa, Hartmut: Transfer neu denken: Best account. Die Krise der Spätmoderne und die Rolle der Gesellschaftstheorie, 2021; ab min 26:00; https://www.youtube.com/watch?v=enxvkT3YD4A,
68 Welzer, Harald in Generalversammlung GS1 Switzerland 2021 - „Utopie - der Blick, der aus der Zukunft kommt.“ 2021; https://www.youtube.com/watch?v=-zyIdnwz-74
69 Grau, Alexander: „Leben in der Angstgesellschaft“, ab Minute 10:00; https://www.swr.de/swr2/wissen/leben-in-der-angstgesellschaft-swr2-wissen-aula-2021-06-03-100.html
70 Auch bekannt als Vektorgeometrie oder kartesisches Koordinatensystem. Kartesisch oder kartesianisch benannt nach René Descartes
71 Bärwolf, Benedikt: René Descartes, der Begründer des neuzeitlichen Rationalismus und die Einführung in die Erkenntnistheorie, https://www.grin.com/document/156434
72 Balke, Friedrich: „Ob man ohne Körper denken kann“ Zum Verhältnis von Maschine und Organismus in der Medienphilosophie; 2013, S. 135–154; https://www.fink.de/view/book/edcoll/9783846755297/B9783846755297-s009.xml
73 Der archimedische Punkt ist ein feststehender, theoretischer Angelpunkt (absoluter Punkt) außerhalb eines Versuchsaufbaus. Er geht auf eine Aussage Archimedes zurück und beschreibt einen festen Punkt im All, von dem man, mit einem entsprechend langen Hebel, die Erde aushebeln könnte. Wikipedia
74 Düsings, Edith Interpretation von Nietzsches Denkweg: http://www.information-philosophie.de/
75 Kossen, Peter: Fleischindustrie: Sie werden wie »Wegwerfmenschen« behandelt, Onlinemagazin Jacobin 2020; https://jacobin.de/artikel/fleischindustrie-peter-kossen-corona-wegwerfmenschen-arbeitsmigranten/
76 Der Titel dieser Schrift lautet: The Theory of Moral Sentiments, 1759 (Die Theorie moralischer Gefühle). Das Wort Psychologie gab es zur damaligen Zeit noch nicht.
77 An Introduktion to the Principles of Morals and Legislation, London 1828
78 Arendt, Hannah in ihren Anmerkungen, S. 427
79 Pöttinger, Harald: Die „liberale Demokratie“ ist eine permanente Gratwanderung http://haraldpoettinger.com/liberale-demokratie-gratwanderung/
80 Maus, Ingeborg: Professorin für politische Theorie und Ideengeschichte
81 Steinhardt, Paul: Der Neoliberalismus ist tot! – Wirklich? Onlinemagazin Makroskop, 2021 https://makroskop.eu/spotlight/leben-untote-laenger/der-neoliberalismus-ist-tot-wirklich/#_ftn23
82 Kehnel, Annette: Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit. 2021
83 Rathenau, Walther: (1867 – 1922) deutscher Politiker (DDP)
84 Hellige, Hans Dieter: Dauerhaftes Wirtschaften contra Wirtschaftsliberalismus: Die Entstehung von Rathenaus Wirtschaftsethik, artec-Paper Nr. 96, August 2002. https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/21996/ssoar-2002-hellige-dauerhaftes_wirtschaften_contra_wirtschaftsliberalismus.pdf;jsessionid=4F2758843356220D099D839B59AC7EF3?sequence=1
85 Ziegler, Leopold (1881-1958). Gesammelte Werke in Einzelbänden, Band 1, Seite 173f
86 ebd. Seite 141f
87 Ebd.
88 Von der Hagen, Hans: "Die mächtigste Kennzahl der Menschheitsgeschichte", Süddeutsche Zeitung online 2014; https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/wirtschaftswachstum-die-maechtigste-kennzahl-der-menschheitsgeschichte-1.1925901-0
89 Olivi, Petrus Johannis; https://de.wikipedia.org/wiki/Petrus_Johannis_Olivi
90 Mahlmann, Matthias, Rechtstheorie: John Locke, 4.3.5 Eigentum und Arbeit; http://www.rwi.uzh.ch/elt-lst-mahlmann/rechtstheorie/locke/de/html/u3_lo3_5.html Universität Zürich
91 Unter Kapital versteht man nicht nur Geldwerte, sondern Grundstücke, Gebäude, Betriebsmittel, Wertpapiere, heute vielfach auch Rechte.
92 Proudhon, Pierre-Joseph (1809-1865), französischer Ökonom und Soziologe: In seiner Schrift "Qu’est ce que la propriété? Ou recherches sur le principe du droit et du gouvernement" zieht Proudhon die Schlussfolgerung: Eigentum ist Diebstahl, meint damit aber Privateigentum als Privileg oder Monopol. Solange Eigentum Privilegien birgt, kann es in erpresserischer Weise eingesetzt werden. Proudhon meint, dass man ausser persönlichen Arbeitsmitteln nur Güter besitzen darf, die gemeinschaftlich hergestellt oder im Tausch erworben wurden. Die Ausbeutung der Arbeitskraft muss unterbunden werden, um die daraus resultierende Macht und Kapitalanhäufung zu verhindern. Wikipedia
93 Pistor, Katharina: Der Code des Kapitalismus wird von Anwälten geschrieben; Onlinemagazin Jacobin 2021; https://jacobin.de/artikel/katharina-pistor-code-des-kapitals-interview/
94 Die Entstehung der Werbekörper: Von Wolfgang M. Schmitt und Ole Nymoen, Onlinemagazin Jacobin 2021; https://jacobin.de/artikel/wolfgang-m-schmitt-ole-nymoen-influencer-taobao-live-key-opinion-leader-shopify/
95 Precht, Richard David über Bildung, Arbeit, Digitalisierung, Grundeinkommen, Pflicht, … Academia Superior 2021, ab min 43; https://www.academia-superior.at/dialog-fragen-an-die-zukunft/
96 Snower, Dennis J., US-amerikanisch-deutscher Wirtschaftswissenschaftler
97 Die Erforschung von Gemeinschaft/Gesellschaft geht auf Ferdinand Tönnis (1855-1936) Soziologe, Nationalökonom und Philosoph, zurück.
98 Aktivist und Politologe Eli Pariser erfand vor zehn Jahren den Begriff «Filter Bubble»
99 Gschweng, Daniela: Facebook, die Wirklichkeitsmaschine, Onlinezeitung Infosperber 2021; https://www.infosperber.ch/medien/ueber-die-netzwelt/facebook-die-wirklichkeitsmaschine/
100 Michael Latzer: Transparenz: Eine medienpolitische Gratwanderung (IKMZ – Department of Communication and Media Research) Universität Zürich 2021, https://mediachange.ch/media//pdf/publications/transparenz.pdf
101 Welzer, Harald in Generalversammlung GS1 Switzerland 2021 - „Utopie - der Blick, der aus der Zukunft kommt.“ 2021; https://www.youtube.com/watch?v=-zyIdnwz-74 (aus einer Studie zu jugendlichen Zukunftsperspektiven: Es setzen sich nur jene Utopien durch, die das Zusammenleben verbessern)
102 Nikomachische Ethik X 7 / 1177 30b
103 Han, Bjung-Chul: Psychopolitik - Neoliberalismus und die neuen Machttechniken 2014
104 Zuboff, Shoshana: Überwachungskapitalismus und Demokratie, 2018
105 Latzer, Michael: Transparenz: Eine medienpolitische Gratwanderung (IKMZ – Department of Communication and Media Research) Universität Zürich 2021, https://mediachange.ch/media//pdf/publications/transparenz.pdf
106 https://de.wikipedia.org/wiki/Edward_Bernays
107 Welzer, Harald: Verbietet das Bauen 2020; https://www.youtube.com/watch?v=tyAP9MioNrw&t=601s
108 Die Produktionskette ist bei der Produktion von Gütern die Gesamtheit aller Wirtschaftszweige, […] die Weiterverarbeitung bis hin zum Endprodukt umfasst. Wikipedia.
109 Niemann, Julien: Der verklärte Ludwig Erhard, Onlinemagazin Makroskop 2022; https://makroskop.eu/15-2022/der-verklarte-ludwig-e/
110 Der Begriff der „geplanten Obsoleszenz“ (englisch planned obsolescence) geht auf den Immobilienmakler Bernard London zurück, der in einem 1932 veröffentlichten Aufsatz Ending the Depression Through Planned Obsolescence seine Idee zu popularisieren versucht hat. Wikipedia
111 Düringer, Roland: Österr. Schauspieler u. Kabarettist
112 Hannig, Dorian: Unser aller Feind der Staat, Onlinemagazin Makroskop 2019; https://makroskop.eu/spotlight/tina-und-das-demokra-tier/unser-aller-feind-der-staat/
113 Fränken, Annika: Hans Jonas und die Atomkraft, Onlinemagazin Philomag 2022; https://www.philomag.de/artikel/hans-jonas-und-die-atomkraft
114 Fehlberg, Frank: Objektfixierung – Wie die VWL ihre Dynamik verlor, Onlinemagazin Agora 42; https://agora42.de/wie-die-vwl-ihre-dynamik-verlor-frank-fehlberg/#more-14904)
115 Whitehead, Alfred North (1861-1947), britischer Philosoph und Mathematiker: „Einer seiner wertvollsten Beiträge zum Thema ist seine entscheidende "Zweiteilung der Natur" in eine kausale Natur und eine scheinbare Natur, von denen die eine real und die andere mental ist. Alles, was durch Sinneswahrnehmung wahrnehmbar ist, gehört zur Natur. Die Natur ist ein Komplex von Entitäten, deren wechselseitige Beziehungen ohne Bezug auf den Verstand in Gedanken ausdrückbar sind. https://www.jstor.org/stable/2249782
116 Joad, Cyril Edwin Mitchinson (1891-1953), englischer Philosoph und Rundfunksprecher, Wikipedia (en)
117 Chapman, Siobhan: Susan Stebbing and the Language of Common Sense, Kap: Science, Logic and Language 47; https://vdoc.pub/documents/susan-stebbing-and-the-language-of-common-sense-1p6nqa2g2g7g „… Stebbing behauptete: "Indem er das Wort des Physikers dafür nimmt, dass seine Welt real ist, scheint Herr Joad zu argumentieren, dass es nicht zwei Welten geben kann, die beide real sind, und dass folglich die Welt des gesunden Menschenverstands nicht real ist. Daraus folgert er, dass der Realismus ein Fehler ist. Der Fehler liegt sicherlich in der anfänglichen Gegenüberstellung zweier Welten, zwischen denen wir wählen müssen".23 Für Stebbing gab es keine offensichtliche Notwendigkeit, zwischen der Welt der Physiker und der Welt des gesunden Menschenverstands zu wählen. Beide erfüllten ihren Zweck in angemessener Weise. Stebbing stimmte mit Whitehead weitgehend überein, was die philosophischen Gefahren der Sprache und die Ausschließlichkeit wissenschaftlicher und alltäglicher Realitätsvorstellungen betraf…“ Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)
118 Rosa, Hartmut: Transfer neu denken: Best Account: Die Krise der Spätmoderne und die Rolle der Gesellschaftstheorie 2021 ab min 26:00; https://www.youtube.com/watch?v=enxvkT3YD4A&t=2s
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- Ulrike Orso (Autor:in), Hannah Arendt "Vita Activa". Wie aus Homo Curiosus, Vorator Mundi wurde, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1324211