Will man Thomas Manns Werke anhand der Philosophie Nietzsches untersuchen, so muss einem klar werden, dass sich Mann bereits in frühen Jahren mit den Werken des Philosophen auseinandergesetzt hat und diese ihn sein Leben lang begleitet haben. Thomas Mann fügt wörtliche Zitate bewusst, aber auch unbewusst in seine Werke oder seine Briefe ein – ein Zeichen dafür, wie sehr er im Laufe der Zeit Nietzsches Gedankengut verinnerlicht hat. Im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich Mann, bei dem sich ebenfalls „ein Nietzsche-Enthusiasmus“ zeigt, bricht Thomas Mann nie mit dem großen Philosophen und schließt auch nie mit ihm ab, für ihn ist er ein Lebensbegleiter geworden, ein Freund im Geiste. Selbst als das Gedankengut Nietzsches durch den Nationalsozialismus verunglimpft wird, was zur Folge hat, dass viele von dem Philosophen abfallen, rechtfertigt Thomas Mann Nietzsche, indem er zwar einerseits seine Fehler aufdeckt, andererseits aber auch betont, dass das deutsche Bürgertum Nietzsche völlig missverstanden habe.
Inwiefern die Auffassung von Kunst und Künstler, die Thomas Mann also von Nietzsche übernommen hat, auf sein Alterswerk Doktor Faustus übertragen werden kann, soll anhand dieser Arbeit in Teilaspekten untersucht werden. Dabei ist es wichtig, zuerst auf einige Elemente der Kunst- und Künstler-Thematik bei Nietzsche einzugehen, um dann im nächsten Schritt erkennen zu können, inwiefern Thomas Mann selbst als Künstler im Sinne Nietzsches agiert und diese Elemente bezüglich der Gestaltung des Romans umgesetzt hat und schließlich, inwiefern der Schriftsteller dieses Kunst- und Künstlerbild der Thematik und den Protagonisten im Doktor Faustus „einpflanzt“.
Gliederung
1. Friedrich Nietzsche und Thomas Mann – Freunde im Geiste
2. Kunst- und Künstler-Thematik Friedrich Nietzsches in Thomas Manns Roman Doktor Faustus
2.1 Grundzüge der Thematik in Nietzsches Gedankengut
2.1.1 Wesensmerkmale der Kunst
2.1.2 Wesensmerkmale des Künstlers
2.2 Der Künstler Thomas Mann –Verinnerlichung der Thematik anhand der Erzählweise des Doktor Faustus
2.2.1 Perspektivismus
2.2.2 Beziehungsgeflechte und Motivverknüpfungen
2.3 Kunst und Künstlerexistenz als Thema im Doktor Faustus – Nietzsche als Roman
2.3.1 Die Ähnlichkeit zwischen den Künstlerexistenzen Friedrich Nietzsche – Adrian Leverkühn bzgl. ihrer Kunstauffassung
2.3.2 Der Teufel als Nietzscheaner
2.3.3 Gedankengut Nietzsches in der Figur Leverkühns
2.3.3.1 Musik als Werk des Künstlers
2.3.3.2 Rebellion und Isolation des Künstlers
2.3.3.3 Krankheit als Rauschsteigerung des Künstlers
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
4.1 Primärliteratur
4.2 Sekundärliteratur
1. Friedrich Nietzsche und Thomas Mann – Freunde im Geiste
Will man Thomas Manns Werke anhand der Philosophie Nietzsches untersuchen, so muss einem klar werden, dass sich Mann bereits in frühen Jahren mit den Werken des Philosophen auseinandergesetzt hat und diese ihn sein Leben lang begleitet haben. Thomas Mann fügt wörtliche Zitate bewusst, aber auch unbewusst in seine Werke oder seine Briefe ein – ein Zeichen dafür, wie sehr er im Laufe der Zeit Nietzsches Gedankengut verinnerlicht hat. „Fast ebenso, wie der Christ die Bibel zitiert, beruft sich Thomas Mann auf Nietzsche.“[1] Im Gegensatz zu seinem Bruder Heinrich Mann, bei dem sich ebenfalls „ein Nietzsche-Enthusiasmus“[2] zeigt, bricht Thomas Mann nie mit dem großen Philosophen und schließt auch nie mit ihm ab, für ihn ist er ein Lebensbegleiter geworden, ein Freund im Geiste. Selbst als das Gedankengut Nietzsches durch den Nationalsozialismus verunglimpft wird, was zur Folge hat, dass viele von dem Philosophen abfallen, rechtfertigt Thomas Mann Nietzsche, indem er zwar einerseits seine Fehler aufdeckt, andererseits aber auch betont, „dass das deutsche Bürgertum den Nazi-Einbruch mit Nietzsches Träumen von kulturerneuernder Barbarei verwechselte, war das plumpste aller Missverständnisse.“[3]
Gerade das Künstlerbild und der Lebensbegriff haben den Autor Thomas Mann geprägt, er selbst gibt an,
„er habe Nietzsche als Kritiker des Künstlers, d.h. auch immer als Kritiker Wagners, kennen gelernt, und er fährt fort: ‚so dass all meine Begriffe von Kunst und Künstlertum auf immer davon bestimmt, oder wenn nicht bestimmt, so doch gefärbt und beeinflusst werden’“.[4]
Inwiefern die Auffassung von Kunst und Künstler, die Thomas Mann also von Nietzsche übernommen hat, auf sein Alterswerk Doktor Faustus übertragen werden kann, soll anhand dieser Arbeit in Teilaspekten untersucht werden. Dabei ist es wichtig, zuerst auf einige Elemente der Kunst- und Künstler-Thematik bei Nietzsche einzugehen, um dann im nächsten Schritt erkennen zu können, inwiefern Thomas Mann selbst als Künstler im Sinne Nietzsches agiert und diese Elemente bezüglich der Gestaltung des Romans umgesetzt hat und schließlich, inwiefern der Schriftsteller dieses Kunst- und Künstlerbild der Thematik und den Protagonisten im Doktor Faustus „einpflanzt“.
2. Kunst- und Künstler-Thematik Friedrich Nietzsches in Thomas Manns Roman Doktor Faustus
2.1 Grundzüge der Thematik in Nietzsches Gedankengut
In Nietzsches Philosophie hat die Kunst im Leben einen wichtigen, wenn nicht den wichtigsten Wert: „[d]ie Kunst […] erhält als eine positive Lebensfunktion eine überragende Stellung. ‚Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens’“[5] Obwohl er „seinen Lebensbegriff nie exakt definiert hat“,[6] wird schon in dieser Aussage klar, dass Kunst und Leben einander bedingen, dass das eine ohne das andere unvollkommen ist. Daher muss man, will man Nietzsches Kunstbegriff definieren, gleichzeitig immer seine Dimensionen des Lebens im Auge behalten. Hier bedeutend sind vor allem „das Dionysische […], der Wille zur Macht […], der Perspektivismus […], der Schein [….], das Werden [….] und das Spiel.“[7] Gerade auf diesen Lebensbegriff baut Thomas Mann auf, „[…] denn er bezeugt selbst ausdrücklich, dass er dem von ihm bewunderten Philosophen vor allem die ‚Idee des Lebens’ verdanke.“[8]
2.1.1 Wesensmerkmale der Kunst
Nietzsche als Verehrer des Altertums betont gerade in Bezug des Lebens zur Kunst immer wieder das dionysische und das apollinische Element. Er tritt nicht – wie viele Zeitgenossen – für einen Gegensatz von Kunst und Leben ein, „in dem eines durch das andere logisch ausgeschlossen würde. ‚Die Fortentwicklung der Kunst’ ist an die ‚Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden.’“[9] Dabei beinhaltet das dionysische Element „das leidenschaftlich-schmerzliche Ueberschwellen in dunklere, vollere, schwebendere Zustände; […] das Einheitsgefühl der Nothwendigkeit des Schaffens und Vernichtens“, apollinisch hingegen ist „der Drang […] zu Allem was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig, typisch macht.“[10] Beide Elemente sind notwendig, um Kunst zu erschaffen, sie können einander nicht ausschließen – das Dionysische steht für den Schöpferwillen im Menschen, der durch das Apollinische kontrolliert wird, da ansonsten Chaos entsteht.
Ein weiteres Merkmal der Kunst, das Nietzsche immer wieder postuliert, ist der Perspektivismus. „Wie im ‚großen Menschen’ die Totalität aller Möglichkeiten zur Geltung gelangt, so legt es das ‚große’ Kunstwerk darauf an, der Fülle und dem Perspektivenreichtum des Seienden gerecht zu werden .“[11] Laut Nietzsche gibt es keine absolute Wahrheit, die Welt ist Schein – eine Annäherung an die Wahrheit kann erst stattfinden, wenn die Betrachtung eines Begriffs durch möglichst viele Perspektiven gegeben ist. Dies bindet Beziehungen mit ein: „Nur in Beziehungen und Zusammenhängen wird die Fülle des Seienden bewahrt und adäquat erfasst, während begriffliche Fixierungen die Dinge verfälschen.“[12]
2.1.2 Wesensmerkmale des Künstlers
„Als die eigentlichen Voraussetzungen des künstlerischen Schaffens gelten für Nietzsche der ‚Rausch’ und ‚eine extreme Schärfe gewisser Sinne.’“[13] Nur im Rausch kann der Künstler sein Werk, das bei Nietzsche „nicht als Eigengebilde, nicht als ein selbständig Seiendes“[14] verstanden wird, erzeugen. Wieder kann man hier den eigentlichen Antagonismus zwischen Dionysischem und Apollinischem erkennen, der sich aber durch den „Rausch“ einerseits und die „Sinnesschärfe“ andererseits zusammensetzt. Um ein Werk zu schaffen, so Nietzsche, muss der Künstler in einen Rausch-Zustand verfallen, dieser wiederum ermöglicht ihm schöpferische Inspiration und Kreativität. Dies betont Nietzsche ganz klar in der Götzen-Dämmerung: „Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft.“[15]
In diese „Arten des Rausches“ bezieht Nietzsche auch die Krankheit mit ein, die für ihn eine Steigerung des Rausches ist. Krankheit und die Künstlerexistenz sind bei Nietzsche miteinander verbunden, „ ‚so dass es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu sein.’ Die Krankheit schärft die Sinne des Künstlers und ist insofern seine Auszeichnung, als sie die kunstschaffenden Vermögen anreizt.“[16] Die Krankheit kann die schöpferische Leistung steigern, sogar selbst zum „Stimulans des Lebens“[17] des Künstlers werden. Damit eng verbunden ist die Vereinsamung des Künstlers aufgrund der Krankheit seiner Existenz. „Die Eigenart der Künstlerexistenz besteht darin, dass sie […] aus dieser Welt ausgeschlossen ist und ihre Isolation sogar bejahen und auf ihr bestehen muss.“[18] Der Künstler muss sich folglich von der Gesellschaft abgrenzen, um in seinem Rausch seine künstlerische Produktivität steigern zu können.
2.2 Der Künstler Thomas Mann –Verinnerlichung der Thematik
anhand der Erzählweise des Doktor Faustus
Haben wir bisher einigen Grundzüge des Nietzscheschen Gedankenguts in Hinblick auf die Kunst und die Künstlerexistenz kennen gelernt, so wenden wir uns nun der Übertragung dieser auf Thomas Manns Roman Doktor Faustus zu. Dabei soll hier in erster Linie Thomas Mann als der Künstler nach der Prägung Nietzsches verstanden werden, der die Ideen des Philosophen in seinem Roman auf formaler Ebene umsetzt.
2.2.1 Perspektivismus
„Den erkenntnistheoretischen Perspektivismus Nietzsches hat der Erzähler Thomas Mann in perspektivisches Sehen, Beschreiben und Erzählen umgesetzt.“[19] Schon die Struktur des Romans, der zahlreiche Möglichkeiten bietet, ihn von einer bestimmten Sichtweise her zu lesen – als Künstlerroman, als Faust-Roman, als Gesellschaftsroman, als Deutschlandroman – verinnerlicht die perspektivische Betrachtungsweise Nietzsches, die sich an die Wahrheit anzunähern versucht. „[D]as Werk erscheint als eine Pluralität voneinander unabhängiger sinnkonstituierender Strukturen.“[20]
Zusätzlich benützt der Schriftsteller das Prinzip der Montage, um dem Perspektivismus Nietzsches gerecht zu werden. Während ein direktes Zitat die Textintentionalität und den Textsinn bekräftigt, will Thomas Mann mit dem Montage-Prinzip, das einen Gegensatz zum Zitat darstellen kann, die Sinn des Textes verändern bzw. verunsichern, um dadurch zu neue Perspektiven zu schaffen. Dies bestätigt Thomas Mann in der Entstehung des Doktor Faustus, wenn er an die Stelle „für das eigentümlich Wirkliche […] eine nie gekannte, in ihrer phantastischen Mechanik [ihn] dauernd bestürzenden Rücksichtslosigkeit im Aufmontieren von faktischen, historischen, persönlichen, ja literarischen Gegebenheiten“[21] setzt. Erst durch die Montage wird das „eigentümlich Wirkliche“ wirklich, real und der Wahrheit entsprechend. Beispiele für die Montage liefert Thomas Mann selbst, wie die Übertragung biographischer Elemente Nietzsches auf den Protagonisten Adrian Leverkühn,[22] aber auch Orte wie Pfeiffering, das dem oberbayerischen Polling entspricht, Personen wie die Roddes, die Thomas Manns Familienmitgliedern ähneln, oder Elemente aus der Naturwissenschaft oder der Musik werden montiert, um die Quantität und somit auch die Qualität der Sichtweisen zu erhöhen.
[...]
[1] Pütz (1978), S. 127.
[2] Meyer, S. 364.
[3] Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, S. 41.
[4] Pütz (1978), S. 126 (teilweise Zitat von Mann aus Betrachtungen eines Unpolitischen).
[5] Pütz (1963), S. 3 (teilweise Zitat von Nietzsche aus Der Wille zur Macht).
[6] Meyer, S. 19.
[7] Ebd., S. 21.
[8] Pütz (1963), S. 49 (teilweise Zitat von Mann aus Betrachtungen eines Unpolitischen).
[9] Ebd., S. 4 (teilweise Zitat von Nietzsche aus Die Geburt der Tragödie). Anm.: Original-Rechtschreibung wurde beibehalten.
[10] Nietzsche in Der Wille zur Macht, zitiert nach Pütz (1963), S. 14. Anm.: Original-Rechtschreibung wurde beibehalten.
[11] Ebd., S. 30.
[12] Ebd., S. 57.
[13] Ebd., S. 41 (teilweise Zitat von Nietzsche aus Der Wille zur Macht).
[14] Meyer, S. 79.
[15] Nietzsche in Götzen-Dämmerung, zitiert nach Mainzner, S. 130.
[16] Pütz (1963), S. 41 (teilweise Zitat von Nietzsche aus Der Wille zur Macht).
[17] Nietzsche in Der Fall Wagner, zitiert nach Mainzner, S. 131.
[18] Pütz (1963), S. 43.
[19] Pütz (1978), S. 147.
[20] Saariluoma, S. 78.
[21] Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus, S. 697f.
[22] Vgl. Ebd., S. 698.
- Arbeit zitieren
- Andrea Surner (Autor:in), 2007, Kunst- und Künstlerthematik Friedrich Nietzsches in Thomas Manns Doktor Faustus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138734
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