Paradoxe Fügungen in Kafkas Erzählung "Josefine die Sängerin oder das Volk der Mäuse"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

23 Seiten, Note: 2 +


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Die Geschichte von Josefine und dem Mäusevolk

2. Verwirrende Gedanken über Josefines Kunst

3. Paradoxe Fügungen in Kafkas Erzählung

4.1 Formale Ebene
4.2 Inhaltliche Ebene
4.3 Distanzierte Betrachtung
4.4 Des Rätsels Unlösbarkeit

5. Ursache und Wirkung der paradoxen Fügungen

6. Literaturverzeichnis

1. Die Geschichte von Josefine und dem Mäusevolk

In Kafkas Erzählung „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“[1] wird dem Leser durch eine anonyme Maus, die Binder treffend als „Erzählermaus“ bezeichnet, von der einzigartigen und rätselhaften Stellung der Sängerin Josefine im Volk der Mäuse berichtet. Die Erzählermaus, selber Teil des Volkes und zugleich kritisch distanziert, macht die Haltungen von Volk und Sängerin einsichtig. Obwohl das Volk in dem von ihr angepriesenen Gesang lediglich ein schwaches, übliches Pfeifen zu vernehmen meint, wird es von seiner Macht fortgerissen, hält Josefine in Ehren und erträgt geduldig ihre Künstlerallüren. Dies wirft sowohl beim Erzähler als auch beim Leser die Frage nach der tieferen Wirkung ihrer Auftritte auf.

Die Nachgiebigkeit des Volkes hört allerdings da auf, wo es sich den Forderungen der Sängerin nach Arbeitsbefreiung versagt. Hier liegt der Wendepunkt der Geschichte: Josefines Illusion über ihren Gesang auf der einen und die Realität des Mäusevolkes auf der anderen Seite sind dermaßen inkongruent, dass es zu keiner Lösung kommt und es mit Josefine zuende gehen muss. In der Ahnung, dass ihre Kunst vom Volk nicht verstanden wird, strebt sie umso mehr nach gesteigerter Anerkennung. Um sich nicht selbst untreu zu werden, muss sie mit ihrer Forderung “stehen oder fallen“(212). In narzisstischer Selbstüberschätzung vermeint sie, der desillusionierenden Zurückweisung durch die auch für sie wirksamen Gesetze sowie dem Abbruch ihrer Glaubwürdigkeit entgehen zu können: Sie verschwindet.

2. Verwirrende Gedanken über Josefines Kunst

„Unsere Sängerin heißt Josefine. Wer sie nicht gehört hat, kennt nicht die Macht ihres Gesanges.“(200)

Was zunächst als vielleicht auf eine Fabel anspielende, harmlose Erzählung erscheint – dieser Eindruck wird durch die beiden verhältnismäßig kurzen und scheinbar klaren Eingangssätze unterstützt –, entpuppt sich mit dem weiteren Lesen als eine durch komplizierte Abwägungen und Reflexionen der Erzählermaus bald verwirrende Dialektik. Ihre langen Gedankengänge, hier und da von nahezu ironischen Wendungen belebt, nehmen den meisten Raum ein. Jede Behauptung, kaum ausgesprochen, untersucht und begründet, wird in Frage gestellt, um dann von ihrer Gegenmeinung aufgehoben zu werden.

Weltsch beschreibt diesen Vorgang passend als einen Gedankengang, der bis an die Grenze geführt wird und dort plötzlich „eine Wendung um 180 Grad“ macht und damit das Ganze wieder aufhebt.[2] Jede Möglichkeit, in Form langer Konjunktivketten bis ins Detail ausgearbeitet, wird z.B. mit einem „Gerade das trifft aber meiner Meinung nach nicht zu...“(201) widerlegt. Sie halten die Geschichte in einem vagen Gleichgewicht zwischen Unmöglichsein und Möglichsein.

Der Leser hat keine Chance, sich z.B. über den Gesang Josefines eine konkrete Vorstellung zu machen. Durch den immer wieder zu einer anderen Seite schweifenden Blickwinkel, neue Erwägungen, Vermutungen, Umkehrungen und Ablenkungen, muss er andauernd umdeuten und relativieren. Kaum glaubt er die Lösung zum Greifen nahe, wird er auf eine neue Fährte gelenkt, die alte wird eliminiert. Die Eindeutigkeit eines Schlusses ist, sobald er festzustehen scheint, aufgrund seiner Negation oder Umkehrung nicht mehr gewährleistet. Die erwartete Erkenntnis in Form einer Synthese der Abwägungen bleibt aus. Es handelt sich um einen Prozess, der durch sein ewiges Hin und Her nicht voran kommt.

Hauptgegenstand dieses Auf-der-Stelle-Tretens ist die Frage nach der Wirkung Josefines, eng verbunden mit der Frage nach ihrem Gesang.

Zunächst außer Frage gestellt, wird in einem scheinbar neutralen Bericht von der „Macht des Gesanges“(200) geschwärmt. Doch mit dem ersten Hervortreten der Erzählermaus und dem damit einhergehenden Beginn ihrer Reflexionen, wird diese, eben noch als unangefochten beschriebene (und naiv vom Leser hingenommene) Behauptung angezweifelt: „Ist es denn überhaupt Gesang?“(201) und mit der Überlegung, dass Josefine „nicht singt, sondern nur pfeift“(201) auf ein „höchstens durch Zartheit oder Schwäche ein wenig auffallendes Pfeifen“(202) reduziert, während kurz darauf ohne Zögern wieder von „Josefinens Gesang“(202) berichtet wird. Immerhin „weiß man“ am Ende desselben Absatzes: „was sie hier pfeift, ist kein Pfeifen.“(203) Doch wird auch diese Annahme wieder überdacht und so heißt es alsbald: „Natürlich ist es ein Pfeifen.“(210)[3]

3. Paradoxe Fügungen in Kafkas Erzählung

Ein Nebeneinanderstellen widersinniger Aussagen in ihrer Unvereinbarkeit, wie es anhand der Darstellungen über Josefines Kunst gezeigt wurde, bezeichnet man als paradox.

Im herkömmlichen Sinne ist mit einem Paradoxon bzw. Paradox, griechisch paradoxos, `der gewöhnlichen Meinung zuwiderlaufend, wider Erwarten, seltsam´, eine Aussage gemeint, die in sich einen wirklich oder scheinbar unlösbaren Widerspruch im Sinne der formalen Logik beinhaltet. So enthält zum Beispiel der Satz „Das schwarze Schaf ist weiß.“ eine Vereinigung von Unvereinbarem.[4] Paradoxa ergeben sich aus einer überzeugend scheinenden Argumentationskette oder dem irrläufigen Glauben, die richtige Vorstellung über einen bestimmten Sachverhalt zu besitzen, und den damit im Widerspruch stehenden offenbaren Tatsachen oder Beobachtungen. Auch ein unfassbarer Gedanke wird als Paradoxon bezeichnet.[5]

Ein anderes Beispiel ist die Person, die behauptet, dass sie nicht existiert. Ihre Äußerung enthält den logischen Widerspruch, dass die Bedingung dafür, dass sie diese Behauptung machen kann, die ist, dass sie falsch ist.

Mit einer Paradoxie wird etwas dem Geglaubten, Erwarteten Zuwiderlaufendes, der Widerspruch in sich gemeint.[6]

Die Verdrehungen bei Kafka gehen darüber hinaus. Sie entstehen nicht aus einer Verkehrung des Normalen, „sondern basieren selbst schon auf einem Widerspruch...“[7] Er stellt nicht bloß zwei unvereinbare Vorstellungen nebeneinander, sondern baut die gesamte Erzählung mit ihnen auf. Die Art, in der er die enthaltenen Widersinnigkeiten zusammenfügt, gleicht einer paradoxen Vernetzung sowohl auf als auch zwischen verschiedenen Ebenen.

[...]


[1] Aus „Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse“ werde ich im Folgenden nur mit Angabe der Seitenzahl am Zitatende zitieren, und zwar nach Franz Kafka: Erzählungen. Frankfurt am Main 1995

[2] Vgl. Weltsch 1957, S. 91

[3] Der Versuch meinerseits, einen Zusammenhang zwischen dem Gebrauch der Begriffe des Singens bzw. Pfeifens etwa mit der jeweiligen Perspektive oder Gestimmtheit der Erzählermaus herzustellen, schlug fehl.

[4] Vgl. Der Brockhaus in fünf Bänden. Band 4. 8. überarbeitete Auflage 1994 und Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 5. Auflage. München 2000. Stichwort Paradoxon

[5] Vgl. http://www.phillex.de/paradoxa.htm

[6] Vgl. DUDEN 5. Das Fremdwörterbuch. 4. überarbeitete Auflage. Mannheim/Wien/Zürich 1982

[7] Politzer 1965, S. 464

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Paradoxe Fügungen in Kafkas Erzählung "Josefine die Sängerin oder das Volk der Mäuse"
Hochschule
Universität Hamburg
Veranstaltung
Seminar II: Franz Kafka
Note
2 +
Autor
Jahr
2002
Seiten
23
Katalognummer
V13937
ISBN (eBook)
9783638194570
ISBN (Buch)
9783638686853
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Paradoxe, Fügungen, Kafkas, Erzählung, Josefine, Sängerin, Volk, Mäuse, Seminar, Franz, Kafka
Arbeit zitieren
Barbara Wehmeyer (Autor:in), 2002, Paradoxe Fügungen in Kafkas Erzählung "Josefine die Sängerin oder das Volk der Mäuse", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13937

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