Codename Einstein - Roman nach Tatsachen

Band 1


Studienarbeit, 2010

241 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Meine erste Flucht

Tote reden nicht

Internierung, Rekrutierung und Mauerbau

TU-Dresden - eine Agentenschule des SSD?.

Erfinden - Ausweg aus der Misere?

Mein Dynamorädchen

Mein Drehkolbenmotor

Eine neue Drehkolbenmaschine

Artverwandte Bauarten

Das Druckluftmobil - das Auto der Zukunft?

Mein Freikolbengenerator

Meine zweite Grenzverletzung

Eine unerlaubte Fernsehsendung

Meine letzte Grenzverletzung

Beim SSD - in der Höhle des Bösen

Im Zuchthaus Cottbus - dem „Tor zur Freiheit“

Schlusswort

Schrifttum

Anhang

Meine erste Flucht

Am 18. Dezember 1941 kam ich in Rangsdorf bei Berlin in eine Welt hinein, die sich selbst „Großdeutschland“ nannte und gerade auch noch Amerika den Krieg erklärt hatte. Ort und Zeit hatte ich schlecht gewählt. Dies war mein erster Fehler in meinem Leben und sollte nicht der letzte sein. Alles falsch zu machen schien mir an-geboren zu sein. Meine Mutter war Mathematik- und Physiklehrerin und lehrte auch in Caputh wo sie Einstein begegnete. (Einstein wohnte bis zu seiner Ausreise in die USA 1933 in seinem Sommerhäuschen in Caputh am Schwielowsee. Das Grundstück wurde Einstein anlässlich seines 50. Geburtstags 1929 von der Stadt Berlin geschenkt.)

Nach zwei Mädchen wurde meiner Mutter endlich ein Junge geboren. Der Führer brauchte Soldaten. (Mich hatte allerdings keiner gefragt.) Im Volksmund hieß das schlicht “Kanonenfutter”. Deutschland war zu dieser Zeit gerade wie ein Luftballon bis zum Bersten aufgeblasen (daher der Name „Großdeutschland“). Die Fronten waren weit weg, außerhalb meiner Welt - außerhalb meines Vorstellungs- und Erinnerungsvermögens. „Winter- schlacht vor Moskau“ war für mich kein

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1. In den Armen meiner Mutter und dem kleinen Häuschen fühlte ich mich wohl.

Begriff. Meine Mutter und ein kleines Häuschen waren meine ganze - und (noch) heile Welt.

Meine Erinnerung setzt erst ein, als ich drei Jahre alt war und der Luftballon gerade wieder in sich zusammen fiel. Ich saß dummerweise genau im Zentrum des „Zusammenbruchs“ – wie man sich ausdrückte – und ich hatte mir eingebildet „Krieg“ wäre ein fernes Gewitter an der Wolga, das uns nie erreichen wird. (Ich lag immer schief.) Nun aber drängten Soldaten aus allen Richtungen und aus mir völlig unbekannten Gründen nach Berlin. Ein großer Nazi verbreitete die frohe Botschaft, dass die Berliner nun bald bequem mit der S-Bahn an die Front fahren könnten. Die Menschen, die jetzt “Volkssturm” hießen, hatten aber schon ihren Humor verloren und wurden mit jedem Tag immer grimmiger, was sich automatisch auf uns Kinder übertrug. „Das ist das Ende,“ flüsterten sie sich zu und bekamen fahle Gesichter. Ich verstand nicht was hier überhaupt gespielt wurde – und keiner versuchte es mir zu erklären. Die Erwachsenen schienen alle ein Geheimnis zu haben, über das sie nicht reden wollten. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und kapselte sich ab. Ich kannte das von Leuten, die gerade etwas ausgefressen - und nun ein schlechtes Gewissen hatten. Eines Tages gab es noch eine Steigerung dieses seltsamen Verhaltens der Erwachsenen. Jetzt verloren sie vor Schreck auch noch die Sprache, nur weil irgend jemand drei einfache Worte gesagt hatte: „Die Russen kommen!“ Dies mussten wirklich magische Worte sein, denn alle versteinerten dabei und bekamen weit aufgerissene Augen, wie ich sie nur bei einer Kuh gesehen hatte, als sie geschlachtet wurde. Durch diese klare Körpersprache übertrugen die Erwachsenen ihre Weltuntergangs-gefühle auf ihre kleinen Kinder, die nun die Angstgefühle verdrängten. Ich soll immer nur gelacht haben, wenn wir zusammengedrängt in einem Keller hockten und in der Nähe eine Bombe einschlug, dass der alte Putz herunter rieselte. (Ich machte schon wieder alles falsch und lachte an der falschen Stelle. Ich schien ohne Angstgefühle geboren zu sein.) Einige erschraken über mein Verhalten; andere merkten mit der Zeit, dass dort wo ich war nie eine Bombe einschlug und kamen das nächste Mal extra in den gleichen Keller. Ich hätte einen Schutzengel, sagten sie und wollten sich dabei sicherlich selber etwas aufrichten. (Man mag abergläubig sein oder nicht; Tatsache ist: Bis heute ist Leuten in meiner Nähe noch nie etwas ernstliches passiert.)

Meine Mutter hörte Schlimmes über die Russen und entschied sich, das Haus im Stich zu lassen und zu flüchten. Uns Kindern erklärte sie nur kurz und knapp, „wir müssen jetzt nach Thüringen gehen.“ (Wo keine Russen sind - und niemals hinkommen werden, dachte sie, weil sie hörte, dass dort schon die Amerikaner waren.) So gingen wir also los. In diesen Zeiten war es ein langer Weg von Berlin nach Erfurt. Meine beiden älteren Schwestern (Immetraut und Annebärbel, 4 bzw. 2 Jahre älter) hatten längere Beine und sie waren immer schneller als ich. Sie waren sehr ungehalten darüber, auf ihren kleinen Bruder immer warten zu müssen und ich hatte ständig Angst, dass sie mich im Stich ließen. Dieses Angstgefühl war stärker als Hunger und Kälte. (Es gab also doch an-geborene Angstgefühle. Sie waren nur anders als die der Erwachsenen und wir verstanden einander nicht.) Tim die Stimmung zu heben wurde ein Lied angestimmt:

Maikäfer flieg,
dein Vater ist im Krieg,
deine Mutter ist in Pommerland,
Pommerland ist abgebrannt
Maikäfer flieg.

Irgendwie kamen wir bis zur Elbe, wo uns jemand den Weg versperrte. „Stoi!“ (Halt!) gellte es aus dem Dunkeln in einem fremden scharfen Ton. So lernte ich mein erstes russisches Wort – Reisen bildet. (Damit alle die gegebenen Befehle verstanden, wurde Russisch so schnell wie möglich in der Ostzone zum Pflichtfach gemacht.) Diese uniformierten Leute rochen aber schlecht, wie ich sachkundig feststellte. Vielleicht mochte sie deshalb keiner. (Die Elbe war die Grenze zwischen den Russen und den Amerikanern und alle Brücken über die Elbe waren gesperrt, sofern sie nicht sowieso kaputt waren.) Aber mit mir nicht, sagte sich meine Mutter und schlug sich mit uns in die Büsche. Dort fanden wir sogar noch was zu Essen, das tote Soldaten zurückgelassen hatten. Auch lag dort eine Menge Kriegsspielzeug herum. Meine Schwestern setzte mir einen Stahlhelm auf. Ich konnte nichts mehr sehen. Der war doch viel zu groß, außerdem machte das keinen Spaß. Das war nichts für mich. Irgendwo am Tifer fand unsere Mutter ein altes Ruderboot mit dem wir unter dem Schutz der Dunkelheit los paddelten. Mitten auf dem Wasser bekam unser Boot plötzlich ein kleines Loch, aus dem nun Wasser herein sprudelte. Meine beiden Schwestern gerieten in Panik und schrieen, „wir sinken!“ Ich - „furchtlos“ wie immer - und praktisch veranlagt, steckte meinen Finger in das Loch und schon war das Wasser gebannt. Was müssen die Mädchen immer gleich so hysterisch werden, bei so einer Kleinigkeit! Haben die denn immer noch nicht begriffen, dass ich einen Schutzengel habe? Wie auch immer – uns traf keine einzige Kugel. (Obwohl ich im Krieg geboren wurde, hatte ich mit meinen 3 Jahren noch nie bewusst miterlebt, wie auf jemanden geschossen wurde. Auch hatte mir keiner erklärt, dass die Russen uns als ihre Kriegsgefangenen ansahen und wir gerade beim Ausbrechen aus einem Kriegsgefangenenlager waren, dem man später den Kosenamen “unsere Republik“ bzw. “DDR“ gab. Die Amerikaner hatten vom anderen Tifer aus missbilligend der ganzen Sache zugeschaut, aber nicht zurück geschossen.)

Endlich am rettenden Tifer angelangt, kam ein großer Lastwagen mit Soldaten direkt auf uns zu gefahren. Jetzt müssen wir aber rennen, dachte ich. Die ganze aufregende Ruderei war umsonst gewesen, wenn am anderen Tifer auch nur wieder Soldaten waren, vor denen wir gerade geflüchtet waren. Ich wollte mich verstecken. „Das sind doch andere Soldaten,“ wurde ich belehrt. „Natürlich,“ sagte ich, „die uns aufgehalten hatten stehen ja sicher noch auf der Brücke.“ Es gab ja offenbar mehr von ihnen – sie überschwemmten ja förmlich die Landschaft wie Maikäfer im Mai. „Ach bist du blöd. Das sind doch ganz andere Soldaten, das sind doch nicht Russen, sondern die Amis,“ kam es unwirsch zurück. „Wozu gibt es denn zwei Sorten? Reicht denn nicht eine Art von Soldaten?“ „Frag nicht so dumm,“ war wieder die alles erschöpfende Antwort meiner Schwester. Sie hatte immer eine schnelle Antwort parat und gab nie zu, dass sie das auch nicht wusste. Es war eine Plage, sich mit ihr zu unterhalten – dann hatte ich auch noch zwei davon. So machten sie mich immer ganz klein, so wie einen kleinen Bruder, den keiner ernst nahm. Ich hielt das für eine legitime Frage. Schließ]lich gab es Bäcker, Bauern, Handwerker, Schornsteinfeger – und immer nur eine Sorte, sogar von Zahnärzten und Lehrern, deren Bekanntschaft sich im Leben nur schwer vermeiden lässt. Warum sollte es also ausgerechnet nur von Soldaten mehrere Sorten geben? Das wäre doch reine Verschwendung.

Es war schwierig mit zwei so überschlauen großen Schwestern fertig zu werden. Zu diesem Problem gesellten sich jetzt noch Soldaten – auch wieder zwei dieser Sorte. (Deutsche Soldaten hatte man gerade abgeschafft; warum die anderen nicht auch war mir ein Rätsel, wenn Soldaten doch nur alles kaputt machten.) Welches Problem für mich größer werden wird, wusste ich noch nicht. Die Soldaten werden sicherlich bald wieder verschwinden, wie die Maikäfer auch; mit meinen Schwestern werde ich mich aber mein ganzes Leben lang „rumzuschlagen“ haben.

Soldaten erforderten nun aber unsere volle Aufmerksamkeit, denn der Laster hatte uns erreicht. Soldaten sprangen herunter und umringten uns. Vor Schreck hoben alle die Hände. Ich nicht! Solch einen albernen Zirkus machte ich nicht mit.

Das mussten aber wirklich andere Soldaten sein, denn diese rochen angenehm. So hatte ich sofort ein einfaches und sicheres Tinterscheidungsmerkmal zwischen den zwei Arten von Soldaten gefunden, das auch im Dunkeln funktionierte. (Reisen bildet.) Uniformen interessierten mich nicht, der unterschiedliche Geruch war genug. Ich hielt immer alles so einfach wie möglich. Das sollte auch so bleiben. Während alle aufgeregt diskutierten – weiß der Himmel über was – bestaunte ich den großen Laster. Auch der roch viel besser, besonders der Auspuff, der genau in meiner Nasenhöhe war und mich angenehm benebelte. Was ein Unterschied zu den klapprigen Russenlastern! Wir durften sogar mit ihm mitfahren, was ich als Glück empfand, denn mir taten von den langen Märschen die Beine weh. Einer der Soldaten nahm mich auf seinen Schoß und schob mir ein Stück Schokolade in den Mund. Ich spuckte es schnell wieder aus. „Nimm nichts von Fremden,“ hatte man mir eingebläut - und ich gehorchte immer; außerdem kannte ich dieses braune Zeug auch gar nicht.

Wir kamen an einen Platz voller Menschen und mussten aussteigen. Irgendjemand schimpfte mit meiner Mutter: Wir hätten gerade eine „Demarkationslinie“ verletzt, weshalb die Russen auf uns geschossen hätten. Der machte wohl Witze! Ich hatte keine Linie gesehen. Ich war weder auf eine Linie drauf getreten, noch hatte ich eine übertreten. Es war einfach keine da gewesen, auch wenn man ihr einen noch so unaussprechlichen Namen gab. Dann sollte man so etwas was es nicht gab auch noch respektieren. Das war also der gleiche Stuss wie in dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“: alle sehen etwas, was überhaupt nicht da ist. Nur ein kleiner Junge traute sich zu sagen, dass der Kaiser in Unterhosen dastand. War ich jetzt der Einzige, der wusste, dass es gar keine Linie in der Landschaft gab? Diese Welt der Erwachsenen werde ich nie verstehen! Wenn die das ernst meinen und das die Welt ist, in der ich zu leben habe, wird es ernste Probleme geben.

Dann sagte er auch noch, dass wir auf keinen Fall nach Erfurt gehen sollten. Warum denn das nun wieder? Das sagte er nicht. Nach dem Stuss mit der eingebildeten Linie in der Landschaft hatte der Offizier sowieso seine Glaubwürdigkeit schon eingebüßt gehabt. Keiner hörte mehr auf ihn.

Stur wie meine Mutter nun mal war, marschierten wir weiter - in Richtung Erfurt, obwohl man ihr praktisch verboten hatte, nach Erfurt zu gehen, dieses Verbot nur nicht mit Waffengewalt durchsetzen wollte. Sie hörte aber weder auf die Einen, noch auf die Anderen. Mir war überhaupt nicht bewusst gewesen, dass das meine erste Flucht gewesen war. Sie war aber noch nicht zu Ende und sollte in einer Odyssee enden, wovon ich aber nichts ahnte - oder doch? Wir marschierten jedenfalls wieder auf einer leeren Autobahn. Nach einer Weile kam ein Auto. Ein netter Mann nahm uns in seinem Opel mit. Ich war begeistert. Wir saßen in einem schnellen Auto, dazu blauer Himmel und die ganze Autobahn für uns alleine. (Es gab praktisch keinen Verkehr auf der Auto­bahn.) Was will man mehr! Solch ein Auto wollte ich später auch haben und auf der Autobahn dahin rasen. Der Wagen erreichte fast 100 Sachen. So schnell war ich noch nie. Nur musste er nach einem Berg anhalten, Wasser holen und es vorne rein gießen. Da war also noch was zu verbessern. Das werde ich tun, wenn ich groß bin. Dann freuen sich alle – und wenn sich alle über mich freuen, dann freue ich mich auch. Das war alles, was ich vom Leben erwartete. („Große Ideen“ warfen ihre Schatten voraus.)

In dem Opel erreichten wir glücklich Erfurt. Endlich waren wir gerettet! Erfurt war nicht so kaputt wie Berlin. Die Menschen wurden mit der Zeit auch wieder lustiger und gewannen ihre Lebensfreude zurück. Ich erinnere mich gut an einen großen Fackelumzug zum großen Dom in Erfurt, bei dem die Menschen vor Lebensfreude übersprudelten, was sich auch auf mich übertrug. Es waren glückliche Tage, vielleicht sogar die glücklichsten in meinem Leben, auch wenn es noch an einigem mangelte. Die Menschen gingen wieder aufeinander zu und halfen sich gegenseitig. Die Angst – das Misstrauen waren gewichen. Wir bekamen Geschenke von Leuten, die wir überhaupt nicht kannten. Aus zusammen geknülltem Zeitungspapier, Stoffresten und Klebstoff hatten Mädels lustige Puppen gebastelt. (Meine Mutter war Studienrätin und lehrte Mathematik. Dies waren sicherlich Studentinnen von ihr gewesen.) Wir spielten damit Kaspertheater. Man konnte wieder Lachen und Gekicher hören. Nur bei einem Satz wurden die Erwachsenen wieder auffallend ernst: „Die Amerikaner werden niemals abziehen.“ Dies hörte ich immer öfter. Das ist doch selbstverständlich; warum mussten sie das denn ständig wiederholen, wunderte ich mich. Dann passierte es. Eines nachts - keiner hatte uns gewarnt - waren sie plötzlich weg. „Die Russen kommen!“ ging es wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund. „Was denn, schon wieder?“ fragte ich mal wieder ganz dumm. Und warum hatten sie denn bloß alle solch eine Angst vor den Russen? Ich hatte keine Angst vor den Russen; ich sah und roch nur, dass sie Machorka rauchten, Wodka tranken – und fürchter-lich stanken. Natürlich hatten sie schlechte Manieren; riefen immer „stoi“, aber auch sie werden wie alle Maikäfer wieder verschwinden. Oder waren es vielleicht doch Ungeheuer in Uniformen? Jetzt fing ich auch an zu grübeln. Vielleicht waren die Russen doch schreckliche Menschen, die durch nichts aufzuhalten waren, wenn sogar die Amis vor ihnen flüchteten. (Die Amerikaner waren nur zeitweilig 1945 in Thüringen eingedrungen und gaben es entsprechend der festgelegten Zonengrenzen an die Russen ab, was der Bevölkerung aber nicht explizit angekündigt wurde. Man hatte es zwischen den Zeilen zu lesen. Die Deutschen hatten in wenigen Wochen auch ohne Zutun der Amerikaner eine neue demokratische Verwaltung aufgebaut gehabt, die nun von den Russen wieder zerschlagen wurde.)

Die gesamte Richard Breslau Straße in Erfurt wurde von russischen Offizieren mit ihren Familien besetzt. Nur unser Haus (Nr.10), in dem wir uns niedergelassen hatten, wollten sie nicht. Es war ein Mehrfamilienhaus, das von zwei Bomben beschädigt war. Eine Bombe war schräg in die unterste Wohnung eingedrungen. Wie waren im ersten Stock, wo sich nur der Fußboden nach unten gebogen hatte. Dies war der Grund, warum man uns nicht auch vertrieben hatte und unsere Nachbarn jetzt alles Russen wurden. Na und? Statt „Amis“ waren es jetzt eben „Russen“, wo war der Tinterschied? Ich kannte nur einen: Die einen stanken, die anderen nicht. Die Stinker richteten es sich nun häuslich ein. (Stalins Befehl war klar, 50 Jahre bekamen wir aufgebrummt.)

Ein sehr befremdlich agierender kleiner Mann, der zuvor von irgendwoher zu uns gekommen war, hatte die größte Angst vor den Russen und versteckte sich bei uns vor ihnen. Waaas? – das soll mein Vater sein, rief ich ungläubig aus. Ich kannte diesen Mann ja überhaupt nicht (sollte ihn aber bald kennen lernen.) Jedes Mal, wenn er etwas zu Essen besorgen sollte kam er mit leeren Taschen, nur mit vollen Hosen nach Hause, weil er wieder Russen gesehen hatte. Dann schloss er sich immer im Badezimmer ein und wusch seine Hosen aus, was ich durchs Schlüsselloch neugierig beobachtete. Später traute er sich überhaupt nicht mehr vor die Tür, schaffte nichts mehr zu Essen heran und wir hungerten nun richtig - kalt wurde es auch. Es war ein strenger Winter. Alles, was uns dieser Mann gab, war eine neue Parole, die mir noch heute in den Ohren klingt. „Keiner soll hungern ohne zu frieren“, sagte er kalt zu unseren knurrenden Mägen und zitternden Gliedern. (Propaganda war sein Fach. Er hatte mir nie gesagt, was er gewesen war. Seine Vergangenheit ist bis heute streng geheim. Gerüchte besagen, dass er der Presseleiter im Reichspropagandaministerium gewesen sei. So wie er sich verhielt, halte ich es für möglich Die Kinder der führenden Nazis, die einmal die „Weltherrschaft“ übernehmen sollten, waren jetzt nicht mehr gefragt. Sein Chef Göbbels hatte seine Kinder alle vergiftet gehabt. Wenn wir ver-hungerten, wäre das für ihn vielleicht nur die Lösung eines Problems gewesen. Er hatte ja die Angewohnheit in allem treu seinen Vorgesetzten zu folgen und über Leichen zu gehen; mich hasste er – das spürte ich.)

Konnte man denn von Parolen leben? (Ein Tier sicherlich nicht, aber mit Menschen wurde dieses Experiment - wie die Geschichte beweist – später probiert und bekam den wohlklingenden Namen „Sozialismus.“) Warum tat er nichts? Wollte er, dass wir verhungerten? So hatte ich mir das jedenfalls nicht vorgestellt! Ich war also ausgerechnet zum Weltuntergang auf diese Welt gekommen. Diese Welt mochte ich nicht; ich wollte eine andere. Also wollte ich zurück, dorthin, wo ich hergekommen war, wo immer das auch sei, jedenfalls weg von dieser hässlichen Welt. Als Baby war es mir noch gut gegangen. Also fragte ich streng logisch.: „Wann kann ich wieder zurück? Wann kann ich wieder Baby werden?“ „Stell doch nicht so dumme Fragen“, war die Standard-antwort meiner Schwestern. Mir wurde nur eines klar: Mich verstand keiner, und ich verstand die Welt nicht.

- Das sollte auch so bleiben. -

Mit dem Eintreffen der Russen war die Fröhlichkeit wieder wie weggeblasen. Das alte Misstrauen war wieder da und die Menschen gingen sich wieder aus dem Wege. So fragte und sprach auch ich immer weniger. Mir erklärte sowieso niemand, was hier gespielt wurde. Tim mich kümmerte sich auch niemand. Zum Glück hatte ich ja meinen Schutzengel. Aber gab es so etwas überhaupt? War das nicht auch nur ein Wunschbild? Ein Ereignis sollte mir die Antwort geben. Meine Eltern hatten irgendwo ein paar dringend benötigte Möbelstücke und ein altes Bettgestell aufgetrieben, luden alles auf einen viel zu kleinen Leiterwagen und setzten mich oben drauf. In der Tinterführung des Erfurter Hauptbahnhofs war es wegen der üblichen Stromsperre mal wieder duster. Der Fahrer des Russen-Lasters konnte nichts sehen, als er gerade in einer Linkskurve aus dem Hellen ins Dunkle fuhr. Alle spritzten auseinander. Nur ich saß immer noch oben auf dem Leiterwagen. Der Laster verwandelte die Möbel und den Karren im Bruchteil einer Sekunde in Brennholz...

Das erste, das ich wieder hörte, war eine Frauenstimme: „Er lebt noch. Das ist ein Wunder“. „Er muss einen Schutzengel haben,“ sagte eine andere. Jetzt hatte ich keine Zweifel mehr. Tue nie Tinrechtes, dass du ihn nicht verscheuchst, sagte ich zu mir.

Die Spuren des Krieges an unserem Haus waren noch nicht beseitigt. Direkt vor dem Haus war noch ein Bombentrichter, den ich gerne als Buddelkasten benutzte. An der hinteren Ecke fehlte Parterre ein Zimmer. Die Balken unseres Zimmers darüber bogen sich nach unten. Das Ganze wurde aber durch einen Holzstamm gestützt, damit es nicht abstürzte. Tins Kindern war es verboten in dieses Zimmer zu gehen, aber schauen durften wir. Die Mäuse bekamen dies bald mit und fühlten sich dort wohl. Ich schaute rein – und sie schauten frech zurück, als wenn sie wüssten, dass ich ihnen dort nicht hinterher laufen darf.

Spielzeug hatte ich keines mehr, aber in diesem verbotenen Zimmer standen einige Kartons, die mich magisch anzogen. Das ganze Kriegsspielzeug hatte man dort aufbewahrt. Krieg sollte ich doch schon beim Spielen üben, denn das war es doch offensichtlich, was die Erwachsenen am liebsten spielten – und ich wollte ihnen jeden Gefallen tun, damit sie mit mir zufrieden waren und ich vielleicht mehr zu essen bekam. Eines Tages - ich war alleine – nahm ich all meinen Mut zusammen und betrat das Zimmer mit dem gebogenen Fußboden. Es brach nicht zusammen. Ich ging auf Schatzsuche und schaute in die Kartons. Da waren Bleisoldaten, Pferde, Flug-zeuge, Kanonen und Panzer. Ich hatte einen ganzen Schatz entdeckt! Sofort trug ich alles runter auf die Straße und baute alles direkt vor unserem Haus auf dem Bürgersteig auf. Ich ließ eine ganze neue deutsche Armee aufmarschieren, inmitten einer Siedlung russischer Offiziere! (Dies passierte wirklich, aber nur einmal, dann habe ich mein Spielzeug nie wieder gesehen.) Ich wusste nicht was ich tat und verstand mal wieder die Erwachsenen nicht, die so erschrocken über mein Spielzeug waren, als wenn sie den Teufel persönlich gesehen hätten.

Nachdem man mir mein letztes Spielzeug weggenommen hatte, stellte ich fest, dass ich auch nicht mit den Kindern unserer Nachbarn spielen durfte (dies war, auf russischer und deutscher Seite gleichermaßen verboten worden). So spielte ich im Garten mit den ausgebrannten Hülsen der Brandbomben. Sie sahen wie kleine sechseckige Zaunpfähle aus Beton aus. Ich steckte das vom Ruß geschwärzte Ende in die Erde und hatte so ideale Begrenzungspfähle für unser Gemüsebeet gemacht. Irgend jemand hat sie dann wieder entfernt. Den Erwachsenen konnte ich aber auch nichts recht machen. Ich wandte mich dem Lametta zu, das überall in den Büschen hing (Silberpapierstreifen wurden von den Bomberverbänden abgeworfen, um für die deutsche Luftabwehr falsche Radarbilder zu erzeugen.) und spielte damit, nur fand ich leider nichts zu Essen, selbst bei den Sachen nicht, welche die Russen den Hang zum Flutgraben für die Gera hinab warfen.

Meine Mutter stritt sich ständig mit meinem Vater, weil er nichts zu Essen heran schaffte. Er traute sich ja nicht heraus, weil vor unserer Tür mehr Russen als Deutsche herum liefen und er sich sofort in die Hosen machte, wenn er einen sah. Sie war Studienñtin und hätte uns ernähren können. Aber ihr war fristlos gekündigt worden - wegen seiner Nazivergangenheit.

Am 28.01.1949 erhielt meine Mutter die Kündigung durch das Volksbildungsministerium: "Sie werden gemäß Befehl 142 der SMATH (sowjetisches Militärgesetz) mit sofortiger Wirkung aus dem Schuldienst des Landes Thüringen entlassen. Die Zahlung der Dienstbezüge wird mit dem Ablauf des Monats Januar 1949 eingestellt werden."

Der Befehl vom 11.November 1948 lautete: "..dass unfähige, sowie reaktionäre und verdächtige Elemente aus dem Verwaltungsapparat zu entfernen sind". (Das Arbeitsgericht konnte gegen einen Befehl des Sowjetmilitärs nichts ausrichten. Außerdem wurde sie enteignet. Das schon wegen der Flucht vor den Russen; wer flüchtet wurde automatisch enteignet. Später hat sich mein Vater unser Haus in Rangsdorf auf mir unbekanntem Wege angeeignet. Politische Kündigungen, Ehescheidungen und Enteignungen gingen immer Hand in Hand (siehe Band II).)

(Warum meine Mutter mit uns Kindern dann nicht einfach in den Westen ging, zumal sie dort eine Schwester hatte, ist bis heute ungeklärt.)

Sie hatte ohne Geld nicht nur ihre drei Kinder zu ernähren, sondern auch noch einem gesuchten Nazi Unter-schlupf zu gewähren – und das alles inmitten einer Russensiedlung. (Meine Mutter wusste auch, warum er gesucht wurde. Er war kein Mitläufer unter den Nazis, sondern wahrscheinlich sogar einer der Konstrukteure der Katastrophe gewesen. Seine Doktorarbeit liegt heute noch im Giftschrank. Privat hatte er jeden angezeigt, der nur einen Witz über seinen geliebten Führer erzählte, sagten seine Verwandten. Als neue Berufsbezeichnung hatte er sich „freier Schriftsteller“ ausgesucht und sammelte jetzt alte Hitlerwitze. Er hat aber nie ein Buch geschrieben. Meine Mutter hingegen hat ein Buch mit dem Titel „Kriegserinnerungen eines Kindes“ geschrieben; ich habe es leider nur nie zum Lesen bekommen.) Das war zu viel für sie. So konnte es nicht weiter gehen. Wir Kinder suchten auch nach Lösungen. Auch ich wollte Essen für die Familie ranschaffen und grub im Garten nach Regenwürmern. Wenn ich einen ganzen Tag lang welche gesammelt hatte, bekam ich von der Frau mit den Hühnern auch mal ein Ei geschenkt, was ich stolz in der Küche ablieferte.

Meine Schwestern entdeckten eine versteckte „Eiserne Ration“, die unser Vater als Soldat (Feldwebel oder sogar Hauptfeldwebel – ich möchte ihn nicht degradieren. Jedenfalls machte er an der Front (Griechenland) auch nur Propaganda – sagt man.) bekommen hatte. Sie fragten ihn, ob wir die nicht essen könnten. Er antwortete nur: „Die gibt es erst wenn das Gras alle ist.“ Also folgerte ich streng logisch, dass man Gras essen könne, genauso wie es die Kaninchen auf unserem Balkon auch taten. Ich hatte es ja für sie zu rupfen, und davon gab es vor unserer Tür an den Ufern der Gera und des Flutgrabens genug. Also aß ich Gras zusammen mit den Kaninchen. Zumindest hatte ich nun etwas zum Kauen. Das ging aber auf die Dauer nicht gut. Ich wusste mit 3 Jahren noch nicht, dass man unserem Vater kein Wort glauben konnte. Wenn er etwas sagte verarschte er uns nur. (Er war der ideale Propagandist.)

- Das sollte auch so bleiben. -

Es war immer öfter die Rede davon, dass einer weg müsste, weil das Essen nicht für alle reicht. Ich hatte schlimme Vorahnungen. Aus der Familie rausgeworfen zu werden, war für mich schlimmer als Hunger und Kälte. Ich sagte, ich esse nur noch das, was ihr sowieso wegwerft, die Kartoffelschalen. Ich bettelte nicht um die Kartoffeln – ich bettelte um mein Leben.

Ein Wunder hatte zu geschehen. Beim Buddeln im Garten fand ich einen versteckten Schatz. Es war ein so großes Ding aus Metall, dass ich es nicht heben konnte. Was sonst als ein Schatz sollte da drin sein, wenn das jemand hier vergraben hatte? Ich fand nichts um es aufzumachen. Ich rief meine Schwester mir zu helfen, den Schatz zu bergen. Als meine Schwester das sah erschrak sie, lief weg und schrie: “Eine Bombe!”

“Aber meine!” rief ich ihr hinterher.

Was dann die Erwachsenen erst alles veranstalteten - alles nur wegen einer einzigen Bombe im Garten.

Ich hatte nichts, ich bekam nichts, und wenn ich etwas fand, nahm man es mir wieder weg - was für eine Welt. Irgendwie und irgendwann schnappten die Russen dann doch meinen Vater und nahmen ihn mit. Danach wurde auch ich abgeholt. Ohne Erklärung steckte man mich in den geschlossenen Laderaum eines grünen Russenautos und schloss die große Ladetür hinter mir. Es wurde dunkel. Es gab keine Fenster. Der Laderaum war völlig leer und ich war alleine. Ich saß auf dem durchlöcherten Holzfußboden einer großen Kiste auf Rädern, die laut ratternd mit mir davon rumpelte. Ich wusste nicht warum - nicht wohin. Ich wusste nur eines; ich war mutter-seelenallein und ihnen ausgeliefert. Die schlimmen Gerüchte über die Russen schienen sich zu bestätigen. In den Kellern hatte ich immer gelacht, wenn die Bomben ganz in der Nähe krachten. Nichts war mir geschehen. Jetzt aber hatten sie mich. Ich bekam Todesangst. Auspuffgase krochen durch den rissigen Boden, durch den ich sogar die Straße sehen konnte, und füllten langsam das Innere der Kiste. Das atmen viel mir schwer. Jetzt vergasen sie mich, schoss es mir durch den Kopf. Deshalb hatten also alle solche Angst vor den Russen. Jetzt war mir endlich alles klar. (Das Wort „Vergasung“ kannte ich ja, denn es wurde oft ans Satzende ran gehängt. Z.B.: Das machst du jetzt bis zur Vergasung.)

Nach einer Weile hielt der Wagen. Die große hölzerne Tür wurde aufgerissen. Gleißendes Sonnenlicht blendete mich. „Ja, den müssen wir hier behalten, sagte einer der Männer in weißen Kitteln. (Ich sah so aus, als ob man mich gerade aus einem Konzentrationslager der Nazis raus geholt hätte. Ich hatte viel zu dünne Arme und Beine und nur einen großen aufgeblähten Bauch, weil ich zu viel Gras gegessen hatte.) Ich war in einem Krankenhaus, wo man mich langsam wieder hoch päppelte. Ich lag in einem Raum, wo außer mir nur alte Männer zum Sterben untergebracht waren. (War das zur Abschreckung gemacht?) Andere Kinder habe ich dort nicht gesehen. Meine Schwestern kamen mich aber wenigstens regelmäßig besuchen. Mein Spielzeug wurden Blechteile für Schreib-maschinen, die mein Vater im Gefängnis stanzte. (Er war sehr kooperativ und die Vernehmer der neuen Machthaber, wollten auch nicht, dass er mich einfach verhungern ließ, denn auch sie brauchten wieder Soldaten. Deshalb bekam ich das einmalige Privileg im Krankenhaus richtig ernährt zu werden. (Damals musste einem zumindest ein Bein amputiert werden, um überhaupt in ein Krankenhaus zu kommen.) Die Vernehmer glaubten, dass sie mich zu einem wertvollen Glied der neuen sozialistischen Gesellschaft erziehen könnten.)

Im Krankenhaus hatte ich zwar genug zum Essen, fühlte ich mich aber wie ein Gefangener. Ich durfte nicht einmal auf den Balkon gehen, weil ich sterben würde, wenn ich Sonne abbekäme. Die alten Männer machten sich einen Spaß daraus, mich mit solchen Geschichten zu verarschen. Vielleicht nur deshalb, weil sie mit dem Rest ihres Lebens nichts Besseres mehr anzufangen wussten. Es war auch tief beeindruckend für mich, wie einer nach dem anderen der Männer tot im Bett lag und am nächsten Tag in neuen Laken schon wieder ein anderer drin lag, der auch wieder nur auf seinen Tod wartete. So sah also das andere Ende vom Leben aus! Vielleicht schnappte ich gerade deshalb über, als meine Schwestern mich endlich abholen durften. Vor übersprudelnder Lebensfreude rannte ich wie ein wild gewordenes Fohlen im Flutgraben herum – oder besser gesagt wie ein Motor, dem dann plötzlich der Sprit ausging. Ich hatte meinen immer noch schwachen Körper völlig überfordert – nichts ging mehr. Die Folge war, dass ich nächsten Tag wieder drin war. Die Ärzte hatten zu erkennen, dass ich derjenige war, der alles falsch machte. Sie erklärten meiner Mutter, dass ich auch nach meiner nächsten Entlassung noch Erholung und gute Ernährung benötigte. Deshalb hatte sie die gut gemeinte Idee, mich nach der nächsten Entlassung zu ihrer Schwester in den Westen zu schicken. Ich wollte aber nicht in den Westen (ja, so dumm war ich!), ich wollte nicht aus der Familie ausgestoßen werden. Ohne meine Mutter konnte ich mir ein Leben überhaupt nicht vorstellen. Einen festen Anker zur Welt findet man nur in der eigenen Mutter, solange man noch klein ist und nicht auf eigenen Füßen stehen kann. Es half aber alles nichts, meine Meinung war nicht gefragt. Ich wurde zu meiner Tante im Westen geschafft. Bei ihr konnte ich tatsächlich so viel essen wie ich wollte, nur bekam ich dabei den gesamten Stoff der ersten Klasse in mich hinein geprügelt. Aus einem mir unbekannten Grunde hatte ich in wenigen Wochen den Stoff der ersten Klasse zu lernen. Jeden Tag wiederholte sich das gleiche Ritual: Tagsüber war ich alleine und spielte mit ihrem Dackel. Abends bekam ich Prügel, weil ich wieder nicht gelernt hatte was mir aufgetragen worden war.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2. Der Dackel meiner Tante H. H. verteidigte mich, als sie das ABC in mich hinein prügeln wollte.

Eines Tages, wechselte ihr Hund die Seiten und hat sie gebissen, als sie wieder mit dem großen Kochlöffel auf mich einschlug. Seitdem hatten wir uns die Prügel zu teilen. Der Dackel hatte es aber besser; er konnte schnell unters Bett flüchten. (Es war nur ein Streit zwischen Geschwistern gewesen, der da auf meinem Hintern ausgetragen worden war.)

An die Rückfahrt entsinne ich mich genau, weil ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen wurde, da alle den Zug verlassen mussten. Wir standen in einer langen Schlange vor einer Baracke. Es war dunkel, kalt, und die Menschen waren plötzlich alle schlecht gelaunt. Ich zitterte mich warm, bis auch wir in die Baracke kamen, wo wir unsere Koffer auspacken mussten. Vopos wühlten in unseren Sachen herum.

Die Versorgungslage musste in der Ostzone nun wirklich katastrophal geworden sein, wenn sie gleich an der Grenze alle Züge nach was Essbarem durchsuchten. (Wonach sollten sie denn sonst suchen?)

So kam ich wieder nach Erfurt. Auch mein Vater war wieder da. Er war ein völlig neuer Mensch geworden. Man hatte ihn „entnazifiziert“. Das war sicherlich etwas ähnliches wie „desinfiziert“ oder „entlaust.“ Letzteres hatte ich ja auch mitgemacht - eine übel riechende Angelegenheit. Man geht völlig verlaust vorne in eine Baracke rein und kommt am anderen Ende frisch und sauber raus – ohne eine einzige Laus. Im Falle meines Vaters steckte man vorne bei einer Strafvollzugsanstalt einen eingefleischten Nazi aus dem Reichspropagandaministerium rein und heraus kam ein glühender Kommunist – ein „Genosse der ersten Stunde.“ Es war eines der vielen Wunder, die damals geschahen. Die neuen Wundertäter nannten sich Kommunisten und sagten von sich selbst, dass sie Schwerter in Pflugscharen verwandeln konnten, warum also nicht auch einen Ochsen in ein Pferd – oder einen eingefleischten Nazi in einen wahren Kommunisten.

Irgendwie musste er sich wirklich geändert haben, denn meine Mutter mochte ihn nun überhaupt nicht mehr und sprach immer öfter von „Scheidung“.

Mich traf mein eigener Schicksalsschlag. Ich wurde eingeschult.

Meine Schwestern hatten mir schon lange damit gedroht gehabt, dass ich auch bald zur Schule müsse. Jetzt war das freie süße Leben also zu Ende, das ich genoss, sofern ich nicht gerade auf der Flucht, im Krankenhaus oder bei einer bösen Tante war. Jetzt geriet ich in die nächste Falle: Man schickte mich mit einer Zuckertüte in der Hand in die zweite Klasse. Die Schüler der zweiten Klasse waren gerade stolz, keine Pennäler mehr zu sein, da kam einer mit einer Zuckertüte rein. Alle bogen sich vor Lachen. Für mich wurde die Schule mit einem Schlage zu einem Martyrium. Ich wurde von den Schülern nie akzeptiert. Ich passte wieder nicht in meine Umgebung. Ich war kleiner und schwächer als alle anderen und wurde nur das Objekt, auf dem nun alle herum hackten.

Im Anhang 1 ist die nachträgliche Genehmigung vom 26. 10. 1949 (Poststempel) für diese ungewöhnliche Maßnahme zu lesen, für die ich nie eine Erklärung bekommen habe. (Abgesehen von der Erklärung meiner Schwester, die immer eine Antwort parat hatte: „damit du ein Jahr früher arbeiten kannst.“) Hatte es vielleicht damit etwas zu tun, dass mein Vater eine Freundin (Hildegard Högerle) beim Volksbildungsministerium hatte? Ich habe nie etwas von Regeln beim Überspringen einer Klasse gehört. Gab es die überhaupt?)

Irgendjemand plante, dirigierte bzw. intrigierte mein Leben - und ich wurde nie gefragt oder über den Sinn und Zweck informiert.

Das sollte auch so bleiben.

In der Schule versuchte ich mich anzupassen, nicht aufzufallen und in der Masse zu verschwinden, was mir aber nicht gelang. Ich saß nur meine Zeit ab und meldete mich nie. Es war passiver Widerstand. Das kreideten mir wiederum die Lehrer an. Sie legten es als Dummheit aus. Das war mir egal, wenn mich dabei nur die aggressiven Schüler zufrieden ließen. Je dümmer ich mich stellte, um so weniger wurde ich geschlagen, und das war mein einziges Ziel. Ich wollte was zu essen und nicht frieren, und ansonsten in Ruhe gelassen werden. Okay, wenn es möglich wäre, wollte ich - wenn ich einen Wunsch hätte äußern dürfen - einmal eine elektrische Eisenbahn zum Spielen sehen, weil es Gerüchte gab, dass es so etwas tatsächlich gäbe. Ich konnte das nicht glauben. Niemand hat mich je gefragt, warum ich nicht in die Schule gehen – und nicht lernen wollte. Warum sah keiner die kalte nackte Wahrheit? Wenn man hungert und friert, dazu obendrein ständig verprügelt wird, nur weil man jünger und schwächer als die anderen ist, wird man nie ein guter Schüler – wozu auch? (Das für die blinden Pädagogen.) Dass ich in die Schule musste, sah ich ein, denn zu Hause durfte ich alleine nicht bleiben. Dort hatte ich auch schon einen „Unfall“ mit einem Liegestuhl. Ich war wütend, dass ich den Mittagsschlaf einzuhalten hatte, obwohl niemand zu Hause war und versuchte deshalb einen alten verquollenen Liegestuhl auf dem Balkon zu öffnen. Er war vom Regen so verquollen, dass ich nur halb öffnen konnte. Als er wieder in sich zusammen fiel, war mein Daumen eingeklemmt wie in einer großen Schere und ich konnte mit der verbleibenden Hand auch nichts mehr machen. Ich musste lange schreien, bis endlich Nachbarn aufmerksam wurden, schließlich unsere Tür aufbrachen und mich erlösten. Eine Narbe und Schmerzen im Nerv des Daumens erinnern mich heute noch daran. So etwas konnte in der Schule natürlich nicht passieren. Dort konnte man auf der Bank einschlafen ohne sich weh zu tun. Außerdem säuberte man durch die Schulpflicht Wohnungen und Straßen von herumstreuenden Kindern, womit die Schule durchaus einen Zweck erfüllte.

Ein Lichtblick im Leben war die Hochzeit meiner Tante Inge in Erfurt.

Unglaubliche Gerüchte gingen den Feierlichkeiten voraus: Jeder würde eine ganze Bockwurst bekommen – ganz für sich alleine. Zuerst mussten wir drei Kinder aber singen und Blumen streuen. Für eine Bockwurst und ein Stück Kuchen tat ich alles.

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3. Meine Schwester Immetraut erklärte mir, wie man bei der Hochzeit meiner anderen Tante I. G. die Blumen zu streuen hat. (Ich höre immer auf das, was mir sagt!)

Langsam wurde es für alle besser, nur für mich brach nun der Rest der Welt zusammen: Meine Mutter und meine Geschwister zogen weg, wieder zurück in die Berliner Gegend - nach Blankenfelde. Mich ließen sie mutterseelenallein zurück. Nein – es war viel schlimmer; sie überließen mich der „Obhut“ eines Mannes, der mich hasste. Man sagte, dass er mein Vater wäre, er hatte sich aber noch nie so benommen, dass ich dies glauben konnte. Ein Polizist im Haus wäre leichter zu ertragen gewesen, als dieser verunmenschlichte Nazikommunist. Ich fühlte mich verraten und verkauft. Ich sehnte mich immer nur nach einem Familienleben, wie ich es bei anderen gesehen hatte. Aber diesen Mann wurde ich nicht los, der einem jegliche Freude am Leben verdarb. Ich hätte fliehen müssen, wusste nur nicht wohin. Der Rest der Familie war vor ihm geflohen. Warum sie mich nicht mit nahmen, ist mir bis heute ein Rätsel. Ich war vielleicht einfach derjenige, auf den man verzichten konnte, wenn das Essen nicht reichte.

Mein Vater hatte nie Zeit für mich, weil er jetzt wichtige „Parteiarbeit“ zu leisten hatte, was immer das auch war. Es schien jedenfalls eine ernste Angelegenheit zu sein, denn er und seine nun regelmäßigen Besucher lachten niemals. Es passierten seltsame Dinge. Die Russen lauerten Besuchern auf, die mein Vater eingeladen hatte, und führten sie weg. Einer kam mit einem Auto, stieg aber gar nicht erst aus. Ihm gelang es, die Straßensperre zu durchbrechen, welche die Russen vor unserem Haus aufgebaut hatten und verschwand wieder. War das nicht der gleiche Opel gewesen, mit dem wir nach Erfurt gefahren waren? Er war so schnell wieder weg, ich kann es nicht genau sagen. Von nun an gab es einen permanenten Schlagbaum vor unserer Tür. Die Russen mochten also keine Autos. Leute gingen auch noch kaum unsere Straße entlang und nicht nur, weil es hier nichts zu kaufen gab. Es war still hier, aber keine gemütliche Stille. Es lag eine gewisse Spannung in der Luft. Mein Vater war der Pol, von dem diese Spannung ausging.

Eines Tages fielen direkt vor unserem Haus Schüsse. Ich rannte ans Fenster. Mein Vater hielt mich am Arm zurück. Die Russen hätten nur gerade ein Wildschwein erschossen, erklärte er schroff, ohne nachgesehen zu haben. Ohne lange darüber nachzudenken, warum ein Wildschwein aus dem Steigerwald nach Erfurt - und ausgerechnet zu uns herein spaziert kam, blitzte das Bild eines riesigen Wildschweinbratens in mir auf. (Wenn man hungert, kreisen die Gedanken immer nur ums Essen.)

“Dann fragen wir die Russen ob sie uns was abgeben,“ sagte ich zu ihm und zog ihn am Ärmel, um mit ihm sofort zu den Russen zu gehen, ehe sie das Wildschwein fort brachten. Mein Vater sah mich nur mit großen Augen an und war sprachlos. (Das war noch nie diesem kampferprobten und mit allen Wassern gewaschenen Propagandisten passiert.) Die Unterhaltung zwischen Vater und Sohn führte ins Nichts.

- Das sollte auch so bleiben. -

Später sah ich vor unserem Gartenzaun tatsächlich eine große Blutlache. Irgend etwas war hier passiert, aber von einem Wildschwein fand ich nie die geringste Spur. Ich fragte herum, aber keiner hatte eines gesehen. Im weichen Sand musste es Spuren hinterlassen haben; ich fand aber keine, obwohl ich die Gegend genau kannte und alle Tiere mich interessierten. Ein so großes hätte ich nicht übersehen. Ich suchte jeden Tag in den Küchenabfällen der Russen nach etwas Essbarem, die sie an einer Stelle in den Büschen den Abhang hinunter schütteten. Warum machte das Wildschwein nicht das Gleiche, wenn es hungrig war? Dort war nie eines aufgetaucht. Ich war ein aufgeweckter Junge. Ich hätte auch genau das Postauto beschreiben können, das den Briefkasten an unserem Zaun leerte. Sie fuhren mit einem Elektroantrieb, waren also der Zeit weit voraus. Ich erkannte sie schon am Geräusch, die eine große Kette am Elektromotor machte. Wegen Spritmangels fuhren viele Autos auch mit einem Holzgasantrieb. In einem angebauten Ofen wurde Holz unvollständig verbrannt und das Gas in die Zylinder geleitet. Ich kannte auch den kleinsten Gullydeckel in unserer Straße. Als der Fahrer eines Reinigungsfahrzeugs verzweifelt nach einem Wasseranschluss suchte, konnte ich ihm genau erklären, wo der nächste war, und er nahm mich in seinem großen Auto mit. Er staunte, dass alles so exakt stimmte. Ich hatte keinerlei Schwierigkeiten mit normalen Erwachsenen, immer nur mit meinem Vater und ich verstand nicht, was am „Tag des Wildschweins“ geschehen war. Warum wurde hier ein so großes Geheimnis aus einem Wildschwein gemacht? Warum verteidigte ausgerechnet mein Vater die Story eines Wildschweins in Erfurt so vehement, obwohl keines zu sehen war? Wenn wirklich eines da gewesen wäre, warum durfte ich es dann nicht sehen? Ich hätte den Unterschied zwischen einem Menschen und einem Wildschwein erkannt, wenn es wirklich ein Wildschwein gewesen wäre. Was hatte er also zu verbergen? Ich spürte, dass es was ganz Abscheuliches war. Ich war angeekelt. Werde alles, aber nie so etwas wie dein Vater; das war das Erste, was ich mir in meinem Leben vornahm und nie vergessen habe. (Tatsache ist, dass es üblich war, Nazis aus den Gefängnissen zu entlassen, wenn sie kooperationsbereit waren, d. h., ihre alten untergetauchten Kameraden verrieten.)

Tote reden nicht

Mein Vater ging nun in seiner Parteiarbeit ganz auf. Sein Verrat wurde belohnt. Er war deswegen aus dem Gefängnis entlassen worden. Mit seiner Hilfe konnten die Russen Leute verhaften und ermorden, die sie sonst nicht gefunden hätten. Außerdem bildete sein Verrat das solide Fundament einer steilen kommunistischen Karriere. Er war ein typischer Vertreter einer neuen Generation von Nazikommunisten und machte schon Parteiarbeit für die SED, als es diese Partei noch gar nicht gab. Seine Mitverschwörer nannten ihn "ein Genosse der ersten Stunde".

Als sich die Aktionen vor unserer Haustür langsam erschöpften, bekam er ein Motorrad aus alten Armee-beständen gestellt, damit er seine „wertvolle Arbeit“ woanders fortsetzen konnte. Ein Motorrad war damals eine Seltenheit und ein Wertgegenstand. Damit ihm dieses nicht gestohlen wurde nahm er mich immer als Wachhund mit. Während seiner langen konspirativen Treffs saß ich dann neben dem Motorrad – bei jedem Wetter und ohne ein Butterbrot in der Tasche. Ich durfte niemals mit rein, oder bekam etwas zu essen raus gebracht. Fremde wunderten sich oft über das eigenartige Bild, weil man so nicht einmal einen Hund behandelte. Auch die Polizei wunderte sich. Sie verbot es ihm sogar, mich mit seinem Motorrad weiterhin mitzunehmen. Als Vorwand nahmen sie die Tatsache, dass ich viel zu kurze Beine hatte, um die Fußrasten zu erreichen, wenn ich auf dem Rücksitz saß. So etwas hatte meinen Vater nie interessiert. Ich passte selber auf, dass ich mit den Beinen nicht in die Speichen geriet. Damit war die Sache aber nicht erledigt. Er umging das Verbot der Polizei, indem er einen Seitenwagen aus gepresster Pappe anbaute. Gleich auf der ersten Fahrt verlor er mich samt dem Seitenwagen. (Mein Vater war nie in der Lage irgendetwas fest zu schrauben.) Trotzdem ging seine „Parteiarbeit“ weiter. Es war immer die gleiche humorlose Sorte von Leuten - und die gleichen Tätigkeiten...Mich schreckte das ab, aber mein Vater wollte immer mehr. Er wollte steiler hinauf - die Leiter, die man ihm geboten hatte. Er wollte (schon wieder) gottähnlich werden und über Leben und Tod entscheiden ohne sich dabei in die Hosen machen zu müssen. Solche Posten wurden tatsächlich geschaffen; man nannte diese neuen Götter, Gewaltherrscher, Verschwörer und (Ver-)Führer des Volkes "Parteisekretäre". Dies war sein Ziel, das er nun ohne Rücksicht auf Verwandte erreichen wird. Meine Mutter war es, die ihm im Wege stand. Sie wusste zu viel! Sie musste erst eine Schweigeverpflichtung über seine Nazivergangenheit unterschreiben - über eine Vergangenheit, die gerade neu geschrieben wurde, sonst gäbe es keine Parteikarriere für meinen Vater. Anstatt zu unterschreiben reichte sie die Scheidung ein. Sie blieb stur und aufrecht – beugte sich niemals. Es wurde eine politische Scheidung - und nicht die einzige, die ich miterleben musste. (Die Ehescheidung ist rechtsgültig seit 22. November 1948.)

Für mich war das Scheidungsurteil von weltverändernder Bedeutung, denn ihm wurde das Erziehungsrecht für mich entzogen. Ich war frei! Ich war endlich von dem Mann befreit, der mir mein ganzes Leben versauen konnte. Ich kam nach Blankenfelde und konnte nun endlich ein normales Leben beginnen.

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1. Wir drei Kinder und unser Haus in Blankenfelde

Jetzt lebten wir in einem schönen Haus in Blankenfelde. (Es gab davon jeden Tag immer mehr, weil viele vor den Kommunisten flüchteten.) Es hatte viele Zimmer, einen Keller mit Zentralheizung und Tiefgarage und einen großen Balkon. Einen schönen Obstgarten mit einem herrlichen Süßkirschbaum gab es auch, ja sogar eine Schaukel zwischen zwei Kiefern. Was wollte man mehr? Wir waren 8, 10, und 12 Jahre alt und hielten zu-sammen wie Pech und Schwefel. Jetzt waren wir eine Familie. Wir hatten auch Freunde. Wir erfreuten uns unseres Lebens wie noch nie. Besonders auch deshalb, weil der Mann, der uns (und anderen) das Leben zur Hölle gemacht hatte, dazu keine Gelegenheit mehr hatte. Dr. Kurt Willimczik hatten wir schon vergessen. Niemand sprach mehr von ihm. Für uns lag er auf dem Müll der Geschichte. Gemäß dem Scheidungsurteil war er auch rechtlich ein Fremder für uns, was eigentlich nur das bestätigte, was er schon immer war. Niemand wollte je wieder etwas von ihm hören. Keiner glaubte, dass er uns je wieder gefährlich werden könnte.

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2. Meine Mutter unterrichtete Mathematik an der Karl Liebknecht Oberschule in Blankenfelde. Damit die Ähnlichkeit zu sehen ist habe ich rechts ein späteres Passbild von mir mit rein geschoben.

Meine Mutter war nun Lehrerin und ich war schon ungeduldig, einmal bei der eigenen Mutter Unterricht zu haben. Da würde ich auch zuhören, nahm ich mir vor.

Alle Aufforderungen die Stillschweigeverpflichtung zu unterschreiben ignorierte meine Mutter und die impliziten Warnungen schlug sie wieder in den Wind. Aufgestellte Fallen sah sie nicht. Sie war ebenso stur wie ich es auch wurde. Sie unterschätzte wohl auch die Macht, Brutalität und Skrupellosigkeit seiner neuen Genossen, die nun hinter ihm standen.

(Gleich nach dem Kriege gab es eine neue Polarisierung im Volke. Die ehrlichen und aufrechten Menschen wurden von den Kommunisten ausgegrenzt. Neue unsichtbare Schützengräben wurden quer durch Familien gezogen. Der Kalte Krieg – auch gegen das eigene Volk begann. Jede neue Runde der Attacken auf die Menschlichkeit wurde durch einen SED-Parteitag eingeläutet. )

Die Genossen vertrauten einem Mann aus dem Reichspropagandaministerium. Das war genau der richtige Fachmann für das neue Parteiprogramm, denn er konnte nicht nur Lügen, die Wahrheit verdrehen, er konnte sogar noch mit der Wahrheit lügen. In der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einer Lehrerin aber sahen die neuen Parteigenossen eine latente Gefahr. Wenn er dazu gehören wollte, hatte er "sein Problem" bis zu dem kommenden großen Parteitag im Jahre 1950 zu lösen, konnte dabei aber auf die Hilfe vertrauensvoller Genossen rechnen...

Meine Mutter starb (der Volksmund sagte: „sie wurde gestorben“) pünktlich am ersten Tag des großen Parteitages der SED, bei dem die nächste Phase des Kalten Krieges mit dem Koreakrieg eingeleitet wurde. (20. – 24.7. 1950, III. Parteitag der SED und Umwandlung des Parteivorstandes in ein Zentralkomitee (ZK)). Mein Vater kannte keine Verwandten – und hatte damit den idealen Charakter für die neuen Führer. Hitler war tot, aber sein Geist lebte weiter Ab jetzt wurde er "ein wahrer Genosse der ersten Stunde" genannt, denn er hatte nun selbst nach dem Vorbild des großen Genossen Josef Wissarionowitsch Stalin auch nicht vor seinen eigenen Verwandten halt gemacht. (Kommunisten sind keine einfachen Mörder, denn sie haben dazu ein gut fundiertes Parteiprogramm. Sie erheben den Anspruch besser als der Rest der Menschheit zu sein, weil alle anderen nicht den "Mut" dazu aufbrachten, für das „große Ziel“ ihre eigenen Verwandten umzubringen.)

Niemand hat je erfahren, was in diesem Krankenhaus passiert war. Alles liegt bis heute im Dunkeln. Ich hatte das Gefühl, dass dort was ganz Schlimmes passieret war.

Fest steht, dass die Kommunisten den politischen Mord unter dem Motto „Terror des Proletariats“ auf ihre Fahnen geschrieben hatten und der SSD das ausführende Organ war.

Am Kriegsende hatten die Siegermächte Kommandos gebildet, die Kriegsverbrecher aufspüren und hinrichten sollten. Während die Amerikaner dies bald einstellten, befahl Stalin die Gründung des SSD und die Ausdehnung des Kampfes gegen alle Klassenfeinde. Wer „Klassenfeind“ war bestimmten sie selber. Es waren also alle, die ihnen im Wege standen. Meine Mutter stand der Karriere eines Genossen im Wege, weil sie sich weigerte, über seine Vergangenheit zu schweigen. Ihre Ermordung stand somit auf dem Parteiprogramm. Wenn die Genossen also meine Mutter nicht ermordeten, würden sie gegen ihr eigenes Parteiprogramm arbeiten. Taten sie das? (Meine Mutter war aber nicht die Einzige. Diese Mordkommandos verbreiteten Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Die neue Regierung in der Ostzone versuchte das Volk zu beruhigen, indem sie das MfS (Ministerium für Staatssicherheit) gründete, das die Mörderbanden kontrollieren sollte. So wurde es jedenfalls versprochen. Letztlich kontrollierten aber wenige Genossen des alten SSD das MfS, die ganze „DDR“ und zerstörte sie. Heute morden diese Genossen unter dem Motto „Terroristen aller Länder vereinigt euch“ in der ganzen Welt weiter und versuchen die Ökonomie aller Industriestaaten zu zerstören – den Reichtum, den sie niemals selbst haben konnten.)

Seine Genossen waren zufrieden. Niemand wird nun erfahren, dass die gleichen Leute aus dem Reichspro-pagandaministerium, die das Volk schon einmal in den Untergang geredet hatten, jetzt das Volk in den Sozialis- mus hinein redeten.

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3. Meine Mutter starb am 20.7. 1950, was die Voraussetzung für die darauf folgende Parteikarriere meines Vaters war.

Ich hatte mich gewundert, dass meine Mutter ohne irgendwelche Vorankündigungen plötzlich weg war. Niemand wusste etwas. Später wurde uns Kindern nur gesagt, dass sie in Kleinmachnow im Krankenhaus sei. Niemand wusste warum – was dort geschah. Zu ihrer Beerdigung brachte man sie dann wieder zurück. zu uns. Dies wurde ein großes Ereignis mit einer großen Prozession. Tins Kindern wurde erlaubt, sie noch einmal zu sehen. Ich war über die vielen Blumen überrascht, die man ihr mit in den Sarg gelegt hatte. Warum gab man ihr jetzt so viele Blumen? Weil man sie ihr im Leben verweigert hatte? Fast die ganze Schule war gekommen und viele, die ich noch nie gesehen hatte. Warum tat man ihr in ihrem Tode so viel Ehre an? Weil man sie ihr in ihrem Leben verweigert hatte? Das verstanden sie also, ihre Opfer prunkvoll zu Grabe zu tragen. (Tote reden nicht.) Wieder zu Hause stopften sich meine Verwandten mit Kuchen voll - ich sagte kein Wort und aß nichts. Das versteht er noch nicht, sagten sie, sich mit vollem Munde zunickend. Was verstanden die denn? Ich war doch keine drei Jahre mehr alt. Ich war jetzt 8, also so gut wie erwachsen! Vor ihm - meinem Erzfeind und Mörder meiner Mutter - vergoss ich keine Träne. Ich kochte vor Wut, weil ich den Mörder meiner Mutter vor mir sah und machtlos war. Er wagte es hierher zu kommen - und keiner tat etwas! Gab es denn keine Polizei - keine Gerechtigkeit? Er kann mich jetzt auch ermorden lassen, oder sonst was mit mir machen, aber beugen werde ich mich vor ihm auch nie.

Alle dachten nur ans Essen. Ich eigentlich auch immer, aber ich spürte das erste Mal im Leben, dass es manchmal etwas noch wichtigeres gab. Hier wurde über mein Leben entschieden!

Mit der Ermordung meiner Mutter hatten wir Kinder einen Krieg verloren. Jetzt diktierte der Sieger (sprich Mörder) über eine fette Sahnetorte hinweg allen Anwesenden die Kapitulationsbedingungen. Tinser Haus wird durch den Sieger okkupiert, der gesamte Besitz fällt dem Sieger zu, die Okkupanten haben sich den Bedingungen des Siegers zu unterwerfen. Tinser Vater war aber auch bereit uns zu verkaufen, wenn uns jemand nehmen würde. Tinsere Verwandten hätten uns jetzt noch retten können. Wer uns Kinder nun aufnehmen wird, kam aber gar nicht erst als Thema auf den Tisch. Ich, der einmal als Kanonenfutter für den „Endsieg“ für so wichtig angesehen wurde, war jetzt nur noch ein lästiges Überbleibsel einer Zeit, an die niemand mehr erinnert werden wollte. Darin waren sich Freund und Feind einig – und kauten munter weiter. Niemand sprach das Wort „Todesursache“ oder „Mordverdacht aus. Ich habe nie wieder eine pietätlosere Gesellschaft gesehen wie bei diesem Leichenschmaus. Es ekelte mich an. Ich wollte zu Frau Busch laufen und mich bei ihr ausweinen, man ließ mich aber nicht. Zum Schluss glaubte eine Oma, dass mit einer Tafel Schokolade nun alles vorbei und vergessen sei. Niemand verstand mich - aber das ist ja nicht mehr neu. Nur mein Vater wusste was hier gespielt wurde. Er war der Einzige, der genau wusste, warum sie sterben musste. Sein abgrundtiefer Hass speziell mir gegenüber zeigte mir, dass er merkte, dass ich der Einzige war, der ihn durchschaute und vielleicht einmal gefährlich für ihn werden könnte.

Die Nazis hatten unbeugsame und ungeliebte Leute in Konzentrationslager gesteckt und vergast, dass der Gestank noch durch Jahrhunderte weht. Die neuen Nazis änderten deshalb nicht nur ihren Namen, sondern auch ihre Taktik.. Die Kommunisten sagten immer, „wir müssen aus der Geschichte lernen“ und wollten am Ende nicht mehr so viele Leichen herum liegen lassen wie die Nazis. Deshalb erfanden sie einen neuen subtilen Tötungsmechanismus, den selbst die Nazis nicht auf die Beine stellen konnten: eine Krankenbehandlung, die nichts kostete, aber manchmal sogar zur Pflicht gemacht wurde. So wurde meine Mutter nicht von Soldaten oder der Polizei, sondern völlig unauffällig von einem Krankenwagen zu ihrer Hinrichtung abgeholt. Das der Partei bzw. dem SSD unterstellte Krankenhauspersonal tat den Rest. (Sie selbst bezeichnen ihre Arbeit nicht als Mord. Für sie wurde nur bei bestimmten Patienten „die Behandlung abgebrochen“. Das Aussuchen dieser „Patienten“ geschah durch die Partei, die immer Recht hatte. So ersparte man sich Tintersuchungen, Anklage und Ver-urteilung durch einen Richter. Der SSD, war alles in Einem.)

Später kommentierte mein Vater die ganze Angelegenheit nur mit den Worten: „Wer bezahlt bestimmt auch was geschieht.“ Der Staat bezahlte jede Krankenbehandlung, also bestimmte er auch was geschah – und der Staat, das waren er und seine Genossen, die nun wieder Herr über Leben und Tod waren. Außerdem behauptete er, dass sie sich das selbst zuzuschreiben hatte, denn sie hätte ja nur zu unterschreiben brauchen.

Jeder, der heute noch nicht weiß, was der real existierende Sozialismus wirklich bedeutete stelle sich folgendes Szenario vor. Man wird krank und benötigt dringend eine Operation, die es zum Glück kostenlos gibt. Gleich nach der Narkose kommen zwei unauffällig gekleidete Herren in schwarzen Ledermänteln reingeplatzt und befehlen: „Dieser Patient wacht nicht mehr aus der Narkose auf.“

(Die Beweise dazu sind inzwischen in den Stasiakten bei der BStTi gefunden worden. So geschah es, auch wenn die Genossen dabei die berühmten Ledermäntel nicht mehr trugen.)

Die Kommunisten rechneten einfach: Jeder Mord ist ein Klassenfeind weniger. Sie vergaßen nur dabei, dass sie sich damit gleichzeitig neue schufen, unter denen, die mit dieser Handlungsweise nicht einverstanden waren - die Kinder der Opfer z.B. Tatsächlich befand ich mich seit dem Tode meiner Mutter mit meinem Vater und seinen Kampfgenossen im Kriegszustand eines Kalten Krieges, der bis heute nicht beendet wurde. Sie hatten mich sie hassen gelehrt und sie hassen mich bis heute. (Hass war ein wichtiger Grundbaustein für den Aufbau des Sozialismus. Tim genügend davon zu erzeugen gab es solche Genossen wie mein Vater. Sie brauchten natürlich den verhassten Klassenfeind, den sie sich - wie in meinem Falle - selber erzeugten, wenn gerade nicht genügend davon da waren. Ohne Neid und Hass hätten die Kommunisten überhaupt keine Daseinsberechtigung.)

Während ich wie gelähmt war und nicht wusste wie es weiter ging - ob es überhaupt weiter ging - war mein Vater sichtlich zufrieden. Keiner hatte etwas gemerkt und das „Schlimmste“ (wörtlich) war nun für ihn vorbei, was er am gleichen Tage an seine Freundin Hildegard Högerle, einer Kapitalistentochter aus dem Westen, schrieb. Er lud sie zu sich ein, denn unser Haus mit Inhalt hatte er gerade stillschweigend „übernommen“ gehabt; in den Mietvertrag war er „eingetreten“ – alles ohne die Beteiligten je gefragt zu haben. Arbeitsstellen hatte er ebenfalls schon für sich und sie, was zeigt, dass sein Zuzug – und damit der Tod meiner Mutter - von langer Hand (sprich SSD) vorbereitet worden war. Die Behörden hatten ihm den roten Teppich ausgerollt.

Nur wir Kinder (ich auf keinen Fall) wollten ihn nicht, aber uns fragte niemand. Offiziell hatte er gar kein Erziehungsrecht, wir hatten aber niemanden, der ihm das klar machte – und als Kind ist man genauso rechtlos wie ein Hund.

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4. Ein eingefleischter Nazikommunist, Dr. Kurt Willimczik, okkupierte nach seinem Mord an unserer Mutter unser Haus. Seine Mutter (links) und seine Freundin (Mitte) aus dem Westen hatte er gleich mitgebracht und uns Kinder warf er nacheinander raus.

Tinseren geschiedenen Vater hätten wir auch nicht gebraucht. Es war eine seiner wohldurchdachten Lügen, dass er anderen scheinheilig „Hilfsbereitschaft“ vorspielte und vorgab sich um uns kümmern zu wollen. Auch verschwieg er allen, dass wir schon Ersatzeltern hatten, was unsere Mutter vorsorglich für den Notfall organisiert hatte. Das Ehepaar Busch hatte sich schon vorher um uns gekümmert gehabt, wenn sie nicht da war und wollte sich wieder um uns kümmern. Diese Freunde meiner Mutter hatte man zu dem Leichenschmaus aber gar nicht erst eingeladen. Sie wurden einfach ignoriert und durften uns später auch nicht mehr besuchen.

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5. Frau Busch kümmerte sich um uns wie eine Mutter, durfte es aber nicht mehr, als wir sie nötig brauchten.

Ich mochte Frau Busch sehr. Ich hatte bei ihr öfters große Butterbrote mit Speck bekommen, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Sie hatte viele Tiere im Stall und immer etwas zu essen auf dem Tisch – das reinste Schlaraffenland. Sie schimpfte nie und wäre eine gute Ersatzmutter gewesen, aber mein Vater zerschlug diese menschliche Verbindung – alles der Staatssicherheit wegen. Herr Busch hatte uns aus Schrott ein altes Fahrrad zusammen gebaut, mit dem wir stolz durch den Ort fuhren. Wenn uns jemand zurief, „zu zweit fahren ist verboten“, riefen wir zurück, „wir fahren ja zu dritt! Das Fahrrad war das Beste, was wir Kinder damals hatten. Er nahm es uns weg und hetzte uns dazu noch gegeneinander auf. Das war seine Art, sich um uns zu „kümmern“. Ich wollte meine Schwestern mobilisieren, damit wir uns gemeinsam wehrten. Dies gelang mir aber nicht. Für meinen Vater war das eine Konterrevolution, die er geschickt zerschlug. Er wusste auch den all-mächtigen SSD hinter sich, was ihn stark machte. Er wurde für uns die Faust der Arbeiterklasse und setzte die Theorie des „Terrors des Proletariats“ gegen uns in die Tat um.

Ich hoffte immer noch, dass nach der Beerdigung der Spuk wieder vorbei sein - und mein Vater zurück nach Erfurt gehen wird. Ich ahnte nicht, dass der Name Willimczik für den neuen Parteisekretär von Blankenfelde schon mit der Beerdigung meiner Mutter fest geschrieben worden war.

Nach dem Mord an seiner geschiedenen Frau stand die Zerschlagung des Restes der Familie auf seinem Parteiprogramm. In seinem Brief , den er am Tage der Beerdigung schrieb, steht zu lesen, was er vor hatte - dass er uns Kinder weggeben wird...

Da dies nicht sofort gelang, stand jetzt die Zerschlagung aller menschlichen Kontakte auf dem Programm. Der unkontrollierte Austausch von Informationen musste unbedingt unterbunden werden. Damit begann er ohne Verzögerung - er war ja noch gar nicht richtig aus der Übung gekommen. Dies war seine Welt. Er war ein konsequent kämpfendes Übel und machte keine halben Sachen. Er verfolgte seine Ziele mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und wurde ein Vorbild für andere Genossen, die ihm nacheiferten, ihn in seiner künstlerisch-wissenschaftlichen Perfektion der Methoden zur Zerstörung aller Menschlichkeit aber nie erreichten. Für mich war er schlimmer als Hitler, Himmler, Goebbels, Stalin und Ulbricht zusammen genommen, für die Genossen aber der beste Lehrmeister. Wir Kinder waren für ihn nur eine kleine Übung. Wir hatten bisher wie Pech und Schwefel zusammen gehalten. Als er in unser Haus einzog säte er Misstrauen, Neid, Hass und Streit und hatte die einmalige Gabe, dass seine jeweiligen Opfer es überhaupt nicht merkten, woher das alles kam. Wenn sich meine Schwestern jetzt prügelten kroch ich unters Bett. (Das hatte ich von dem Dackel bei meiner Tante gelernt.) Freunde hatten wir auch keine mehr. Mit meinem Freund (Helmut Lenk) aus meiner Klasse konnte ich mich nur heimlich treffen, bis auch das nicht mehr möglich war. Jeder Kontakt zu jemandem, der nicht unter seinem Einfluss stand, war für meinen Vater so gut wie staatsfeindliche Kontaktaufnahme.

Viele dieser Dinge, die er an seinen Kindern - also im Laborversuch - ausprobierte, fanden sich in den Grund-prinzipien des Sozialismus wieder. Er war ein aktiver Mitgestalter der Grundlagen zur Unterdrückung eines Volkes. Er war ein großer Kalter Krieger. Die Nazis und Kommunisten brauchten ihn gleichermaßen. (Die Bemerkung eines Hauptmann Wagner vom SSD zu diesem Thema: "Alles was gut ist übernehmen wir.")

Als auch noch seine Freundin bei uns einzog waren wir mit einem Schlage eine reiche Familie – besser gesagt Haushalt. Wir hatten zwei Flügel, ein Klavier und schwere Eichenmöbel, auf die selbst sein alter Chef stolz gewesen wäre. Er war ja dabei eine Kapitalistentochter zu heiraten. Trotzdem hungerte ich wieder, was nun aber Methode war, denn so groß war der Mangel nicht mehr. Er änderte alles, bis unser Heim keinerlei Nestwärme mehr ausstrahlte und sich keiner mehr drin wohl fühlte. Es wurde zu einem Bollwerk des Sozialismus – zu einer Festung des Kalten Krieges. Es war ein Haus in dem nicht getuschelt oder gekichert werden durfte. Selbst ein Hund, den ich manchmal heimlich mitbrachte, wenn er nicht da war, traute sich in diesem Haus nicht mehr zu bellen. Er schnüffelte nur ängstlich an den verschlossenen Türen, die Kurt immer abschloss, bevor er wegging. (Hunde machten immer einen großen Bogen um ihn, das kannte ich schon aus Erfurt.)

Seine Freundin (spätere Stiefmutter) arbeitete beim Ministerium für Kultur in Berlin, genau dort, wo der Kalte Krieg eröffnet wurde. Wenn ich dort die Stufen am Eingang hinauf ging, wurde ich durch riesige, in Stein gehauene Löwen eingeschüchtert. Das wire Kunst wurde ich belehrt. Er kopierte gerne aus diesem Ministerium des Kalten Krieges für sein Haus und seine „Familie.“ Die Einschüchterung bei unserem Haus taten außen die überdimensionalen roten Fahnen und innen seine schweren schwarzen Eichenmöbel, die einen von oben herab aus runden Butzenscheiben wie aus finsteren Augen anstarrten. Wenn er mich zu sich rief, saß er hinter einem übergroßen Eichentisch, verhingte Strafen (auch wenn man nichts ausgefressen hatte) und gab seine neuen Befehle. Zwei Löwen mit aufgerissenen Miulern - dieses Mal in Eichenholz - gaben seiner Machtdemonstration den richtigen Rahmen. Nur er selber war etwas klein geraten. Er hitte sich - wie es Hitler immer getan hatte - auf ein Podest stellen sollen. Dies inderte aber nichts an seiner wirklichen Machtbefugnis, die mir grenzenlos schien, denn er konnte nicht nur jedem Lehrer alles befehlen, sondern auch die Polizei nach seiner Nase tanzen lassen - dies merkte ich. Ich sah keine Macht in der Welt, die dieses Ungeheuer aufhalten konnte. Alles ging nun seinen „sozialistischen Gang.“ Eine Hausangestelltin bekamen wir auch. Seine Freundin Hildegard machte sich mit Hausarbeit nicht die Finger schmutzig - das tat sie im Ministerium für Kultur, wo sie gemeinsam mit meinem Vater nebst Genossen mithalf, den Kalten Krieg auszulösen. Sie passten zusammen und führten eine perfekte sozialistische Ehe.

Sonntags durften wir solange kein Geriusch machen, bis unsere Eltern ihr Zimmer aufschlossen und heraus kamen. Wenn sich dann unsere Stiefmutter kurz vor Mittag aus dem Bett aufs Klo schleppte und sich übergeben musste, weil sie wieder zu viel Schnaps auf nüchternen Magen getrunken – und nur dazu geraucht hatte, gelang es beiden Propagandisten tatsichlich uns einzureden, dass wir sie krank machten und die Ärzte (sie hatten immer mehrere) gesagt hitten, dass sie bald sterben würden, wenn wir uns nicht bessern würden. In der Tat war es unmöglich ihnen etwas recht zu machen. Schon wenn sie nach Hause kam und die Fliesen in unserem Flur betrat, sagte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht: „hier knirscht es!“ Damit versaute sie regelmißig die Stimmung, ehe irgend etwas anderes gesprochen wurde und setzte den Grundtenor jeglicher Handlung: Wir waren die ungehorsamen Kinder, die alles nur schmutzig machten – sie die Leidtragende. Ich wunderte mich, warum ihre Schuhe immer knirschten, wenn sie ihre Füße drehte, als wenn sie eine Zigarette ausmachen wollte, obwohl die Fliesen völlig sauber waren. Sie trug Schuhe mit weichen Ledersohlen, in denen sich der Sand eingegraben hatte. Die Sohlen waren dann wie Sandpapier und knirschten immer, weil die Straße nicht ge-pflastert war. Auch als ich dieses Geheimnis lüftete, wirkte dieses Ritual immer wieder. Die Stimmung blieb dieselbe, wir wurden stindig unschuldig verurteilt und bestraft. Die Behandlung war schlimmer als in einem sozialistischen Zuchthaus. Aber das merkte ja niemand. Nur mit den Putzfrauen hatte mein Vater seine Probleme, denn es waren Menschen - keine Parteigenossen. (Von der Partei ausgebildete Hausangestellte gab es noch genauso wenig wie ausgebildete Russischlehrer.) Sie wunderten sich, dass seine Kinder nicht das gleiche Essen bekamen, nicht in alle Zimmer gehen durften, nicht mit den Nachbarn reden - keine Freunde haben durften, selbst miteinander nicht frei reden durften, sondern nur demütigende Strafarbeiten zu machen hatten, obwohl sie nichts ausgefressen hatten. Sobald sie sich laut darüber wunderten flogen sie raus und die nichste kam. Eine hielt sich etwas linger, Frau Bortz. Sie war gut zu mir. Sie ließ mich nicht hungern, wihrend mein Vater darauf achtete, dass ich nie genug zu essen hatte. "Es reicht nicht für alle", sagte er. So schlug ich vor, dass im steten Wechsel wenigstens einer von uns sich satt essen dürfe. Das lehnte er kategorisch ab. Frau Bortz hielt das für einen guten Vorschlag. Wir machten es sogar eine Weile, bis er sie auch rauswarf und alles wieder beim Alten war. Ich durfte sie nicht einmal mehr besuchen. Als ich es doch tat, schickte sie mich selber wieder weg, weil sie eingeschüchtert war. Was hatte mein Vater nur für geheimnisvolle Krifte? Er verwandelte die besten Menschen in ihm gehorchende Maschinen. Freunde, Nachbarn, mit denen ich mich gut verstand, mieden mich alle - nachdem sie eine Unterredung mit meinem Vater gehabt hatten. Mir taten solche Dinge sehr weh, wenn er gute Menschen so behandelte und besonders, dass Menschen, die mich einmal mochten, mich nun ignorierten. Ich durfte keinen Freund haben, ich durfte nicht einmal mit dem Hund des Nachbarn spielen.

Frau Busch hitte mich vielleicht nicht rausgeworfen, aber sie war gestorben...

Alle Menschen, die ich mochte und brauchte - und sich dem Terror meines Vaters widersetzten, starben auf bis heute unerklirliche Art und Weise.

- Das sollte auch so bleiben. -

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6. Immetraut, Hildegard Högerle und ich. Hier wird meine älteste Schwester diplomatisch aus dem Hause gewiesen.

Eine „Einheitsfront“ seiner Kinder gegen ihn wusste er zu verhindern. Teile und herrsche, war seine Taktik. So wies er meine größte Schwester aus dem Haus, wovon er eigenartigerweise sogar Bilder machte. Sie hätte ihre Geschwister anführen können Meine andere Schwester war schon in einem Heim. Sie traute sich nicht mehr nach Hause, nicht einmal mehr als sie krank wurde. Meine rausgeworfenen Schwestern durfte ich nicht besuchen. Sie oder wir, sagte er.

Ich mit meiner schier unendlichen Folgsamkeit durfte noch eine Weile bleiben. (Vielleicht wurde er mich aber auch einfach noch nicht los.)

In diesem Haus hatten wir uns einmal wohl gefühlt; jetzt saß er mit seiner Kampfgefährtin in diesem Haus, und warf uns alle nacheinander raus.

Vielleicht gingen sie sogar fast freiwillig, denn das Leben in diesem Hause wurde uns so vergällt, dass es woanders nicht schlimmer werden konnte.

Die neue Karriere meines Vaters blühte auf - nun in rot statt braun. Der nächste Krieg, den die Kommunisten vom Zaune gebrochen hatten, war in Korea in vollem Gange. Wir Kinder hatten dem Ganzen als junge Pioniere bzw. FDJLER zuzujubeln. Auf keinen Fall durfte in der jungen, aufblühenden "DDR", die jeder zu lieben hatte (Mielke liebte dafür auch alle), über die Vergangenheit der uns nun führenden Genossen gesprochen werden, dass sie Polizistenmörder etc waren, dass die neuen sozialistischen Parolen von jemandem aus dem Reichs-propagandaministerium geschrieben wurden. Niemand wusste, was in unserem Haus geschah, zumal der Blick ins Innere durch überdimensionale rote Fahnen vor den Fenstern versperrt wurde. Mein Vater wehrte damit offenbar alle bösen Geister ab. Die Abschreckung war so groß, dass es nie ein Einbrecher gewagt hat, uns nachts zu besuchen. Die Rote Fahne hatte also mehr magische Kräfte als alle Wundermittel gegen böse Geister zusammen genommen. Nur manchmal flackerte etwas auf, was nicht ins Bild passte, das aber sofort und mit allen Mitteln wieder unterdrückt wurde. So wollte unser Nachbar mir einen Rasenmäher borgen, als er sah, dass ich den Rasen mit einer Papierschere zu schneiden hatte. Er wurde strengstens von meinem Vater zurecht gewiesen und hat sich seitdem nie wieder in den souveränen Haushalt des Orts-Parteisekretärs eingemischt. Auch hat er keine Grenzen mehr verletzt und mir irgendetwas über den Zaun gereicht. Wir durften seitdem auch nicht mehr miteinander reden. Ich hielt mich zwar nicht an dieses Verbot, aber eigenartigerweise alle anderen. Sie hatten alle noch mehr Angst vor meinem Vater als ich selber. Das blieb auch so. Ich kam auch nie dazu sie zu fragen, ob sie vielleicht gesehen hatten, wer meine Mutter abgeholt hatte. Eines Tages bzw. Nachts waren sie dann verschwunden. Ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Ich weiß heute noch nicht, ob sie nach Westberlin geflüchtet sind, oder ob man sie abgeholt hatte, weil sie vielleicht zu einer Gefahr für die Sicherheit des Staates geworden waren, was die Häscher - sprich mein Vater - immer selbst entschied.

Dass ich den Rasen mit einer Papierschere schneiden musste, war keinesfalls als Strafe gemeint. Es war nur eine der vielen - jeden gesunden Menschenverstand zuwiderlaufenden - Anordnungen eines Parteisekretärs, die unter keinen Umständen diskutiert werden durften. Ich hatte mich erst wieder zu melden, wenn dieses - mein Planziel erreicht worden war. Genauso wurde später in den VEB-Betrieben (VEB – volkseigner Betrieb) regiert, die alle ebenfalls einen Parteisekretär bekamen, der jede vorhergehende vernünftige Anordnung überschreiben konnte. Wenn westliche Firmen dann nach dem entstandenen Schaden aushelfen wollten, musste jede Hilfeleistung abgelehnt werden. Wenn jemand diesen Anordnungen, die jeder gesunden Logik strotzten, widersprach, wurde er eingesperrt, aber bei guter Führung (oder weil man ihn einfach im Betrieb brauchte) wieder entlassen. Einige Fehler wurden wieder korrigiert. Wenn er dann allerdings sagte, "dass hatte ich euch doch gleich gesagt", wurde er wieder eingesperrt. Das Spiel begann von Neuem. Es war das gleiche Spiel, das zwischen Vater und Sohn ausgetragen wurde, nur in einer größeren Arena, um die man dann eine Mauer ziehen musste, weil die Mitspieler sonst alle weggerannt wären. Die Genossen hätten sich am Ende nur noch alleine die Bälle zuwerfen können. Tatsache ist, dass man in der "DDR" ständig mit der Beseitigung von Problemen beschäftigt war, die es in einer freien Gesellschaft niemals gibt. Das Einzige, was in der "DDR" im Überfluss produziert wurde waren Klassen-feinde, denn jeder, der seinen eigenen Verstand benutzte und ehrlich war, geriet früher oder später automatisch auf Kollisionskurs mit den Kommunisten. (Dazu gab es allerdings noch andere Möglichkeiten.) Besonders mir traute mein Vater nicht. Er hatte sich speziell für mich ganz besondere Dinge ausgedacht, für die ich keine Worte finde. Das konnte auf die Dauer nicht gut gehen. Deshalb versuchte er mich an jemanden in Westberlin zu verkaufen. (Wenn ihm das doch nur gelungen wäre!) Mit diesem Versuch hatte er allerdings seine Kompetenzen übertreten. Höhere Genossen beim SSD beanspruchten selbst das Monopol für den Menschen-handel. Außerdem wurde ihm klar gemacht, dass ein Sohn im Westen für eine Parteikarriere sehr schädlich wäre. Wenn er mich los werden wollte, könnte der SSD helfen, wurde ihm zugeflüstert. Der SSD - Freund und Helfer aller Genossen – bot ihm wieder die Lösung an. Sie machten einen Handel. Seitdem betrachtete der SSD mich (und später meine Erfindungen) als ihr Eigentum und plante für mich das, was das Beste sei...

Mein Vater hatte mich nun, anstatt an fremde Leute, heimlich an den SSD verkauft! Der SSD hatte ein Programm für mein ganzes Leben aufgestellt, welches allerdings streng geheim war, besonders für denjenigen, den es betraf. (Es war aber meiner Erstbestimmung als Kanonenfutter für die Nazis nicht weit entfernt.)

Ich war verraten und verkauft - ich wusste es nur noch nicht.

Dies war schlimmer als ein Pakt mit dem Teufel, denn von nun an bestimmten die Genossen des SSD mein Schicksal, was sie nun sogar noch bis ins nächste Jahrtausend hinein versuchen. (Die Kommunisten - Göttern gleich - versprachen uns den Himmel, was sie errichteten war die Hölle auf Erden. Die Teufel ersetzten sie durch Parteisekretäre.)

Auch wenn ich damals nicht verstand, was hier für ein grausiges Spiel mit mir gespielt wurde, vertiefte sich zwangsläufig der Hass zwischen Vater und Sohn. Je mehr ich wuchs, um so mehr Angst bekam mein Vater vor mir und versuchte krampfhaft, es nicht zu zeigen. Ich wurde nur noch wie ein lästiger Gefangener gehalten. Dazu konnte er sich Dinge ausdenken, die für normale Menschen einfach unvorstellbar waren, so dass ich mich in den Keller oder in eine Höhle im Garten zurückzog. Kurz, er verdarb mir jeglichen Spaß am Leben. Er selbst lebte dabei nicht schlecht. Später fragte ich meinen Vater doch einmal, warum er immer die Butter und Wurst isst, und wir Kinder Margarine-Stullen mit der berüchtigten Ein- bzw. Vierfruchtmarmelade bekamen. "Margarine ist gesünder für euch", war seine lakonische Antwort. Er war der Zeit mal wieder weit voraus.

Seine Macht wuchs ins Tinermessliche. Der SED Parteisekretär von Blankenfelde hieß jetzt ganz offiziell Dr. Kurt Willimczik. Er war der mächtigste und gefürchteste Mann im Ort. Ich war jetzt der Sohn des Partei-sekretärs! (Es ekelt mich, dies schreiben zu müssen.) Ich merkte das daran, dass ich in der Schule nun regelmäßig Klassenkeile bekam. Ich bezog die Prügel, die eigentlich für ihn bestimmt waren, weil es keiner wagte ihn selbst anzugreifen. Nach einer Reihenuntersuchung in der Schule hätte es beinahe eine Tintersuchung deswegen gegeben, weil sich der Arzt wunderte, dass ich überall blaue Flecken hatte.

In der Schule begann der Physikunterricht. Ich hörte das erste Mal zu. Dies waren vielleicht nicht nur alles Propagandalügen und außerdem interessant, weil man damit etwas anfangen konnte. Da Radio hören für mich verboten war, baute ich mir aus alten Armeebeständen, die im Keller herumlagen, einen einfachen Detektor-empfänger und steckte eine Muschel eines Kopfhörers in mein Kopfkissen. Es war der gleiche Kopfhörer, den mein Vater als „Kundschafter“ benutzt hatte. So konnte ich nun sogar unter den wachsamen Augen des Ortsparteisekretärs, Feldwebels (Spieß), Gauleiters – oder einfach Oberteufels den damals stärksten Sender hören. Ich hörte die Schlager der Woche, die Insulaner, die Ratesendungen von und mit Hans Rosenthal, die Krimis "Es geschah in Berlin" und Onkel Tobias vom RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor) mit wachsender Begeisterung. Er hat nie einen Verdacht bekommen - hatte mir das wohl auch nicht zugetraut. (Er selbst konnte ja nichts Nützliches tun. Er tat ja nichts weiter als sich Gemeinheiten auszudenken, was er „Parteiarbeit“ nannte.) Dies ging lange gut. Die Hausangestelltinnen waren immer auf meiner Seite und verrieten mich nicht. Wenn er weg war, wurde es manchmal sogar gemütlich; dann spielte ich ihnen auf dem Klavier "wer Klavier spielt hat Glück bei den Frauen" vor. Frauen mochten das. Tim sie zu verführen war ich allerdings noch etwas zu klein, aber ich konnte ja schon mal üben...

Der Parteisekretär mochte seine Hausangestelltinnen alle nicht. So waren sie nie lange bei uns beschäftigt, bis seine Genossen ihm wieder aushalfen und ihm eine Genossin ihres Vertrauens verschafften. Jetzt hatte er endlich eine gefunden, die für ihn spionierte. Als sie die Bettwäsche bei mir wechselte flog die Sache auf und er nahm mir alles weg. Ich baute mir aber sofort einen neuen Empfänger. Er war verblüffend einfach und bestand nur aus drei Teilen. Etwas Draht als Erde und Antenne, dazwischen eine Art Diode (Sirutor) als Gleichrichter (Transistoren gab es noch nicht zu kaufen). und eine Hörmuschel. Das machte ich aus alten Teilen, die andere weg warfen. Wenn es sein musste, konnte ich jeden Tag einen neuen bauen. Als mein Vater merkte, dass er so nicht weiterkam, fragte er wieder seine Genossen um Rat. Die brachten ein kleines Radio mit zwei fest ein-gestellten Ost-Sendern heraus. Es war rot hatte den schönen Namen "Kolibri". Das schenkte er mir. Ich hörte also „DDR“ – Musik, bekam aber aus irgendeinem Grunde immer Bauchschmerzen, wenn ich diese Sender hörte. (Ich glaube ich war zu sensibel, um mir so etwas anhören zu können.) Also nahm ich es auseinander und hatte am nächsten Tag einen Drehknopf installiert, mit dem ich alle Mittelwellensender empfangen konnte, die es auf der Skala gab. Ich hatte den Wert dieses Radios damit um ein Vielfaches gesteigert. Stolz zeigte ich ihm, wie einfach man unsere sozialistischen Produkte aus den neuen VEB (V olks e igener B etrieb) Betrieben verbessern konnte. Er war mal wieder sprachlos. (Das schaffte nur ich.) Warum freute er sich nicht mit mir, wunderte ich mich, wo mir das doch so gut und schnell gelungen war?

Er schloss mich nun regelmäßig in mein Zimmer ein und sagte, ich solle Russisch lernen. Ausgerechnet die Sprache derjenigen, vor denen er weggelaufen und sich ständig in die Hosen geschissen hatte! Nun sagte er aber Russisch wäre die Zukunft. (Daraus folgerte ich streng logisch, dass die Zukunft so wie seine Hosen werden würde - beschissen.)

Ich bastelte; das war das Beste, was ich aus der Situation machen konnte. Ich feilte Schlüssel, mit denen ich nun alle Türen im Haus öffnen konnte, so durfte er mich auch jeden Tag einschließen. Ich baute kleine Flugzeuge, einen Motor und auch eine Rakete, die mir allerdings schon auf der Startrampe explodierte, aber das passierte sogar den Erwachsenen...

Ich baute ein Holzmodell eines Flugzeuges und schenkte es meiner Stiefmutter. Ich war so stolz drauf, dass mir das so gut gelungen war. Ich hatte sogar einen Ständer dazu gemacht, damit sie es sich auf ihren Schreibtisch beim Ministerium für Kultur in Berlin stellen konnte. Ich dachte, es wäre das richtige Geschenk, denn viele solcher Flugzeuge waren ja über Berlin in der Luft zu sehen gewesen. Ich wusste mal wieder nicht, warum sie so schockiert über mein Geschenk war. Was hatte ich denn nun schon wieder falsch gemacht? (Das Flugzeug erinnerte sie an die Luftbrücke, mit der die Alliierten Westberlin vor den Russen gerettet hatten.)

Das Jahr 1953 kam. Jetzt standen plötzlich wütende Berliner vor ihrem Ministerium und mein Vater hatte wieder die Hosen voll. Es war der 17.Juni 1953, der Tag der russischen Panzer, die dem verirrten Volk den richtigen Weg zum Sozialismus wiesen. Am selbigen Tage war der Parteisekretär spurlos verschwunden. Na endlich, nur übernahm meine Stiefmutter jetzt seine Machtansprüche. (Um seinen Machthunger zu befriedigen wurde meine Stiefmutter später auch Parteisekretärin von Blankenfelde; so blieb alles in seinen Händen.) Jetzt durften wir nicht nur mit anderen nicht mehr reden, sondern auch untereinander nicht mehr. Es gab strengstes Stubenarrest. Als meine Stiefmutter meine Schwester dann doch einmal in meinem Zimmer erwischte, setzte es wieder eine Tracht Prügel. So gereizt hatte ich sie noch nie gesehen, was war nur geschehen? Später erklärte sie uns die Ereignisse: Diebe seien in ihr Ministerium eingedrungen und hätten alle Schreibmaschinen geklaut. Das klang logisch, denn es gab ja keine zu kaufen. Die Panzer würden die Diebe aber bald fangen. Das stimmte auch wieder, denn ich sah und hörte sie ja vorbeirattern. Es waren viele Panzer – Berlin musste voller Schreib-maschinendieben sein. Wenn die so begehrt waren, werde ich welche bauen, sobald ich groß bin und werde schnell Millionär. Ich sah in allem etwas Gutes. Außerdem wären dann alle zufrieden. Jeder hätte seine eigene Schreibmaschine und keinen Grund mehr welche zu stehlen. Ruhe und Ordnung wären wiederhergestellt, also genau das, was die Kommunisten wollten. Alle wären zufrieden, das war das, was ich wollte.

Dass ich dabei ein reicher Kapitalist werden würde ergab sich zwangsläufig. Das wollte ich schon deshalb werden, weil sie es waren, die mein Vater nun am meisten hasste. Klingt das nicht logisch? (Er schrieb Artikel in der „Täglichen Rundschau“ (später „Neues Deutschland“) gegen sie, wurde in kapitalistischer Weise dafür bezahlt und durch eine Kapitalistentochter dabei unterstützt.)

Nachdem man das Volk wieder in Schach hatte, war auch mein Vater wieder da – in frischen Hosen.

Damit ich nicht auf dumme – sprich unsozialistische - Gedanken kam, sollte nach seinem - nun verschärften - Unterdrückungsprogramm jede Minute des Lebens seines Sohnes mit Arbeit ausgefüllt werden. Ich hatte nun mehr zu tun als die Hausangestelltin. Ich musste Bäume fällen, Holz hacken, Kohlen schippen, die Straße (Sandweg) vor unserem Haus harken, Jauche pumpen, Noten abschreiben, Schrott sammeln, Geld für die Partei sammeln, Fahnen raus hängen und Stühle für die Parteiversammlungen nach einem streng vorgegebenen Muster hinstellen und als Krönung kämpferische Gedichte für die Genossen aufsagen:

Nicht weinen mein Sohn – es ist geschehen, du kannst deinen Vater nicht wieder sehen.

Sie haben ihn auf der Flucht erschossen –

Junge – einen unser besten Genossen!.

Auf der Flucht erschossen?

Drei Kugeln von vorn - in die Lunge.

Man hat ihn hingerichtet mein Junge...

So sollte auch aus mir ein Rotfrontkämpfer werden, vor dem der Klassenfeind erzitterte. (Ich hatte gelernt, dass ich am besten damit fuhr, wenn ich auf meinen Vater – auf die Partei hörte und dann genau das Gegenteil davon machte - also musste ich Kapitalist werden.) Weil ich die Gedanken meines Vaters kannte, habe ich sie in dieses Gedicht mit einfließen lassen und es etwas aktualisiert:

Nicht weinen mein Sohn es ist geschehen du kannst deinen Vater nicht wieder sehen

Sie haben in auf der Flucht erschossen,

Junge einen unserer besten Genossen!

Jetzt werd nur nicht gleich so sauer, wir mussten es tun - an der Berliner Mauer.

Schließlich brauchen wir einen guten Schutz gegen all den imperialistischen Schmutz.

Und lass dir jetzt das eine raten: er hat die Partei, dein Land und auch dich verraten

Junge - es klingt vielleicht ein wenig krass, aber ihm fehlte einfach der richt’ge Hass.

Ihm fehlte Klassenbewusstsein und auch der Verstand, sonst wär’ er nicht gegen die Mauer gerannt; und außerdem war er doch etwas zu primitiv, sich zu fügen in sein sozialistisches Kollektiv.

Nach meiner kulturellen Umrahmung begann dann mein Vater mit seiner Rede. Er machte im Prinzip das Gleiche, was er schon für das Reichspropagandaministerium gemacht hatte: er verbreitete Propagandalügen. Darin war er ein Experte. Seine Lügenparolen kamen aus seinem Mund wie die Kugeln einer auf Dauerfeuer gestellten Kalaschnikow. Seine Zuhörer erstarrten. Selbst der Teufel hielt vor Bewunderung seinen Atem an, wenn er sprach – sprich log. (Er war einer der fähigen Leute, die die theoretischen Grundlagen für jede Art von Terrorismus schufen.) Mein Vater war für mich der beste Nazikommunist und Propagandist, da kamen sogar Karl - Eduart von Schnitzler und der Teufel selbst nicht mit..

Diskussionen gab es nicht. Das ging auch gar nicht, denn seine Zuhörer waren regelmäßig erstarrt und ver-ängstigt wen sie bei der nächsten Parteiversammlung noch lebend antrafen. Das kannte ich ja schon von früher – es hatte sich nichts geändert. (Hitler und Göbbels mussten gehen – Willimczik aber blieb bestehen. Wer sich davon überzeugen will braucht nur seine Artikel aus der „Täglichen Rundschau“ bzw. dem späteren „Neuen Deutschland“ und anderen Propagandablättern herauszusuchen und mit seinen vor 1945 vergleichen.)

Er bestellte auch Leute einzeln zu sich. Alle saßen dann auf dem gleichen Beschuldigtenstuhl vor dem über-langen Schreibtisch, wobei am anderen Ende seine Befehle erschallten, Strafen erlassen, Urteile gefällt wurden. Alle kamen mit langen Gesichtern oder Tränen überströmt wieder heraus gerannt. Sie taten mir alle leid. Ich wusste aber nicht was zu tun war. Jemand müsste die Menschheit von dieser Geisel befreien. Wenn mir jemand gesagt hätte, was ich tun könnte – ich hätte es getan.

Leider durchschaute ich damals noch nicht jede seiner Lügen, erkannte auch nicht die Quelle seiner Macht. Das Schlimmste für mich aber wurde die Tatsache, dass mich andere als seinen Komplizen ansahen, obwohl der Hass zwischen Vater und Sohn jeden Tag tiefer wurde. Ich konnte dies auch niemand erklären, denn ich hatte ja keine Kontakte nach außen. Er schaffte es, jegliche Freude aus meinem Leben zu eliminieren. (Es gibt kaum Leute, die sich diese Art der „Erziehung“ überhaupt vorstellen können. Wer es kann wird verstehen, dass ich lieber freiwillig ins Gefängnis gegangen wäre, als unter solchen Bedingungen zu leben.) In den Schulferien schickte er mich in Betriebe zum Arbeiten. Warum die Betriebe da mitspielten, ein Kind bei ihnen arbeiten zu lassen, ist mir heute noch ein Rätsel. Vielleicht hatte der Sohn des Ortsparteisekretärs hier auch besondere Privilegien, vielleicht war es aber auch nur, weil ich nichts bezahlt bekam und das Ganze immer nur als Arbeitseinsatz deklariert wurde. Ich hatte nun ständig Schwielen an den Händen, aber nie genug zu essen. "Erst besser arbeiten, dann besser leben," hieß die Parole und ich tat alles, dass ich einmal besser leben könne. (Ich war nicht der Einzige, der damals auf diesen Trick reingefallen war.)

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7. Ich bei der Gartenarbeit - hier beim Bäume fällen. (Dies war nach einem Umzug in ein neues Haus mit Grundstück.)

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8. Erst wenn kein Blatt mehr rum lag (man beachte, dass tatsächlich in diesem Garten kein einziges Blatt mehr auf dem Boden liegt) , durfte ich mich ausruhen, aber nicht bevor ich meinem Vater seinen Stuhl zurecht gemacht hatte, damit die Welt in Ordnung war – die des Parteisekretärs. (Auf dieser Terrasse hielt er auch seine Parteiversammlungen ab und der Garten des Ortsparteisekretärs musste Vorbild sein.)

Die Arbeit brachte mich nicht um. Auch mit schwerer Arbeit wurde ich fertig. Er verstand es aber aus der Gartenarbeit, die sogar Spaß machen könnte, eine Sklavenarbeit zu machen. Schlimm waren die entwürdigenden, unmenschlichen Dinge, die am Rande geschahen. Er schaffte es immer wieder, dass alle anderen dachten, ich würde mit meinem Vater unter einer Decke stecken, sich alle von mir abwandten und genauso hassten wie meinen Vater. (Ich hätte mich schon damals deutlicher von ihm distanzieren müssen, wusste nur nicht wie.) Niemand durfte mit mir reden. Mit meinem Vater hätte sich kein Einziger abgegeben, nicht einmal ein Hund, wenn nicht die Gewalt der Partei mit russischen Panzern hinter ihm gewesen wären. Wie Hitler oder Himmler war er keine auffallende Figur, trotzdem verbreitete auch er eine eigenartige frostige Atmosphäre, die jedes Lachen verstummen - und alle Hunde in die Ecken kriechen ließ, sobald er auftauchte. Er verbreitete schon Furcht und Schrecken ohne ein einziges Wort gesagt zu haben. Er war die Faust der Arbeiterklasse, die auf jeden hernieder sausen konnte, der nur den Mund aufmachte. Er war der personifizierte rote Terror. Selbst andere Genossen fürchteten ihn. Bei seinen Parteiversammlungen wusste ja auch niemand vorher genau ob er heute eine Auszeichnung bekam oder anschließend abgeholt wurde. „Himmler war nichts dagegen“, sagten sie heimlich. Wie viele er ins Gefängnis, ins „Krankenhaus“ einliefern ließ, wie viele er den Mordkommandos des SSD vor die Füße warf, weiß niemand. Nach einigen Jahren wusste aber jeder Hund im Ort, dass man ihm besser aus dem Wege ging. Nur ich konnte das nicht, ich hatte ihn im Hause. So fuhr er mit seiner sozialistischen Erziehung fort, gestützt auf seine Erfahrungen aus dem Reichspropagandaministerium: "Lasse ihn niemals das machen, was er will. Gib ihm niemals das, was er will. Zerstöre ihm das, was er am meisten liebt - oder besser noch, lasse ihn es selber zerstören, was die höchste Kunst der Menschen(ver)führung war. Raube ihm seinen eigenen Willen und mache ihn zu einem willenlosen Werkzeug der Partei." Er selbst hatte diese Behandlung durchgemacht, was in der Ermordung meiner Mutter gipfelte. Warum sollte er also diese bewährte Methode nicht auch an seinem Sohn anwenden? (Vielleicht klappte es am Ende nur deswegen nicht, weil ich kein Angsthase war – mir nie aus Angst in die Hosen gemacht hatte.) Sein Sohn hatte also zu lernen, das zu zerstören, was er gerade am meisten liebte: Wir hatten einen herrlichen Süßkirschbaum in unserem Garten. Er wusste, dass ich jedes Jahr sehnsüchtig auf die süßen Kirschen wartete. So befahl er mir den Kirschbaum zu fällen. Es war der schönste Kirschbaum in der Gegend. Da half kein Jammern und Gezeter, der Baum musste weg. Mein Protest erzeugte nur weitere Sanktionen und Probleme, die er wohl durchdacht hatte. Also machte ich es endlich schweren Herzens. (Es war die gleiche Methode der Nazis einen Gefangenen durch einen anderen töten zu lassen, nur dass es zunächst nur ein Baum war.) Die Nachbarn schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, als sie den gefällten Baum sahen. (Spielende Kinder unter einem Kirschbaum war nicht das Bild, das der Parteisekretär seinen Nachbarn zeigen wollte.) Für meinen Vater war dies ein wichtiger Test bei der sozialistischen Erziehung seines Sohnes. Heute ist es ein Baum, morgen ein Tier - und später einmal ein Mensch. Er kaufte mir tatsächlich danach ein Druckluftgewehr und zeigte mir, wie man damit auf alles schießen konnte, was sich bewegte...

Nun wusste mein Vater, dass ich für den nächsten Schritt - einem ganz speziellen Internat - reif war. Es war meine Aufnahmeprüfung gewesen, ich hatte es damals nur nicht gewusst. (Ich hatte noch nicht gelernt, dass ein Nachgeben gegenüber Kommunisten alles nur noch schlimmer machte, aber diesen Fehler machten auch andere.)

Die Kommunisten brauchten solche Befehlsempfänger, die blind nicht nur unsinniges Zeug machten, sondern willig das zerstörten, was sie am meisten liebten. Er hatte meine Mutter ja auch einmal geliebt. Es galt aber der Slogan: „Opfer müssen gebracht werden“. „Wo gehobelt wird, da fallen halt Späne“ - und die Kommunisten hatten viel zurecht zu hobeln - bei dem, was sie „Aufbau des Sozialismus“ nannten. Wie bei jedem gewöhnlichen Mord auch, hatten die Kommunisten immer ein „höheres Ziel“ im Auge; und dafür war nun mal ein erfahrener Mann aus dem Reichspropagandaministerium viel wertvoller, als eine Lehrerin, die den Schülern nur Mathematik beibrachte. Nur ich wollte das nicht einsehen.

Internierung, Rekrutierung und Mauerbau

mir ging es im Hause des Parteisekretärs genauso wie dem übrigen Volk in der „DDR“: ich hatte auch unter einer Okkupation zu leiden. Die Verbrechen der Kommunisten und die Machenschaften meines Vaters schwangen harmonisch im gleichen Takt. Ein Teil von mir versuchte so gut es ging mit den Okkupanten zu leben – ein anderer Teil wollte weglaufen. (Wer will schon in einer Parteizentrale wohnen?) Ich hätte es auch getan, wenn ich nur gewusst hätte wohin. Niemand wollte mich. Wenn ich gewusst hätte, dass es ganz in meiner Nähe, in Westberlin - Marienfelde ein Notaufnahmelager gab, wäre ich nächsten Tag dort gewesen, aber so etwas traute sich niemand dem Sohn des Ortsparteisekretärs zu sagen. Mir wurden zur Abschreckung nur Bilder gezeigt, auf denen Polizisten in Westberlin FDJLER verprügelten. Der Parteisekretär lag insofern völlig richtig, dass er mir jeglichen Kontakt zu Menschen untersagte und sich anbahnende Kontakte sofort zerschlug. Niemand durfte mit mir reden. Ich befand mich in einem metastabilen Zustand, d.h., der kleinste Anstoß von außen hätte aus-gereicht, und ich hätte meinem Vater und dem Rest der Genossen für immer den Rücken gekehrt.

Es war abzusehen, dass irgendwann etwas passieren würde. Der erfahrene Nazikommunist schätzte, dass er mich ab dem Alter von 13 Jahren nicht mehr in seinem Propagandakäfig halten könne. Unser kalter Krieg dauerte nun schon 5 Jahre. Die Elite der Partei, der SSD hatte wie immer die Lösung: Ich wurde interniert.

Die nächsten 4 Jahre musste ich hinter dicken Mauern verbringen. Es war der erste Teil des Paktes mit dem SSD, den mein Vater bzw. ich nun zu erfüllen hatten. Ich merkte aber immer noch nichts. Ich wunderte mich nur, dass ich nicht in Blankenfelde zur Schule gehen durfte, wo meine Mutter Lehrerin gewesen war. Ich bekam dafür nie eine Erklärung.

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1. Ich war der letzte, der von meinem Vater, dem Ortsparteisekretär, aus dem Hause gewiesen wurde.

So wurde ich als Letzter aus dem Haus gewiesen. Ich glaubte, es könne sowieso nirgends schlimmer sein. So fügte ich mich in mein Schicksal und fuhr von Blankenfelde nach Wiesenburg. Ich war der Einzige, der mit dem Fahrrad zu seiner Internierung fuhr. Ich glaubte ich bekäme etwas mehr Taschengeld (ich bekam weniger als die Bahnfahrt kostete), wenn ich die Reisekosten sparte. Hier irrte ich aber – wie so oft im Leben.

Nun saß ich in einem alten Schloss hinter dicken Mauern. In der ersten Schulstunde sah sich der Lehrer Gast die Namen der Neuen an und fragte mich neugierig, wie ich denn hier her käme.

"Mit dem Fahrrad," antwortete ich etwas verwundert und unsicher. Er sah mich nur noch stumm an. Er war der Lehrer, der sonst nie verlegen wurde und die Schüler gerne frotzelte, bis diese nichts mehr zu sagen wussten. Jetzt blieb ihm aber die Spucke weg. Seit dieser Minute an hasste er mich. (Ich hatte zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht gewusst, warum ich ausgerechnet in dieses Internat musste - dass dies ein so besonderes Internat gewesen war, zu dem nur „auserlesene Söhne und Töchter hoher Genossen“ hin geschickt wurden. Es war das Einzige dieser Art in der "DDR" und hatte einem ganz einzigartigen Zweck, der so geheim war, dass ich ihn nie erfahren habe, solange ich dort war. Es war eine SED/SSD - eigene Einrichtung.

Das Internat im Wiesenburger Schloss war eine hinter dicken Mauern versteckte Hexenküche, in der die Falschheit, der Betrug, die Lüge mit allen möglichen Gemeinheiten zusammen gebraut wurden. Mit roter Propagandasoße wurde dies dann den Delinquenten serviert, damit aus ihnen das wurde, was der SSD brauchte. Wiesenburg war eine Gehirnwäscherei übelster Sorte. So sind viele hohe Genossen aus dieser Kaderschmiede hervorgegangen. In der Schülerzeitung „Die Brücke“ wurden sie regelmäßig gekürt.

In diesem Siedekübel übelster kommunistischer Erziehung wurde jegliche Menschlichkeit zerkocht, normale Menschen zu Rotfrontkämpfern gemacht, die bei den nächsten Wäscheferien ihre alten Freunde zu Hause wegen Westfernsehens beim SSD anzeigten. Weglaufen konnte man nicht, weil einem sofort beim Eintreffen hinter den dicken Mauern der Verstand geraubt wurde. Wir bewachten uns gegenseitig! Kontakt zur Bevölkerung gab es nicht. So etwas war nur im Sozialismus möglich.

Herr Gast gab außer Deutsch auch Musik und Zeichnen, obwohl er weder zeichnen noch singen konnte. (Das machte aber nichts, denn unser Sportlehrer konnte auch nicht die Spur Turnen. Das merkten wir, als wir endlich einen alten Kuhstall als Turnhalle nutzen durften.) Er presste mich in den Chor, den er zu einer musikalischen Propagandakeule machte, gab mir aber auch im Singen schlechte Noten. Tim der Sache auf den Grund zu gehen, testete ich ihn. Meine Zeichnungen sah er sich nie richtig an, bewertete sie nur schlecht. So gab ich meine Zeichnungen anderen Schülern. Diese bekamen regelmäßig eine Eins (TiSA „A“) auf meine Arbeiten.

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2. Oberlehrer Gast gab auf meine Zeichnungen regelmäßig beste Noten, aber nur, wenn andere Schüler sie abgaben.

Durch diese Behandlung habe ich das Zeichnen und Musizieren ganz aufgegeben. (An das stets verschlossene Klavier durfte ich in den ganzen 4 Jahre nicht ein einziges Mal heran.)

Ich glaubte aber noch, dass dies nur an diesem einen Lehrer lag. Ich hatte noch nicht erkannt, dass derartige Tingerechtigkeiten Methode waren. Die Lehrer hatten die strikten Befehle alle Hobbys zu unterdrücken und alle aufkeimenden Talente zu ersticken.

In diesem Internat lebte ich in einem System, das die Lüge zur staatlichen Doktrin gemacht hatte. Was konnte ich also glauben? Gar nichts war etwas zu wenig. Ich glaubte nur das, was ich durch Experimente selber nachvollziehen konnte. Zu Hause hatte extra aus einem Fahrraddynamo einen Elektromotor gebaut; nur um zu überprüfen, ob wenigstens das Induktionsgesetz so existierte wie es gelehrt wurde. Alle anderen Fächer - außer Mathematik und Physik - hielt ich nicht für würdig, überhaupt überprüft zu werden. Die Mathematik war logisch und deshalb automatisch zu verstehen - auch ohne etwas einzupauken. Die langen umständlichen Erklärungen des Lehrers langweilten mich. Nur aus Langeweile suchte ich nach Wegen, es gerade anders zu berechnen als es vorgeschrieben wurde und war stolz, wenn ich das gleiche Ergebnis viel schneller und einfacher berechnen konnte. Der Lehrer (Herr Schelle) musste mir trotzdem eine gute Note geben, weil das Ergebnis stimmte, selbst wenn er meine Rechnung nicht verstand. Ich hatte bald meine eigene Mathematik. So habe ich mir eine einzige Formel für die Volumenberechnung aller gängigen geometrischen Figuren entwickelt und mir das Auswendigler-nen Dutzender Formeln erspart. Man musste nur die Zusammenhänge zwischen allen geometrischen Gebilden erkennen können. Dabei hatte man nur wenige logische Regeln einzuhalten. Die Natur war einfach, nur die Lehrer machten alles viel zu kompliziert – ja manchmal sogar falsch, aber das durfte man ihnen nie sagen.

Hier ein Beispiel meiner individuellen Denkweise. Man durfte jede Zahl in den Zähler und Nenner eines Quotienten schreiben. Nur wenn man durch 0 dividieren wollte, begannen die Lehrer herumzueiern. Tim dem Problem aus dem Wege zu gehen, führten sie extra eine Grenzwertbetrachtung (Limes) ein. Danach durfte man sich der Null beliebig weit nähern, sie aber nie anfassen – so wie ein heißes Eisen. Hier gab es offenbar ein Problem mit der Null und genauso mit „Tinendlich.“

Dabei ist die Lösung so einfach:

Die Null ist keine Zahl, sondern nur ein Symbol für eine Leerstelle.

„Tinendlich“ ist auch nur ein Symbol, genauso wie das Gleichheitszeichen. Genau wie letzteres gibt es ver-schiedene Bedeutungen.

Würden wir alle Zahlen in bereitstehende Kästchen schreiben, so wäre die Null ein Symbol für ein leeres Kästchen – nichts weiter.

Die Null zwischen 1 und -1 ist etwas ganz anderes, die gibt es gar nicht!

Auf der Zahlenskala symbolisiert sie die Mitte – ein Loch, die Stelle, wo sich also keine Zahl befindet. Vielleicht war sie auch einmal so gemeint gewesen, nur wurden die Ecken abgerundet, damit man es schneller schreiben kann. Heute gehe ich von folgenden Postulaten aus: Die Null existiert in der Natur nicht. Nichts ist unendlich in der Natur.

(Keine Angst, die Nullen auf Ihrem Konto behalten Sie. Sie können übrigens selbst testen, ob es die Null gibt. Für Porto/Unkosten + 20$ versende ich die Anleitung dazu. Über meine Website www.Wolfhart.us können Sie es per Email bestellen:)

Die Zahlenskala wurde als lineares Gebilde dargestellt – als Linie. (Eine (oder mehrere) Hyperbeln statt einer Geraden für das Zahlensystem wire meines Erachtens geeigneter.) Wohl um dem Dualismus der Natur gerecht zu werden, wurde jeder Zahl ein Minuswert zugeordnet, was es in der Natur wirklich gibt. Irgendjemand hat dann zwischen beiden eine Null bzw. das Symbol für ein Loch eingefügt, um sie voneinander zu trennen, was dann filschlicherweise als Zahl betrachtet wurde. Vielleicht hatte der Jemand nur andeuten wollen, dass zwischen Beidem „Nichts“ ist und ein Symbol für ein Loch gemalt hat, was ein anderer „Null – nil „Nichts“ nannte. Der Jammer in der Welt ist ja, dass so viel falsch interpretiert- dann vervielfiltigt und verbreitet wird. So gibt es heute viel mehr weit verbreiteten Unsinn in der Welt, als vor Jahrhunderten, als die Michtigen der Welt verbreiteten, dass die Welt eine Scheibe wire. Es gab/gibt immer nur ganz vereinzelte Leute, die da nicht mitmachten, wie Giordano Bruno, Galilei, Johannes Kepler etc, die dafür verbrannt oder verfolgt wurden. Nur die Methoden der Verfolgung inderten sich etwas im Laufe der Jahrhunderte – der jeweilige Aberglaube bleibt.

Ein neues Zahlensystem, das der Natur angepasster wire, hitte die Struktur des Gravitationspotentials (Rotationshyperboloid) eines Schwarzen Lochs. In der Mitte wire wieder Nichts – also Null. Unendlich wire weit außen, was ebenfalls nicht existiert bzw. nicht erreichbar ist. Dafür gibt es auf einem Kreis 360 (oder beliebig viele) Zahlenstringe (Hyperbeln) mit beliebig vielen kleinen und großen Zahlen (aber ohne Null und Unendlich). Für viele wire dieses Zahlensystem vielleicht etwas zu komplex, aber Computer könnten damit umgehen.

Ohne die Null als Zahl anzuerkennen, wird alles viel einfacher, die Mathematik in der Schule, das Studium und die Kosmologie. Der Beweis, dass man auf der Temperaturskala den absoluten Nullpunkt nie erreichen kann, wire auch einfacher, weil es ihn einfach nicht gibt.

Ich habe nur ein einziges Mal versucht etwas zu hinterfragen. Ich wurde sofort zum Störenfried gestempelt und erntete außer Unverstindnis nur Feindseligkeiten – von Lehrern und Schülern gleichermaßen. Es war nicht das, was man unter „Einfügen ins Kollektiv“ verstand. Alles wurde zu einem Politikum, also zu einer Machtfrage – und Macht hatte ich keine. Das Beste was ich je hörte war vor einer vorgehaltenen Hand: “Du hast ja vielleicht sogar recht, aber öffentlich kann ich das auch nicht sagen.“

Dies heute in einem Buch zu schreiben ist etwas anderes; die einen können mal lesen, was nicht in den offiziellen Lehrbüchern steht und vor den anderen habe ich heute einen genügend großen Sicherheitsabstand.

Von außen war das Internat ein schönes altes Schloss mit einem weit bekannten Turm, einem großen Park mit Teichen, Schwinen und alten Eichen. Es war in Wiesenburg - der Perle des Flimings. Vom Bild her hitte man sich dort wohl fühlen können. (Bilder durfte ich nicht machen - habe auch keine.) Heute ist es sicherlich ein lohnendes Ausflugsziel im Südwesten von Berlin. Es gab im Park sogar einen Tennisplatz, den durften wir nur nicht betreten. Wir durften nicht einmal zuschauen, denn dort spielten die hohen Genossen und die wollten unter sich bleiben. Es gab weder eine Turnhalle noch genügend sanitire Einrichtungen für 150 Kinder. Das Essen glich dem eines Zuchthauses und war nie genug. Dafür bekamen wir aber eine ganz besonders aus-geklügelte sozialistische Erziehung im Überfluss. Das Gift der Propaganda hatten wir nun jeden Tag in konzentrierter Form zu schlucken. Es begann damit, dass wir jeden Morgen im Essraum sitzend 10 Minuten lang aus großen Lautsprechern die sozialistischen Nachrichten serviert bekamen, denen wir - lechzend ein einsames Brötchen auf dem Teller anstarrend - schweigend zuzuhören hatten. Erst wenn die letzte Parteitagsmeldung wie Ziegelsteine in die leeren Migen geplumpst war, durften wir das Brötchen anfassen. (Alles wurde durch Befehle des Heimdienstes gesteuert. Auserwihlte Schüler durften die Hauspolizei spielen. Nur ein vertrauensvoller Schüler durfte das Radio bedienen. Mit privatem Radiohören war es endgültig vorbei.) Auf das Brötchen kam die berühmt- berüchtigte Vierfruchtmarmelade, bei der niemand genau wusste, woraus sie eigentlich gemacht worden war, ob sie vielleicht ein Abfallprodukt aus der „Schwarzen Pumpe“ war. Wie weise hatte doch ein Parteisekretir seinen Sohn auf dieses Internat vorbereitet gehabt, denn ich war bereits an diese Marmelade gewöhnt. Dick wurde nur einer, das war der Küchenchef. (Dies war aber ein Staatsgeheimnis. Bilder von ihm und dem Rest waren verboten.)

Das Nachrichten-Brötchen Ritual mussten wir jeden Tag durchlaufen, jahraus und jahrein. Mir brachte es eine chronische Magenverstimmung ein. Ich mutierte fast zum Pawlowschen Hund. Ich brauchte nur noch die gleiche penetrante Stimme im Radio zu hören und bekam sofort Bauchschmerzen. Das funktionierte auch noch viele Jahre später, womit das berühmte Experiment nochmals wissenschaftlich bewiesen wurde, dass dies auch am Menschen funktioniert. Hinzu kamen die katastrophalen sanitären Bedingungen (2 veraltete und immer verstopfte Toiletten für 150 Mann und keine Duschen.) Meinem Bauch gelang es nie, sich ihnen zu unterwerfen. Ich hatte deshalb den passenden Spitznamen bekommen... (Die Lebensbedingungen waren für mich härter, als im Zuchthaus Cottbus.) Ich schippte die meisten Kohlen, fällte alte Eichen etc, nur weil ich mich einmal satt essen wollte. Einen Arzt habe ich nie gesehen. (Meinen Weisheitszahn hatte man in Amerika entdeckt und gezogen, als ich 50 Jahre alt war.) Wenn ich Beschwerden äußerte, bekam ich nur immer eine Antwort: “Ach jammere nicht. Du willst dich doch nur drücken.“ Dies war die ganze Reaktion auf alle meine Krankheiten gewesen. Sie kostete mir auch nichts, denn wir hatten ja eine kostenlose Krankenversorgung. Leider bestimmten nur die Genossen für wen. Ich gehörte nicht dazu.

Jegliche Persönlichkeitsentwicklung wurde unterdrückt. Es sollten auch gar keine denkenden Menschen dabei heraus kommen, sondern skrupellose Kämpfer für den Sozialismus, denen man ein Bewusstsein einhämmerte, das so fest werden sollte, wie die dicken Mauern, die uns umgaben. Man sollte nicht Denken, sondern Glauben – und der Partei vertrauen. Aber das kannte ich ja schon, nur war der Unterdrückungsapparat in diesem Internat perfekter organisiert. Man konnte nicht mehr durchs Netz schlüpfen. Überall lauerte Verrat. Die „freiwillig Gefangenen“ verrieten sich gegenseitig. Meine eigene Schwester Annebärbel war beim Geheim- äh Heimdienst und hielt dabei auch mich in Schach. Ich verstand nie, wie sie so etwas machen konnte. Wenn ich heimlich versucht hätte, einen Radioempfänger zu bauen. Sie hätte ihn entdeckt und die Sache gemeldet. Sie hatte sich früher bei einer Konfrontation mit meinem Vater immer gleich in die Hosen gemacht – genauso wie er vor den Russen. Dies war mir nie passiert, scheint also eine wichtige Voraussetzung zu sein, ein guter Kommunist zu werden. Angsthasen saßen gerne auf der Seite der Macht.

Ich konnte nicht einmal mehr unerlaubte Briefe an meine Oma schreiben – oder empfangen. Es war einfach alles verboten (Radios, jegliches Hobby etc), bis auf das, was Pflicht war. Dazwischen gab es nichts mehr. Jede Minute des Tages war genauestens vorgeschrieben. Man brauchte sich selbst über nichts mehr den Kopf zu zerbrechen; das taten alles hoch spezialisierte Genossen für einen. Nur sie wussten, was das Beste für einen selbst war. Es war eine "Kaderschmiede" der Partei – so rot, dass eine Steigerung nicht mehr möglich war. Dabei wunderte ich mich nur, dass das Gras nicht auch noch rot wurde. Alle waren schon willenlose Befehlsempfänger geworden und ließen sich freiwillig einsperren. (Deshalb also die gute Auslese.) Nur ein Einziger, Christian Widuch, behielt seinen Verstand und verschwand. Er wurde später Kameramann und machte Tierfilme in Afrika (mein Traum). Wenn er mich damals doch nur mitgenommen hätte - ein schöner, aber unerfüllbarer Traum. (Über Republikflucht mit einem anderen auch nur zu reden, war einfach zu gefährlich – in diesen Kreisen auch schon vor dem Mauerbau. Keiner traute einem anderen – ein Grundprinzip im Sozialismus.) Ein normales Gefängnis war es nicht, denn es fehlten die uniformierten Wärter etc, aber privaten Ausgang gab es auch nicht. Die Insassen passten gegenseitig auf sich auf. Einer musste immer am Tor Wache schieben (die sog. Torwache) und alle Bewegungen in ein Buch eintragen. Wir waren gleichzeitig Gefangene und Wärter – die ideale sozialistische Gemeinschaft. (Vielleicht sollte man den Sozialismus in neuen Gefängnissen als kostensparende Maßnahme einführen – eine Strafe ist er ja sowieso schon.)

Sogar das verordnete Pflicht-Vergnügen wurde zur Tortur, denn wenn wir Sonntags in Dessau in der Oper waren, mussten wir danach regelmäßig einen Aufsatz schreiben, wie der Dichter nur den Sozialismus als einzig mögliche Gesellschaftsform vorausgesagt hatte. (Dieses Ergebnis musste immer herauskommen, egal was und wer es war.)

Die Schulferien waren selbstverständlich auch ausgefüllt. Wir kamen 1956 in ein Ferienlager in Boltenhagen an der Ostsee und dachten, dass wir uns nun in die Sonne legen könnten...

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3. Die Jungs sind bei der Schießausbildung. Was soll ich nur mit den Mädchen machen, fragte sich der Offizier. (Neben ihm meine Schwester). (Dieses Bild stammt aus einem anderen Lager, zeigt aber die typische Situation.)

In Wahrheit war es ein Trainingslager der GST (Gesellschaft für Sport und Technik, eine Vormilitärische Organisation für Jugendliche), in dem wir militärisch gedrillt wurden und scharf schießen lernten. : Während in anderen Ländern die Polizei Verbrecher jagt, wurde in der „DDR“ die Gemütlichkeit der friedlichen Menschen immer wieder durch uniformierte Spielverderber gestört.) Zusammen mit Vietnamesen, die man aus irgendeinem Grunde eingeladen hatte, gab es einen großen Schießwettbewerb mit viel Auszeichnungen. (Der Vietnamkrieg lag noch in weiter Ferne, aber die Kommunisten waren weitsichtig.) Wir sollten sie wohl regelrecht in unsere Herzen schießen oder schließen, so wie schon vorher unsere „großen russischen Brüder“ (die mir persönlich allerdings heute noch schwer im Magen liegen.) Persönlicher Kontakt war allerdings - wie überall und immer - verboten. Ein Kollektiv liebte eben das andere – oder so ähnlich. Ich habe das nie verstanden, wie so vieles andere auch. Beim Schießen war ich wieder der Beste; ich sollte die Schule ja sogar in Wettbeweben vertreten. Beim Fahnenappell aber bekam ein kleiner Vietnamese die Medaille. Keiner sagte etwas zu diesem Betrug; mir blieb auch die Spucke weg. An mir hatte man also überhaupt kein Interesse; wenn ich gehen soll, dann gehe ich. Die Bewachung am Strand war noch nicht ausgereift. Es fehlten noch hohe Mauern, elektrischen Zäune, Selbstschussanlagen und Minenfelder. Die berüchtigten Wachtürme gab es auch noch nicht. Also machte ich einen Spaziergang immer am Strand entlang – immer in Richtung Westen. Wer weiß, wo Boltenhagen liegt, weiß was das bedeutet. Dass da ein alter löchriger Zaun war, machte auf mich keinen großen Eindruck. (Ich war ja keine Kuh, die vor einem solchen Zaun stehen blieb. Hindernisse sind dazu da, dass man sie überwindet, hatte mein Vater gesagt.) Jetzt ging es eine Anhöhe hinauf. Lübeck konnte ich nun deutlich sehen. Ich hatte hier einen guten Überblick. Ich konnte landeinwärts in der Ferne einige Soldaten sehen. Auf dem Wasser war ein Schnell-boot, dass geradewegs auf mich zugerast kam und mich freundlich anblinkte. Ich winkte ihnen freundlich zurück.. Sie blinkten unaufhörlich weiter. Gebt euch keine Mühe, ich verstehe nur Bahnhof. Meine Schwester würde das vielleicht verstehen. Sie hatte das Morsealphabet gelernt. (Vielleicht wollte sie mal eine Spionin werden.) Jetzt machten sie auch noch wütende Gesten! Sollten sie doch einfach zu mir kommen - mit ihrem großen Angeberboot! Aber aus irgendeinem Grunde blieben sie in respektvollem Abstand von mir – vom Strand. Ich streckte ihnen nur die Zunge raus und setzte meine Wanderung gelassen fort. Ich wollte mir ja auch nur einmal die Landschaft hinter den Hügeln anschauen – sonst nichts. Bei dem, was ich gelehrt bekam, fragte ich mich, ob es überhaupt ein Leben außerhalb unserer schönen Republik - ohne Sozialismus gab. Vielleicht war so etwas gar nicht möglich? Das hatte mich neugierig gemacht - und als angehender Wissenschaftler wollte ich es im Experiment überprüfen. Außerdem war das hier spannender als die Kriegsspiele bei der GST. Hier konnte ich richtige Soldaten und Schnellboote foppen.

Ich war auch abends wieder in Boltenhagen - im Zeltlager der Erich Weinert Oberschule von Wiesenburg. Ich war sicherlich der Einzige, der immer wieder zurück in sein Unglück rannte. Das Maß war eigentlich schon voll. Mir fehlte vielleicht nur noch ein kleiner Anstoß. Wussten das die klugen Pädagogen/Aufpasser und bestraften mich deshalb nicht? Es wurde überhaupt nicht über meinen Ausflug in den Westen gesprochen. Hatten sie wirklich nichts gemerkt, oder hatten sie Angst, dass dies ansteckte? Oder mussten die Bilder, die man im Grenzgebiet von mir gemacht hatte, erst ausgewertet werden? Wie auch immer, dies war mein erster und letzter Ferienplatz gewesen. In den folgenden Jahren wurde ich in den Ferien ins Innere der „DDR“ - in die Schwarz-erde im Rhine Luch und nach Zehdenick in ein Ziegelwerk geschickt, wo ich mit anderen Gefangenen härteste Arbeiten zu verrichten hatte. (Mein Vater hatte seine langen schmutzigen Finger mit im Spiel.) Ich musste die noch nassen Ziegelsteine von einer mittelalterlichen Maschine abnehmen, die niemals anhielt und ununter-brochen Ziegelsteine ausspuckte – alles für den Aufbau des Sozialismus. Es war Kinderarbeit und härteste Zwangsarbeit von der keine Bilder gemacht werden durften, weil es so etwas nie gegeben hatte. Für mich wurden diese Jahre ein gutes Training für meinen späteren - und zwangsläufig folgerichtigen - Aufenthalt in einem sozialistischen Gefängnis, die nun wie Pilze aus der fruchtbaren sozialistischen Erde schossen.

Verglichen zwischen dem Wiesenburger Internat und dem Zuchthaus Cottbus waren der Ton, das schlechte Essen etc harmonisch aneinander angepasst worden. Wir wurden in beiden Fällen durch die gleichen Alarmgeber (Brumme) von Kriegsschiffen geweckt, die offenbar das Überbleibsel der einst so stolzen Kriegsmarine waren. Teilweise war es im Zuchthaus Cottbus sogar besser, weil wir nicht mehr so viel Leistung zu erbringen hatten. Wir wurden ja nicht mehr dauernd geprüft und zum Heucheln gezwungen. In beiden Einrichtungen gab es auch die manchmal erlaubten Spiele wie Schach und Tischtennis. So wurde ich der Beste in Beidem - hurra! (Okay, mein Freund Ulrich Reack hat mich im Tischtennis manchmal geschlagen. Er war einer der wenigen „Normalen“, weil er kein Bonzenkind war, sondern in der Umgebung wohnte und deshalb dort zur Schule ging.) Ich spielte um die Schulmeisterschaft. Ich war leicht bis ins Endspiel gekommen, denn alle hatten meine Gegner aufgemuntert, "vor dem brauchst du keine Angst zu haben, der kann überhaupt nicht Schach spielen, der hat es nie gelernt." Tatsache war, das ich das erste Mal an einem solchen Wettbewerb teilnahm und kein Schachbuch gelesen hatte. Ich kannte keine Eröffnungen. Ich kannte nicht einmal alle Begriffe, verstand nicht worüber sie redeten. Ich lernte nur die Regeln, wie die Figuren hin und her zu schieben waren. Das genügte mir aber, um meine Gegner alle Schach Matt zu setzen. Als ich plötzlich im Endspiel war, wurde Großalarm gegeben. Alle vereinigten sich gegen mich und hingen nun über dem Schachbrett. Mein eigentlicher Gegner ging in der Menge unter. Es wurde eine Hängepartie über 3 Tage und Nächte, in denen alles durchgespielt wurde, was sie für möglich hielten. Ich spielte jetzt allein gegen alle. Ich gab ihnen die Zeit, alles zig-mal durchzuspielen, wobei sie natürlich immer am Ende gewannen. Von ihrem Sieg über mich zutiefst überzeugt, ging es nun in den dritten Tag. Auch ich hatte nachgedacht und den Schwierigkeitsgrad hoch geschraubt. Ich hatte mir einen Zug ausgedacht, bei dem es gleich 5 Möglichkeiten zu einem zwingenden anschließenden Matt gab. Nach langen Diskussionen hatten sie 4 gefunden und auch verhindert. Mit der fünften setzte ich sie Matt. Es war ein Schock für sie. Keiner gratulierte mir. Es herrschte eiskaltes Schweigen, auch als man mir die Urkunde (Anhang 2) beim Fahnenappell zähneknirschend aushändigen musste. Für mich war das eine gute Lektion. Ich merkte, je mehr auf der anderen Seite halfen, um so schlechter wurde ihr Spiel. Sie verloren den roten Faden, jeder wollte was anderes. Wenn man von 11 gleichwertigen Schachspielern 10 gegen einen spielen lässt. Werden die 10 immer gewinnen? Nicht unbedingt. Ein Naturgesetz scheint dem im Wege zu stehen. Dummheit addiert sich in der Masse, Intelligenz aber nicht automatisch. Man kann also einen Gedanken nur in einem Gehirn richtig ausreifen lassen. Es gibt ja auch (noch) keine Verbindung zwischen Gehirnen, dass sie wie eines arbeiten könnten. (Die Sprache ist keine geeignete Verbindung, denn sie linearisiert alles und ist weder ein exaktes Abbild der (immer vieldimensionalen) Realität, noch ein vollständiges (wahres) Abbild der Gedanken, weil sie selbst nur ein lineares Gebilde ist, ein Gedanke aber vieldimensional und viel komplexer. Leises Sprechen rechne ich nicht zum Denken, weil dabei die Vieldimensionalität der Realität verloren geht. Ein Computer könnte vielleicht einmal diese Denkbarriere durchbrechen, wenn er keine Sprache benutzt, oder zumindest an jedem Wort einen Link mit n Verzweigungen – also ein ganzes Buch anhängt. Die Wirklichkeit ist immer wie ein verwirrendes Netz von vielen Dimensionen, von denen wir alle bis auf eine eliminieren, sobald wir sie in einen Satz pressen. Deshalb gibt es wirkliches Verständnis nur, wenn man sich über die Unzulänglichkeiten der Sprache hinwegsetzt und in eigene Gedanken Zuflucht findet. Meistens findet genau das Gegenteil statt, dass ein Satz aus einer Gedanken-kette herausgerissen, anders ausgelegt – und damit der Rest eines vielleicht wertvollen Gedankens zerstückelt wird.) Natürlich haben wir (noch) nichts besseres, müssen uns aber immer der Unzulänglichkeiten der Sprache bewusst sein. Betrüger nutzen dies geschickt aus. Physiker haben sich die Sprache der Mathematik geschaffen, weshalb die Physik am weitesten entwickelt ist.

In diesem Internat gab es natürlich auch nichts mehr zu basteln. Die Krönung aller Verbote aber war der Zwang – der Zwang das zu tun, was ich am meisten hasste. Ich hatte nun noch die Sprache derjenigen zu lernen, vor denen sich mein Vater in die Hosen gemacht hatte. Es war eine Oberschule mit "erweitertem Russischunter-richt.“

In der Grundschule gab es zwar auch Russischunterricht, aber in Ermangelung ausgebildeter Lehrer griff man auf einen Piloten zurück, der Russisch in seiner Kriegsgefangenschaft gelernt hatte. Er erzählte uns die spannendsten Kriegserlebnisse, womit die Zeit ausgefüllt – und alle zufrieden waren. Jetzt aber organisierten sich die Kommunisten immer besser, wodurch das Leben immer unerträglicher wurde.

Warum ich aus diesem schrecklichen Land nicht einfach flüchtete, ist sicherlich dem Leser und mir heute auch ein Rätsel. War es, weil ich nicht wusste wohin? Versuchte ich zu viel zu planen? Wirkte die kommunistische Gräuelpropaganda vielleicht doch? Vielleicht war es aber auch einfach das genetische Programm der Natur, als Kind den Anweisungen der Erwachsenen zu folgen. Ich weiß es nicht. Jedenfalls blieb ich trotz zweier gesunder Beine zum Weglaufen und einem gesunden Menschenverstand in diesem ideologischen Gefängnis – und alles ging weiter seinen sozialistischen Gang. Allerdings hätte der geringste Anstoß genügt, mich in Richtung Westen in Bewegung zu setzen. Ich war gespannt wie eine Mausefalle. Jemand hätte mich nur anzutippen brauchen, dann wäre ich zugeschnappt. Vielleicht hatten uns deshalb die Kommunisten wohlweislich von der Bevölkerung so gut abgeschottet. Ich konnte die ganzen 4 Jahre (bis 1959, aber vorher natürlich auch nicht) mit keinem einzigen Erwachsenen - außer meinen Peinigern - sprechen. Es war eine geistige Abschottung, wie es sich heute sicherlich niemand mehr vorstellen kann. Den einzigen Kontakt zur Bevölkerung gab es, als wir zu den Wahlen von Haus zu Haus zogen und den verstörten Inhabern etwas vorzusingen hatten. Fröhlich singende FDJLER zogen für die Partei durchs Land – ich immer mit knurrendem Magen, ich bekam aber nie etwas von den besungenen Opfern. Alle machten die Tür so schnell wie möglich wieder zu.) Ich hatte niemanden, der mir einen Rat fürs Leben gab - mich aus dem Teufelskreis befreien konnte. Einfach in die Kneipe gehen und jemanden ansprechen ging auch nicht. Da saß immer einer der aufpasste. Außerdem hatte jeder Angst zu reden, ganz besonders mit jemandem aus dem berüchtigten Internat. Das wäre eine „unerlaubte Kontaktaufnahme“ gewesen. Niemand sagte mir, was in diesem Lande wirklich vor sich ging. Ich musste selber in die Giftküche der Hölle hinab steigen, um zu kosten, was hier eigentlich zusammen gebraut wurde.

Die „Wäscheferien“ brachten auch keine Erleichterung für mich. Ich durfte nicht im Internat bleiben, sondern wurde nach Hause geschickt. Ich wollte überhaupt nicht „nach Hause“ fahren, wurde aber aus dem Internat rausgeworfen. Meine Stiefmutter fasste meine Sachen überhaupt nicht an. Ich musste sie selber waschen, also warum sollte ich sie erst 100 Km zum Waschen durch die Gegend fahren? Außerdem gab es noch einen besonderen Knebel: Das Schülertagebuch. Dort standen nicht nur die Zensuren sondern auch wöchentliche Einträge der Lehrer und anderer Dienste, z.B. Heimdienste: „Wolfhart’s Verhalten außerhalb des Unterrichts war nicht immer einwandfrei.“ Die musste ich immer von meinem Vater unterschreiben lassen. Dann setzte er sich immer hinter seinen schon bekannten Schreibtisch und begann mit seinen Verhören. Warum sollte ich also nach Hause fahren? Es war nicht nur wie Gefängnis, sondern wie ständige Untersuchungshaft mit unglaublichen Verhören. Da nützte es auch nichts zu sagen, dass ich überhaupt nichts verbrochen hätte. „Dann würde ja niemand so etwas schreiben, also raus mit der Sprache,“ kam es scharf herüber. (Ich weiß heute noch nicht, was konkret damit gemeint war.) Es war die gleiche Methode, die auch der SSD anwendete, um das Volk zu unterdrücken.

Ein Lichtblick sah ich, als meine Schwester Annebärbel 2 Jahre vor mir ihr Abitur machte, sofort einen netten Schüler heiratete und in unser altes Haus in Rangsdorf zog. Es war Armin Müller, ein Schüler aus dem Internat. (Ja, es gab auch Menschen, denen die ganze teuflische Verführungskunst kommunistischer Pädagogen nichts anhaben konnte.) Sie würde mich sicherlich bei sich aufnehmen. Das tat sie nach längerem Zögern auch. Endlich war ich befreit! Nie mehr müsste ich mit meinem Schülertagebuch zum Parteisekretär von Blankenfelde fahren, und wäre seinen unendlichen Verhören nicht mehr ausgesetzt. Ich konnte das erste Mal wieder frei atmen, seit unser Vater nach dem Mord an unserer Mutter die Macht über uns Kinder übernommen hatte. (Ich sah noch nicht das ganze Ausmaß des Problems. Ich dachte, dass nur mein Vater das Problem wäre. Ich sah noch nicht, dass sich alle schlechten Menschen zu einer Partei – zu einer großen Verschwörung zusammen geschlossen hatten.)

Es kam wie es im Sozialismus kommen musste. Die Freiheit währte nur wenige Tage, dann wurde ich von einem Moskwitsch abgeholt. Meine eigene Schwester hatte mich verraten und ausgeliefert! (Sie hatte mich nur im Auftrage der Partei, in der sie inzwischen war, aufgenommen, um “Schlimmeres“ zu verhindern, wie es in ihrem Auftrag hieß. Ihr Mann, der da nicht mitgespielt hätte, konnte nicht mehr eingreifen, denn von ihm hatte sie sich inzwischen scheiden lassen - wegen “unvereinbarer politischer Anschauungen”. (Niemand konnte dem Eindringen der Dogmas der Partei in die eigene Familie entgehen, wenn er eine sozialistische Karriere ein-schlagen wollte.) Der Parteisekretär von Blankenfelde war persönlich mit seinem Moskwitsch (nebst Begleitung) gekommen und hat mich abgeholt. Beides war natürlich zeitgleich, d.h., genau als mich meine Schwester rauswarf, stand zufällig ein Wagen mit offener Tür vor dem Gartenzaun. So wurde ich wieder wie ein Hund ans Gängelband gelegt. Alles ging wieder seinen sozialistischen Gang.

Auf seiner Fahrt nach Rangsdorf hatte er in Blankenfelde einen Motorradfahrer mit seiner Freundin überfahren, was mir moralisch angelastet wurde. Sie hatten sogar Erfolg damit, denn ich entwickelte Schuldgefühle. Als ich die beiden Unfallopfer im Krankenhaus besuchen wollte, wurde mir das allerdings verboten. Die Namen der Opfer habe ich nie erfahren. (Die Polizei wollte zuerst dem Unfallverursacher die Fahrerlaubnis wegnehmen. Das konnten sie aber nicht, weil ein Parteisekretär in der Machtstruktur über der Polizei stand. Sie erhielt ja von ihm die Befehle und nicht umgekehrt.) Warum war mein Vater überhaupt so aufgebracht? Wir hassten uns bis auf die Knochen, also ist ein Auseinandergehen das Natürlichste auf der Welt. Ich hatte keine Ahnung, dass mein Verschwinden in den Westen das jähe Ende des verhassten Parteisekretärs von Blankenfelde gewesen wäre. (Deshalb hielt er mich ja so krampfhaft fest.) Wenn mir das nur jemand gesagt hätte, dann hätte ich einen guten Grund gehabt abzuhauen! Ich hätte einen ganzen Ort von diesem Ungeheuer retten können. Dafür wäre mir sogar jedes Opfer recht gewesen. Leider sprach mit mir niemand und ich fand keinen einzigen ehrlichen Menschen, der die Courage hatte, mir einmal die Wahrheit zu sagen. Die Furcht vor den Kommunisten steckte allen tief in den Knochen. Ehemalige Nachbarn sprachen nicht mehr mit mir oder waren spurlos verschwunden. Nicht einmal die nette Hausangestelltin Frau Bortz, die rausgeflogen war, weil sie mich einmal gegen meinen Vater verteidigt hatte, traute sich mehr mit mir zu reden. Es schien so, als ob sich die ganze Welt gegen mich verschworen hätte.

- Das sollte auch so bleiben. -

Ich leistete von nun an passiven Widerstand. Russisch lernte ich nun überhaupt nicht mehr. Ich rechnete mit einer 5 in Russisch, womit ich durchs Abitur durchfallen würde und keine Studienchancen mehr hätte. Mit diesem Zeugnis hätte ich gar keine andere Wahl mehr, als nach Westberlin zu gehen. Russisch zählte da nicht. Selbst wenn ich eine Klasse noch einmal machen müsste, machte das nichts aus, denn ich war ja 1 Jahr zu jung, weil man mich gleich in die zweite Klasse eingeschult hatte. Ich schrieb als "Heimatadresse" schon mal die Adresse von meiner Oma in Westberlin in mein offizielles Schülertagebuch (obwohl ich wusste, dass sie mich nicht wollte, aber es war die einzig akzeptable „Heimatadresse“ für mich). Ich wollte mich endlich aktenkundig von dem von allen gefürchteten Parteisekretär von Blankenfelde distanzieren, der leider mein Vater war. Diese Adresse wurde mir aber einfach wieder gestrichen. Jeder zerrte in eine andere Richtung.

- Das sollte auch so bleiben. -

Ich werde trotzdem - sobald ich durchs Abitur gefallen wäre - nach Westberlin gehen - nahm ich mir vor. Ich fürchtete nur etwas, dass die Russen mir wieder hinterher kommen könnten. Sie hatten es ja nicht weit und standen rings um Berlin in ihren Startlöchern.

Die Abiturprüfungen kamen. In der mündlichen Abschlussprüfung in Russisch sagte ich mit Absicht alles falsch. Ich war so stolz auf mich, dass ich mir das getraut hatte, denn jetzt hatte ich endlich einen Grund, alles hinter mir zu lassen. Lasst mich nur durchfallen! In Gedanken war ich schon weit weg. Ich hatte endgültig genug. Ich wartete nur noch auf die Verkündung, dass ich durchs Abitur gefallen war. Zu meiner größten Überraschung hatte ich aber bestanden, und das, obwohl ich auch in dem politischen Abituraufsatz das „Thema verfehlt“ hatte und eine 5 bekam. Was ging hier vor? Das war nicht gerecht! Was war denn hier überhaupt erlaubt, wenn man nicht einmal durch eine Prüfung durchfallen konnte? Was war das für eine Schule, in der man nicht einmal durch eine Prüfung durchfallen konnte? (Es war eben gar keine Schule, sondern eine Erzeugungsanstalt williger Genossen des SSD – zur Erzeugung des Kanonenfutters für den Kalten Krieg – nicht mehr und nicht weniger. Sie erzeugten Spitzel, Lügner, Betrüger, Denunzianten und lebende Abhörwanzen, die sobald sie es merkten, natürlich selbiges nie mehr zugaben, was ein fundamentales Grundprinzip für den Aufbau des Sozialismus war, denn Tarnung war alles. Sonst hätte man sich dabei ja auch nicht so viel Mühe gegeben.) Ich verstand die Kommunisten mal wieder nicht. Ich hatte es mal wieder überhaupt nicht gewusst: man durfte mich gar nicht durchfallen lassen! Die Lehrer hatten überhaupt nicht das Sagen! Der SSD hatte längst entschieden, was als Nächstes zu passieren hatte, schließlich war es ihre Anstalt, was wir nur nicht wussten. (Ich merkte immer noch nicht, dass mein Lebens- bzw. Leidensweg durch den SSD längst fest vorgezeichnet war - völlig unabhängig davon, was ich wollte, dachte oder tat.) Mit dem Abiturzeugnis in der Hand sollte ich Physik studieren. Mein Mathematiklehrer Schelle war der Einzige, vor dem ich Respekt hatte - und ausgerechnet er sagte mir das. Ich dachte damals nur, Physik, das ist eines der letzten Dinge, das die Kommunisten noch nicht verfälscht hatten. Die Physik ist in Ost und West genau gleich. Sie steht weit über jeder Politik.. Ich wollte auch von jeglicher Politik so weit weg wie es nur ging. Nur in den Dingen sah ich noch Wahrheit. Dinge lügen nicht. Vor den Kommunisten hätte ich dann endlich Ruhe. Warum also nicht? Es kann ja nicht schaden - irrte ich mich schon wieder. Ich wollte natürlich in Berlin studieren - das ginge aber nicht. (Dies hätte mir zu Denken geben müssen.) Ich musste unbedingt in Dresden Physik studieren. Da dies nicht von meinem Vater kam (dachte ich), auf den ich nun nicht mehr hörte, weil er mich nun oft genug in meinem Leben reingelegt hatte, fiel ich wieder darauf rein. Ich wusste noch nicht, dass andere Menschen auch so gemein und hintertrieben sein konnten, wie mein Vater. Ich hatte die Kommunisten noch nicht genug studiert gehabt. Jetzt gaben sie mir aber eine Lektion nach der anderen. Man denkt immer, dass man das Schlimmste hinter sich hat - sie finden aber immer wieder neue Tricks und man sieht das Gift nicht gleich, dass sie mit dem Bonbon überreichen. Das Studium war umsonst - das war das Bonbon, das andere kam später...

Zuvor wurde ich allerdings noch gezwungen, freiwillig zwei Jahre zur Armee zu gehen. (D. h., ich bekam meinen Stellungsbefehl, ohne dass mich jemand gefragt hatte.) Mir wurde versprochen, dass ich dann ein Stipendium völlig unabhängig von meinem Vater bekommen würde. Man las mir meine Wünsche von den Lippen ab. Die gesamte Klasse (bis auf die Ausnahmen, über man nicht sprechen durfte) ging geschlossen zur Armee – das war eine Selbstverständlichkeit für dieses Internat und ich war dabei. Ich dachte, dass dies für mich zum Glück gar nicht möglich wäre, weil ich erst 17 Jahre alt – also noch nicht volljährig war. Autofahren war ja erst ab 18 erlaubt. Es stellte sich aber heraus, dass ich schon mit 17 Jahren mit einem Gewehr umgehen durfte. Das war also das Ergebnis des mühevollen Überspringens der ersten Klasse.

Wo waren jetzt die Worte, die 1945 in aller Munde gewesen waren “Wer noch einmal ein Gewehr anfasst, dem soll die Hand abfallen.” Sie waren nirgends mehr zu hören. Hatten die Toten sie mit ins Grab genommen?

Eines muss man den Kommunisten jedenfalls lassen. Von der Menschen(ver)führung verstanden sie etwas. Alle machten Dinge, die sie überhaupt nicht wollten - und merkten es oft nicht einmal. Das ging aber immer nur so lange, bis man es merkte und eines Tages nichts mehr ging und sie sich einen neuen Klassenfeind geschaffen hatten. Ganz so weit war es aber bei mir noch nicht. Ich konnte mir immer noch nicht vorstellen, dass einfach alles Lüge war.

Zunächst landete ich - nach einer Grundausbildung in Oranienburg - auf dem Militärflugplatz in Preschen bei Cottbus, eine Stadt, die ich später auch noch kennen lernen sollte, allerdings nur ganz von innen.

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4. Die Segelflieger auf dem Militärflugplatz in Preschen bei Cottbus. (Ich bin selber hier nicht drauf.)

Auf dem Flugplatz gab es viel mehr Freiheiten als in Wiesenburg. Wir durften am Wochenende Segelfliegen, wenn sonst gerade nichts los war. Beim Fliegen bekam ich ein unglaublich schönes Gefühl frei zu sein. Kaum zu glauben, aber ich fühlte mich tatsächlich für ein paar Minuten frei – mitten über dem Sozialistischen (Ge-fangenen-)Lager. Kuchen konnten wir auch kaufen. Das erste Mal in meinem Leben bekam ich genug zu essen. Die in Wiesenburg praktizierte Selbstunterdrückung war hier auch nicht mehr durchsetzbar. An den Eingängen waren richtige Posten, damit man nicht weglief. Das war ehrlicher. (Man möge mich nicht falsch verstehen; es war natürlich preußischer Kommiss mit allen seinen Auswüchsen, aber - verglichen mit dem Internat in Wiesenburg - ein deutlicher Fortschritt. Tatsächlich war der SSD bei der Armee am schwächsten vertreten. Ich glaubte, dass die Armee die einzige Kraft sei, die vielleicht einmal mit dem inneren Feind – dem SSD fertig werden könnte.) Es gelang mir auch wieder heimlich Radio zu hören. Ich konnte sogar manchmal meinen Willen durchsetzen, was mir in Wiesenburg nicht ein einziges Mal gelungen war. Ich hatte einen Tankwagen zur Rollbahn zu fahren und nur zu warten, bis jemand Sprit brauchte. Ich wollte aber einen Jeep fahren, um die Welt kennen zu lernen. Ich fragte einen Offizier, ob ich nicht den abgestellten Jeep Marke P2M fahren könne. Die Werkstatt hatte ihn aufgegeben, weil er nicht mehr zu reparieren wäre. „Ja – wenn sie den wieder zum Laufen kriegen.“, sagte er.

Leider war ich nur die ganze Zeit in meinem Tankwagen an der Rollbahn bei den Mig’s. Oder ich hatte in der russischen Blindfluganlage zu sitzen, die allerdings nie funktionierte. Aus Langeweile habe ich so lange dran rumgedreht, bis ich Radio Luxemburg hören konnte.

Ich wollte mehr tun, das war aber ein Problem. Mein Feldwebel erlaubte mir nicht, zurück zum KFZ - Park zu gehen. (Jetzt wusste ich, was mein Vater bei der Armee gewesen war.) Er schickte aber alle zu Fuß zurück, die ihr Garagentor morgens nicht vorschriftsmäßig verschlossen hatten. So ließ ich es auch nächstens immer offen stehen, und konnte so jeden Tag an dem P2M arbeiten. (Dieser Spieß war nicht mein Vater, sonst hätte er mich sofort durchschaut. Er war auch nicht so gefährlich.) Der Motor war wirklich nicht zu reparieren. Ich konstruierte ihn um. Mit Hilfe von alten Teilen, einer Drehbank, die irgendwo herum stand, fuhr der Kübel-wagen bald wieder und mir wurde zähneknirschend erlaubt, ihn zu fahren. Niemand verstand, was ich eigentlich gemacht hatte, aber ich konnte nun öfters aushelfen und kam langsam in den Ruf, dass ich alles zum Laufen bringen konnte, besonders dann, wenn alle anderen aufgaben.

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Ende der Leseprobe aus 241 Seiten

Details

Titel
Codename Einstein - Roman nach Tatsachen
Untertitel
Band 1
Autor
Jahr
2010
Seiten
241
Katalognummer
V140074
ISBN (eBook)
9783640631889
ISBN (Buch)
9783640631780
Dateigröße
26773 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Physiker, Erfinder, Pumpen, Motoren, Drehkolben, ölfrei, Verfolgung, Stasi, SSD, Mord, Zersetzung, Sabotage
Arbeit zitieren
Diplom Physiker Wolfhart Willimczik (Autor:in), 2010, Codename Einstein - Roman nach Tatsachen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140074

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