Die Aufgabe der neutestamentlichen Exegese ist es, „zu einem tieferen Verständnis des Gotteswortes zu führen, wie es sich in der geschichtsgebundenen Gestalt des Neuen Testaments darbietet, dessen theologischen Gehalt zu erfassen und seine Botschaft für den heutigen Menschen zum Sprechen zu bringen.“
Um diese dreifache Aufgabe erfüllen zu können, hat sich seit der Zeit der Aufklärung von Seiten der evangelischen Theologie das Instrumentarium der historisch-kritischen Methode herausgebildet und „als eine sachgerechte und den Texten angemessene Auslegungsform erwiesen“ ; dennoch ist sie „weder voraussetzungslos noch unveränderlich.“
Mit Hilfe dieser Methode soll nun die Perikope von der Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10, 46-52) exegetisch untersucht sowie die einzelnen Methodenschritte, die hier zur Anwendung kommen, kurz erläutert werden. Die dabei vollzogenen Schritte sind: Textkritik, Literarkritik, Formkritik, Gattungskritik, Traditionskritik und Redaktionskritik.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Hauptteil
2. 1 Textkritik.
2. 2 Literarkritik
2. 3 Form- und Gattungskritik (Formgeschichte)
2. 3. 1 Formkritik
2. 3. 2 Gattungskritik
2. 4 Traditionskritik
2. 5 Redaktionskritik
3. Schluß
1. Einleitung
Die Aufgabe der neutestamentlichen Exegese ist es, „zu einem tieferen Verständnis des Gotteswortes zu führen, wie es sich in der geschichtsgebundenen Gestalt des Neuen Testaments darbietet, dessen theologischen Gehalt zu erfassen und seine Botschaft für den heutigen Menschen zum Sprechen zu bringen.“[1]
Um diese dreifache Aufgabe erfüllen zu können, hat sich seit der Zeit der Aufklärung von Seiten der evangelischen Theologie[2] das Instrumentarium der historisch-kritischen Methode herausgebildet und „als eine sachgerechte und den Texten angemessene Auslegungsform erwiesen“[3] ; dennoch ist sie „weder voraussetzungslos noch unveränderlich.“[4]
Mit Hilfe dieser Methode soll nun die Perikope von der Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10, 46-52) exegetisch untersucht sowie die einzelnen Methodenschritte, die hier zur Anwendung kommen, kurz erläutert werden. Die dabei vollzogenen Schritte sind: Textkritik, Literarkritik, Formkritik, Gattungskritik, Traditionskritik und Redaktionskritik.
2. Hauptteil
2. 1 Textkritik
Bevor die eigentliche Analyse des Textes beginnen kann, ist es notwendig, seinen ursprünglichen Wortlaut möglichst exakt zu rekonstruieren. Dies ist die Aufgabe der Textkritik.
Da von keinem der neutestamentlichen Bücher mehr eine Originalversion (Autograph) vorhanden ist, muß man auf spätere Handschriften (die früheste, der Papyrus 52, ist ein Fragment des Johannesevangeliums aus der Zeit um 125) zurückgreifen[5]. Diese bieten aber verschiedene Textvarianten, da sich beim Abschreiben Fehler eingeschlichen haben bzw. - etwa aus dogmastischen Gründen - auch bewußte Eingriffe in den Text vorgenommen worden sind. Die vier Hauptgruppen von Texten sind: der alexandrinische Text (= „neutraler“ Text), der D-Text (= „westlicher“ Text), der Koine- oder byzantinische Reichstext und der Cäsareatext.[6] Die bedeutendsten Codices (mit ihren Abkürzungen) sind: der Codex Sinaiticus (!, 01), der Codex Alexandrinus (A, 02), der Codex Vaticanus (B, 03), der Codex Ephraemi (C, 04) und der Codex Bezae Cantabrigiensis (D, 05).
Um nun herauszufinden, welche Handschriften den ursprünglichen Text am besten überliefert haben, orientiert sich die Textkritik an äußeren und inneren Kriterien, wobei im Zweifelsfall die äußeren Kriterien den Vorrang haben.
In Hinblick auf die äußere Bezeugung wird untersucht, „welche griechischen Handschriften, welche Übersetzungen und Schriftsteller für eine bestimmte Lesart eintreten“[7]. Wichtig ist hierbei, daß die Textzeugen nicht einfach zu zählen, sondern vielmehr gegeneinander abzuwägen sind.
Die inneren Kriterien beziehen sich auf die Schwierigkeit eines Textes, seine Länge, das Verhältnis des Textes zum Kontext, die Erklärung von Abweichungen anderer Lesarten aus der bevorzugten Lesart sowie die sog. Konjektur (eine erschlossene Lesart ohne Rückhalt in den überlieferten Texten).[8]
Diese Regeln kennen aber auch Ausnahmen und dürfen „weder mechanisch noch isoliert angewendet“[9] werden.
Die Textkritik soll für die vorliegende Perikope nun an drei Stellen exemplarisch durchgeführt werden:
- Der erste Satz von V. 46 „5"Â §DPo<J"4 g4H z3,D4Pf“ taucht in der ursprünglichen Lesart des Codex Vaticanus (B) sowie in einer Einzelhandschrift der sahidischen Tradition nicht auf.[10] Dem stehen aber alle anderen Textzeugen gegenüber, so daß diese die bestbezeugte Lesart widerspiegeln (1. Regel nach Zimmermann). Nach der 7. Regel ist zwar die kürzere Lesart ursprünglicher, und der Codex Vaticanus gilt überdies „als wertvollster Textzeuge des Neuen Testaments“[11], doch ist im Zweifelsfall den äußeren Kriterien der Vorzug zu geben. Außerdem findet sich beim zweiten überaus bedeutsamen Vertreter des alexandrinischen Textes, nämlich dem Codex Sinaiticus, diese Auslassung nicht.
- In V. 47 variiert die Herkunftsbezeichnung Jesu: Während der Codex Sinaiticus (!), der Codex Alexandrinus (A), der Codex Ephraemi (C ) und andere „;".TD"4@l“, der Codex Bezae Cantabrigiensis (D) und andere „;".TD0<@H“ haben, steht im Codex Vaticanus (B) und anderen Zeugen „;"."D0<`H“. Pesch kommentiert: „;".TD"4@l dürfte Angleichung an den ntl. überwiegenden Sprachgebrauch sein; vgl. bes. Lk 18, 37. Markus schreibt auch sonst nur ;"."D0<`H“.[12] Die Schreibweise von D ist am wenigsten gesichert, weil nur wenige Zeugen sich dafür aussprechen und außerdem der D-Text im allgemeinen von geringerem Gewicht ist[13].
- In V. 51 haben nur D und altlateinische Handschriften „6LD4g D"$$4“, während es in allen anderen Zeugen „Ö"$$@L<\“ heißt. Abgesehen von dem eindeutigen äußeren Zeugnis läßt sich nach Regel 6 die Abweichung in D als Vereinfachung identifizieren und nach Regel 9 so erklären, daß der Ausdruck „Ö"$$@L<\“ nicht unbedingt für nichtjüdische Leser aus sich heraus verständlich war und der D-Text doch gerade „dem besseren Verständnis dienen will.“[14]
2. 2 Literarkritik
Nachdem mit Hilfe der Textkritik der ursprüngliche Wortlaut eines Textes so gut wie möglich gesichert worden ist, sucht die Literarkritik „ihn in seiner literarischen Eigenart und Zielrichtung zu erfassen, indem sie den vorliegenden Text formal und inhaltlich analysiert und den Anteil seines Verfassers von dem trennt, was schriftlich vorgelegen hat und in die jetzige Textgestalt aufgenommen und zu einer neuen Einheit verarbeitet wurde.“[15]
Lange Zeit lag der Schwerpunkt auf dem letztgenannten Teil der Literarkritik, nämlich der Suche nach schriftlichen Quellen für einen vorliegenden Text - also auf der diachronen Ebene[16]. Da dies jedoch „zu einer zunehmenden Atomisierung der herkömmlichen Bücher“[17] führte und sich so „die reine Literarkritik der Haarspalterei verdächtig“[18] machte, steht heute die synchrone gleichberechtigt neben der diachronen Analyse.
Im einzelnen umfaßt die Literarkritik folgende Schritte:
- Abgrenzung einer Texteinheit von der vorherigen und der nachfolgenden Einheit Da die Einteilung der Bibel in Verse und Kapitel erst im Mittelalter und in der frühen Neuzeit vorgenommen worden ist und diese Einteilung bisweilen Sinnabschnitte zerschneidet bzw. Disparates miteinander verbindet[19], muß der biblische Text auf seine immanente Gliederung in Untereinheiten hin untersucht werden. Anhaltspunkte für den Beginn neuer Untereinheiten können z. B. Zeit- und Ortsangaben, Auftreten von Personen oder der Umriß einer Situation sein. Das Ende kennzeichnet der Abschluß eines Geschehens oder Gedankengangs sowie das Einsetzen einer neuen Handlung.
- Stellung der Einheit im Kontext
Der Kontext (Makrotext) ist die jeweilige biblische Schrift, aus der die zu untersuchende Einheit entnommen ist. Die biblischen Schriften lassen sich in Abschnitte einteilen, die Paulusbriefe z. B. anhand des Schemas des antiken Briefformulars, das Markusevangelium nach den Gebieten, in denen Jesus aufgetreten ist und die mit seiner Vita verknüpft sind.[20]
- Untersuchung der Einheitlichkeit des Textes
Kriterien für die Einheitlichkeit bzw. Uneinheitlichkeit eines Textes sind:
Die logische Kohärenz: Hierzu gehören etwa Themenwechsel, die einen zusammen-hängenden Text unterbrechen, Doppelungen und Wiederholungen (von Wörtern, Wortverbindungen oder inhaltlich ähnlichen Textabschnitten), sowie Spannungen und Widersprüche inhaltlicher Art.
Die grammatisch-stilistische Kohärenz: Hierunter fallen z. B. die Verwendung eines Sprachstils, der für den Autor eines Textes sonst untypisch ist, ohne inhaltlichen Anlaß vorgenommene Tempus- und Personenwechsel, Wechsel zwischen Singular und Plural.
[...]
[1] Zimmermann, Heinrich, Neutestamentliche Methodenlehre. Darstellung der historisch-kritischen Methode, Stuttgart 71982, 17 [Künftig zitiert: Zimmermann, Methodenlehre].
[2] Diese von katholischer Seite zunächst ablehnend behandelte Methode konnte sich im 20. Jahrhundert jedoch auch hier allgemein durchsetzen, vgl. Zimmermann, Methodenlehre, 17.
[3] Strecker, Georg; Schnelle, Udo, Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 41994, 15 [Künftig zitiert: Strecker-Schnelle, Einführung].
[4] Ebd., 11 - Dies findet seinen Ausdruck z. B. darin, daß sich im Zuge des ‘linguistic turn’ auch eine sprachwissenschaftliche Herangehensweise an neutestamentliche Texte etabliert hat, vgl. hierzu Zimmermann, Methodenlehre, 267-307.
[5] Solche Handschriften sind: Papyri, Pergamentkodices (in Majuskeln, ab dem 9. Jhdt. auch Minuskeln), Lektionare, Schriftzitate von Kirchenvätern sowie alte Übersetzungen.
[6] Vgl. Strecker-Schnelle, Einführung, 31f. - Die Existenz des Cäsarea-Textes ist allerdings unsicher.
[7] Zimmermann, Methodenlehre, 43 - Zu den Regeln im einzelnen vgl. Zimmermann, Methodenlehre, 43-46.
[8] Vgl. ebd., 47-50.
[9] Ebd., 50.
[10] Zu allen textkritischen Angaben vgl. die Angaben im textkritischen Apparat von Nestle-Aland, Novum Testamentum Graece, 27. Auflage.
[11] Zimmermann, Methodenlehre, 51.
[12] Pesch, Rudolf, Das Markusevangelium. II. Teil. Kommentar zu Kap. 8, 27 - 16, 20, Freiburg i. Br. 1977 (= Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament; 2), 168 [Künftig zitiert: Pesch, Kommentar].
[13] Vgl. Zimmermann, Methodenlehre, 45.
[14] Ebd., 40.
[15] Ebd., 79.
[16] Vgl. Roloff, Jürgen, Neues Testament. Unter Mitarbeit von Markus Müller, Neukirchen-Vluyn 71999, 23f. [Künftig zitiert: Roloff, NT] - Dies erklärt sich aus dem früher vorherrschenden Optimismus, mit Hilfe der Quellen historisch zuverlässigere Ergebnisse zu erzielen, auf diese Weise einen „historischen Jesus“ skizzieren zu können.
[17] Koch, Klaus, Was ist Formgeschichte ? Methoden der Bibelexegese, Neukirchen-Vluyn 51989, 88.
[18] Ebd., 89.
[19] Vgl. Roloff, NT, 28.
[20] Ich beziehe mich auf den von Martin Ebner in seiner Einleitungsvorlesung verwendeten Aufriß, der auf B. Van Iersel zurückgeht; vgl. Van Iersel, Bas, Markus. Kommentar, Düsseldorf 1993, 68.
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