Die Aussprache des österreichischen Standarddeutsch

Umfassende Sprech- und Sprachstandserhebung der österreichischen Orthoepie


Doktorarbeit / Dissertation, 2009

205 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1. Einleitung

2. Vorbemerkungen
2.1. Terminologie und Begriffsabgrenzung
2.2 Diachronische Entwicklung

3. Die orthoepischen Kodifikationen
3.1 Die deutschländischen Aussprachekodizes
3.1.1 Der Siebs (1898 ff.)
3.1.2 Das Wörterbuch der deutschen Aussprache (WDA) (1964) und Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache (GWDA) (1982)
3.1.3 Das Duden-Aussprachewörterbuch (Aussprache-Duden) (1962ff.)
3.2 Die Aussprachemerkmale des österreichischen Standarddeutsch
3.2.1 Deutsche Lautlehre von Luick (1904f.)
3.2.2 Österreichisches Beiblatt zu Siebs (1957)
3.2.3 Das Österreichische Wörterbuch (ÖWB) (1951ff.)
3.2.4 Das Österreichische Sprachdiplom Deutsch (2000)
3.2.6 Das Variantenwörterbuch des Deutschen (2004)
3.2.7 Österreichisches Aussprachewörterbuch (ÖAWB) und Aussprachedatenbank (ADABA) (2007)

4. Zielsetzung und Methodik
4.1 Ansatzpunkte der Erhebung
4.2 Methodische Vorüberlegungen
4.2.1 Die Stichprobe
4.2.2 Zur Repräsentativität
4.2.3 Eigenschaften der Probanden
4.3 Zur Sprech- und Sprachstandserhebung: orthoepische Merkmale
4.3.1 Quantitativ orientierte Erhebung
4.3.2 Die Befragungssituation
4.3.3 Das Statistik-Dilemma
4.3.4 Die Wortliste
4.3.5 Ablauf der Befragung
4.4 Zur Fragebogenerhebung: Einstellungen und Wahrnehmungen zur österreichischen Standardaussprache
4.4.1 Ansatzpunkte der Erhebung
4.4.2 Aufbau des Fragebogens
4.4.3 Forschungsverlauf
4.4.4 Methodische Einschränkungen
4.5 Methodenkritik

5. Analyse und Auswertung der Ergebnisse
5.1 Erhebung der österreichischen Orthoepie
5.1.1 Stichprobe
5.1.2 Ergebnisse
5.1.2.1 Vokalismus
5.1.2.2 Konsonantismus
5.1.2.3 Betonung
5.1.2.4 Unterschied: Wien und andere Bundesländer
5.1.3 Zusammenfassung
5.2 Einstellungen und Wahrnehmungen zur österreichischen Standardaussprache
5.2.1 Stichprobe
5.2.2 Ergebnisse
5.2.2.1 Was ist die Standardaussprache
5.2.2.2 Berufsgruppen
5.2.2.3 Aneignen der österreichische Standardvarietät
5.2.2.4 Differenzierung der Standardaussprache
5.2.2.5 Österreichische und deutsche Standardaussprache im Vergleich
5.2.3 Qualitative Ergebnisse der offenen Antworten
5.2.3.1 Frage (2) - Einstellung zur österreichischen Standardaussprache
5.2.3.2 Frage (3) - Besonderheiten der österreichischen Varietät
5.2.3.3 Frage (10) - Sonstige Bemerkungen der Befragten
5.2.4 Zusammenfassung

6. Zusammenfassung

7. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

Anhang 1: Fragebogen

Anhang 2: Wortliste

Anhang 3: Kodierung

Anhang 4: Ergebnisse der Sprachstandserhebung

Anhang 5: Ergebnisse der Einstellungsanalyse

Anhang 6: Kreuztabellen und Chi-Quadrat-Test

Anhang 7: Lebenslauf

Anhang 8: Abstract in Deutsch

Anhang 9: Abstract in English

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Bundesland, das längste Zeit Lebensmittelpunkt war

Abbildung 2: Häufigkeitsverteilung Vokalismus a

Abbildung 3: Häufigkeitsverteilung Vokalismus e

Abbildung 4: Häufigkeitsverteilung Vokalismus i

Abbildung 5: Häufigkeitsverteilung Vokalismus o

Abbildung 6: Häufigkeitsverteilung Vokalismen ö, u und ü

Abbildung 7: Häufigkeitsverteilung Vokalismus ä

Abbildung 8: Häufigkeitsverteilung Diphthong ei-ai

Abbildung 9: Häufigkeitsverteilung Diphthong äu-eu

Abbildung 10: Häufigkeitsverteilung Diphthong au

Abbildung 11: Häufigkeitsverteilung Präfix ge-

Abbildung 12: Häufigkeitsverteilung Suffixe -el, -em

Abbildung 13: Häufigkeitsverteilung Suffix -en

Abbildung 14: Häufigkeitsverteilung Suffix -en (Fortsetzung)

Abbildung 15: Häufigkeitsverteilung Suffix -er

Abbildung 16: Häufigkeitsverteilung Suffix -on

Abbildung 17: Häufigkeitsverteilung Konsonantismus s

Abbildung 18: Häufigkeitsverteilung Konsonantismus s (Fortsetzung)

Abbildung 19: Häufigkeitsverteilung Konsonantismus r

Abbildung 20: Häufigkeitsverteilung Aspiration

Abbildung 21: Häufigkeitsverteilung Aspiration (Fortsetzung)

Abbildung 22: Häufigkeitsverteilung -ig-

Abbildung 23: Häufigkeitsverteilung stimmlos glottaler Plosiv

Abbildung 24: Häufigkeitsverteilung ch-

Abbildung 25: Häufigkeitsverteilung Konsonantismen -b-, -d-, -g-

Abbildung 26: Häufigkeitsverteilung -ng-

Abbildung 27: Häufigkeitsverteilung ng + t

Abbildung 28: Häufigkeitsverteilung -chs-

Abbildung 29: Häufigkeitsverteilung st-, sp-

Abbildung 30: Häufigkeitsverteilung homorgane Laute d + t , t + t, (t)t + d, d + sch

Abbildung 31: Häufigkeitsverteilung homorgane Laute t + s, s + s, f + f

Abbildung 32: Häufigkeitsverteilung homorgane Laute b+b, g+k, g+g, ck+g, ck+k

Abbildung 33: Häufigkeitsverteilung Betonung

Abbildung 34: Berufsgruppen, die österreichische Standardaussprache sprechen sollten.

Abbildung 35: Aneignung der Standardvarietät von/über

Abbildung 36: Differenzierung der Standardaussprache

Abbildung 37: Eigenschaften der Standardaussprachen im Vergleich

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Merkmale des österreichischen Deutsch im Siebs

Tabelle 2: Merkmale des österreichischen Deutsch in den Lernzielkatalogen des ÖSD

Tabelle 3: Merkmale des österreichischen Deutsch im Variantenwörterbuch

Tabelle 4: Merkmale des österreichischen Deutsch im ÖAWB

Tabelle 5: „Was ist die deutsche Standardaussprache für Sie?“

Tabelle 6: „Was ist die österreichische Standardaussprache für Sie?“

Tabelle 7: Kodifizierung der Standardaussprache

1. Einleitung

Wir stehen am Beginn eines großen standardsprachlichen Veränderungsprozesses, der sich nicht nur im Bereich der aktuellen orthographischen Reformen niederschlägt. Das Zeitgebundene und Althergebrachte ist im Begriff, sich in neuere Formen aufzulösen. Die ehemals kodifizierten Aussprachenormen entbehren einen tatsächlichen Realisierungsgrad, sind teilweise obsolet oder spiegeln umgangssprachliche Elemente wider. Man wird auch neue Definitionen dafür finden müssen, was in welcher Form, für welches Land und welche Schicht als Standardaussprache bezeichnet werden kann. Der plurizentrische Ansatz im Bereich der Aussprachenormen wird vor allem in Zukunft durch die vorherrschenden Inkonsequenzen innerhalb der großen Aussprachekodizes wieder mehr Beachtung finden. Die Aussprachekodifikationen der künstlich entwickelten Normen von Siebs, GWDA und WDA haben längst an Bedeutung verloren und müssen nun aktuellen, empirischen Ausspracheerhebungen weichen.

Erst im Jahr 2007 wurde in wissenschaftlichen Kreisen mit dem Österreichischen Aussprachewörterbuch (ÖAWB) und der Österreichischen Aussprachedatenbank (ADABA) ein orthoepischer Kodex vorgelegt, der in deskriptiver Weise die österreichische Aussprache österreichischer Modellsprecher erfasst. Die österreichische Aussprachevarietät wurde damit erstmals umfassend dokumentiert und in einem Aussprachewörterbuch kodifiziert. Die in dem Kodex dargestellte Varietät wird als ‚Medienpräsentationsnorm’ bezeichnet, da sie die Aussprachegewohnheiten von professionellen Mediensprechern widerspiegelt. Da es sich um eine ‚Medienaussprache’ handelt, die nicht den Anspruch auf vollständige Abbildung der Standardaussprache der gebildeten Elite Österreichs (z. B.: Politiker, Akademiker) erhebt, sondern nur die Aussprache der ORF-Mediensprecher berücksichtigt, darf sie nicht mit einer einheitlichen österreichischen Standardlautung gleichgesetzt werden, da es eine solche nicht gibt und darüber hinaus der Sprechwirklichkeit außerhalb des Medienbetriebes nahe kommen würde. Daher wäre eine erklärende Bemerkung angebracht gewesen, ob die Varianten im ÖAWB der Standardvarietät nun als zugehörend betrachtet werden können oder eben nicht. Zumindest hätte der Unterschied zwischen ‚Standard’- und ‚Medien’-Präsentationsnorm explizit dargelegt werden müssen. Die Kodifikation kann damit als deskriptiv und nicht normativ/präskriptiv gewertet werden, da die Aussprachegewohnheiten außerhalb der Modellaussprachen nicht erfasst wurden. Dadurch ergeben sich ähnlich wie bei der Siebs- Kodifikation vielschichtige Probleme. Das ÖAWB wird darüber hinaus in Wissenschaftskreisen oft als ‚Einzelunternehmen’ des Verfassers, als Kodifikation am grünen Tisch, betrachtet. Es besteht daher ein akutes Interesse, eine Bestätigung oder auch Verwerfung der jüngst veröffentlichten österreichischen Korpusanalyse, die erstmals eine vollständige phonetische Transkription erhält, durchzuführen. Denn jeder Aussprachekodifikation muss eine solide und auch tatsächlich gesprochene Gebrauchsnorm zugrunde liegen, um als formell anerkannte österreichische Standardaussprache zu gelten. Darüber hinaus liefert das ÖAWB keine empirisch fundierten Daten über verschiedene Sprachschichten (nicht nur die Schicht der Modellsprecher) für den österreichischen Sprachraum, was aufgrund der Inkonsequenzen innerhalb des Kodices wünschenswert wäre.

Davor gab es in Österreich keinen eigenen Kodex der Orthoepie, in dem man die österreichische Aussprache hätte nachschlagen können. Zwei ältere Schriften zur österreichischen Orthoepie, die zwar einen hohen zeitdokumentarischen Wert besitzen, aber so antiquiert sind, dass sie, wenn überhaupt, nur noch über das Antiquariat beziehbar sind, wurden in Luicks Deutscher Lautlehre (1904) mit dem Österreichischen Beiblatt zu Siebs (1957) in einem Nachdruck (1996) gemeinsam veröffentlicht.

Hinweise zu österreichischen Aussprachevarianten findet man dann erst wieder in der 19. Auflage des Siebs von 1969 und im Österreichischen Wörterbuch (ÖWB). Das ÖWB bezieht sich ganz zweckgemäß vorwiegend auf lexikalische Varianten, die Behandlung der Aussprache bleibt in diesem Kodex auf die Beziehung zwischen Schreibung und Lautung beschränkt. Immerhin können aus dem Kapitel „Texte der amtlichen Regelungen“ (ÖWB 2008, S. 925-1002) sehr wertvolle Rückschlüsse auf die Aussprache des österreichischen Standarddeutsch gezogen werden. Die Laut-Buchstaben- Zuordnung liefert vor allem im Vokalismus, insbesondere bei der orthographischen Kennzeichnung von Lang- und Kurzvokalen, implizite Hinweise auf die österreichische Aussprachevarietät. Darüber hinaus bedenke man an dieser Stelle, dass das ÖWB das einzige nationale Wörterbuch Österreichs darstellt und als amtliches Regelwerk (weil durch das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur autorisiert) die standardsprachlichen Merkmale des österreichischen Sprachraumes festhält. Insofern werden die aus dem Regelkatalog ableitbaren Aussprachemerkmale[1] auch in dieser Arbeit mitberücksichtigt.

Von der Aussprachekodifikation des Siebs wissen wir hingegen, dass sie in Wissenschaftskreisen als überholt gilt und die österreichische Varietät nur aus Sicht einer asymmetrischen Plurizentrizität betrachtet. Die anderen nationsübergreifenden Aussprachekodizes (i. e. WDA, GWDA, Aussprache-Duden) stellen die österreichische (als auch die schweizerische) Standardvarietät auf die gleiche Stufe wie süddeutsche Dialekte. Auf der anderen Seite sind Hinweise in diesen drei Kodizes oftmals gegenseitige Anlehnungen an die entsprechenden Hauptwerke (so bei Siebs und WDA bzw. GWDA, als auch bei Siebs und den frühen Auflagen des Aussprache-Duden).

Die ehemals im Rechtschreib-Duden (1991) vorhandenen Aussprachehilfen sind zum einen rudimentär dokumentiert und zum anderen erneut an der nationsübergreifenden deutschländischen Aussprachenorm angelehnt. Darüber hinaus sind sie in den neueren Auflagen (1991ff.) nicht mehr enthalten. Auch in der Sonderreihe zum Großen Duden (Band 8) wurde von Jakob Ebner ein kleines, österreichspezifisches Wörterbuch mit dem Titel Wie sagt man in Österreich? Wörterbuch der österreichischen Besonderheiten veröffentlicht. In den ersten beiden Auflagen der Jahre 1969 und 1980 wurden wichtige Anmerkungen zur Aussprache des österreichischen Standarddeutsch gegeben (1969, S. 259ff. und 1980, S. 211ff.), die jedoch in der dritten, vollständig überarbeiteten Neuauflage (1998) fehlen, weshalb dieses Werk in der vorliegenden Arbeit nur als Kontrastwerk berücksichtigt werden kann. Dieser Verlust stellt erneut einen eklatanten Nachteil für die Wissenschaft dar, wie wir das bereits von der Deutschen Lautlehre und dem Österreichischen Beiblatt zu Siebs her kennen.

In einem anderen wichtigen Werk, dem Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz und Deutschland sowie in Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol (2004) wird dafür ein hervorragender Überblick über eine Vielzahl typisch österreichischer Aussprachemerkmale geboten. Die phonetischen Merkmale sind systematisch nach Lautklassen geordnet, die sich damit als theoretische Grundlage zur Etablierung einer allgemeingültigen österreichischen Kodifikation eignen. Die Aussprachehinweise können damit zumindest als valide Vergleichswerte für die empirischen Ergebnisse der hier vorliegenden Arbeit herangezogen werden.

Den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit stellt die Untersuchung der vorherrschenden Aussprachegewohnheiten von StudentInnen dar, die aufgrund der gewählten Studienrichtung als RepräsentantInnen einer österreichischen Standardaussprache gelten. Studierende gehören quasi der gebildeten Schicht einer gegebenen Sprachgemeinschaft an und vor allem als LehramtskandidatInnen haben sie mit ihren Aussprachen Vorbildwirkung auf die Allgemeinheit. Sie fungieren daher im weitesten Sinne als ModellsprecherInnen und ihre Aussprachen werden als Grundlage für die orthoepische Untersuchung herangezogen. Allen Modellsprechern ist gemein, dass sie die überregionale Aussprachenorm einer gegebenen Sprachgemeinschaft repräsentieren, diese gewissermaßen vorgeben und implizit formen und damit letztendlich auch kodifizieren (vgl. ÖAWB 2007, S. 35). Die vorliegende Sprech- und Sprachstandserhebung der österreichtypischen-orthoepischen Merkmale eröffnet neue Perspektiven für eine zukünftige österreichische Aussprachekodifikation. Eine umfangreiche Analyse der uns heute vorliegenden Normen kann weiters dazu beitragen, eine neuerliche Aufmerksamkeit auf den tatsächlichen Sprechstand von ModellsprecherInnen außerhalb des Medienbetriebes zu lenken, was zum einen aufgrund der Inkonsequenzen und Defizite in den derzeit verfügbaren Kodizes von ÖAWB, Siebs, GWDA und Aussprache-Duden, zum anderen aufgrund des Fehlens einer allgemein gültigen bzw. im Buchhandel erhältlichen österreichischen Aussprachenorm wünschenswert wäre. Außerdem soll diese Arbeit Anlass dazu geben, im Bereich der BerufsprecherInnenausbildung ein einheitlicheres Ausbildungsniveau herbeizuführen, wodurch die Berufsgruppe der österreichischen SprecherzieherInnen, SchauspielerInnen und SprecherInnen eine solide Aufwertung erfahren würde. Derzeit gibt es in allen Bereichen der Lautlehre große Unsicherheiten, was sich in immer wiederkehrenden Sprechersitzungen niederschlägt, in denen über die hierzulande ‚richtige’ Aussprache diskutiert wird. Da die Quellenlage und die divergierenden Meinungen darüber weitläufig auseinander gehen, kommt es bei den meisten Sitzungen zu keinem befriedigenden Konsens. Denn gerade die praktizierenden SprecherzieherInnen sind es, die am Beginn der sprechsprachlichen Veränderung stehen. Sie sind die expliziten Vermittler einer überregionalen Aussprachenorm und haben als sprachliche Bewahrer die Aufgabe, das Sprachniveau einer gegebenen Sprachgemeinschaft zu heben. Ihrer Vorbildwirkung gemäß müssen vor allem SprecherzieherInnen die Ausspracheregeln beherrschen und didaktisch adäquat vermitteln können. Dazu bedarf es wiederum klarer amtlicher Legitimationen und Abgrenzungen für den österreichischen Sprachraum, die derzeit zwar in den Köpfen der Fachleute existieren, aber in keiner allgemein zugänglichen Kodifikation für jedermann verfügbar ist. So muss derzeit im sprecherzieherischen Unterricht weiterhin zum Aussprache-Duden gegriffen werden, weil Siebs, GWDA und ÖAWB keine zufriedenstellende Variante kodifizieren und - was noch wichtiger ist - im Buchhandel überhaupt nicht vertrieben werden.

Die Auffassung über das österreichische Deutsch ist darüber hinaus oftmals sehr ambig. Warum das so ist, lässt sich zum einen wohl auch damit erklären, dass die Aussprache in Filmen, Serien etc. nur in seltenen Fällen auch tatsächlich österreichisches Deutsch repräsentiert (vgl. Wächter-Kollpacher 1995, S. 270), mit Ausnahme natürlich der typisch österreichischen Serien wie SOKO-Kitzbühel, teilweise auch Medicopter 117, da diese Serie eine Kooperation von ORF und RTL darstellt. Außerdem spielen in Serien auch in gleichen Anteilen deutsche Schauspieler mit, die natürlich deutsche Schauspielschulen durchlaufen haben und daher keine typisch österreichischen Aussprachegewohnheiten widerspiegeln können. Muhr stellt in diesem Zusammenhang richtigerweise fest, dass das ÖDt. [österreichische Deutsch, Anm. K. E. ] durch den intensiven Fernsehkonsum synchronisierter amerikanischer Filme und von Sendungen des Deutschen Privatfernsehens massiv unter Druck [steht] (Muhr 2003, S. 200).

Auf der anderen Seite ist man in der Bevölkerung auch der gängigen Ansicht, dass in Österreich ausschließlich Dialekt gesprochen werde, weil man ja das eigene, minderwertig konnotierte Deutsch tagtäglich mit dem ‚anderen’, höherwertigen deutschländischen Deutsch konfrontiert sieht, entweder durch Teutonismen oder durch das deutsche Fernsehen. Da kommen dem Österreicher schon Zweifel an der eigenen sprachlichen Kompetenz auf. Moser fasst hier zu Recht die Grundeinstellung der österreichischen Sprachteilnehmer zusammen, dass man hierzulande der Auffassung wäre, dass phonetisch gutes Deutsch das Deutsch der Anderen [sei]. Das ist sicher eine der Quellen für das sprachliche Minderwertigkeitsgefühl vieler Österreicher - neben der Überzeugung, dass allgemein viel Dialekt gesprochen wird (Moser 1989, S. 19).

Ein anderes Ziel dieser Arbeit soll daher sein, einen Beitrag zur Erforschung der Einstellungen und Meinungen zur österreichischen Standardvarietät zu leisten. Auch sollen die Ergebnisse der Untersuchung in nachfolgende Arbeiten einfließen, also als Kontrastwerte herangezogen werden. Eine empirisch fundierte Basis - sowohl was die Einstellungen als auch die orthoepischen Merkmale einer solchen Varietät betrifft - soll einer zukünftigen Aussprachenormierung des österreichischen Deutsch eine Hilfe sein.

Darüber hinaus muss in Zukunft eine eigenständige österreichische Varietät der gemäßigten Variante der deutschländischen Standardaussprache gegenüberstehen, eine klare Abgrenzung geschaffen werden und eine österreichische Varietät in den Köpfen der Sprachteilnehmer nicht weiter als Sub-Standard oder Abweichung von der deutschländischen Standardaussprache gelten. Auch stellt die Erforschung der landeseigenen, überregionalen Varietät einen kulturpolitischen Auftrag dar, weil der Österreicher ein eingeschränktes Sprachbewusstsein und Wissen über seine eigene Varietät besitzt (vgl. Muhr 2003, S. 201f.). Das Wissen und Bewusstsein, dass die österreichische Aussprache eine eigene Varietät des Deutschen darstellt, wird vor allem in Kindergärten, Schulen und Universitäten nicht klar kommuniziert, weil die derzeit tätige Lehrergeneration noch nach monozentrischer Sprachauffassung ausgebildet wurde (vgl. Muhr 2003, S. 206). Daher orientiert man sich grundlegend an den Duden-Normen, weil das österreichspezifische ÖWB zwar einen großen Verbreitungsradius besitzt, aber aufgrund der lexikalischen Ausrichtung kaum Hinweise auf die landeseigene Aussprache gegeben werden. Die Merkmale der österreichischen Orthoepie zu erfassen bedeutet aber nicht gleichzeitig, dass diese mittels Eingang in einen österreichischen Aussprachekodex fixiert werden müssen, sondern zuallererst, dass der Kulturnation Österreich die nötige Wertschätzung entgegengebracht wird, um Potenzial für diesen Weg zu schaffen. Außerdem können typisch österreichische Aussprachevarianten, die im ÖAWB nicht berücksichtigt werden, aber in meiner empirischen Untersuchung aufscheinen, ins Bewusstsein der Kodifizierer gelangen. Möge diese Arbeit zumindest ein kleiner Beitrag in diese Richtung sein. Eine österreichische Aussprachekodifikation muss, um nicht weiterhin als Desiderat zu gelten, der rigorosen Sprachförderung dienlich sein, weil sich nur dadurch bestehende Unstimmigkeiten zu den Fachkollegen in Stuttgart und Halle zukünftig besser ausgleichen lassen können.[2] Auch soll diese Arbeit dazu beitragen, dass der vor allem in den letzten Jahren pädagogisch stark vernachlässigte Bereich der Aussprachekodifikation des österreichischen Deutsch wieder mehr Beachtung findet.

2. Vorbemerkungen

2.1. Terminologie und Begriffsabgrenzung

Zuerst soll die in dieser Arbeit verwendete Terminologie dargestellt werden, denn besonders im Hinblick auf Standard herrscht immer wieder Unsicherheit, was damit eigentlich gemeint sein soll. Der Begriff Standarddeutsch etwa wird als Oberbegriff für die in Wörterbüchern kodifizierte Standardvarietät der deutschen Sprache verwendet. Er referiert auf alle Bereiche der Sprache gleichermaßen, wenngleich in Teilbereichen, wie etwa der Aussprache, genauere Termini nötig sind. Standarddeutsch ist ein neutraler Begriff und ersetzt in der neueren Forschungsliteratur das problematische Hochdeutsch. Letzteres ist einerseits mehrdeutig, da es im dialektgeographischen Sinne „die Gesamtheit aller Dialekte, die von der Zweiten Lautverschiebung erfasst wurden“ (Bußmann 2002, S. 281) bezeichnet. In diesem Sinne sind alle Varietäten, die südlich der Benrather Linie, also in zirka zwei Dritteln des deutschen Sprachraumes, gesprochen werden, als Hochdeutsch zu bezeichnen, während die im nördlichen Drittel bodenständige Varietät als Niederdeutsch bezeichnet wird. Andererseits ist Hochdeutsch ein wertender Begriff im sprachsoziologischen Sinne. Er wird volkstümlich und in der älteren Forschungsliteratur synonym für Standarddeutsch verwendet und referiert auf die kodifizierte, überregional gültige Standardvarietät im Gegensatz zur Umgangssprache (vgl. Bußmann 2002, S. 281). Da diese Arbeit weder um die Disziplin der Dialektgeographie noch um die Soziolinguistik herumkommt, ist es wichtig, sich einer Terminologie zu bedienen, die unmissverständlich und von interdisziplinärer Gültigkeit ist. Da der Begriff Hochdeutsch ungenau ist, wird er im Folgenden nicht mehr verwendet. Dennoch sollen weitere dialektgeographische Begriffe und die diachrone Entwicklung einzelner Varietäten im nächsten Kapitel besprochen werden.

An dieser Stelle soll zunächst geklärt werden, was unter einer Varietät zu verstehen ist. Dieser häufig gebrauchte Begriff ist wertneutral und bezeichnet allgemein jede spezifische Ausprägung einer Sprache, egal von wem oder wo sie gesprochen wird. Obgleich ein solches Vorgehen der neutralen Werthaltung entgegenläuft, wird in der Praxis üblicherweise eine Standardvarietät angenommen, um alle anderen davon abweichenden Varietäten zu beschreiben. In der neueren Forschung wird das Deutsche als plurizentrische Sprache aufgefasst, innerhalb welcher mehrere Standardvarietäten bestehen. Varietäten sind aber grundsätzlich als Klassifizierungsbegriff im Kontrast zu Sprachen zu sehen.

Im Gegensatz zu verschiedenen Sprachen unterscheiden sie sich kaum in der Grammatik und nur teilweise im Wortschatz und in der Aussprache. Vor allem an den Besonderheiten (Varianten) in Wortschatz und Aussprache können die Angehörigen einer Varietät erkannt werden (Variantenwörterbuch 2004, S. XXXII).

Vereinfacht dargestellt besteht die deutsche Sprache aus drei nationalen Varietäten - einer österreichischen, einer deutschen und einer schweizerischen Standardvarietät. Natürlich ist hier Varietät als ein abstrakter Begriff auf sprachsystematischer Ebene zu sehen, der im Diskurs über Sprache nötig ist. Die konkreten Merkmale, die in ihrer Gesamtheit eine Varietät konstituieren, nennt man Varianten. Geht man von einem plurinationalen Zugang aus, sind konkrete sprachliche Merkmale, die für die Sprache einer Nation typisch sind, „nationale Varianten“ (vgl. Ammon 1996, S. 243). Auf lexikalischer Ebene ist es relativ einfach, solche Varianten zu bestimmen. Der in Österreich gebräuchliche Rauchfangkehrer steht dem in Deutschland häufigeren Schornsteinfeger gegenüber, Marille trifft auf Aprikose, Paradeiser auf Tomate usw. Auch auf grammatikalischer Ebene sind Varianten möglich. Das kann den Gebrauch von Auxiliarverben (bin gesessen vs. habe gesessen) ebenso betreffen wie den Tempusgebrauch. Gleichermaßen betroffen sind Orthografie (schweiz.: kein ß) und Aussprache, wobei letztere am schwierigsten zu kodifizieren ist. Dabei ist es aber wichtig zu bemerken, dass nationale Varianten standardsprachlich sind, ebenso wie die nationalen Varietäten, die sich aus ihnen zusammensetzen. Je nach Zugang definieren sich diese Standards aber in unterschiedlicher Weise.

Die unterschiedlichen Zugänge zu den einzelnen Varietäten manifestieren sich in der verwendeten Terminologie. Lange Zeit galt ein monozentristischer Ansatz, der das österreichische Deutsch als Nebenvariante zur bundesdeutschen Hauptvariante ansah (vgl. Schrodt 1997, S. 13). Dieser Ansatz hat heute seine Gültigkeit verloren und wurde durch andere Modelle ersetzt. Sie alle erkennen unterschiedliche Varietäten als gleichberechtigt und gleichwertig an, jedoch unterscheiden sie sich in deren Abgrenzung. Eine stark vereinfachende und deshalb unwissenschaftliche Sichtweise ist der plurinationale Zugang. Dieser Terminus suggeriert, dass jede deutschsprachige Nation ihre eigene nationale Varietät besitzt. Die Vorstellung, man spreche innerhalb der Staatsgrenzen des Staates A Varietät A, des Staates B die Varietät B usw. ist zwar praktisch, aber zu ungenau. Neben dem problematischen Begriff der Nation (vgl. Ammon 1996, S. 243), auf den hier nicht näher eingegangen werden soll, sprechen auch dialektologische Gründe gegen diesen Begriff. Es ist eine Tatsache, dass die Dialektgrenzen nicht mit den Staatsgrenzen übereinstimmen; so gehören etwa Vorarlberg und ein Teil Tirols zum alemannischen Sprachgebiet, während der Rest von Österreich Bairisch spricht. Um dieses begriffliche Problem zu entschärfen, haben sich andere Zugänge entwickelt.

Der gängigste Terminus in diesem Zusammenhang ist der 1984 von M. Clyne eingeführte Begriff der plurizentrischen Sprache.

Die plurizentrische Auffassung von der deutschen Sprache bedeutet, dass sprachliche Besonderheiten nationaler Zentren nicht als Abweichungen von einer nationenübergreifenden deutschen Standardsprache gelten, sondern als gleichberechtigt nebeneinander bestehende standardsprachliche Äußerungen des Deutschen (Variantenwörterbuch 2004, S. XXXII).

Wichtig ist dabei, dass den Varietäten zwar Zentren zugeschrieben werden, die auf Nationen referieren, aber nicht mit deren Grenzen (in Sinne von Staatsgrenzen) zusammenfallen.

Plurizentrische Sprachen sind grenzübergreifende Sprachen mit konkurrierenden, aber auch interagierenden, nationalen (und gar übernationalen) Standardvarietäten mit verschiedenen Normen, die eine gemeinsame Tradition teilen. Die Bezeichnung will nicht auf territorial fest umrissene „Zentren“ hinweisen, sondern auf Situationen, in denen dieselbe Sprache in verschiedenen identifizierbaren Gesellschaftsentitäten gebraucht wird (Clyne 1995, S. 7).

Sehr wohl weist Clyne aber darauf hin, dass die Varietäten plurizentrischer Sprachen nur theoretisch gleichberechtigt sind. In der Praxis sind sie „aufgrund historischer, politischer und wirtschaftlicher Machtverhältnisse sowie demographischer Faktoren asymmetrisch“ (Clyne 1995, S. 8). Dies zeigt sich daran, dass von der Bevölkerung manche Varietäten als hochwertiger angesehen werden als andere, bzw. daran, dass Nationalvarietäten wegen überschneidender formaler Merkmale mit Dialekten verwechselt werden (vgl. Clyne 1995, S. 9). Zu einem symmetrischen Plurizentrismus, bei dem Varietäten auch von der breiten Bevölkerung als gleichwertig empfunden werden (etwa British English und American English) kommt somit auch ein asymmetrischer Plurizentrismus. In diesem Zusammenhang spricht Clyne von dominanten (D) und anderen (A) Varietäten. Hier tritt unter anderem folgendes Problem auf:

Die D-Nationen betrachten ihre Nationalvarietäten im Allgemeinen [sic] als Standard und sich selbst als Träger der [Hervorhebung im Original] Standardnormen. Sie beschreiben die Nationalvarietäten der A als Abweichungen, Nicht-Standard und exotisch, herzig, charmant und etwas veraltet (Clyne 1993, S. 3).

Dieses Problem kann auch auf umgekehrtem Wege gesehen werden, nämlich so, dass die österreichische Bevölkerung keine klare Vorstellung davon hat, ob sie eine österreichische Standardvarietät gebraucht, oder ob gewisse „Austriazismen“ doch eher dem dialektalen Bereich zugehörig sind. Aus dem mangelnden Selbstverständnis der österreichischen Varietät gegenüber resultiert oft eine Anpassung an die bundesdeutsche Varietät, die mitunter als „korrekter“ angesehen wird.

Das Konzept des Deutschen als plurizentrische Sprache ist heute weit verbreitet und wurde von Linguisten wie Ammon und Muhr weiterentwickelt. Die Abgrenzung gegenüber dem plurinationalen Zugang ist allerdings unscharf. Ammon befürwortet die plurinationale Auffassung der deutschen Sprache (vgl. Ammon 1996, S. 244), jedoch grenzt er den Begriff der Nation gegenüber dem nationalen Zentrum ab.

Ein voll entwickeltes nationales Zentrum (Vollzentrum) verfügt […] über einen eigenen Sprachkodex (Wörterbuch, Grammatik und dgl.), in dem die standardsprachlichen Formen in gewisser Weise festgelegt sind und nachgeschlagen werden können. Solche nationalen Vollzentren des Deutschen sind Deutschland, Österreich und die deutschsprachige Schweiz. Nationale Halbzentren des Deutschen (kein eigener Kodex, aber einzelne besondere Sprachformen) sind Liechtenstein, Luxemburg, Südtirol […] und die deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien (Ammon 1996, S. 244).

Man erkennt, dass auch der plurizentrische Ansatz noch stark mit dem Konzept der Nation verbunden ist, auch wenn diese nicht mehr im Vordergrund steht. Nun gibt es Tendenzen, die einzelne Varietäten noch stärker von der Nation ablösen wollen und von Arealen anstatt von Zentren sprechen. Der pluriareale Ansatz wird hauptsächlich von Linguisten vertreten, deren Fachgebiet die Dialektologie ist, wie etwa Scheuringer. Dies ist verständlich, da die Untersuchung der Basisdialekte des deutschen Sprachraumes andere Ergebnisse hervorbringt als die Untersuchung der Standardvarietäten. So erstreckt sich beispielsweise der bairische Sprachraum über Bayern und weite Teile Österreichs, was bedeutet, dass in diesem Areal auf basisdialektaler Ebene mehr Gemeinsamkeiten auftreten als zwischen Vorarlberg und dem Burgenland. Hinsichtlich der Standardsprache kann eingewendet werden, dass sich möglicherweise Bayern zur bundesdeutschen Varietät bekennt, während Österreich seine eigene österreichische Standardsprache beansprucht. Dementsprechend kritisiert auch der pluriareale Ansatz, dass Fragestellungen der Dialektologie mit denen der Standardsprache vermengt werden. Die Zahl der echten Austriazismen sei gering und die

[…] Entstigmatisierung „umgangssprachlicher“ Wörter wird […] als Hinweis auf die dahinterstehende sprachpolitische Absicht gesehen, eine „österreichische Nationalsprache“ schaffen zu wollen, was potenziell auch ein Zeichen für „nationalistische“ bzw. „isolationistische“ Einstellungen und Absichten sei (Muhr 1997, S. 47).

Muhr weist diese Behauptungen zurück und vertritt die Auffassung von Deutsch als plurizentrischer Sprache. Es sei nicht das Ziel, eine Nationalsprache zu schaffen, sondern das staatliche Territorium als Ausgangspunkt der Beschreibung von Sprache zu nehmen (vgl. Muhr 1997, S. 48). Da in dieser Arbeit die österreichische Standardvarietät untersucht werden soll, ist der plurizentrische Ansatz sicherlich der sinnvollste.

Nun da hinreichend geklärt ist, dass es eine österreichische Standardsprache gibt soll der Fokus auf den hier zu untersuchenden Teilaspekt der Aussprache gerichtet werden. Zunächst ist festzuhalten, dass die Standardaussprache nicht mit der Standardsprache gleichgesetzt werden kann, weil jene nur auf die Ebene der Phonetik bzw. Phonologie bezogen ist. Von Phonetik sprechen wir in diesem Zusammenhang, wenn konkrete sprachliche Äußerungen (parole) beschrieben werden, während Phonologie auf das abstrakte Sprachsystem (langue) referiert. Dies ist insofern von Bedeutung, als im empirischen Teil zwischen normbezogenen Phonemen (in Schrägstrichen / /) und tatsächlich realisierten Phonen (in eckigen Klammern [ ]) unterschieden wird. Soll nun also die österreichische Standardaussprache (im Folgenden ÖS) untersucht werden, ist dieser Terminus gegenüber anderen kritisch abzugrenzen. Analog zu dem Begriffspaar Hochsprache/Standardsprache gibt es neben der neutralen Bezeichnung Standardaussprache den problematischen Terminus Hochlautung. Zwar ist dieser nicht zweideutig (im dialektgeographischen Sinne), doch drückt er ebenso wie Hochdeutsch eine gewisse Wertung aus. Es drängt sich unweigerlich die Assoziation von „hoch“ mit „hochwertig“, „besser“ und „korrekt“ auf, weshalb „Hochlautung“ aus soziolinguistischer Sicht unbrauchbar ist.

Der Ausdruck bringt somit die Gefahr einer unkritischen Höherbewertung bestimmter Sprecher und Sprachvarietäten, während andere Sprachgruppen diskriminiert werden. […] Ebenso werden Sprachteilnehmer dazu verleitet anzunehmen, dass es nur eine einzige richtige Sprachform gibt. Jedoch ist keine Sprachform der anderen überlegen, besser oder schlechter gestellt (Ehrlich 2008, S. 13).

Wenngleich die Standardsprache auch nicht höher gestellt ist als andere Varietäten, so ist sie durch umfassende Sprachpflege doch in einem gewissen Sinne höher entwickelt (vgl. Ehrlich 2008, S. 14). Außerdem hat die Umbenennung der Hochlautung in Standardaussprache eine Differenzierung verwischt, die für das Verständnis von Aussprachenormen höchst wichtig ist. Hochlautung war als Synonym für Bühnenaussprache zu verstehen, welche nicht als Standard für einen breiten Kreis, sondern als Referenzgrundlage für Berufssprecher und Schauspieler gedacht war (vgl. Ehrlich 2008, S. 15). Was Siebs als die gemäßigte Hochlautung (im Gegensatz zur reinen Hochlautung) bezeichnete, passt eher auf die heutige Auffassung von Standard. Somit soll heute, wenn von einem für eine breite Schicht gedachten Aussprachestandard als Teil einer Standardvarietät die Rede ist, der Begriff Standardaussprache verwendet werden, während Hochlautung, wenn überhaupt, nur mehr im Sinne der Siebs’schen Bühnenaussprache zulässig ist.

2.2 Diachronische Entwicklung

Die Erforschung der Standardsprache ist unmittelbar mit der diachronen Sprachwissenschaft und mit der Dialektologie verbunden. Deshalb soll in diesem Abschnitt kurz auf sowohl historische als auch dialektale Sprachstufen eingegangen werden.

Das Hochdeutsche im dialektgeographischen Sinn hat seinen Anfang im Althochdeutschen, das sich schon im Frühmittelalter durch die 2. Lautverschiebung gegen das Altniederdeutsche (bzw. Altsächsische) abgrenzte. Bis heute kennzeichnen sich die Basisdialekte nördlich der Benrather Linie dadurch, dass sie die 2. Lautverschiebung nicht durchgeführt haben, während südlich davon wesentliche lautliche Veränderungen vonstatten gegangen sind. Aufgrund sozio-politischer Faktoren und nicht zuletzt durch die Bibelübersetzung Martin Luthers erlangte das Hochdeutsche ein höheres Prestige und bildet daher die Grundlage für unsere heutige Standardsprache. Es war primär das Ostmitteldeutsche, welches, vermengt mit Einflüssen aus anderen Dialekträumen, zur angesehensten Varietät avancierte und besonders im Norden des deutschen Sprachraumes die bodenständigen Dialekte stark zurückdrängte. Heute spricht man auch im niederdeutschen Sprachgebiet vorwiegend Hochdeutsch, wobei der niederdeutsche Dialekt in seiner reinen Form als Plattdeutsch auftritt. Im Süden traf die angesehene Ostmitteldeutsche Varietät auf stärkeren Widerstand. Noch heute wird in Österreich, aber auch im Südwesten des deutschen Sprachraumes primär Dialekt gesprochen, während das Standarddeutsche sich auf den schriftlichen Gebrauch, auf offizielle Kommunikation und auf die Städte konzentriert.

Die Standardsprache ist in Österreich die Sprache der Schriftlichkeit und jener mündlichen Sprechakte, die als öffentlich und/oder formell gelten, wie Ansprachen, Predigten, Vorlesungen, Nachrichten und Kommentare in den elektronischen Medien. […] Ähnlich wie in Süddeutschland ist das Sprachleben Österreichs geprägt vom fließenden Übergang zwischen rein standardsprachlichen und rein dialektalen Strukturen, […]. Es hat sich als zweckmäßig erwiesen, die ganze Bandbreite dazwischen als „Umgangssprache“ zusammenzufassen, […]. (Variantenwörterbuch 2004, S. XXXVI).

Die Einteilung der sprachlichen Realität in Österreich in Dialekt - Umgangssprache - Standardsprache ist freilich ungenau[3], soll für unsere Zwecke aber genügen. Während für die Umgangssprache genaue Definitionen und Untersuchungen fehlen, ist die Dialektgeographie gut erforscht (vgl. Wiesinger 2006, S. 49). Auch wenn diese Arbeit sich mit der Standardaussprache beschäftigt, ist es doch lohnend, einen Blick auf die Dialektsituation in Österreich zu werfen. Da die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung für ihre Alltagskommunikation Dialekt (bzw. Umgangssprache) verwendet, ist zu erwarten, dass das eine oder andere lautliche Merkmal in die Standardsprache durchschlägt. Ob und in welchem Ausmaß dies der Fall ist, soll im empirischen Teil gezeigt werden, doch an dieser Stelle folgen einige Bemerkungen zum dominantesten der österreichischen Dialekte - dem Bairischen.

Nicht zu verwechseln mit der Bezeichnung für das heute zu Deutschland gehörige Bundesland Bayern ist das Volk der Baiern, nach dem die in Österreich und Bayern dominante Dialektvarietät benannt ist. Das Stammesfürstentum der Baiern war in sprachlicher Hinsicht gewiss prägend, wenngleich auch die Babenberger, die Böhmen und nicht zuletzt die aus der Schweiz stammenden Habsburger ihre Einflüsse hinterlassen haben (vgl. Ebner 1969, S. 253). Ebenso bedeutend für die Beibehaltung der bodenständigen Dialekte im Vergleich zu Norddeutschland war der konfessionelle Gegensatz, der durch die Reformation entstand.

Mittel- und Norddeutschland wurden zu einem großen Teil protestantisch, während der Süden, besonders Bayern und Österreich, katholisch blieb. Da die neuhochdeutsche Schriftsprache sehr eng mit der Lutherbibel verknüpft war, lehnte man im Süden auch die neue Schriftsprache ab. […] Da im Volk die Mundart und in der Schule das Latein im Vordergrund standen, wurde die Pflege der Schriftsprache im Gegensatz zum Norden des deutschen Sprachraumes vernachlässigt (Ebner 1969, S. 255).

Auch Kaiserin Maria Theresia sprach privat Dialekt, jedoch war sie bestrebt, in der Öffentlichkeit die prestigeträchtigere mitteldeutsche Varietät durchzusetzen. Schreiber wurden angehalten, Erlässe nach mitteldeutschem Muster zu verfassen und Geistlichen wurde verboten, in ihrer Mundart zu predigen (vgl. Ebner 1969, S. 255).

Daraus sehen wir den noch heute bestehenden Zustand: die für Österreich und den ganzen Süden des deutschen Sprachraumes typische Zweigleisigkeit in der Sprache. Im privaten Bereich wird vor allem Mundart gesprochen, während die Hochsprache mehr auf das öffentliche Leben und den schriftlichen Bereich beschränkt ist (Ebner 1996, S. 255).

Diese Zweigleisigkeit war aufgrund sozialer Veränderungen im 18. Jhdt. jedoch noch wesentlich stärker ausgeprägt, da Sprachnormierungsversuche erst in ihren Anfängen waren. Etwa ab 1750 wurden in Österreich wie auch in Deutschland Versuche unternommen, einheitliche Regeln für die deutsche Sprache hinsichtlich Grammatik und Orthografie, aber auch der Aussprache zu schaffen. Einer der bekanntesten deutschen Sprachnormierer war Christoph Gottsched; erst wesentlich später erschien das erste Wörterbuch Konrad Dudens. Für Österreich ist besonders der Wiener Literat Leopold Alois Hoffmann zu nennen, der für eine „reinere“ Sprache in Predigten eintrat (vgl. Wiesinger 2006, S. 358f.). Ebenso trug der von Maria Theresia berufene Schulreformer Johann Ignaz von Felbiger als anonymer Verfasser von Schulbüchern wesentlich zur Verbreitung des Hochdeutschen in Österreich bei (vgl. Wiesinger 2006, S. 362). Es muss jedoch festgehalten werden, dass im 18. Jhdt. den Sprachnormierern noch keine wissenschaftliche Grundlage für die Kodifikation der Aussprache zur Verfügung stand. In Ermangelung einer phonetischen/phonologischen Beschreibungsweise wurde meist auf die Schrift als Richtlinie für die Aussprache verwiesen. Von den beiden von Gottsched stammenden Aussprüchen „Sprich, wie du schreibst“ und Schreib, wie du sprichst“ war für Österreich nur der erste gültig (vgl. Wiesinger 2006, S. 363).

Wenngleich die Normierungsbestrebungen des 18. Jahrhunderts wesentlich zur Verbreitung der mitteldeutschen Schriftsprache beigetragen haben, so ist auch heute noch die Sprache der breiten Bevölkerung Österreichs der bairische Dialekt. Auch wenn sich der bairische Sprachraum neben der klassischen Unterteilung in Südbairisch, Südmittelbairisch und Mittelbairisch in noch kleinere Räume zergliedern lässt (vgl. Wiesinger 2006, S. 249), soll es hier genügen, vereinfachend das Mittelbairische als besonders dominante Varietät näher zu beleuchten.

Sowie in frühneuhochdeutscher Zeit das Ostmitteldeutsche eine besondere Rolle bei der Ausprägung der modernen Standardsprache hatte, so war für die Dialekte des Donauraumes die Wiener Hofsprache besonders prägend. Bis heute stehen ältere, bodenständige Formen in Konkurrenz mit den Varianten, die von Osten her aufgrund ihres höheren Prestiges nach und nach den Donauraum eroberten. Wir haben es hier

[…] mit der Wirkung einer Wiener Hofsprache zu tun. [...] Am Babenbergerhof entwickelte sich eine fränkisch beeinflusste bayerische Hofsprache. [...] Wien gewann immer mehr an Bedeutung, damit auch die hier gesprochene Sprache an Durchschlagskraft [...] Wiener Sprachgut griff nach Norden und Süden aus, im Osten stieß es bald auf fremdes Volkstum; im Westen aber öffnete sich ihm der leichte Weg des Donautales und der noch leichtere Landweg südlich der Donau (Grau 1942, S. 15).

Im Folgenden soll nun der mittelbairsche Dialekt hinsichtlich seiner lautlichen Charakteristika mit dem Standarddeutschen und mit dem Mittelhochdeutschen verglichen werden. Zunächst sollen einige Beispiele für den Vokalismus, später für den Konsonantismus genannt werden (vgl. Hornung 2000, S. 20-23).

Mhd. a und â bleiben im nhd. bezüglich der Vokalqualität erhalten, fallen aber im mbair. lang /o:/ zusammen. So wird beispielsweise mhd. tac zu nhd. Tag, aber mbair. /d':g/. Ähnlich wird mhd. har zu nhd. Haar (hier bleibt auch die Vokalquantität gleich). Das auslautende /r/ wird - wie im mbair. üblich vokalisiert und als zentralisiertes oder mittelgaumiges a bzw. als a-Schwa realisiert.

Die ungerundeten palatalen Mittelzungenvokale, kurz e-Phoneme, stellen ein interessantes Gebiet dar, da sie im Mhd. zahlreicher waren als heute. In weiten Teilen des mhd. Sprachraumes, so auch im bairischen, wurden drei kurze und zwei lange e-Phoneme unterschieden. So hat mhd. ë im Gegensatz zu dem geschlossenen Primärumlaut e offene Aussprache und hat so eine bedeutungsunterscheidende Position zwischen e und ä. Beispiele dafür sind rëgen (der Regen) und regen (sich regen) von germ. *ragjan. Noch offener als die Zwischenstufe ë wird der jüngere Umlaut (Sekundärumlaut)äausgesprochen (vgl. Weinhold 1994, S. 22f.). Diesen drei unterschiedlichen Kurzvokalen standen ein langes, geschlossenes ê und ein langes, offenes æ gegenüber. Da ein solches asymmetrisches Phonemsystem zum Zusammenfall neigt, unterscheiden wir im heutigen Standarddeutsch nur mehr ein kurzes, offenes und ein langes, geschlossenes e-Phonem. Jedoch spiegelt die moderne Orthografie nicht immer eindeutig die standardisierte Aussprache wider und schon gar nicht die dialektale Aussprache. So wird beispielsweisedas e im Wort gestern (mhd. gestern) standarddt. offen, im Dialekt jedoch geschlossen gesprochen. Ähnlich ist die Aussprache des Primärumlautes in fertig von mhd. vertec, wobei das e im Dialekt geschlossener als im Standarddeutschen und somit ähnlicher dem Mhd. ausgesprochen wird. Interessanter ist aber das historische ë, da es mehrere unterschiedliche Aussprachen erfährt. Das germanische ë kommt im Infinitiv in drei Verbalklassen vor, nämlich in den Ablautreihen IIIb, IV und V. Die Wörter lësen und gëben (Kl. V) erfahren im Standarddt. eine Dehnung und werden somit heute standardsprachlich wie dialektal geschlossen ausgesprochen. Im Gegensatz dazu wird nëmen (Kl. IV) im Mbair. mit offenem e ausgesprochen. In stëln (Kl. IV) und hëlfen (Kl. IIIb) kommt ein neues Phänomen hinzu; das l nach dem ë bewirkt dessen Rundung zu ö im Mbair. Im Dialekt fallen also hier die beiden Verbalklassen zusammen, während sie sich im Standarddt. noch durch die Vokalquantität im Infinitiv unterscheiden (helfen ist kurz, stehlen ist lang). Das kurzeäkommt als Sekundärumlaut üblicherweise nur in Plural- und Komparativformen bzw. Flexionsparadigmata von Wörtern vor, die ein a aufweisen. So lautet damals wie heute der Plural von Nacht bzw. naht Nächte bzw. nähte, jedoch der Dialekt kennt andere Varianten. Das lange mhd. ê fällt in der nhd. Lautung oft mit dem gedehnten germanischen ë zusammen und teilt auch im Mbair. manche lautliche Ausprägung. Analog zum kurzen mhd.äwird auch das lange æ wie in ich wære im Dialekt als langes a ausgesprochen.

Das Mhd. kennt ein kurzes i und ein langes î, wobei sich das kurze i weder im Nhd. noch im Mbair. besonders verändert. Das lange î hingegen wird im Zuge der nhd. Diphthongierung zu <ei> bzw. /ai/. Der so entstandene Diphthong jedoch zeigt eine große Schwankungsbreite in seiner tatsächlichen Realisierung innerhalb des mbair. Sprachraumes. Im Wort Weihnachten rührt der Diphthong tatsächlich von einem langen mhd. î her (ze den wîhen nahten), analog dazu, nur eben mit Nasalierung, werden die Lautungen für Wein und heute (eigentlich heint von hînaht, nicht von hiute) wiedergegeben.

Eines der wichtigsten Merkmale im Konsonantismus, das den mbair. Dialekt sowohl vom Südbairischen als auch vom Standarddeutschen unterscheidet, ist die in weiten Räumen wirksame Mitlautschwächung (vgl. Hornung 200, S. 17). Das bedeutet, dass Fortis-Plosive zu Lenis-Plosiven abgeschwächt werden, also p>b, t>d und k vor l, n, r > g. Vor Vokal und im Auslaut bleibt k ein aspirierter Fortis-Plosiv. Weiters werden labiale Plosive häufig zu w, beispielsweise in lieber>liawa. Velare bzw. palatale Frikative werden oft ganz weggelassen, wie in brauchen > [braua]. Aber auch Lenis-Plosive können ganz wegfallen, beispielsweise in Feld > [fœ] oder Garten > [goan]. Im letzteren Fall spricht man auch von Verschmelzungs- und Angleichserscheinungen, wenn die Endsilben -den zu n und -ben zu m verschmelzen, so in reden > [re:n] und leben > [le:m]. Analog dazu wird die Silbe -gen zu ¾ vereinfacht.

Inwieweit nun die lautlichen Merkmale des Mittelbairischen die österreichische Standardaussprache beeinflussen, bleibt in der folgenden empirischen Untersuchung zu zeigen. Da die Gewährspersonen der jungen gebildeten Schicht angehören, sind starke dialektale Einschläge nicht zu erwarten. Dennoch wird besonders der Vergleich mit den bundesdeutschen Kodizes interessante Aufschlüsse darüber geben, was die österreichische Standardaussprache nun tatsächlich ausmacht.

3. Die orthoepischen Kodifikationen

3.1 Die deutschländischen Aussprachekodizes

In Deutschland gibt es im Unterschied zu Österreich derzeit vier gültige Aussprache- kodizes, wobei drei davon nur mehr über das Antiquariat zu beziehen sind. Allen Kodizes ist gemein, dass sie nationsübergreifend, zumindest in Wissenschaftskreisen, auch in Österreich und der deutschen Schweiz ihre Verwendung finden. Die Kodizes können weiters entsprechend ihrem Geltungsradius klassifiziert werden. Während sich mit Siebs vorwiegend SprecherzieherInnen und WissenschaftlerInnen linguistischer Fachdisziplinen auseinandersetzen, richtet sich der Aussprache-Duden a priori an ein sehr allgemein gehaltenes Zielpublikum, das großteils nicht linguistisch geschult ist. Darüber hinaus wird bei allen Kodizes der nationale Geltungsbereich nicht explizit geltend gemacht, wie dies beispielsweise beim Österreichschen Aussprachewörterbuch (ÖAWB) der Fall ist. Hier wird der nationale Geltungsbereich bereits im Vorfeld spezifiziert und damit auf den nationsübergreifenden Impetus verzichtet. Die hier behandelten Kodizes, die zwar auf eine nationale Einschränkung verzichten, aber aufgrund ihres Inhaltes nur eingeschränkt als nationsübergreifende Varianten gelten können, werden in den folgenden Kapiteln näher behandelt.

3.1.1 Der Siebs (1898 ff.)

Der Germanist Theodor Siebs gab den finalen Anstoß zu den offiziellen Beratungen der deutschen Bühnenaussprache in Berlin.[4] Vom 14. bis 16. April 1898 versammelten sich erstmals Germanisten, Sprachwissenschaftler und Bühnenvertreter aus Deutschland und Österreich, um über eine gemeinsame Ausspracheregelung für die Bühne zu beraten. Allerdings waren bei dieser ersten Generalversammlung weder Schauspieler noch andere Künstler (z. B. Sänger) anwesend, was in späterer Folge auch kritisiert wurde. Den Vorsitz führte Generalintendant Bolko Graf von Hochberg (Berlin) und Karl Freiherr von Ledebur (Schwerin). Als wissenschaftliche Vertreter waren unter anderen die Universitätsprofessoren Dr. Karl Luick (Graz), Dr. Theodor Siebs (Greifswald) und Dr. Eduard Sievers (Leipzig) anwesend. Außerdem äußerten sich die Universitätsprofessoren Dr. Wilhelm Viëtor (Marburg) und Dr. Josef Seemüller (Innsbruck) mittels eines schriftlichen Gutachtens zu den Vorschlägen der Siebs’schen Bühnenaussprache. Der deutsche Bühnenverein empfahl infolgedessen, die Arbeiten von Theodor Siebs als Regelkanon für die Aussprache auf den deutschen Bühnen einzuführen (vgl. Siebs 1900, S. 3f.). Neben der sprachwissenschaftlichen Leistung kann man Theodor Siebs auch noch verdanken, dass er von Anfang an um institutionellen Rückhalt [bemüht war], wohl in der Hoffnung, der von ihm vorgesehenen Kodifizierung der Bühnenaussprache einen wenigstens offiziösen Charakter geben zu können (Stock 1996, S. 44).

Noch im selben Jahr folgten weitere Beratungen, unter anderem mit deutschen Philologen und Lehrern, bis man schließlich zu einer für alle Seiten befriedigenden Einigung gelangte. Das Ergebnis der Beratungen erschien 1898 in der 1. Auflage unter dem Titel Deutsche Bühnenaussprache: Nach den Ergebnissen der Beratungen zur ausgleichenden Regelung der deutschen Bühnenaussprache, die vom 14. bis 16. April 1898 im Apollosaale des Königlichen Schauspielhauses zu Berlin stattgefunden haben (Albert Ahn Verlag, Berlin, Köln, Leipzig).[5] In diesem erstmals vorgelegten Regelwerk wurde die hochdeutsche Aussprache nach niederdeutschen Lautwerten beschrieben. Zum einen trennte man dabei zwischen stimmhaften und stimmlosen Plosiven, zum anderen verlangte man grundlegend nach einer mundartfreien Aussprache. Insbesondere die nordwestdeutsche Aussprachevariante von <sp> und <st> als [Sp] und [St] wurde als dialektale Aussprache abgelehnt (vgl. Ehrlich 2007, S. 113).

Die korrekte Aussprache von Espe, haspeln, Geist wurde mit [sp] und [st] festgelegt, während die Aussprache als *Eschpe, *haschpeln, *Geischt als dialektal und daher unzulässig erklärt wurde. Auch die Aussprache von *Versch, *Kommersch, *andersch, statt Vers, Kommerz, anders, oder *misch, *isch statt mich, ich wurde als mundartliche Eigenart abgelehnt (vgl. Siebs 1900, S. 37). Als unzulässig erklärt wurden ebenfalls die entrundeten Ausspracheformen (z.B. schön statt *scheen) sowie eine nasalierte Aussprache der Vokale, die nur bei (meist französischen) Fremdwörtern gebilligt wurde (vgl. Ehrlich 2007, S. 113).

Der Verlauf der Entstehungsgeschichte der Bühnenaussprache, die am sprachlichen Gebrauch der Schauspieler vorwiegend vom Niederdeutschen geprägt war, bis zur historischen Entwicklung der deutschen Standardaussprache, die, mehrheitlich außerhalb des Bühnenbetriebs, eher von Kanzleien des gebildeten Bürgertums im 18. Jahrhundert geprägt war, hinterlässt den Eindruck, dass die gesprochene Varietät im niederdeutschen Raum der in den Aussprachewörterbüchern kodifizierten Standardaussprache am nächsten zu sein scheint. Einerseits war eine ursprüngliche Orientierung an niederdeutschen Lautwerten gegeben, andererseits war die Hochsprache wiederum in ihrer Aussprache vom Sächsischen und daher von einer deutlich ostmitteldeutschen Varietät geprägt (vgl. Rössler, Brief vom 17. März 2005). Die bestehenden Diskrepanzen unter synchroner Perspektive bleiben natürlich bestehen, und der Schein, „dass die im niederdeutschen Raum gesprochenen Varietäten [...] bedeutend standardsprachnäher sind [...], trügt bzw. ist seinerseits das Ergebnis einer sprachhistorischen Entwicklung“ (Linke, Nussbaumer und Portmann 2004, S. 437). Auch Trenschel konstatiert an dieser Stelle, dass zwar ein Großteil der Ausspracheregelungen einer einseitigen Ausrichtung nach norddeutschem Muster entsprechen, aber nicht automatisch davon ausgegangen werden kann, dass ein direkter Weg vom Niederdeutschen zur Bühnenaussprache und danach zur Standardaussprache führte (vgl. Trenschel 1997, S. 207).

Am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde daraufhin der Siebs’sche Kodex von den Schulen und den übergeordneten Unterrichtsverwaltungen für den Deutschunterricht als Nachschlagewerk empfohlen (vgl. Winkler 1954/55, S. 321). Da sich die Bühnenaussprache inzwischen für alle offiziellen Redelagen[6] zur allgemeingültigen Norm etablierte, wollte man dies auch in einem neuen Titel kundtun.[7] In der Auflage von 1922 wurde daher dem Titel Deutsche Bühnenaussprache die Zusatzbezeichnung Hochsprache beigefügt, um damit die neue Funktion der Bühnenaussprache außerhalb des engen Geltungsbereichs der Bühne zu bestätigen.[8] Gerade diese Ausdehnung des bisher eingeschränkten Geltungsbereichs war es jedoch, die vor allem in wissenschaftlichen Kreisen von Anfang an kritisiert wurde. Denn es zeigte sich sehr früh, dass die Ausspracheregeln wegen ihrer realitätsfremden Kodifizierung kaum in die Praxis umgesetzt werden konnten. Die Bühnenaussprache war aufgrund ihrer Beschaffenheit auch mehr auf „Wortdeutlichkeit“ und „Fernwirkung“ ausgerichtet, weil es ja nicht darum ging, „in kleinen Räumen von Mensch zu Mensch zu kommunizieren“ (Ehrlich 2007, S. 114). Die Bühnenaussprache basiert vielmehr auf dem Gebrauch der trainierten, atemgestützten Kraftstimme, die man sich im Rahmen einer sprecherzieherischen und stimmlichen Ausbildung aneignet, und deren Anwendung in der Alltagssprache durchwegs Probleme bereitet. Im Hinblick auf die Siebs’sche Kodifizierung konstatiert Krech: „An den Siebsschen Forderungen, jedes R als Zungenspitzen- oder Zäpfchen-r zu artikulieren und jedes Endungs-e zu realisieren, trat die Diskrepanz zwischen Sprechrealität und Kodifizierung besonders krass [sic!] zutage“ (GWDA 1982, S. 12).

Als einheitliche Aussprachenorm wurden daher die Siebs’schen Regeln außerhalb des Bühnenbetriebs von allen Seiten kritisiert. Um dem entgegenzuwirken, versuchte man für die Nachfolgeauflagen des Siebs, aus der bisherigen Bühnenaussprache Regeln für einen reduzierten Gebrauch abzuleiten. Auch um den vorherrschenden Diskrepanzen zwischen der regionalen Lautvarianz und der Kodifizierung nach niederdeutschen Lautwerten entgegenzuwirken, trennten die Herausgeber der 19. Auflage 1969 die ‚reine Hochsprache’ von der ‚Bühnensprache’ und der ‚Alltagslautung’ ab. In der ‚gemäßigten Hochlautung’ wurde das Werk um regionale (nicht niederdeutsche) Varianten, die österreichischen und Schweizer Sonderheiten, ergänzt. Noch zu Lebzeiten erweiterte Siebs das umfangreiche Wörterverzeichnis und ergänzte das Werk um Regeln für den Sprechvortrag und die Gesangsaussprache (vgl. Ehrlich 2007, S. 114.).

Das Werk hatte sich folglich in den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten durchgesetzt und bewährt. Neben dem Duden für die Rechtschreibung (Orthografie) trat der Siebs für die Rechtlautung (Orthoepie) ein (vgl. WDA 1971, S. 11; vgl. Keller 1995, S. 534). Siebs lebenslanges Ziel war es, „eine ausgleichende Regelung und Normierung der höchsten Formstufe der Bühnenaussprache“ (Fiukowski 2002, S. 465) zu schaffen. Der Siebs, wie man ihn heute in Fachkreisen bezeichnet, wurde von ihm selbst bis zu seinem Tod 1941 betreut und erweitert. Der Verfasser erlangte noch zu Lebzeiten großen Ruhm, weil er es als Einziger verstanden hatte, die Interessen aller Seiten sinnvoll zusammenzuführen (vgl. Siebs 1969, S. 9).

3.1.2 Das Wörterbuch der deutschen Aussprache (WDA) (1964) und Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache (GWDA) (1982)

In der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich neue Maßstäbe, die sich in einer veränderten ästhetischen Bewertung der Aussprache ausdrückten.[9] Zwar war man sich noch darüber einig, bei der Entwicklung einer neuen Aussprachenorm den Siebs’schen Kodifizierungsstandard als Grundlage heranzuziehen, doch bestand nunmehr das Bedürfnis, eine Ausspracheregelung zu entwickeln, die einem Großteil der Menschen nahe kam:

Ziel war es, ein Aussprachewörterbuch der allgemeinen deutschen Hochlautung zu schaffen. Es sollte Formen empfehlen, die auf der Ebene der Hochlautung allgemein gebräuchlich und damit auch allgemein erreichbar waren [Hervorhebung im Original, Anm. K. E.] (E.-M. Krech 1996, S. 27).

Es war ein Anliegen, eine mundartfreie Aussprachenorm zu entwickeln, die den alltäglichen Kommunikationsaufgaben gerecht wird und in jeder Lebenssituation angemessen variiert werden kann. Sie sollte ebenfalls von so gut wie allen deutschsprachigen Sprechern ohne große Mühe erlernt und im Alltag realisiert werden können. Zu dieser Zeit stand die Kommunikation als zwischenmenschlicher Austausch im Vordergrund, sodass die Wissenschaft keine Aussprachenorm erhalten wollte, die elitär ist und einen sozialen Abstand zwischen den Menschen schafft. Dieses neue Bedürfnis konnte jedoch durch die Bühnenaussprache nicht gedeckt werden. Zur Entwicklung einer solchen Ausspracheform musste eine neue Bezugsgröße geschaffen werden, um den tatsächlichen Sprachgebrauch einer größeren Gemeinschaft - als die der Bühnenschauspieler - zu ermitteln. Der rasante technische Fortschritt gegen Mitte der 60er Jahre hatte dabei einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung einer neuen Sprachform. Durch die Ausbreitung von Rundfunk, Film und Fernsehen bis in die entlegensten Dörfer konnte die Gesellschaft überall die neuen Massenmedien empfangen. Da die Gesellschaft nun täglich und überall mit einer beinahe einheitlichen Aussprache konfrontiert wurde, hatten die Sprecher der modernen Medien bald eine gewisse Vorbildfunktion für die Gemeinschaft. So wurde erstmals die Aussprache der Rundfunk- und Fernsehmoderatoren als neuer Standard angesehen und deren Sprachform als ‚Standardsprache’ bezeichnet. Die Expansion des neuen, mundartfreien ‚Standards’ in allen Gesellschaftsschichten wurde durch die weitere Ausbreitung von Rundfunk, Film und Fernsehen, durch die Bevölkerungsvermischung nach dem zweiten Weltkrieg und die erhöhte Mobilität der Menschen gefördert und stabilisiert (vgl. Drosdowski und Henne 1980, S. 623).

Die Wissenschaftler, allen voran Hans Krech (1885-1861), machten sich aufgrund neuerer sprachwissenschaftlicher Untersuchungen an die Arbeit, eine einheitliche Regelung für den neuen ‚Standard’[10] auf Basis der „Sprechweise des Funks“ festzulegen (E.-M. Krech 1961, S. 26). Damit sollte gewährleistet werden, dass die Standardaussprache, im Gegensatz zur Bühnenaussprache, der Sprechwirklichkeit einer größeren Personengruppe näher kommt, womit sie im Alltag leichter zu realisieren ist als die Bühnenaussprache. Hans Krech und sein Kollektiv waren sich einig, dass die Standardaussprache ausschließlich nach dem tatsächlichen Sprechgebrauch festgelegt werden soll. Von der deutschen Standardaussprache forderte man, dass sie der Hochlautung angehört und daher normierbar ist, aber trotzdem keinen Abstand zur Sprechrealität aufweist (vgl. E.-M. Krech 1961, S. 27). Diese Aussage Krechs scheint mir jedoch nicht sehr einleuchtend. Unter „Sprechrealität“ wird verstanden, dass eine bestimmte Personengruppe bzw. Schicht diese Varietät spricht, die durch die Beobachtung tatsächlicher sprachlicher Gebräuche fundiert und kodifiziert wird. „Hochlautung“ ist die standardisierte bzw. kodifizierte Aussprachenorm, die in Anlehnung an den bestehenden Sprechgebrauch deutscher Bühnenschauspieler entwickelt worden ist. Sie kann daher a priori nicht der „Sprechrealität“ entsprechen, weil es sich um ein Substrat verschiedener Aussprachevarianten handelt, deren Abweichungen zu einer homogenen Einheit zusammengefasst worden sind. Unter diesem Gesichtspunkt wird deutlich, dass die „Sprechrealität“ weder die Aussprache eines einzelnen Schauspielers wiedergibt noch einer bestimmten Personengruppe entspricht, da die Hochlautung ein vereinheitlichter Mittelwert ist, der auch mit der Sprechrealität der Alltagssprache nicht übereinstimmen kann. Gegen „Sprechrealität“ kann ferner eingewendet werden, dass die Bühnenaussprache eine künstliche, frei entwickelte und daher nicht ‚reale’ Aussprachevariante darstellt. Werner Besch konstatiert hier gleichfalls, dass die Bühnenaussprache keine „Gebrauchsnorm“, sondern „Präskriptiv-Norm“ ist (Besch 2003, S. 16). Die Termini „Hochlautung“ und „Sprechrealität“ sind daher meines Erachtens nicht vereinbar. Die Abfassung des Aussprachewörterbuches sollte daher ausschließlich auf empirischen Untersuchungen basieren, um tatsächliche Sprachphänomene zu kodifizieren, die nicht grundlegend auf der Hochlautung beruhen.

Die Redaktion des neuen orthoepischen Wörterbuches wurde am 6. Februar 1959 nach „langwierigen Unterhandlungen“ gegründet (H. Krech 1961, S. 48). Bei der Entwicklung des Kodex war es ein Hauptanliegen, „die Misere der innerdeutschen Grenzen nicht noch zu vertiefen und eine Angleichung der Standpunkte für das wichtigste Kontaktmittel, die gesprochene Sprache, zu sichern“ (H. Krech 1961, S. 48f.). Im Jahr 1964 wurde schließlich das Wörterbuch der deutschen Aussprache (VEB Bibliographisches Institut, Leipzig) von Hans Krech und seinem Autorenkollektiv herausgegeben.[11] Das Werk wurde „im Gegensatz zu den Neuauflagen des sehr traditionsbewussten ‚Siebs’ zu einem Reformwerk für die deutsche Hochlautung [...]“ (Kohler 1971, S. 147). Als der Begründer der Arbeit im Jahre 1961 starb, wurde die Leitung von Eva-Maria Krech (geb. 6.11.1932) übernommen und das Werk unter dem neuen Titel Großes Wörterbuch der deutschen Aussprache (1982) weitergeführt. Über die Anfänge der Entwicklung des Standarddeutschen schreibt E.-M. Krech in der 1. Auflage:

In wiederholten Beratungen entwickelte die Kommission [...] auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse neue Ausspracheempfehlungen, die in der 1964 erschienenen 1. Auflage des Wörterbuches der deutschen Aussprache systematisch dargestellt wurden. Die Untersuchung der Standardaussprache wird seitdem planmäßig weitergeführt; wichtige Forschungsresultate sind jeweils in den Neuauflagen des Werkes berücksichtigt worden (GWDA 1982, S. 13).

3.1.3 Das Duden-Aussprachewörterbuch (Aussprache-Duden) (1962ff.)

Im Jahre 1962 erscheint unter der Leitung von Max Mangold erstmals in der Geschichte ein Dudenband unter dem Titel Duden. Das Aussprachewörterbuch.[12] Das Werk wird als sechster Dudenband in eine zehnbändige Serie Der Große Duden eingeführt. Die Besonderheit der Erstauflage liegt darin, dass erstmals zwischen der „Bühnenhochlautung“ und einer „gemäßigten Hochlautung“ differenziert wird.[13] Wesentliche Merkmale, die sich vor allem „durch verminderte Deutlichkeit und größere Toleranz“ kennzeichnen, werden in einem Aussprachekodex erstmals dargelegt (Aussprache-Duden 1962, S. 39). Diese Regelungen finden jedoch keinen Eingang ins Wörterverzeichnis, da Mangold der Auffassung war, dass die Bühnenhochlautung den obersten Maßstab für eine Aussprachekodifikation darstelle. Demnach habe die Bühnenhochlautung nach wie vor oberste Priorität, weil

[...] es uns für ein Buch dieser Art nach wie vor besser erschien, von einer Hochnorm auszugehen, als ein Mittelmaß zu verlangen, das sich ohnedies beim Sprechen allzu leicht von selbst einstellt (AusspracheDuden 1962, Vorwort).

Zwölf Jahre später, im Jahre 1974, erscheint die 2. Auflage unter demselben Titel, wobei erstmals ein Untertitel hinzugefügt wurde: Wörterbuch der deutschen Standardaussprache. Das Werk wurde um eine einleitende phonologische Darstellung, eine Skizze der Bühnenaussprache sowie Bemerkungen zur Umgangs- und Überlautung ergänzt (vgl. Mangold 1985, S. 1499). Anstatt eine Bühnenhochlautung zu kodifizieren, wurde diesmal von einer allgemeinen Gebrauchsnorm bzw. Standardaussprache gesprochen, da diese einer Allgemeingültigkeit mehr entspricht als die bisherige Bühnenhochlautung. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, sowohl was die Terminologie als auch den Inhalt betrifft, dass die Ergebnisse des bereits 1962 erschienenen WDA in den Aussprache-Duden einfließen. Die 3. Auflage des Aussprache-Duden zielt ferner darauf ab, „eine allgemeine Gebrauchsnorm, die sogenannte Standardaussprache oder Standardlautung“ zu kodifizieren (Aussprache-Duden 1990, Vorwort), die für alle Sprechsituationen gilt, in denen man sich weder der Mundart noch der Umgangssprache bedient. Die nachfolgende 4. Auflage erschien im Jahre 2000 und entsprach, bis auf wenige Ausnahmen, der 3. Auflage. Es wurde vermerkt, dass dem Sprecher durch das Erlernen der Standardlautung gewisse Vorteile entstehen, indem durch eine „mundartlich gefärbte oder umgangssprachliche Aussprache“ hervorgerufene Missverständnisse verhindert werden können (Aussprache- Duden 2000, Vorwort). Die 6. und bisher letzte Auflage wurde im Jahr 2005 publiziert, wobei nunmehr der kommunikative Aspekt des Deutschen, nicht die Ästhetik der Aussprache, in den Vordergrund gestellt wurde. Die Zielgruppe des Standardwerkes wird erstmals um „Zuwanderer“ erweitert (Aussprache-Duden 2005, Vorwort). Demnach fördere das Erlernen der Standardlautung deren Integration im deutschsprachigen Raum. Im Hinblick auf die Bühnenaussprache wird zusätzlich vermerkt, dass sie sich „für das ausdrucksvolle Sprechen über weite Distanzen und ohne technische Hilfsmittel eignet“ (Aussprache-Duden 2005, Vorwort).

3.2 Die Aussprachemerkmale des österreichischen Standarddeutsch

Theodor Siebs hat - wie eingangs geschildert wurde - 1898 in seinem Regelwerk die ‚hochdeutsche Aussprache’ nach niederdeutschen Lautwerten beschrieben. Seit dieser Aussprachekodifikation sind mehrere Arbeiten erschienen, die auch die südlichen Aussprachevarianten entsprechend dargestellt haben. Der oberdeutsche Sprachraum war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts weit unterrepräsentiert gewesen und es mangelte lange Zeit an empirischen Studien, was die richtige Aussprache in Süddeutschland, Österreich und der Schweiz betraf. Dies führte dazu, dass die österreichische und schweizerische Standardvarietät des Deutschen, oftmals auch von einheimischen Österreichern und Schweizern selbst, als Dialekt bezeichnet wurde, weil es keine entsprechende Repräsentation in einem nationalen Kodex gab. Nachdem 1984 der Begriff der Plurizentrizität des Deutschen eingeführt wurde, der das Deutsche mit weitestgehend unabhängigen Sprachzentren beschrieb, wurden vor allem in den letzten Jahrzehnten Anstrengungen unternommen, die österreichische Standardvarietät empirisch zu fundieren und entsprechend darzustellen. Im folgenden Kapitel beginnen wir - der zeitlichen Anordnung dem erstmaligen Erscheinen der Publikation entsprechend - mit den Schriften zur Aussprache des österreichischen Standarddeutsch.

3.2.1 Deutsche Lautlehre von Luick (1904f.)

Die von dem Wiener Orthoepiker Karl Luick verfasste Deutsche Lautlehre - Mit besonderer Berücksichtigung der Sprechweise Wiens und der österreichischen Alpenländer (erste Auflage 1904) hat heute noch einen - in vielen Bereichen unübertroffenen - wissenschaftlichen, aber auch historischen Wert. Luicks dritte Auflage der Deutschen

Lautlehre (1932), die vom Konzept her großartig ist, sich aber noch auf die 13. Auflage des Siebs von 1922 stützt, wurde als Nachdruck im Jahre 1996 im ÖBV Pädagogischen Verlag vom Honorarprofessor für Linguistik, Otto Back, herausgegeben. Von diesem Wiederabdruck von 1932 hat jedoch selbst der Verlag keine Restbestände mehr auf Lager und das ÖBV-Werk ist leider auch nicht über das Antiquariat erhältlich. Es war ein zukunftsweisendes Projekt, weil das beinahe unter Ausschluss der Öffentlichkeit erschienene, und daher heute schwer zugängliche, Österreichische Beiblatt zu Siebs (1957), das sonst nur noch im Tysk Fonetik (ein Abdruck in Korlén/Malmberg 1957, S. 158-161) publiziert wurde, gleich als Anhang der Deutschen Lautlehre beigefügt wurde. Beim Österreichischen Beiblatt zu Siebs handelt es sich um eine bibliographische Rarität. Der Nachdruck in Luicks Deutscher Lautlehre schließt daher eine empfindliche Forschungslücke in der wissenschaftlichen Fachliteratur zum Thema österreichische Standardaussprache.[14] Zur Funktion und Nutzbarkeit beider Texte, dir durch Back erstmals in einem Werk vereint wurden, schreibt der Herausgeber in seinem Vorwort zum Reprint der Erstauflage:

Luicks Buch in seinen drei Auflagen deckt das erste Jahrhundertdrittel ab; das „Beiblatt“ tritt kurz nach Jahrhundertmitte in Erscheinung […]

Und weiter zur Nutzbarkeit beider Texte:

Luicks Lautlehre ist trotz ihres Alters eine in vielen Punkten gültige […] Gesamtdarstellung des Gegenstandes geblieben. Dagegen dürfte beim „Beiblatt“ wohl das kulturgeschichtliche Interesse den wissen- schaftlichen Erkenntniswert überwiegen (Luick 1996, Vorwort: S. 7)

Das Österreichische Beiblatt zu Siebs ist im Rahmen des sogenannten „Erweiterten Siebsausschusses“ (1954), also erst ein halbes Jahrhundert nach Luicks Erstauflage der Deutschen Lautlehre (1904), entstanden. Wie gesagt war es ein bahnbrechendes Projekt von großer Bedeutung, weil Otto Back es verstand, gleich zwei bedeutende Werke zur Aussprache des österreichischen Standarddeutsch zu vereinen. Leider hat man diese glückliche Fusion unmittelbar nach der Erstauflage wieder eingestellt, obwohl das Thema damit erstmals in deskriptiver und präskriptiver Weise dargestellt wurde und der zeitdokumentarischen Funktion beider Texte erstmals Rechnung getragen wurde.

3.2.2 Österreichisches Beiblatt zu Siebs (1957)

Die Entstehungsgeschichte des Siebs wurde großteils unter Punkt 3.1.2 dargestellt. Generell wird sie an anderer Stelle detaillierter beschrieben (vgl. Ehrlich 2007, S. 107ff.; Ehrlich 2007a, S. 41ff.; Ehrlich 2008, S. 43ff.). Im nachfolgenden Abschnitt sollen nur diese Teile referiert werden, die die letzte, 19. Auflage des Siebs von 1969 betreffen, weil sie sich auf die im Siebs referierten landschaftlichen Besonderheiten beziehen. Darüber hinaus wird auf die phonetischen Merkmale, die sowohl im Siebs als auch im Österreichischen Beiblatt zu Siebs vorkommen, Bezug genommen.

In der bisher letzterschienenen, 19. Auflage (1969) wurde das Standardwerk unter dem neuen Titel Siebs Deutsche Aussprache - Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch (Walter de Gruyter, Wiesbaden) weitergeführt.[15] Das Werk, das nun mittlerweile 494 Seiten umfasst, geht im Wesentlichen mit dem Inhalt der 18. Auflage konform, lediglich bei der Aussprache fremdsprachlicher Wörter und Eigennamen sind kleine Änderungen vorgenommen worden (vgl. Siebs 1969, S. 15). Die wohl wichtigste Neuerung war, dass die Hochlautung nun erstmals in eine ‚reine’ und eine ‚gemäßigte’ Variante differenziert wurde. Ferner sind erstmals regionale Varianten im Rahmen der ‚gemäßigten’ Hochlautung mitberücksichtigt worden, die im Wörterverzeichnis als (ö.) und (schweiz.) gekennzeichnet wurden. Die Einführung der gemäßigten Hochlautung wurde als besonders begrüßenswerte Neuerung bezeichnet, weil im Wörterverzeichnis nun auch endgültig die österreichischen und schweizerischen Besonderheiten markiert wurden (vgl. Korlén 1971, S. 149f.). Zum anderen wurde diese neue Kodifizierung kritisiert, weil man die rudimentäre Darstellung als unvollständig erachtete und deshalb a priori an ihrer Adäquatheit zweifelte. Reiffenstein kritisiert hier bereits im Vorfeld nicht nur die regional- spezifische Kodifikation als Ganzes, sondern auch die Gesamtkonzeption des Siebs als inadäquat:

[I]n Österreich [gebraucht] wahrscheinlich so gut wie niemand die deutsche Hochsprache, von einigen professionellen Sprechern abgesehen. Aber das ist in den anderen Gebieten deutscher Sprache nicht prinzipiell anders - und ich halte das nicht für ein Problem der deutschen Hochlautung, sondern viel eher für eines der Siebs-Norm (Reiffenstein 1983, S. 20).

Reiffenstein gibt damit zu verstehen, dass der plurizentrische Ansatz im Siebs seiner Auffassung nach keine ausreichende Beachtung findet und stattdessen eine fiktive Heterogenität der deutschen Sprache angenommen wird. Aus dem Satz lässt sich schlussfolgern, dass eine Anwendung der Siebs’schen Regelungen innerhalb der deutschsprachigen Bevölkerung gar nicht möglich wäre, weil ja dessen Beherrschung nur den professionell ausgebildeten Berufssprechern obliege und sie dadurch keinesfalls für die Umsetzung in der Alltagssprache geeignet erscheint. Im Gegensatz dazu spricht sich Sieber ausdrücklich für die Einführung der österreichischen und schweizerischen Besonderheiten aus, da man beide Varietäten erstmals auf die Ebene der Hochlautung stelle und sie dadurch erstmals „salonfähig“ gemacht hätte (Sieber 1992, S. 37).

Der oben angeführte Absatz macht nur deutlich, dass es nicht nur Befürworter einer regionalen Aussprachekodifikation gab. Was die Geschichte der Aussprachekodifikation betrifft, wird jedoch die Tatsache bewusst, dass erst durch die 19. Auflage des Siebs von 1969 versucht wurde, einer österreichischen Variante Rechnung zu tragen. Die Grundlage für diesen Schritt lieferte das Österreichische Beiblatt zu Siebs (1957), das im Rahmen des „Erweiterten Siebsausschusses“ von 1954 entwickelt wurde. An dieser Beratung nahmen sowohl wissenschaftliche Vertreter aus Österreich als auch der Schweiz teil. Oberstes Ziel der Tagung war die Etablierung eines Maßnahmenkatalogs „für den unterrichtenden Vortrag in Österreich und insbesondere für die Zwecke der österreichischen Schule“ (Beiblatt 1957, S. 137). Im Beiblatt werden jedoch keine Änderungen der bisherigen Regelungen im Siebs vorgenommen, sondern lediglich eine gewisse Variationsbreite für den österreichischen Sprachraum als zulässig erklärt. Es geht hierbei mehr um praktische Bezüge, als um die Darlegung spezifisch österreichischer Besonderheiten, wie man sich das aus dem vollständigen Titel heraus hätte erwarten können. Das Hauptwerk von Siebs wird als bekannt vorausgesetzt und ebenso, dass die „hochsprachliche Regelung“ des Siebs natürlich auch in Österreich als „grundsätzlich verbindlich“ (Beiblatt 1957, S. 137) gilt. Damit wird eine österreichische Adaption postuliert, die das Dilemma zwischen gesprochener Realität und Aussprachekodifikation unberücksichtigt lässt. Eine Anlehnung der österreichischen an die deutschländische Varietät bedeutet, dass „nur in Randbereichen Unterschiede“ zugelassen werden, weil der österreichischen Varietät ja ein „striktes Konzept von Standardaussprache zugrunde liegt“ (Muhr 2006, S. 96).

[...]


[1] Im Hinblick auf die adäquate Terminologie merkt Muhr zu Recht an, dass man den Begriff „Besonderheiten des österreichischen Deutsch“ vermeiden solle, weil damit immer eine dominierende Varietät als Maßstab impliziert werde. Besser wäre es daher von „Merkmalen des österreichischen Deutsch“ zu sprechen, weshalb ich mich dieser Terminologie gerne anschließen möchte (vgl. Muhr 2000, S. 37).

[2] Die Staatliche Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart bietet den vierjährigen Diplomstudiengang Sprecherziehung in einer einzigartigen Monopolstellung an. Für Österreich oder die Schweiz gibt es nichts Vergleichbares. Die Hochschule verleiht den akademischen Titel „Diplom-Sprecherzieher“. In Halle wird gerade der Nachfolger von Siebs und GWDA, mit dem Titel Deutsches Aussprachewörterbuch vorbereitet, das leider zum Zeitpunkt der Abfassung noch nicht vorlag und daher in dieser Arbeit nicht mitberücksichtigt werden konnte.

[3] Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Moosmüller 1987, S. 28-40.

[4] Die weitere Beschreibung der Siebs’schen Aussprachekodifikation lehnt sich an Ehrlich (2008, S. 33f.) an.

[5] Die weitere Beschreibung der Siebs’schen Richtlinien lehnt sich an Ehrlich (2007, S. 113) an.

[6] Als Redesituationen, in denen nach den Siebs’schen Regeln gesprochen werden soll, nennt Winkler die folgenden: die Rede auf der Kanzel und dem Katheder, für den Unterricht, insbesondere den Deutschunterricht für Ausländer (vgl. Winkler 1954/55, S. 321).

[7] Die folgende Darlegung über die Bühnenaussprache lehnt sich an Ehrlich (2007, S. 113f.) an.

[8] Zur späteren Neuauflage des Siebs siehe v. a. Kuhlmann (1956, S. 88-89).

[9] Der folgende Absatz ist aus Ehrlich 2008 (S. 36-39) entnommen.

[10] Bei den sogenannten ‚Neuerungen’ handelt es sich meist nur um Abschwächungen der Regelungen im Siebs, wie Littmann feststellen konnte: „Mit Hilfe der exakten Untersuchungen, deren Ergebnisse von einem Redaktionsausschuss nochmals geprüft wurden, konnten eine Reihe von Abweichungen - meist Abschwächungen - von der bisher geltenden Norm des S [Siebs, Anm. K. E.] einwandfrei ermittelt werden.“ (Littmann 1965, S. 71)

[11] Eine umfangreiche Beschreibung des WDA findet sich bei Littmann (1965, S. 65-89).

[12] Die nachfolgende Darstellung der Diachronie lehnt sich teilweise an Ehrlich (2008, S. 39-41) an.

[13] Außerdem wird die recht negativ konnotierte Bemerkung der vierten Auflage der „als übersteigert empfundenen Bühnenaussprache“ (Aussprache-Duden 2000, Vorwort) durch die abgeschwächtere Form „an der heute etwas künstlich wirkenden traditionellen Bühnenaussprache“ (Aussprache-Duden 2005, Vorwort) ersetzt, was m. E. auch notwendig war.

[14] Ich zitiere im Folgenden aus dem Nachdruck von Luicks Deutscher Lautlehre (1932), weil mir keine selbständige Fassung des Beiblattes zugänglich war. Das Österreichische Beiblatt zu Siebs wird damit künftig zitiert als (Beiblatt 1957, S. 137-140).

[15] Der nachfolgende Absatz lehnt sich zum Teil an Ehrlich (2008, S. 51f.) an.

Ende der Leseprobe aus 205 Seiten

Details

Titel
Die Aussprache des österreichischen Standarddeutsch
Untertitel
Umfassende Sprech- und Sprachstandserhebung der österreichischen Orthoepie
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Germanistik)
Autor
Jahr
2009
Seiten
205
Katalognummer
V141597
ISBN (eBook)
9783640491292
ISBN (Buch)
9783640491537
Dateigröße
3221 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In German there is no officially regulated pronunciation for the Standard Variety. Up until now there also exists no prescriptive Standard Variety for the Austrian German which is, for example, sanctioned by a government Ministry or considered to be pronunciation norm. Only recently has there been a published reference book “Österreichisches Aussprachewörterbuch”, which pins down the actual pronunciation of the Austrian language area in a descriptive way. In this research a very frequently used term for the Austrian Standard variety is “dialektale Färbung” [...]
Schlagworte
Aussprache, Standarddeutsch, Umfassende, Sprech-, Sprachstandserhebung, Orthoepie
Arbeit zitieren
Mag. Karoline Ehrlich, MIB (Autor:in), 2009, Die Aussprache des österreichischen Standarddeutsch, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141597

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