Sinn aus Unsinn

Das Gedicht "An Anna Blume" im Kontext dadaistischer Antikunst und der Merz-Kunst von Kurt Schwitters


Seminararbeit, 2006

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Dada: eine neue Kunstrichtung
2.1 Dadaistische Produktionsformen
2.1.1 Prinzip Zufall
2.1.2 Montage
2.1.3 Dadaistische Sprachkunst
2.1.4 Öffentlicher Auftritt

3 Kurt Schwitters
3.1 Der Künstler Kurt Schwitters und Dada
3.2 Der Dichter Kurt Schwitters

4 „An Anna Blume“
4.1 Interpretation
4.2 Die Rezeption der „Anna Blume“

5 Schluss

6 Literaturverzeichnis:

1 Einleitung

„Neueste Kunsterkrankung, Verworrenheit der Psyche, wahnwitzige Gebilde der Phantasie, gemalter Unsinn, Ausgeburt eines defekten Gehirnhauses und ungereimter Unsinn“[1] – so, oder so ähnlich reagierte das zeitgenössische Publikum auf die Neuerscheinung des Gedichtes „An Anna Blume“ von Kurt Schwitters. Diese Reaktionen spiegeln zum einen die Missverständnisse und Aggressionen einer Gesellschaft wider, die sich an einer festgelegten Norm orientiert und keine Abweichung von dieser duldet. Zum anderen lassen diese die Absicht des Künstlers erahnen, diesen normierten Kunstbegriff in Frage zu stellen und das Publikum zu einer veränderten Sehweise herauszufordern. Dieser Veränderungswille formierte sich Anfang des 20. Jahrhunderts in einer neuen Kunstrichtung, die sich den Aufstand gegen die bürgerliche Kunst zum Programm machte und sich dada nannte.

Ist „An Anne Blume“ ein dadaistisches Gedicht? Kurt Schwitters wird von den LiteraturwissenschaftlerInnen nur unter gewissen Vorbehalten ein Platz im Dadaismus eingeräumt, was zum einen daran liegt, dass Schwitters stärker in anderen, wenn auch verwandten Zusammenhängen gesehen wird (Konstruktivismus, konkrete, bzw. experimentelle Poesie), zum anderen daran, dass er sich ausdrücklich vom (v.a. Berliner) Dadaismus[2] „zumindest soweit abzugrenzen versuchte, dass die eigene Kunstleistung wahrnehmbar wurde“[3]. Auf der anderen Seite stehen persönliche Beziehungen zu einigen Dadaisten und auch Schwitters bewusster Rückgriff auf den Dadaismus in theoretischer ebenso wie in praktischer Hinsicht. Die Auseinandersetzung mit dem Gedicht „An Anna Blume“ kann nur unter der Prämisse dieses ambivalenten Verhältnisses erfolgen.

Im ersten Teil dieser Arbeit soll auf das Phänomen Dada eingegangen werden, um ihn als den geistigen Hintergrund für Schwitters‘ Kunst herauszustellen. Anschließend soll Schwitters‘ Position im Dadaismus dargelegt und seine eigene Kunstauffassung aufgezeigt werden, sich vor allem in seinem Lebenswerk Merz manifestiert hat. Es wird jedoch unterlassen, Dada von Merz klar abzutrennen; vielmehr soll aufgezeigt werden, dass Merz auf dada aufbaut und seine Gedanken weiterentwickelt.

Im letzten Teil der Arbeit soll das Gedicht „An Anna Blume“ unter Einbeziehung sowohl der zuvor dargestellten dadaistischen Merkmalen wie auch Kurt Schwitters` eigenen Kunstauffassung interpretiert werden.

Diese Untersuchung macht es sich nicht zur Aufgabe, zu dem Gedicht, das sich auf den ersten Blick einigen gewohnten Verständnis-Erwartungen an Literatur zu entziehen scheint, einen Sinn-vollen Zugang zu ermöglichen. Sie wird eher versuchen zu zeigen, dass der ‚Unsinn’, zu dem sich Schwitters offen bekannte[4], ein gewollter literarischer Unsinn und durchaus ernst zu nehmen ist.

2 Dada: eine neue Kunstrichtung

„ Ich weiß, dass Sie heute abend hergekommen sind, um Erklärungen

über Dada zu hören. Nun, erwarten Sie bitte nicht Erklärungen über

Dada. Erklären Sie mir warum Sie existieren.“

Tristan Tzara

Dass es bis dato keine umfassende Definition des Dadaismus gibt, liegt weniger an Versäumnissen der Forschung, als vielmehr in der Sache selbst begründet. Auch wenn die meisten Dada-Manifeste vorgaben, die programmatischen Grundsätze Dadas zu deklarieren, eine klare Vorstellung davon, was Dadaismus sei, vermitteln sie dennoch nicht. Die bewusste Verweigerung klarer Aussagen über den Begriff und/oder dessen Mystifizierung ist geradezu ein Grundmotiv dadaistischer Manifestliteratur:

Es gibt Leute, die gesagt haben: dada ist gut, weil nicht schlecht ist, dada ist schlecht, dada ist eine Religion, dada ist eine Poesie, dada ist ein Geist, dada ist skeptisch, dada ist eine Magie, ich kenne dada. Meine lieben Kollegen: gut schlecht, Religion Poesie, Geist Skeptizismus, Definition Definiton, gerade deswegen werdet Ihr alle krepieren, und Ihr werdet krepieren das schwöre ich Euch.[5]

Diese ablehnende Haltung gegenüber allen verständnisfördernden Aussagen über Dada wird oft damit begründet, dass es begrifflich überhaupt nicht fassbar ist und sich jeder Definition entzieht. Gleichzeitig fehlte es nicht an Versuchen seitens der Dadaisten, Dada mit Hilfe widersprüchlicher Angaben dennoch begreiflich zu machen – jedoch eher mit dem Ziel, Verwirrung zu stiften, als Klarheit zu verschaffen. Die scheinbaren Versuche, den Klärungsbedarf des Publikums decken zu wollen erklären sich aus der Strategie der Dadaisten, „die öffentliche Wirksamkeit des Unternehmens zu erhöhen, indem man seine Losung möglichst breit streut, darum zugleich aber auch ein Geheimnis macht.“[6]

Andererseits sind diese Versuche als Ausdruck einer bestimmten Wirklichkeitsauffassung zu verstehen, in der sich ein Großteil der Dadaisten übereinstimmen. Sie erlebten die Wirklichkeit als Chaos, in dessen Gegensätzlichkeiten keine Ordnung, kein Plan, Ziel oder Sinn erkennbar wird. Diese Wirklichkeit ist eine dynamische, in der zahllose Kräfte aufeinander wirken und sich in Widersprüchen und Spannungen offenbaren.

Der Dadaist geht allein von der erkenntnistheoretischen Feststellung aus, dass das Leben eine in sich kämpfende in ständiger Bewegung begriffene unübersehbare Reihe von Phänomenen ist, gleich einem buntbewimpelten Strom oder gleich einem Riesenwarenhaus. [...][7]

Diese Wirklichkeitsauffassung versucht dada in seinen ästhetischen Konzeptionen umzusetzen:

Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhythmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird.[8]

Schließlich erklärt sich aus dieser Wirklichkeitsauffassung auch „die Auflösung fester Positionen in einer fortwährenden Umwandlung der ‚eigenen’ Sichtweise“[9], die auch die eigene Negation zur Folge hat: „Dada bedeutet nichts.“[10]

Dada wurde in einem Lexikon gefunden, es bedeutet nichts. Dies ist das bedeutende Nichts, an dem nichts etwas bedeutet. Wir wollen die Welt mit Nichts ändern, wir wollen die Dichtung und die Malerei mit Nichts ändern und wir wollen den Krieg mit Nichts zu Ende bringen.[11]

Sogar das eigene Manifest wird negiert: „Gegen dieses Manifest zu sein, heißt Dadaist sein!“[12] In dieser Äußerung von Tzara offenbart sich die die bewusst kalkulierte Widersprüchlichkeit, mit der die Dadaisten gegen die Logik kämpften. Die Logik, ebenso wie „die Moral und ihrer beider Dogmen, als Eckpfeiler der Weltsicht und alles Bürgerlichen“[13], galt es einzureißen. In seinem Dada-Manifest erklärt Tzara die Unvereinbarkeit von Logik und Kunst:

Wir brauchen starke, geradlinige, genaue und für immer unverständliche Werke. Die Logik ist eine Komplikation. Die Logik ist stets falsch. Sie zieht die Fäden der Begriffe, der Worte in ihrem formalen Äußern zu den Enden der trügerischen Mittelpunkte. Ihre Ketten sind tödlich wie ein riesiger Tausendfüßler, die die Unabhängigkeit erstickt. Mit der Logik vermählt, würde die Kunst in Blutschande leben, würde ihren eigenen Schwanz, der noch immer ihr Körper ist, verschlingen und herunterschlucken und so in sich selber Unzucht treiben...[14]

Warum ist den Dadaisten die Unverständlichkeit eines Kunstwerks so wichtig? Die meisten Forscher stimmen darin überein, dass die Entstehung Dadas eine Reaktion auf die katastrophalen Geschehnisse des ersten Weltkrieges zu verstehen ist. Die Radikalität ihres künstlerischen Ansatzes ist erst aus dieser historischen Situation heraus wirklich verständlich. „Die Dadaisten waren“, schreibt Hülsenbeck, „diejenigen Menschen, die aufgrund einer besonderen Sensibilität die Nähe des Chaos verstanden und es zu überwinden suchten ..., die die Fähigkeit besaßen , das Chaos in sich als schöpferisch zu empfinden.“[15] Voraussetzungen und Bedingungen der Kreativität sind nach Hülsenbeck „das Gefühl des Terrors, die Empfindung der Angst und des Alleinseins, so wie wir es - von Kriegen umgeben – in der Schweiz empfanden, die existentielle Verzweiflung, der wir mit Ironie, Regression und Angriffslust begegneten.“[16]

Der kabarettistische Protest gegen den „Wahnsinn der Zeit“ (Hans Arp) begründete seine Existenz im „Cabaret Voltaire“ in Zürich, wo die Gründer der Dada-Bewegung (v.a. Hugo Ball, Richard Hülsenbeck, Hans Arp) günstigere Schaffensbedingungen vorzufinden hofften, als in ihrem kriegsbegeisterten ‚Vaterland’:

Unser Kabarett ist eine Geste. Jedes Wort, das hier gesprochen und gesungen wird, besagt wenigstens das eine, dass es dieser erniedrigenden Zeit nicht gelungen ist, uns Respekt abzunötigen. Was wäre auch respektabel und imponierend an ihr? Ihre Kanonen? Unsere große Trommel übertönt sie. Ihr Idealismus? Er ist längst zum Gelächter geworden, in seiner populären und seiner akademischen Ausgabe. Die grandiosen Schlachtfeste und kannibalischen Heldentaten? Unsere freiwillige Torheit, unsere Begeisterung für die Illusion wird sie zu schanden machen.[17]

Die Suche nach einer neuen Kunst, die schon mit den Futuristen am Anfang des 20. Jahrhunderts begann, führte im Cabaret Voltaire erstmalig zu einer radikalen Infragestellung der traditionellen Kunstauffassung, für die die Trennung der einzelnen Kunstgattungen charakteristisch ist. In mehr oder weniger spektakulären Aktionen wurde hier versucht, die Grenzen der Gattungsbereiche der Kunst durchzubrechen und zu neuen künstlerischen Ausdrucks- und Gestaltungsmitteln vorzustoßen. Junge Dichter und Künstler wurden eingeladen, ihre Werke verschiedenster Richtungen vorzutragen, Bilder aufzuhängen oder selbst zu musizieren. Das Cabaret Voltaire bot den Dadaisten einen Spielraum für Nebeneinander und Gegeneinander verschiedener Künste, vergleichbar mit Wassilij Kandinskys Entwurf eines Gesamtkunstwerks, von dem Hugo Ball sich inspirieren ließ.[18] Eine weitere Konsequenz des Bruchs mit der traditionellen Ästhetik war die neue ‚Wortkunst’, mit der Ball, Hülsenbeck, Tzara und Arp die Grundlagen mimetischer Kunst verließen und in Bereiche der Sprachschöpfung vorstießen.

Wir haben die Plastizität des Wortes jetzt bis zu einem Punkte getrieben, an dem sie schwerlich mehr überboten werden kann. Wir erreichten dies Resultat auf Kosten des logisch gebauten, versändnismäßigen Satzes und demnach auch unter Verzicht auf ein dokumentarisches Werk (als welches nur mittels zeitraubender Gruppierung von Sätzen in einer logisch geordneten Syntax möglich ist).[19]

Ich habe eine neue Gattung von Versen erfunden, ‚’Verse ohne Worte’ oder Laugedichte, in denen das Balancement der Vokale nur nach dem Werte der Ansatzreihe erwogen und ausgeteilt wird. [...][20]

Im Folgenden sollen Grundelemente dadaistischer Kunst und die Produktionsformen genauer erläutert werden.

[...]


[1] in: Hereth, Hans-Jürgen: Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Kurt Schwitters, dargestellt anhand seines Gedichts „An Anna Blume“.“ Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, 1996. S. 17.

[2] Der Begriff Dadaismus ist der heute üblicherweise für diese Kunstrichtung verwendete Begriff. Innerhalb der Dada-Bewegung wurde dieser Begriff jedoch nicht verwendet, da er einen „ismus“ (i.e. eine Ideologie) repräsentiert. Die Künstler der Dada-Bewegung haben sich jedoch nicht als Ideologen, sondern als das genaue Gegenteil verstanden.

[3] Schuhmann, Klaus (Hrsg.): Sankt ziegenzack springt aus dem Ei. Texte Bilder und Dokumente zum Dadaismus in Zürich, Berlin, Hannover und Köln. Leipzig: Kiepenheuer, 1991. S. 297.

[4] Vgl. Schuhmann, s. 304.

[5] Tristan Tzara zitiert in: Eisenhuber, Günther: Manifeste des Dadaismus. Analysen zu Programmatik, Kunst und Inhalt. Berlin: Weidler, 2006. S. 31.

[6] Eisenhuber, s. 33.

[7] ebd.

[8] Hülsenbeck zitiert in Schuhmann, s. 186.

[9] Eisenhuber, s. 34.

[10] Ebd. s. 110.

[11] Hülsenbecks Erklärung, vorgetragen im „Cabaret Voltaire“ im März 1916. Zitiert in: Schuhmann, s. 187.

[12] Tristan Tzara zitiert in Schuhmann, s. 187.

[13] Bohle, Jürgen F.: Theatralische Lyrik und lyrisches Theater im Dadaismus. Eine Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen lyrischen und theatralischen Elementen in dadaistischer Aktion. Eine Dissertation, vorgelegt von Jürgen F.E. Bohle. Saarbrücken, 1981. S. 64.

[14] in: Schuhmann, s. 116.

[15] Zitiert in: Schings, Hubert: Narrenspiele oder die Erschaffung einer verkehrten Welt. Studien zu Mythos und Mythospoesie im Dadaismus. Frankfurt am Main: Lang, 1996. S. 53.

[16] Ebd.

[17] Hugo Ball zitiert in: Schuhmann, s. 59.

[18] Vgl. Schuhmann, s. 17.

[19] Vgl. ebd. s. 83.

[20] Ebd. s. 84.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Sinn aus Unsinn
Untertitel
Das Gedicht "An Anna Blume" im Kontext dadaistischer Antikunst und der Merz-Kunst von Kurt Schwitters
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
22
Katalognummer
V144145
ISBN (eBook)
9783640533633
ISBN (Buch)
9783640533527
Dateigröße
493 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sinn, Unsinn, Gedicht, Anna, Blume, Kontext, Antikunst, Merz-Kunst, Kurt, Schwitters
Arbeit zitieren
Ilona Kramer (Autor:in), 2006, Sinn aus Unsinn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144145

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