Leseprobe
Weimarer Klassik
1. Was ist die Weimarer Klassik?
„Ich hatte nicht lange aber tief geschlafen, als das Horn eines Postillions mich weckte, der reitend vor dem Hause hielt. Bald darauf erschien Demoiselle Delf mit einem Licht und Brief in den Händen und trat vor mein Lager. Da haben wirs! Rief sie aus. Lesen Sie, sagen Sie mir was es ist. Gewiß kommt es von den Weimarischen. Ist es eine Einladung, so folgen Sie ihr nicht, und erinnern Sich an unsre Gespräche. Ich bat sie um das Licht und um eine Viertelstunde Einsamkeit.“ Kurz danach endet Goethes Biographie „Dichtung und Wahrheit“ und seine folgende Entscheidung für die „Weimarischen“ macht eine sehr bedeutende und produktive Phase der deutschen Literaturgeschichte erst möglich: Die Weimarer Klassik.
Die Weimarer Klassik ist eine Richtung der deutschen Literaturgeschichte, die hauptsächlich auf der Freundschaft zwischen Goethe und Schiller basierte. Diese Zusammenarbeit deckte insgesamt nur einen sehr kurzen Zeitraum ab, nämlich von Goethes Italienreise von 1786 bis 1788 und Schillers Übersiedlung nach Weimar im Jahre 1788 bis zu Schillers Tod 1805. Besonders wichtig sind hierbei die Jahre der intensiven Zusammenarbeit zwischen beiden, nämlich von 1794 bis zu Schillers Ableben.
Die Weimarer Klassik bezeichnet, wenn man es abstrakt formulieren möchte, eine Verdichtung von produktiven Künstlern und Intellektuellen auf engem Raum an einem dafür unwahrscheinlichen Ort, denn Weimar war zu dieser Zeit eine eher kleine Residenzstadt mit etwa 6000 Einwohnern. Sie ist für die weitere Geistesgeschichte von essenzieller Bedeutung und wirkt bis heute in Literatur und Geistesleben. Ihre Leitideen sind Harmonie und Humanität, die Konzentration auf die geistigen, seelischen und ästhetischen Fähigkeiten des Menschen. Sie war gleichzeitig auch eine Antwort auf die komplexe Situation in Deutschland und Europa am Ende des 18. Jahrhunderts; im Gegensatz zu dem aufklärerischen Menschheitspathos, wie er zum Beispiel die französische Revolution mitbestimmte, entwickelte sie eine allgemeinere Idee von Menschlichkeit und Humanität, wie wir sie in den pädagogischen und philosophischen Schriften von Herder und Humboldt finden.
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