Woher kommen eigentlich die Werte, die unsere Eltern uns als Kind vermittelt, die wir dann als Haltungen verinnerlicht haben und diese als so bedeutsam ansehen, dass wir sie auch an unsere Kinder weitergeben? Da wären u.a. die Bedeutung von Bildung, einem qualifizierten Beruf, von Eigentum, um nur einige wenige zu nennen. Warum ist uns der Aufstiegsgedanke wichtig, der Wunsch nach Statussymbolen? Das Schlüsselwort ist „Bürgerlichkeit“ - und was wir darunter zu verstehen haben, wird uns im Familienroman, dem bürgerlichen Genre schlechthin, vor Augen geführt. Die agierenden Familien in den Romanen „Buddenbrooks“ (Thomas Mann), „Es geht uns gut“ (Arno Geiger) und „Im Schatten des untergehenden Lichts“ (Eugen Ruge) sind ein Spiegel ihrer Zeit und ähneln dem, was wir als Generation X und Y in unseren Herkunftsfamilien erlebt haben. Es wird für den Leser verblüffend sein, wenn er erkennt, wieviel von den Werthaltungen des Bürgertums aus dem 19. Jahrhundert er in seinen eigenen Wertvorstellungen wiederfindet!
1. Vorwort 8
2. Einleitung 10
3. Aufbau der Arbeit 13
4. Das Genre: Familienroman/Generationenroman 15
5. Autoren-Biographisches in den Romanen 19
5.1 Autobiographisches im Roman „Buddenbrooks“ von Thomas Mann 21
5.2 Autobiographisches im Roman „ Es geht uns gut“ von Arno Geiger 26
5.3 Autobiographisches im Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ 29
von Eugen Ruge 29
6. Erzählform und Stilistik in den Romanen 33
6.1 „Buddenbrooks“ 33
6.2. Die modernen Familienromane 38
7. Temporale und zeitgeschichtliche Situierung der Romane 45
7.1 Das 19. Jahrhundert im Spiegel des Romans „Buddenbrooks“ 45
7.2 Historie im österreichischen Roman „Es geht uns gut“ von Arno Geiger 54
7.2.1 Die Geschichte Österreichs im „bürgerlichen 19.Jahrhundert“ - ein Exkurs 54
7.2.2 Die Zeit des „Austrofaschismus“ 60
7.2.3 Die Zweite Republik seit 1945 66
7.3 Zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Bezüge im Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ 75
7.3.1 Die 50er Jahre und ihre Präsenz im Buch 78
7.3.2 Die 60er Jahre und ihre Präsenz im Buch 85
7.3.3 Die 70er Jahre und ihre Präsenz im Buch 91
7.3.4 Die 80er Jahre und ihre Präsenz im Buch 95
7.3.5 Abwanderung und Ausreise 103
8. Stadträumliche Situierung der Familienromane 105
8.1 Lübeck 106
8.2 Wien 110
8.3 Ost -Berlin 117
9. Das Haus als bürgerliche Wohnstätte - Standort und Wohnkultur 124
9.1 Bürgerliches Wohnen im 19. Jahrhundert bei den Buddenbrooks 125
9.2 Die Villa der Familie Sterk in Wien 134
9.3 Die Wohnsituation in der DDR: Geschosswohnung und bürgerlicher Besitz 138
10. Bürgertum und Bürgerlichkeit im „langen 19. Jahrhundert“ 146
10.1 Das Wirtschaftsbürgertum 151
10.2 Das Bildungsbürgertum 154
11. Das Bürgertum im 20. Jahrhundert - bürgerliche Lebensform im Wandel und das Fortleben bildungsbürgerlicher Traditionen 155
11.1 Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts 155
11.2 Das Bürgertum im Nationalsozialismus 161
11.3 Das Bürgertum nach 1945 in Westdeutschland und in Österreich 162
11.3.1 Restauration in den 50er Jahren 163
11.3.2 Das Bürgertum in den 60er und 70er Jahren - Kritik und Protest 164
11.3.3 Bürgerliches Selbstverständnis seit den 80er Jahren und bürgerliche 165
Traditionen heute 165
12. Bürgertum in der DDR 167
12.1 Wirtschaftsbürgertum in der DDR 168
12.2 Bildungsbürgertum in der DDR 170
12.2.1 Der Marxismus im Denken der „sozialistischen Intelligenz“ 174
12.2.2 Geschichtswissenschaft(ler) in der DDR 176
13. Bürgerliche Normen und Kultur 179
13.1 Arbeit und Selbstständigkeit in der bürgerlichen Lebensführung - das Leistungsethos des Bürgertums 182
13.2 Kleidung und Reinlichkeit 192
13.3. Der Bürger in der politischen und sozialen Verantwortung als Amtsträger 203
13.4 Politische Aktivität in der DDR 210
14. Die Bedeutung von Religion und Kirche im Bürgertum 213
14.2 Glaubensrichtungen in der protestantischen Kirche des 19. Jh 220
14.3 Feminisierung der Religion - Die Religion wird weiblich 224
14.4.1 Herkunft und Verbürgerlichung 227
14.4.2. Der Ausbildungsweg zum Pfarrer 230
14.4.3 Geistlichkeit im Familienroman „Buddenbrooks“ 232
14.5 Religion im Familienroman des 20. Jahrhunderts 233
14.5.1 Religion und religiöses Leben in der DDR 235
14.5.2 Der Kommunismus und die Partei als Erlösungsorgan 243
und Religionsersatz 243
15. Bildung als bürgerlich-kulturelle Praxis 248
15.1 Geschlechtscharaktere 250
15.2 Bildung in der Schule des 19. Jahrhunderts 253
15.3 Das Bildungswesen für Mädchen im 19. Jahrhundert 259
15.4 Der steinige Weg zur Bildungsberechtigung und Berufstätigkeit der Frau 267
15.5 Das Bildungswesen in der DDR 270
15.6 Non-verbale und verbale Verhaltenskultur/Kommunikation im Bürgertum 276
15.6.1. Der Sozialwert der bürgerlichen Sprache - Hochsprache und Dialekt 279
15.6.2 Das Gespräch als Konversation 285
15.6.3 Der konversationelle Ablauf der Mahlzeit als ein Ritus im Familienleben 289
15.7 Die bildungsrelevante Bedeutung der Schrift- und Schreibkultur im Bürgertum 300
15.7.1 Bildung durch/mit Literatur 302
15.7.2 Literatur und Kultur in der DDR 307
15.8 Hochkultur als Betätigungs- und Bildungsfeld des Bürgertums 309
15.8.1 Bildung durch Musik 312
15.8.2 Bildung durch Malerei 318
15.8.3 Das Theater als Bildungsstätte 319
16. Reisen im 19. und 20. Jahrhundert 321
16.1 Die Bildungs- und Qualifikationsreise 321
16.2 Erholungs- und Badereisen - der Bürger und das Meer 326
16.3 Reisen in Zeiten des Massentourismus- eine Form der kulturellen Begegnung 336
17. Gesellschaftstreffen, Feierlichkeiten und geselliger Verkehr - ein Charakteristikum der bürgerlichen Familie 346
17.2 Die sozialistische Feierkultur 354
17.3 Der Spaziergang als Symbol bürgerlicher Geselligkeit 358
17.4 Bürgerliche Vereinskultur 361
18. Dienstboten/-mädchen in bürgerlichen Haushalten 365
18.1 Die Herkunft der Dienstmädchen 367
18.2 Das Arbeitsverhältnis des Dienstmädchens 371
18.3 Hausarbeiten im Dienstverhältnis 375
18.4 Kindermädchen - kein gewöhnliches Dienstpersonal 378
18.5 Zwischen Distanz und Identifikation - das Verhältnis des
Dienstpersonals zur
Bürgerfamilie
381
18.6 Dienstmädchen als Objekt bürgerlicher Sexualphantasien 386
18.7 Das Ende der Dienstboten-Zeit 390
19. Das bürgerliche Ehe- und Liebesideal 391
19.1 Die ( Liebes-) Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau im Bürgertum 398
19.3. Ehe und Geschlechterbeziehung in der ehemaligen DDR 409
19.4 Voreheliche Liebe und sexuelle Beziehungen im Bürgertum und heute 411
19.5 „Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich das Herz zum Herzen
findet! Der
Wahn ist kurz, die Reu ist lang.“
418
19.5.1 Ehescheidung und Familienauflösung im 19. Jahrhundert 419
19.5.2 Ehescheidung im 20. Jahrhundert 422
19.5.3 Scheidung in der DDR 424
20. Familie und „Ganzes Haus“ - Die Familienorientierung im Bürgertum 427
20.1 Der bürgerliche Familienverband 429
20.2 Die moderne Klein-/Kernfamilie im Familienroman 436
20.3 Historisch verortete Männlichkeit - das Vaterbild und männliche
Leitbilder im
Wandel der Zeiten
441
20.3.1 Männlichkeitsideale im Bürgertum des 19. Jahrhunderts 442
20.3.2 Das Männlichkeits- und Vaterbild im 20. Jahrhundert 450
20.4. Die Rolle der Frau und Mutter in der bürgerlichen Familie 464
20.5 Außerfamiliäre und berufliche Tätigkeiten einer Bürgersfrau 472
20.6 Die „bürgerliche Frau“ im 20. Jahrhundert - der Wandel der Mutter- und 474
Frauenrolle im zeitgenössischen Familienroman von Arno Geiger 474
20.6.1 Die Frau in ihrer Doppelbelastung 483
20.7 Wie sozialistische Familienpolitk in der DDR Familie und Elternschaft prägte 489
20.8 Die Frau in der DDR 497
21. Lebensformen neben der klassischen Familie 511
21.1 Nichteheliche Lebensgemeinschaften 512
21.2 Ein-Eltern-Familien 514
21.3 „Stieffamilien“ 518
21.4 Ehelosigkeit und Individualisierung 519
22. Kindheit und Erziehung als Spiegel des Eltern-Kind-Verhältnisses 525
22.1 Rousseau - Entdecker und Reformer der Kindheit 525
22.2 Kindheit im Bürgertum 528
22.3 Erziehungsziele 533
22.3.1 Erziehung im 19. Jahrhundert 534
22.3.2 Erziehung im 20. Jahrhundert 541
22.3.3 Erziehung in der DDR 549
23. Die Psychologie von Geschwisterbeziehungen 557
24. Beziehungen zwischen den Generationen - füreinander, miteinander, gegeneinander 579
24.1. Transgenerationelle Übertragungen und Weitergaben 580
24.2 Beziehungen zwischen Jung und Alt - ein einvernehmliches und
konfliktreiches
Miteinander
586
24.3 Generationenbeziehungen in der DDR 590
24.4 Alte Menschen im Familienroman 593
24.5 Altern in der DDR 609
24.6 Großeltern im 18./19. Jahrhundert 612
24.7 Großeltern im modernen Roman 617
25. Motive des “Verfalls“ und der Auflösung von Familien 627
in den Romanen 627
25.1 Nachlassende Vitalität physischer und psychischer Art 628
25.2 Ökonomisch-wirtschaftlicher Verfall 634
25.3 Verlust von „bürgerlichen Tugenden und Instinkten“ (Entbürgerlichung) 635
25.4 Fehlende Kommunikation und Individualisierung (versus Familiensinn) 644
25.5 Traumatisierung der Kriegsgeneration 649
25.6 Die veränderte soziale Praxis, mit geerbten Dingen umzugehen 663
27. Nachwort - Persönliche Anmerkungen 684
Literaturverzeichnis 686
Quellenangaben 725
1. Vorwort
„Familie“ und „Bürgerlichkeit“, das sind Begriffe, die untrennbar zusammengehören und wenn ein Friedrich Merz davon spricht, dass er „bürgerlich“ geworden ist, als sein erstes Kind geboren wurde, meint er im Grunde eine Kultur- und Lebensform, die ihre Grundlage im Bürgertum des 19. Jahrhunderts hat.
Wir, die wir in Familien aufgewachsen sind, wissen oft gar nicht, woher es rührt, dass wir bestimmte Werthaltungen gutheißen und andere ablehnen und warum wir, wenn wir selber Kinder erziehen, ihnen bestimmte Werte mit auf den Weg geben wollen.
In dieser Ausarbeitung geht es um die Fragestellung: Woher kommen die Werte, die unsere Eltern uns als Kind vermittelt, die wir dann als Werthaltungen verinnerlicht haben und diese als so bedeutsam ansehen, dass wir sie auch an unsere Kinder weitergeben. Als da wären u.a. der Leistungsgedanke und die Bedeutung von Bildung, einem qualifizierten Beruf, oder von Eigentum, um nur einige wenige zu nennen. Warum ist uns der Aufstiegsgedanke wichtig, der Wunsch nach Statussymbolen? Dazu habe ich die drei Romane „Buddenbrooks“ (Thomas Mann/ TM)), „Es geht uns gut“ (Arno Geiger/ AG)) und „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (Eugen Ruge/ ER)) analysiert. Das Schlüsselwort ist „Bürgerlichkeit“ - und was wir darunter zu verstehen haben, wird uns im Familienroman, dem bürgerlichen Genre schlechthin, vor Augen geführt. Die agierenden Familien in den von mir ausgewählten Romanen sind ein Spiegel ihrer Zeit und führen uns Familienleben mit all seinen Konflikten, die es zwischen Generationen geben kann, vor Augen und ähneln dem, was wir als Generation X und Y in unseren Herkunftsfamilien erlebt haben. Es wird verblüffend sein für den Leser, wenn er erkennt, wieviel von den Werthaltungen des Bürgertums aus dem 19. Jahrhundert er in seinen eigenen Wertvorstellungen wiederfinden wird!
Nicht zuletzt aus diesem Grunde sagte der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranitzki anlässlich des 50. Todestags von Thomas Mann im Jahre 2005, in Erinnerung an den Verfasser des Urmodells eines Familienromans, dass bis heute der Familienroman an Bedeutung und Aktualität in keineswegs verloren habe, sondern vom Urmodell „hinübergerettet und modernisiert“ wurde. Wie recht er hatte: Noch im gleichen Jahr wurde der Roman „Es geht uns gut“ von Arno Geiger veröffentlicht, eine österreichische Variante der Buddenbrooks [i] und mit dem Preis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Die Jury begründete bei der Vergabe des deutschen Buchpreises die Auszeichnung damit, dass er „Vergänglichkeit und Augenblick, Geschichtliches und Privates, Erinnern und Vergessen in eine überzeugende Balance“ bringe. Gleiches gilt für Eugen Ruges 2011 erschienenen Roman „Im Schatten des untergehenden Lichts“, auch dieser wird als ein DDR-Familienroman Buddenbrookscher Prägung bezeichnet und mit der gleichen Auszeichnung prämiert.
Als Gründe für die Popularität des Familienromans könnte man weiterhin anführen:
dass „die Gattung[Familienroman] dem Bedürfnis der Zeit als eine Art groß angelegte Zusammenfassung des vergangenen Jahrhunderts gerecht“ wird [ii] oder: die Popularität des Familienromans als „eine Reaktion auf die in den Pop-Romanen der 90er Jahre dargestellte Single-Existenz“ zu sehen ist. [iii]
Gerade weil die 1- bis 2-Kind-Familie heute verbreitet ist, das Zusammenleben homosexueller Paare zunimmt, die Scheidungsquote bei 30% liegt, in Großstädten wie Berlin 50% aller Haushalte 1-Personen-Haushalte sind und viele Familien vor der Auflösung stehen, werden umfangreiche Familien- und Generationen-Chroniken interessant. Gleichzeitig wächst damit das Interesse an der Geschichte der eigenen Familie, zu erkennen an der sich immer weiter verbreitenden Familien- bzw. Ahnenforschung.
Aber ist es vielleicht nicht auch so, dass wir, die wir in einer Zeit der Globalisierung leben, in der in vielen Lebensbereichen Orientierungslosigkeit und Anonymisierung herrschen, der Familie als kleine soziale Einheit wieder eine größere Relevanz zukommen lassen? „Familie bleibt etwas wie eine allgemeingesellschaftlich akzeptierte Sehnsucht nach Orientierung und umreißt den so genannten privaten Raum des Einzelnen.“ [iv] Die Frage nach der eigenen Vergangenheit beschäftigt Leser und weckt das Interesse am Familienroman. Die Renaissance dieses Genre erinnert uns daran, “…dass man den elementaren Strukturen Verwandtschaft genauso wenig entkommt wie dem Atemholen. Beides vollzieht sich, ganz egal, ob es gefällt oder nicht.“ [v]
Mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten gewann die Sehnsucht nach dem Erkunden der eigenen Herkunft an Bedeutung - Eugen Ruges Roman „Im Schatten des untergehenden Lichts“ ist ein Beispiel dafür. [vi]
Statt jedoch das Klischee von familiärer Eintracht und vom trauten Heim zu bedienen, erzählen die Romane von Krise, Zusammenbruch und Degeneration, doch ist es gerade das, was es uns Lesern möglich macht, sich mit der Handlung zu identifizieren, denn nicht selten hat man in seiner eigenen Familie Ähnliches erlebt. Literatur ist ein Fundus allgemeingültiger Erfahrungen, und besonders der Familienroman bietet dazu Identifikationsmöglichkeiten. Dies erkannten bereits die Leser vor hundert Jahren nach der Lektüre der Buddenbrooks. („…genau wie bei uns!…“)
Bis in unsere Zeit, in der Familienromane so beliebt sind, dass sie sogar renommierte Auszeichnungen erhalten, wird in den Laudatien immer wieder auf denBuddenbrooks-Roman als Klassiker des Genres verwiesen, der seit seinem Erscheinen 1901 eine erstaunliche Karriere gemacht hat. Schon damals nannte man ihn „zersetzend“[vii], bestätigt aber hat sich eher die Kritik von Samuel Lublinski im Berliner Tageblatt:
„Er [Der Roman] wird wachsen mit der Zeit und noch von vielen Generationen gelesen werden: eines jener Kunstwerke, die wirklich über den Tag und das Zeitalter erhaben sind, die nicht im Sturm mit sich fortreißen, aber mit sanfter Überredung allfällig und unwiderstehlich überwältigen.“ [viii]
Und so ist es: Jede Generation findet die ihr eigenen Bedeutungen und für sie Aktuelles und Bleibendes in diesem Meisterwerk, [ix] auch wenn 1901, als Thomas Mann seinen Roman herausgab, das Morbide und Dekadente, das Unbürgerliche größere Resonanz fand als das Familienthema, weil es eher den Nerv der Zeit traf. Der Roman war schon damals für den Leser ein Spiegel der gegenwärtigen Situation, in ihm erkannte er seine Gebrochenheit und Nervosität wieder [x] und fand beim Lesen Orientierungs- und Lebenshilfe.
Thomas Mann war ein „Seelenkenner nicht nur seiner selbst. Sondern auch ein Seelenkenner der Welt, die ihn umgab“ [xi] - und sein Roman gibt uns bis heute noch viele nachdenkenswerte Impulse.
Bei den von mir ausgesuchten modernen Familienromanen wird uns in Arno Geigers Roman eine neue Form der Familie und des Miteinanders zwischen den Generationen vor Augen geführt. In ihm verbirgt sich die Frage, welche Bedeutung Familie in einer zunehmend individualisierenden Gesellschaft heute noch hat und welche Ursachen es für ein verändertes Familienbild gibt.
Eugen Ruge verknüpft in seinem Roman biographische Elemente mit dem Leben in der DDR und will es so vor dem Vergessen retten: ein Roman über die individuellen Folgen historischer Zäsuren.
Literatur ist geschichtlich geworden, das zeigt sich in den Familienromanen. Ich werde den Klassiker mit den aktuell bedeutendsten deutschsprachigen Familienromanen linear und horizontal vergleichen und herausfinden, wie sich literarische Prozesse im Familienroman vollziehen und erklären lassen, warum bestimmte Thematiken und Haltungen dominant werden, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen und wie bestimmte Faktoren zwischen den Romanen interagieren.
2. Einleitung
„Ich möchte begreifen, was mich ergreift.“
Schwerpunkt meiner Arbeit ist es, bedeutende Familienromane auf ihre Bürgerlichkeit und ihre bürgerlichen Elemente hin zu untersuchen. Aus der Vielzahl der Romane habe ich die drei herausgegriffen, die mich innerlich am meisten zum Nachdenken über die Welt und des In-der-Welt-Seins anregten und halfen, zur Selbst- und Welterkenntnis zu gelangen, denn: „Nur das ist ein gutes Buch, das mich verändert.“
Die zur Untersuchung gewählten Roman-Beispiele entspringen meiner privaten Lektüre und repräsentieren gleichzeitig breite Strömungen des Publikumsgeschmacks (Verkaufszahlen, Preise, Auszeichnungen). Die Textauswahl bezieht sich auf ausgezeichnete, von der Literaturkritik hervorgehobene und prämierte Bücher, populäre Vertreter des Genres. Die thematischen Schwerpunkte der Analyse und Interpretation aber können auf jeden Familienroman angewandt werden, so dass der Leser eigene Lieblingsromane diesbezüglich einordnen kann.
Alle drei Romane thematisieren die Familien der Autoren und reflektieren dessen Vergangenheit in der eigenen Familie mit ihren Familienbeziehungen, und in allen Romanen sind die Familien in der horizontalen und vertikalen Ebene präsent. Es treten mehrere Personen einer Generation und mehrere Generationen auf, deren Informationswert, wie man sehen wird, unterschiedlich ist: die eine Person hat einen hohen Informationswert, die andere nur einen geringen.
Jeder Autor formuliert seine lebensgeschichtliche Chronologie und zeittypischegenerationstypische Ereignisse unter dem Gesichtspunkt, wassubjektiv von Bedeutung war, und konzipiert aus der Retroperspektive die eigene Lebensgeschichte und Entwicklung des biographischen Ichs. Von großer Bedeutung sind und waren für ihn stets das soziale Umfeld und die sozialen Bezüge, und da es männliche Autoren sind, zeigt sich in manchen Szenen auch eine maskuline Perspektive.
Meine Ausführungen basieren auf Romanen, in denen jeweils Drei-Generationen-Familien im Mittelpunkt stehen und in denen Großeltern, Kinder und Enkel die Repräsentanten historischer Generationen in deutschsprachigen Ländern sind.
Anhand einer komparativen Analyse unternehme ich den Versuch, lebensgeschichtliche Erfahrungen bürgerlicher und literarischer Familien und ihren Wandel im 19. und 20. Jahrhundert in Westdeutschland, Österreich und der DDR zu untersuchen und dabei Familienromane als Zeugnis bürgerlicher Elemente einem Vergleich zu unterziehen.
Es ist ein historischer, ein linearer und vertikaler Vergleich, den ich anstelle, und eine Komparatistik der besonderen Art: eine Gegenüberstellung deutschen Familienlebens im 19. Jh. und des österreichischen im 20. Jh. Bei Eugen Ruge findet sich schon aufgrund der Lokalisierung im östlichen Teil Deutschlands eine Abweichung in mancherlei Punkten (Erwerbs- Bildungsstruktur im Bürgertum, Mentalitäten, Kirchlichkeit/Religiosität…).
Meine Arbeit hat einen deskriptiven Charakter : Ich untersuche die Romane im Hinblick auf die dargestelltenFamilienmuster und deren Bürgerlichkeit und überprüfe das Familienideal des Bürgertums im 19. Jahrhundert auf den Grad der Realisierung in den Romanen anhand der Drei-Generationen-Familien und der dort innerfamilial erlebten Kindheit, Jugend und Erwachsenenzeit.
Thomas Manns Roman Buddenbrooks, Arno Geigers Es geht uns gut und Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichtsstellen literarische und gleichzeitig autobiographisch motivierte Texte dar. Wie wird aber Bürgerlichkeitin einem Roman Ende des 20. Jahrhunderts in Österreich und in einem Roman, der das Leben in der früheren DDR vermittelt, erfasst? Die Präsenz des Bürgerlichen zeigt sich in vielerlei Hinsicht und ist eine aufregende Entdeckerreise in die Territorien von Wohnung, Familienleben, Beruf, Bildung, Sozialisation und Kleidung des Bürgertums, um nur einige zu nennen.
Durch die Fokussierung auf die Kategorie des Bürgerlichen im österreichischen Roman und in Ruges DDR-Roman erfolgt eine Neuakzentuierung. Thomas Manns Roman Buddenbrooks ist ein „Stück Seelengeschichte des europäischen Bürgertums überhaupt“, so sagte Th. Mann selbst[xii]. Ich werde die literarische deutsche Bürgerfamilie des 19. Jahrhunderts mit der österreichischen Familie der Gegenwart und mit einer Familie aus der DDR vergleichen, deren Bürgerlichkeit bzw. Individualität erfassen und herausfinden, was ihnen gemeinsam ist bzw. was sie von einander abhebt. Wie wird bürgerliche Lebenswelt und -kultur aufgegriffen und dargestellt und wie und wo finden sich die Werte, Normen, Verhaltensweisen des Bürgertums und seine Praktiken in den Romanen? Wie unterscheiden sich die Sphäre des Privaten und der familiäre Schauplatz? Wie sieht es mit den geschlechtsspezifischen Unterschieden und der innerfamilialen Rollenstruktur aus? Ist die Familie zu allen Zeiten das Fundament und die Vermittlungsinstanz von Kultur und Werten? Wie sieht das Alltagsleben in der Familie aus? Ist der Stellenwert von Gehorsam und Autorität im Familienalltag jederzeit zu finden? Wie gestaltet sich die Verbindung von Arbeit/Beruf und Familienleben, welche bürgerlichen Distinktionen spielen eine Rolle?
Ich thematisiere die innerfamilialen Wandlungsprozesse und zeitgeschichtlichen Veränderungen in den familialen Rollen und die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Familie, d.h. ich gehe der Frage nach,wiedie Beziehung von Frauen und Männern im ehelich-familialen Lebenszusammenhang und wie die Ausgestaltung von Mutterschaft und Vaterschaft aussehen.
Der Wandel der Vater- und Mutterrolle ist ein zentrales Thema beim Vergleich der Romane, ebenfalls von großer Bedeutung: das Thema „Paarbeziehungen“, deren Wandel mit der veränderten Rolle der Frau nicht außer Acht gelassen werden darf.
In dem Zusammenhang stellt sich dann die Frage: Ist es ein „Defizit an Bürgerlichkeit“, wenn die Rolle der Frau als Hausfrau, Ehefrau und Mutter abgelehnt wird und sich stattdessen eine akademische Bildung und eine Erweiterung der beruflichen Zukunftsperspektiven für die Frau im literarisch modernen Familienbild findet?
Ich kontrastiere die Familien und die sozialen Rollen der Familienmitglieder miteinander, lasse den Autor sprechen und belege die Behauptungen mit Zitaten aus den Romanen.
Die Romane sind auf den ersten Blick sehr unterschiedlich: Es gibt drei Orte, zwei Epochen, über die letzten beiden Jahrhunderte verteilte Daten und auch eine Differenz in den Erscheinungsjahren der Romane von hundert Jahren. Wir lernen unterschiedliche Kulturen kennen und drei Romanfamilien: die Kaufmannsfamilie als eine Großfamilie einerseits, eine kleine österreichische bürgerliche Familie andererseits und eine Familie in der DDR, die zur Schicht der Intelligenz gehört.
Doch es sind Gemeinsamkeiten vorhanden: Die drei Romane gehören zum Genre der Familienromane, erzählen eine Familiengeschichte und verknüpfen diese mit historischen gesellschaftlichen Ereignissen. Da gibt es die Einsamkeit der Protagonisten: bei Thomas Buddenbrook, bei Philipp und bei Sascha, und da ist ein Schluss, der ein „Versickern der familiären Linie“ [xiii] nahelegt. In den Buddenbrooks spiegelt sich in dem Bild der übrig gebliebenen Frauen das Ende der Welt des Großbürgertums, der einsame Held bei Arno Geiger verlässt das Land seiner Familie und löst damit das Familienerbe auf, Sascha aus der DDR-Familie zieht in den Westen, verlässt seine Familie, um nach der Wende wieder bei dem an Demenz erkrankten Vater zu sein, dann aber reist er alleine nach Mittelamerika, um die Orte seiner Großmutter zu erleben.
Qualitative Studien zeigen die soziale Realität der Romane. Ich ergänze Interpretation und Inhaltsanalyse mit der Aufnahme von Daten aus der aktuellen Familienfoschung/ Forschungsliteratur, so dass die Wechselbeziehung vom sozialen und kulturellen System und den Romanfiguren, die die Normen und Sanktionen auf der Handlungsebene transformieren, verdeutlicht werden. Übereinstimmungen und Unterschiede bzw. Besonderheiten werden von mir interpretiert und verglichen und mit quantitativen Forschungsergebnissen zum spezifischen Thema in Zusammenhang gebracht, z.B. Heiratsalter, Scheidung, Generationenbeziehung, Wohn-, Arbeits- und Geselligkeitsformen und der Kontakt zwischen den Familiengenerationen.
3. Aufbau der Arbeit
„Beherrsche die Sache, dann folgen die Worte.“
(Marcus Porcius Cato)
Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht, wie o.g., die vergleichende Analyse der Familie und ihre Bürgerlichkeit in den von mir ausgewählten Familienromanen, in denen über Jahrhunderte hinweg unterschiedliche und gemeinsame Muster von Familie wiederkehren und je nach historischem Ort divergieren.
Überblickt man die existierende Sekundärliteratur zu diesem Thema, erkennt man, dass ihm viele Spezialuntersuchungen zu Teilbereichen gewidmet sind. Ich möchte das Phänomen der bürgerlichen Distinktionen in den beispielhaften Roman-Familien im 19. und 20. Jahrhundert an sich in den Mittelpunkt rücken.
Die Arbeit besteht aus theoretischen Teilen, in denen es um Begriffserklärungen, Historie des Bürgertums und Aspekte der Bürgerlichkeit geht und den textpraktischen Teilenmit dem zugrunde gelegten Textkorpus der Romanwerke. Diese werden hinsichtlich der thematischen Aspekte interpretiert und plausibilisiert. Auftretende Wiederholungen sind ein uneleganter Nebeneffekt, zeigen aber stets den übergeordneten Gedanken in den untersuchten Teilbereichen des Phänomens „Bürgertum und Familie“.
In meiner Arbeit setze ich mich mit der Fragestellung auseinander, wie der soziale und historische Wandel individuelle Lebensverläufe und Strukturen, sozio-ökonomische Lebensbedingungen, tradierte Einstellungen, individuelle Lebensorientierungen, das Beziehungsverhalten von Menschen, Geschlechterrollen, -verhältnisse und -beziehungen, den Kontext des familialen Geschehens und die Erwerbsarbeit veränderte.
Die vergleichende Gegenüberstellung der Werke macht erkennbar, wie der Wandel der Lebensbedingungen aufgrund der notwendigen Anpassungsprozesse im Verhalten auch eine Veränderung von Werten, Einstellungen und eine andere alltägliche Lebensführung mit sich brachte.
In diesem Zusammenhang kann zeitgenössische und auch ältere Literatur, auch wenn Fiktion nie faktentreu ist, sondern die Realität der jeweils zeitgenössischen Gesellschaft verfremdet, über die Grenzen des Faches der Literaturwissenschaft hinaus Bezüge und Diskurse öffnen und Erkenntnisse aus Psychologie und Soziologie mit einbeziehen und literarische Motive interdisziplinär betrachten, z.B. werden von mir Ergebnissevon soziologischen und historischen Forschungen über die Geschichte der Familie in Deutschland Entsprechungen in den Familienbildern der Romane gegenübergestellt und dabei die familiäre Situation und die Eltern-Kind-Beziehung in Vergangenheit und Gegenwart beleuchtet.
Meine Vorgehensweise ist folgendermaßen:
In einem ersten Schritt wird es um das Genre des Familien- bzw. Generationenromans gehen und die darin auftretenden Generationen.
Damit eng verbunden sind die Autorenbiographien, die sich in den Inhalten der Romane wiederfinden. Erzählstruktur und Sprache werden in aller Kürze, da in zahlreichen Publikationen bereits erläutert, gestreift.
Im dann folgenden Teil werden von mir Ähnlichkeiten und Unterschiede in der temporalen zeitgeschichtlichen Situierung der Romane im historisch-gesellschaftlichen und stadträumlichen Kontext dargelegt. Ein Augenmerk lege ich auf das Haus als Symbolik bürgerlicher Wohnstätte.
Nach der Vorstellung der Romane und ihrer Autoren referiere ich die Bestimmung der Begriffe ‚Bürger‘, ‚Bürgertum‘ und ‚bürgerliche Gesellschaft‘ und ihre Qualifikationskriterien.
Der darauf folgende Teil stellt das Bürgertum in Geschichte und Gegenwart vor, während danach dessen gesellschaftlich-historische Phänomene in den Romanen untersucht und mit Zitaten belegt werden.
Das Herzstück meiner Arbeit bildet die Darstellung der Sphären bürgerlicher Kultur und Lebenswelt. Ich informiere u.a. über das bürgerliche Selbstverständnis, die Selbstdarstellung, Politik, den Einfluss von Kirche und Religion und über die dem Bürgertum eigene Form der Kommunikation.
Ein Schwerpunkt liegt auf dem Vergleich von Ehe und den Beziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau, gefragt wird nach Heiratskreisen, Wahl der Ehepartner und der Bedeutung der Scheidung früher und heute.
In einem weiteren Schritt beschäftige ich mich mit der Frage, wie die Romane die Familie mit ihren unterschiedlichen Vorstellungswelten als Ort der Erziehung und als Vermittlungsinstanz in den Blick rücken und durch das Erzählen ein Ensemble von Familie in einer entfernteren und gegenwärtigeren Epoche widerspiegeln. Die ausgewählten Romane greifen Aspekte der Erziehung und Beziehung auf und skizzieren Familienleben, zum Teil mit vergleichbaren Konstellationen, wie z.B. die Großelternfamilien, Erziehungsstile, Beziehungen, bürgerliche Distinktionen etc., aber auch Varianten und Differenzen im innerfamilialen Leben. Diese Vergleichsanalyse wird zeigen, wie sehr Familienbilder im historischen und soziokulturellen Kontext verankert sind.
Danach stelle ich ausführlich die Inhalte bürgerlicher Kindererziehung vor und gehe der Frage nach, welche Stellung Töchter und Söhne hatten/haben und wie die Geschlechterrollen sich in den Romanen darstellen. Die Veränderungen moderner Geschlechterverhältnisse durch die Erziehungs- und Bildungskonzepte für Jungen und Mädchen werden von mir besonders in den Blick genommen.
Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich mit den Generationenbeziehungen im Roman. Ich lege die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der alten Menschen in der Familie, insbesondere auf die Großeltern, die ihre Rollen im Roman unterschiedlich ausfüllen.
Schließlich greife ich den Begriff des „Verfalls“ auf, der immer wieder im Zusammenhang mit Familienromanen genannt wird. Ich bezeichne es lieber als „Auflösung“ der Familien und werde versuchen, Ursachen dafür zu finden. Neu wird der transgenerationale Aspekt traumatischer Kriegserlebnisse sein, der sich auf Arno Geigers Roman bezieht und den Bereich der Epigenese streift.
Nun zur Sprache: Mein Buch soll nicht den Berg ungelesener geisteswissenschaftlicher Fachliteratur weiter wachsen lassen, nein, es zielt auf ein breiteres, am Thema interessiertes Publikum. Da stellte sich mir die Frage, wie ich den Spagat zwischen einem wissenschaftlichen und dem populärwissenschaftlichen Schreibstil lösen sollte. Ich entschied mich dafür, nach mehrmaligem Korrekturlesen, statt der wissenschaftlichen Termini, Begriffe aus der Alltagssprache zu wählen, die den LeserInnen bekannt sind und die für mich inhaltlich Dasselbe aussagten. Ein wiederkehrendes Element ist hierbei eine klare Sprache, ohne Schachtelsätze, oftmals reiht sich ein Hauptsatz an den anderen ohne ausgefeilte Formulierungen, ein Stil jenseits üblicher germanistischer Gepflogenheiten, aber so möchte ich die Sachverhalte in wenigen verständlichen Worten greifbar machen.
4. Das Genre: Familienroman/Generationenroman
Es ist das Schicksal jeder Generation, in einer Welt unter Bedingungen leben zu müssen, die sie nicht geschaffen hat.
(John F. Kennedy)
Das Merkmal aller Familienromane ist es, dieGeschichte einer Familie zu erzählen. Sie bildet das Gerüst des Romans und die Grundlage für Ereignisse und Themen.
Nicht nur Arno Geiger ist der Ansicht, dass alle im Privaten angesiedelten Romane Familienromane sind. [xiv] „Alle Romane setzen eine Gattungstradition des romanesken Familienepos fort, die fortan zugleich einen schmalen Grat zwischen Modernismus, populärer Unterhaltungsliteratur und dokumentarischer Fiktion beschreibt.“ [xv]
Gero von Wildert definiert den Familienroman wie folgt: „Ein stofflich im Problemkreis des bürgerlichen oder adligen Familienlebens, den Konflikten und Bindungen des Zusammenlebens, im weiteren Sinne auch noch der Generationen und der Ehe angesiedelter Roman (…) meist spielen beim anspruchsvollen Familienroman umgreifende und allgemein soziale Fragen hinein.“ [xvi]
Familienromane wurden in der Vergangenheit oftmals als Frauendichtung, als altmodisch-realistisch oder weiblich-sentimental deklassiert [xvii] “…wie so vieles wurde nicht selten das, was akademischen Lesern als zu affektbesetzt erscheint, als ‚weiblich‘ diffamiert. Durch diesen normativen Zugriff sind kontinuierliche Formen des gefühlsintensiven Lesens wie auch dessen Sujets und Gattungen abqualifiziert worden.“ [xviii] Sicherlich bietet ein Familienroman Möglichkeiten emotionaler Befriedigung, aber es lassen sich, so werden wir sehen, auch durchaus reflektierte Schlussfolgerungen aus ihm ziehen.
Mit den Familienromanen von Thomas Mann und der Forsyth Saga wurde diese Gattung so populär, dass sie bis heute ein erfolgreiches und populäres literarisches Genre ist. Es entfaltet eine besondere Wirkung beim Leser, weil in ihm stets ein Stück Wirklichkeit und menschlichen Daseins enthalten ist, es typische und repräsentative Züge von uns Menschen herausarbeitet und an Erfahrungen, Gewohnheiten, Wünschen und Wertvorstellungen anknüpft - auf diese Art finden wir als Leser uns in den Figuren und Handlungen wieder. [xix]
Bereits im 19. Jahrhundert produzierte man Unterhaltungsliteratur für den Geschmack des bürgerlichen Lesepublikums und es waren Realisten, Naturalisten und Thomas Mann als ein Autor der ästhetischen Moderne[xx], die auf besonders großes Interesse stießen. Speziell der Familienroman galt (gilt) als ein Ausdruck bürgerlichen Schreibens.In ihm zeigt sich eine Fokussierung auf den privaten Bereich und bürgerliche Individualität spiegelt sich in der Ausformulierung des bürgerlichen Wertekanons und in der ihm eigenen Sprachkultur wider.
Im Familienroman besteht immer ein enger Zusammenhang zwischen Familienleben und Historik, oder genauer gesagt: Die Familie wird zu einem Modell historischerKontinuität.Der Romancier bereitet ein historisch entferntes Geschehen für den zeitgenössischen Leser didaktisch auf [xxi] und reflektiert Probleme und Fragen der jeweiligen Zeit im privaten Raum der Familie, so dass eine Geschichte/Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins entsteht und der Eindruck vermittelt wird, dass menschliches Dasein „grundsätzlich von gesellschaftlichen Umständen und zeitgeschichtlichen Ereignissen geprägt ist.“ [xxii] Solche Romane können ein Dokument einer Gesellschaft und eines Zeitalters sein und somit Leben bewahren. [xxiii]
In der zeitgeschichtlichen Verankerung werden exemplarische Situationen und Themen der Zeit im Denken und Verhalten, in Moden und Beziehungsverhältnissen in der figuralen Umsetzung geschildert und reflektiert verankert. [xxiv] Die Familie ist folglich der Ort, an dem eine erfahrungsgelenkte Geschichtsschreibung wahrgenommen wird. [xxv]
Auch wenn Familienromane Modelle historischen Erzählens sind, sind es weniger gesellschaftliche Großereignisse oder politische Einschnitte, die in die alltägliche Lebensführung hineinreichen, stattdessen geht der Autor mit historischem Wissen „unscharf“ um[xxvi]: historische Geschichte erscheint „intimisiert“, auf das eigene oder familiäre Erleben beschränkt und auf die Generationengeschichte übertragen.
Wir erwarten vom Familienroman aber auch gar nicht, wie wir es von Texten der Historiker tun, dass historische Ereignisse objektiv beschrieben werden, wichtiger ist, wie das historische Panorama in die fiktionale Geschichte integriert wird und wie unterschiedliche soziale und generationelle Meinungen und Lebensformen zu Wort kommen. Geschichte wird nur ausschnitthaft wiedergegeben und dabei wird stets auf Wissensbestände des Lesers zurückgegriffen. [xxvii] Der Autor gestaltet das Verhältnis von Fiktion und historischer Dokumentation, indem erRecherchen und Dokumente vermischt, so wie z.B. Arno Geiger, dem die Vertrautheit der Geschichte bzgl. des persönlich Erlebten wichtiger war als das Suchen nach der historisch getreuen Wiedergabe - diese Möglichkeit bietet eben nur die Fiktion und nicht die wissenschaftlich-historische Art des Erzählens. [xxviii]
Familien werden im Roman zu soziokulturell geprägten Orten, wo gesellschaftliche Werte und die dazugehörigen Verhaltensnormen vermittelt werden und entsprechen der jeweiligen Zeit.Im 19. Jahrhundert im Roman von Thomas Mann zeigt sich z.B. die damalige hierarchisierte Welt, deren Mitglieder Rollen und Aufgaben ebenso übernahmen wie Verbindlichkeiten und Verpflichtungen.
Form und Thema des zeitgenössischen deutschen Familienromans sind geprägt von einer zeitlichen, epochen- und generationsüberbrückenden Dynamik[xxix], er „erzählt […] immer auch Varianten des Freudschen Familienromans, bei dem es bekanntlich um die Verhandlung archaischer Erbschaften und die Bearbeitung kindlicher Enttäuschungen geht.“ [xxx]
Mit der Verknüpfung von Biographischem und Historie, von Fakten und Fiktion, Erfindung und Authentizität konstruiert der Autor Geschichte neu - mit dem Wunsch nach neuen Aspekten der historischen Wahrheit. „Erinnerungen bedürfen […| eines Quantums Fiktion, um sie wirkungsvoll zu inszenieren..“ [xxxi] Dem Leser erschließt sich die Vergangenheit, indem die kleine Geschichte auf die große Geschichte übertragen und ihm mit der Verbindung von familiärer und geschichtlicher Thematik eine Überschaubarkeit des „großen Ganzen“ gegeben wird.
Eine besondere Wirklichkeitsnähe vermitteln die Romane durch ihre dem Leser bekannten Schauplätze und die Einbeziehung belegter Vorgänge und Personen eines bestimmten Zeitabschnitts. Hierbei zeigt sich das Hauptprinzip des Genres: „das Erzählen entlang einer Generationenfolge, die Auslegung des familiären Mikrokosmos als Fallbeispiel historischer Zeitgeschichte.“ [xxxii]
Die Begriffe Familien- bzw. Generationenromanwerden im engen Zusammenhang oft synonym gebraucht, da generationale Konzepte dazu dienen, den Wandel im Umgang mit der Vergangenheit“ zu kommentieren, zu erklären und zu bewerten und mit den Erinnerungen des Individuums die Geschichtsschreibung zu ergänzen. „Das Konzept der Generation hilft hier in der Form literarischer Narrative eine komplexe, postmoderne Gegenwart, in der Fragen von historischer Wahrheit und Zeitzeugenschaft problematisch geworden sind, zu erklären.“ [xxxiii]
Die Kontinuität in der Abfolge der Generationen sichert die Unsterblichkeit und versinnbildlicht Wiederkehr und Dauerhaftigkeit in der Familie. [xxxiv] Das Metzler Lexikon Literatur spricht von der „Generationenproblematik“ des Familienromans. [xxxv]
Generationenromane umfassen wie die vorliegenden Familienromane eine „mehrere Generationen umfassende Handlung“ [xxxvi] mit der zentralen Dimension des Erinnerns. Man kann hier von „Erinnerungstexten“ sprechen, wohingegen der Familienroman die persönliche Identität und die Familiengeschichte verknüpft und „der historische Rahmen von prägender Bedeutung ist und einer speziellen Aufarbeitung bedarf, die durch Erinnerungsarbeit vollzogen wird.“ [xxxvii]
In den Familienromanen finden sich mindestens drei Generationen: So erzählt Thomas Manns Roman von einer Reihe von Generationen der Familie Buddenbrook auf dem Hintergrund des Zeitraums von 42 Jahren.
Stets gibt es im Mikrokosmos der Familie die Abfolge von erziehenden und erzogenen Generationen: Die Eltern geben die kulturellen Muster einer Gesellschaft und das Familienkapitel, d.h. die psychosozialen Ressourcen an die nachgeborenen Kinder weiter. Um die vorhergehenden Generationen nicht lediglich als „Zuträger“ der Enkelgenerationen mit einer weniger wichtigen Vergangenheit zu sehen oder einer „Mythisierung“ der Großelterngeneration Vorschub zu leisten, wählt Arno Geiger einen Kunstgriff:
„Letzten Endes war es das Nachdenken über den Familienroman, das mich veranlasst hat, die Zeitebene aufzubrechen und im Präsens zu schreiben.“ [xxxviii]
In Arno Geigers Roman erzählt jede Generation, seien es Großeltern-, Eltern- oder Kindergeneration, einen Zeitabschnitt aus ihrer Perspektive, die Großelterngeneration über die 30er Jahre, die Elterngeneration über die 40er und 50er und 70er Jahre, Philipp über das Jahr 2001.
Im DDR-Roman von Eugen Ruge wiederum finden sich Erlebnisse der Aufbaugeneration, der in der DDR sozialisierten Generation und der Wende-Generation.
Diese modernen Familienromane orientieren sich zunächst auf eine Generation der Zeitzeugen des Nationalsozialismus’ mit oftmals traumatischen Erfahrungen von Kriegs- und Fluchterlebnissen. Diese bleiben wegen der Sprachlosigkeit zwischen den Generationen unausgesprochen. Geigers Erzählung der Kriegserlebnisse ist als Dokument einer Erfahrungs- und Erlebniswelt der Kriegsgeneration anzusehen, in dem das Unausgesprochene mit der Phantasie des Autors neu imaginiert wird.
Auf diese Kriegsgeneration folgt die Generation der ‚Kriegskinder‘, die späten 68er, die sich in ihren Wert- und Welthaltungen von ihren Eltern unterscheidet, gefolgt von der ‚Enkelgeneration‘, den Kindern der 68er Generation, mit der Erfahrung des wiedervereinigten Deutschlands. [xxxix]
Geigers und Ruges Romane zeigen, wie verschieden das kulturelle Erbe und die Verhaltensdispositonen der Generationen zwischen West und Ost sind: Generationen der 50er Jahre haben, je nachdem, ob sie in West oder Ost groß wurden, ein ganz unterschiedliches Weltbild, gleiches gilt für die Generationen, die die Erfahrung des NS-Regimes machten, sie erleben unter dem Einfluss des offiziellen Antifaschismus in der DDR eine andere weltanschauliche Sozialisation. Dies ist, so werden wir im folgenden Kapitel sehen, der Biographie der Autoren geschuldet.
5. Autoren-Biographisches in den Romanen
„Wir können unser Leben nur verstehen, indem wir zurückschauen, aber wir können es nur leben, indem wir vorwärtsblicken.“
(Soren Kierkegaard)
Einen Familienroman zu schreiben ist für den Schriftsteller Teil seiner Erinnerungsliteratur und „die Fokussierung auf ein fiktives oder autobiographisches Ich, das sich seiner/ihrer Identität gegenüber der eigenen Familie und der […] Geschichte vergewissert“. [xl] Es geht ihm „um die Integration des eigenen Ichs in einem Familienzusammenhang, der andere Familienmitglieder und Generationen mit einschließt.“ [xli]
Solch eine Literatur gibt Raum „für die Erkundung der zum Teil ungewollten Zusammenhänge zwischen persönlicher Identität und familialen Geschichten von Schuld und Leiden [Kriegstrauma]“. [xlii] Geiger schreibt seinen modernen Familienroman explizit aus diesem Grund, denn: „Familie ist Stoff, über den die meisten Autoren Bescheid wissen, aus eigener, oft blutiger Erfahrung. Und dasselbe gilt für die Leser, die vergleichen und ihre eigenen Erfahrungen hineinlesen können“. [xliii]
Menschen in „Literaturdeutschland“, d.h. in Familienromanen, weisen Ähnlichkeiten mit dem Leben der Schriftsteller auf, verdienen zwischen 1800 und etwa 10 000 Euro brutto im Monat, haben Stress mit der Familie, der Liebe und ihren Gefühlen und sind gern allein und auf Reisen. [xliv]
Wenn wir den empirischen Autor als die Instanz der Erzählung hinzuziehen, erkennen wir, wie sich Fiktion und Autobiographisches/Reales verweben und deutliche Parallelen zu seiner Vita entstehen: Protagonisten und Bedingungen, die vergangene Geschichte der Familie und die Geographie kommen aus dem autobiographischen Reservoir, der Plot ist erfunden. [xlv]
Familienromane werden zur Erinnerungsliteratur und zur literarisierten Autobiographie und man kann fast behaupten, diese Autoren befänden sich auf der „Couch einer narrativen Selbsttherapie, um ihre Vergangenheiten im selbstkreierten ‚Behandlungszimmer‘ der Familienerzählung zu vergessen.“ [xlvi] O-Ton unserer Autoren dazu:
„Natürlich bildet die eigene Biographie und die Familie den Hintergrund für das Schreiben eines Autors.“ [xlvii]
„Wenn jemand einen Familienroman schreibt, wird es selbstverständlich auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Erfahrung. Auch, weil es immer gut ist, wenn man über das schreibt, wovon man etwas versteht.“ [xlviii]
Spiegelt sich bei Buddenbrooks das Schicksal der Gesellschaft und des Bürgertums im Niedergang einer Familie, finden sich in den neuen Familienromanen nicht mehr solche repräsentativen, sondern eher exemplarische Geschichten: Eugen Ruge privatisiert z.B. die deutsche Geschichte so, dass der Leser neben der offiziellen Geschichtspolitik „private Zugänge zur deutschen Geschichte gewinnt“. [xlix]
Oftmals regt der Tod eines Familienmitglieds den Schriftsteller an, Erinnerungen in narrativ autobiographisch geprägten Texten zu verfassen, „aber auch Bindungsenergien auf dem Feld der Literatur und ihrer Protagonisten experimentell zirkulieren zu lassen mit dem Ziel, Möglichkeiten und Grenzen von Identitätsentwürfen, die aus der Abhängigkeit von Familie oder anderen starken Bindungen entstehen, zu ergründen; freilich ohne damit den Anspruch zu erheben, ein normatives Konzept familiengebundener Identität zu etablieren.“ [l] Veränderungsprozesse in Beziehungen setzen dann eine Neuperspektivierung der eigenen Biographie in Gang[li], und mit Niederschrift der Romane erfolgt der Versuch einer Vergegenwärtigung der eigenen Familiengeschichte.
Die Autoren greifenauf Dokumente der Erinnerung zurück, wie Fotos, Tagebücher etc. und versuchen mit Hilfe der Protagonisten ihren Gefühlen wie Wut, Schmerz und Einfühlung Ausdruck zu geben: „Die literarischen Texte inszenieren an dieser Schwelle einen fingierten Dialog, der einen Reflexionsraum eröffnen soll für Trauerarbeit, die Ablösung und den Identitätsbildungsprozess des Sohnes und der Tochter im innerfamiliären, genealogischen Generationsgefüge.“[lii].
Bei unseren Autoren treffen die o.g. Gründe für die Abfassung der Romane sowohl auf Thomas Mann als auch auf Arno Geiger und Eugen Ruge zu. Sie schrieben ihre Romane nach der Auflösung ihrer Familie: der Vater von Thomas Mann war verstorben, die Eltern von Arno Geiger hatten sich scheiden lassen, Ruges Eltern waren tot und sein Heimatland hatte sich als politischer Staat aufgelöst und der Bundesrepublik angeschlossen.
Im Folgenden nun die konkreten autobiographischen Bezüge zwischen dem Autor und seinem Roman.
5.1 Autobiographisches im Roman „Buddenbrooks“ von Thomas Mann
Um zu verstehen, welche autobiographischen Details im Roman Buddenbrooks vom Autor Thomas Mann selbst zu finden sind, zunächst eine kurze Inhaltsangabe des Romans, auch wenn der Aufstieg und Verfall der Roman-Familie hinlänglich bekannt sein dürfte:
Das Buch Buddenbrooks– Der Verfall einer Familiehandelt von der Lübecker Kaufmannsfamilie Buddenbrook und deren langsamen Niedergang. Zu Beginn des Romans, wir schreiben das Jahr 1835, erwirbt diese Familie ein neues prachtvolles Haus. Johann Buddenbrook führt gemeinsam mit seinem Sohn Konsul Jean Buddenbrook ein florierendes Geschäft.
Nach dem Tod des alten Buddenbrook übernimmt Jean das Familienunternehmen. Von den drei Kindern Thomas, Christian und (Antonie)Tony wird Thomas 1855 sein Nachfolger. Der Bruder Christian, ein exzentrischer und hypochondrischer Mensch, verkehrt in Theater- und Schauspielkreisen und verbringt seine Zeit in Clubs. Als er in späteren Jahren selbst in der Firma tätig ist, kommt es zum Streit mit seinem Bruder Thomas, so dass dieser ihn auszahlt und Christian nach Hamburg zieht.
Die Schwester Tony verliebt sich während eines Urlaubs in Travemünde in den angehenden Arzt Morten Schwarzkopf, heiratet jedoch aus Pflichtbewusstsein ihrer Familie gegenüber den Hamburger Geschäftsmann Grünlich, der, so stellt sich heraus, bankrott ist und sie lediglich der Mitgift wegen geheiratet hat. Die Ehe wird geschieden und Tony kehrt in ihr Elternhaus nach Lübeck zurück. Ihre zweite Ehe mit dem Münchener Alois Permaneder scheitert ebenfalls.
Thomas Buddenbrook heiratet die aus reichem Hause stammende Gerda Arnoldsen aus Amsterdam, eine musisch-künstlerische Frau. Gemeinsam haben sie einen Sohn: Hanno, der von Geburt an kränklich und von schwacher Konstitution ist, und sich, wie seine Mutter der Kunst widmet.
Unter der Leitung von Thomas Buddenbrook floriert die Firma. Thomas wird zum Senator der Stadt ernannt und bezieht ein neues repräsentatives Haus. Doch Erschöpfung und nervliche Schwäche zehren an ihm, er stirbt nach einem Zahnarztbesuch 1875. Die Firma wird aufgelöst. Der einzige männliche Nachkomme Hanno verliert sich im Klavierspiel und in Träumereien, ist der Schule nicht gewachsen und stirbt mit sechzehn Jahren an Typhus. Seine Mutter Gerda zieht zurück nach Amsterdam und Tony Buddenbrook bleibt mit ihrer Tochter Erika allein in Lübeck zurück.
Auch wenn Thomas Mann seinen Roman nicht als Schlüsselroman bezeichnete und sich gegen in Lübeck kursierendeListen verwahrte, war seine eigene Familie mit ihren Figuren und Konflikten doch Vorbild für diesen Roman. Eigenschaften und Merkmale von Personen wurden auf die Romangestalten übertragen und „von Jugenderinnerung lebt der ganze Roman, der unter meinen Büchern zu Lübeck die unmittelbarste stoffliche Beziehung besitzt. [liii] Mit diesem Roman setzte sich der Autor mit der eigenen Herkunft und der Heimatstadt Lübeck,zu ihr entwickelte Thomas Mann eine Hassliebe, auseinander - auch wenn der Name der Stadt Lübeck nirgendwo im Buddenbrooks-Roman auftaucht. Eine „phantastische Aufladung der Wirklichkeit“ verändert die reale Wirklichkeit Lübecks und die literarischen Figuren, hier wird das Vorbild zum Abbild: Personen werden benutzt zur Darstellung eines Problems, „das ihr vielleicht fremd ist, und Situationen, Handlungen ergeben sich, die dem Urbild wahrscheinlich völlig ferne liegen.“ [liv]
Die Reaktion der Lübecker war alles andere als positiv. Man warf Thomas Mann vor, seine Landsleute und Lübecker Bürger in seinem Roman verunglimpft zu haben, was ihn wiederum veranlasste, sich in der Schrift „Bilse und ich“ zu verteidigen: Die „Beseelung“, „die Durchdringung und Erfüllung des Stoffes mit dem, was des Dichters ist“ , so schrieb er, war für ihn der Zweck der Darstellung gewesen. [lv]
Die Biografie von Thomas Mann spiegelt die Ähnlichkeiten mit dem Roman wieder:
Schon der Urgroßvater Johann Siegmund betrieb von 1790 bis 1848 ein erfolgreiches Kaufmannsgeschäft (Getreidefirma) in Lübeck, eine Heirat vergrößerte den Besitz und die Reputation der Familie, der Sohn Johann Siegmund d. J. erweiterte den Firmenbesitz durch eine zweite Heirat, nachdem die erste Frau gestorben war. Johann Siegmund d .Ä., der Großvater von Thomas Mann, stieg bis zum Senator auf und lebte mit seiner Familie in dem prächtigen Stadthaus in der Mengstraße.
Der Vater von Thomas Mann, Thomas Johann Heinrich Mann, übernahm, nachdem sein Vater plötzlich zur Zeit der Revolutionsunruhen an einem Schlaganfall starb, 1863 im Alter von 23 Jahren die Getreidefirma. Schon nach kurzer Zeit erhielt Thomas Johann Heinrich Mann den Titel des Konsuls, später den des Senators und war damit nach dem Bürgermeister der mächtigste Mann der Stadt. Er galt „als sehr vornehmer Mann. Manche fanden ihn gar ein wenig eitel, mit seinen englischen Anzügen, seinen russischen Zigaretten, seinem herben Parfum und dem goldenen Kneifer….Auch dass er französische Romane - Zola! - las, war für einen lübischen Kaufmann durchaus ungewöhnlich.“ [lvi]
Ein solcher Mann der Extravaganz, Thomas Buddenbrook nicht unähnlich, heiratete eine besondere, eine exotische Frau: Julia da Silva-Bruhns: Sie kam in Brasilien zur Welt, ihr Vater aus Lübeck stammend, hatte dort eine Exportfirma gegründet und die Tochter seines Nachbarn Don Manoel Caetano da Silva geheiratet. Als Julias Mutter starb, zog ihr Vater zurück nach Lübeck, wo Julia, von der Lübecker Gesellschaft mit Vorurteilen behaftet und wenig angesehen, zurecht kommen musste. Th. J. Heinrich Mann und Julia da Silva Bruhns zogen von der Mengstraße in ein neu erworbenes Haus in der Beckergrube, in der Nähe des bisherigen Hauses. Julia führte die Kinder an die Musik und die Literatur heran, und verließ die Stadt nach dem Tode des Ehemannes - die Ähnlichkeiten mit Gerda Buddenbrook sind offensichtlich. Gerda Buddenbrook, ihr Pendant im Roman, wohnte, als sie sich mit Thomas liierte, mit ihrem Vater in Amsterdam. Ihre äußere Erscheinung mit dem roten Haar, der blassen Haut, ihre Vorliebe zur Musik, das Geigenspiel, all das unterschied sie von den eingesessenen Kaufleuten und wurde von der Lübecker Gesellschaft kritisch beäugt. „Julia schien wie konserviert in ihrer repräsentativen Kühle. Ihrem Mann gelang die Konservierung weniger gut…Thomas Mann hat diese sonderbare Ehe kühler Vertrautheit in der Beschreibung der Ehe von Thomas und Gerda in den „Buddenbrooks“ verewigt.“ [lvii]
Thomas Manns Beziehung zu seiner Mutter war sehr eng. Ihr künstlerisches Wesen beeindruckte und beeinflusste ihn. Vermittelte der Vater eher das praktische geschäftliche Wissen, hatte sie stets den Wunsch, in Thomas einen erfolgreichen Künstler zu sehen. [lviii]
1871 kam bei den Manns das erste Kind Luis Heinrich zur Welt, es folgten 1875 der zweite Sohn Paul Thomas (Tommy mit Rufnamen), Julia, Carla, die beiden Töchter, und als letzter der Sohn Viktor.
1883 bezog man ein noch prächtigeres Haus in der Fischergrube. Senator Mann hatte ein altes Giebelhaus gekauft, es abreißen und ein modernes Stadtpalais im Stil der niederländischen Neurenaissance bauen lassen, entworfen vom Berliner Architekten Julius Grube. Es war ein Haus geselligen Lebens, mit einem Tanzsaal und einem geräumigen Kontor für die Arbeit als Kaufmann, Reeder und Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzenden und das Haus der Kindheit und Jugend von Thomas Mann. Die Familie führte ein offenes Haus und gab Gesellschaften, bei denen Julia Mann Klavier spielte und mit ihrer südlichen Erscheinung dem anwesenden Publikum ins Auge stach.
Ein biographischer Bezug ist der Verkauf des Hauses in der Beckergrube bzw. des Stadtpalais von Thomas Manns Vater durch den in Lübeck bekannten Testamentsvollstrecker Krafft Tesdorpf, im Roman Stephan Kistenmaker, an ihm nahm Thomas Mann auf diese Art Rache. Der Verkaufserlös erschien der Witwe Julia Mann da Silva-Bruhns zu gering, ein späterer überhasteter Verkauf war dann verlustreich. [lix]
„Die Kinder des Senators lernten die Gesellschaft von oben herab kennen.“ [lx] Ihnen wurde aufgrund ihrer bedeutenden Herkunft von Seiten der Bewohner Respekt entgegen gebracht und dass ihr Umgang stimmte und sie nur zu besten Kreisen Kontakt pflegten, darauf achtete ihr Kindermädchen, dem die Erziehung oblag, ähnlich Ida Jungmann bei den Buddenbrooks. Die Söhne sollten Abitur machen und studieren bzw. die Firma weiterführen, so waren die Ansprüche des Vaters. Thomas besuchte nach der Privatschule 1889 zwar das Gymnasium „Katharineum“, schaffte die Versetzungen jedoch zweimal gar nicht und sonst nur mit Mühe. Seine Misserfolge und sein Schulversagen als Senatorensohn galten in Lübeck als ein Skandal, die Romanfigur Hanno Buddenbrook erlebt die Schulzeit ebenso freud- und erfolglos.
Im Mai 1890 wurde das hundertjährige Jubiläum der Firma Mann gefeiert, zu dem Thomas Mann schreibt: „Ich war ein Knabe und passiver Zuschauer… Ich sah den Reigen der Gratulanten, der Deputationen, mit furchtsamer Zärtlichkeit den geliebten Mann des Tages, meinen Vater, weltgewandt ein Jahrhundert bürgerlicher Tüchtigkeit repräsentieren, und mein Herz war beklommen.“ [lxi] Er fühlte, dass weder er noch sein Bruder den Erwartungen und Hoffnungen des Vaters auf Weiterführung der Firma gerecht werden konnten, und weil dies auch der Vater erkannte, ordnete er zeitlebens bereits testamentarisch die Liquidierung der Firma nach seinem Tod an. Auch das wurde im Roman verarbeitet: Die 150 Jahr-Feier der Firma Buddenbrook ist eine Wende in der Erfolgsgeschichte des Geschäfts, Thomas Buddenbrook sieht in seinen Sohn Hanno keinen geeigneten Nachfolger und bestimmt im Falle des Todes die Liquidation der Firma.
Als der Vater 1891 starb, Thomas war gerade 16 Jahre alt (und beim Sterben und Tod des Vaters anwesend), verlor sich das Ansehen der Familie. Die Witwe verkaufte die beiden Häuser und zog mit ihren Kindern nach München, Gerda Buddenbrook zieht mit ihrem Sohn vor das Holstentor in eine kleine Villa.
Thomas Mann besuchte noch zwei Jahre die Schule in Lübeck, begann dann eine Feuerversicherungslehre, ein Beweis, dass er er den Wunsch des Vaters nach einem bürgerlichen Leben zu realisieren versuchte. Gleichzeitig jedoch schrieb er Novellen und fasste im künstlerischen Bereich Fuß. [lxii]
Dass der Roman Buddenbrookseinen Gesellschaftsskandal in Lübeck auslöste, hing mit dem Figurenkreis der karikierten Akteure zusammen, in ihnen sahen sich Verwandte und Bekannte der Lächerlichkeit preisgegeben. Schon bald kursierten nach dem Erscheinen des Romans Schlüssellisten in Lübeck, in denen leibhaftige Figuren den Protagonisten zugeordnet wurden, und trugen damit zur Faszination und zum Erfolg des Buches bei:
Neben den Figuren wie Pastor Köllig, der eine Anlehnung an Pastor Johann Funk in Lübeck ist, galt das besondere biographische Interesse der Figur Tony und ihrer Liebe zu dem Sohn des Lotsenkommandanten Schwartzkopf. Das Vorbild dazu war Elisabeth Haag-Mann, die die Liebe zu einem standesgemäßen Kaufmannssohn aufgab zu Gunsten eines ungeliebten Hamburger Mannes. Sie soll große charakterliche Ähnlichkeiten mit Tony gehabt haben: ihren Optimismus, den nichts erschüttern konnte, ihre Naivität und ihren Stolz auf die Familientradition.
Für Christian galt der Onkel Frieden als Modell, dieser warf dem Autoren vor, ein Nestbeschmutzer zu sein.
1953 bestätigte Thomas Mann die Übereinstimmung der Person des Direktor Weinschenk mit dem „zeitweiligen Direktor der Lübecker Feuerversicherungsgesellschaft Biermann…. Er erhielt wegen geschäftlicher Unregelmäßigkeiten einige Jahre Gefängnis und verschwand danach aus unserem Gesichtskreis“. [lxiii]
Die Personen Thomas und Christian Buddenbrook tragen autobiographische Züge, dabei spielt der lebenslange Bruderzwist, die Konkurrenz zwischen Heinrich und Thomas in der Kindheit und in politischer Sicht, in diesen Roman hinein. Heinrich, der Ältere war zwar durch sein Alter dem Bruder Thomas in der Entwicklung voraus, die Abhängigkeit desliterarischen Bruders Christian von seinem Bruder Thomas Buddenbrook passt aber zu der Abhängigkeit Heinrich Manns von seinem Bruder Thomas. Konnte letzterer im amerikanischen Exil seinen großbürgerlichen Lebensstil beibehalten, wurde Heinrich von seiner Gunst abhängig.
Thomas Buddenbrook, der den Vornamen von Thomas nicht umsonst trägt, spiegelt mit seiner Leistungsethik eine wichtige Eigenschaft von Thomas Mann wieder. Den Zwiespalt zwischen Bürgerlichkeit mit dem Willen zur Leistung und dem sensiblen grübelnden Künstler erlebte Th. Mann zwar an sich selber, aber anders als im Roman kommt es bei ihm nicht zum Scheitern der Künstlerseele an den Ansprüchen des Kaufmannsethos. [lxiv] Thomas Manns Teilidentitäten spiegeln sich in Hanno,der ihm in seinem Wesen ähnlich und der letzte Spross der Buddenbrooks ist. Obwohl sein Vater erwartet, dass er Kaufmann wird, fehlt Hanno die Leidenschaft für das Geschäft und jegliches Engagement für die Firma. Er ist ein schlechter Schüler, unterscheidet sich von seinen Mitschülern im Denken und Fühlen und wurde damit zu einem Außenseiter.
Th. Buddenbrook spiegelt ebenso Thomas Johann Heinrich Mann wieder: Der Vater von Thomas Mann übernahm die Firma 1863 und konnte hohen Kapitalzuwachs verzeichnen, mit dem z.B. ein großer Getreidespeicher gebaut wurde und der ihm einen Posten im Aufsichtsrat der Commerzbank einbrachte. 1874/75 kam es durch Fehlspekulationen zur Krise und der folgende Kauf von Aktien brachte weitere Verluste mit sich. Die Ereignisse, die den Verfall von Thomas Buddenbrook beschleunigen, ähneln zeitlich dem Agieren von Th. Manns Vater, nur dass sich dessen Firma wieder konsolidierte.
Die Senatswahl im Roman von 1863 charakterisiert Thomas Buddenbrook als Person der Tradition aufgrund seiner familiären Herkunft und Modernität, im Kontrast zu Hageström, einem Geschäftsmann, der das Althergebrachte weniger ehrt und z.B. Denkmalpflege ablehnt. In diesem Fall sind Parallelen zur Historie der Stadt Lübeck erkennbar, wo 1863 eine Debatte um die Stadtentwicklung entbrannte, von der Thomas Mann in seinem Elternhaus erfuhr: Wegen des Baus einer Eisenbahntrasse war das mittlere Holstentor abgebrochen worden, nun aber entschied die Bürgerschaft sich gegen einen Abriss des „Inneren Holstentores“ aus Gründen der städtebaulichen Kontinuität. In den Figuren von Th. Buddenbrook und Hagenström stehen sich die zwei Auffassungen und Haltungen gegenüber. Die neue Bauordnung von 1881, an der Senator Mann beteiligt war, ließ Raum für Spekulationen mit Gebäuden und bewilligte individuelle und freie Entscheidungen über Nutzen oder Abriss des eigenen Gebäudes, so dass das alte Lübeck zum großen Teil verschwand.
Ursprünglich sollte dieser Familienroman lediglich eine kurze Novelle von Hanno erzählen:
„Ich wollte nach gutem norwegischen Muster eine Familiengeschichte schrieben - nichts weiter. Aber das Buch wuchs mir unter den Händen“, sagte Thomas Mann. [lxv]
Thomas Mann ließ sich die Familienpapiere, u.a.das Familienbuch von seiner Mutter nach Italien schicken, wo er mit seinem Bruder weilte. Sein Onkel, Kaufmann in Lübeck, gab ihm Informationen in geschäftlichen und (lokal)politischen Fragen, und Thomas Mann wandelte die Mann-Familie zur Roman-Familie Buddenbrook um. Das Erzählte wurde in die historische Zeit transferiert, diese verlegte Th. Mann wiederum um 25 Jahre zurück, d.h. die alten Buddenbrooks starben jeweils ca. zehn Jahre früher als ihre Modelle.
Die Abfassung des Romans bedeutete eine Bewältigung familiär auftretender und persönlich-psychischer Probleme. So schrieb der Autor 1901, dem Jahr der Veröffentlichung des Romans an seinen Bruder: „Wenn der Frühling kommt, werde ich einen unerhört bewegten Winter hinter mir haben. Depressionen wirklich arger Art mit vollkommen ernst gemeinten Selbstabschaffungsplänen…“ [lxvi]
Der Erfolg des Romans und der Aufstieg des Autors in die höchsten Gesellschaftsschichten Münchens durch die Heirat von Katja Pringsheim brachten ihm Ansehen und Anerkennung und in eine seinem Vater ähnliche Postion. [lxvii] Welch große Relevanz dies für Thomas Mann hatte, lesen wir in seiner Rede „Lübeck als geistige Lebensform“, in der er sich als Bürger, ein Kind deutsch-bürgerlicher Kultur, bezeichnet und den Vater als Vorbild für sein Tun und Lassen sah. Er und sein Bruder haben „vom Vater … das Ethische, das mit dem Bürgerlichen in so hohem Grade zusammenfällt… das Ethische ist recht eigentlich Lebensbürgerlichkeit, der Sinn für Lebenspflichten.“ [lxviii] Die Ernennung zum Senator der Deutschen Akademie in München war einer der Höhepunkt seines Erfolges und eine weitere Parallele zum Leben seines Vaters.
5.2 Autobiographisches im Roman „ Es geht uns gut“ von Arno Geiger
Auch hier zunächst ein kurzer Abriss des Inhalts: DerRoman beginnt in Österreich im Jahr 2001, als Philipp Erlach, der Protagonist und Enkel von Alma und Richard, 30 Jahre alt, das Haus seiner Großeltern erbt und dort eine Aufräumaktion startet, indem er Mobiliar und alle vermeintlichen familiären Erbstücke entsorgt.
Das Buch ist im Ansatz ein Mehrfamilienroman, zwei Familien, die Familien Erhard und Sterk, werden in kontrastierender Absicht erzählerisch vorgestellt. Die Kontrastfunktion bezieht sich auf die ideologische Haltung der Familien in der Zeit des Nationalsozialismus, auf die unterschiedliche ökonomische und wirtschaftliche Situation und die soziale Differenz (Wohnsituation, Bildung).
Die private und die österreichische Geschichte werden miteinander verzahnt, das einheitsstiftende Prinzip ist die Stadt Wien.
Genealogische Struktur der Familie Erlach:
Philipp , Sissi (ausgewandert)
l
Peter Ingrid,(Otto, gest. 1945)
l l
Peters Vater/Mutter Alma+Richard
Und während die Zeit vergeht, werden die Figuren bei ihrem Älterwerden von der Kindheit über die Jugend zum Erwachsenen bis zum Alter mit seinen Krankheiten (Richard) begleitet. Textimmanent sind die Familien Erlach und Sterk bereits 1945 aufeinander bezogen, als die Söhne Peter und Otto sich gegenseitig im Krieg wahrnehmen. Otto überlebt den Krieg nicht.
Die Tochter Ingrid Sterk gehört zu einer bedeutenden Wiener Familie, die durch die Dominanz des Vaters gekennzeichnet ist, während Peters Familie sich durch den Krieg aufgelöst hat. Montagetechnik strukturiert den Roman, in dem Ereignisse in der jeweils historischen Zeit von den Großeltern (Alma in Kap 2 und 20; Richard in den Kap 4 und 12), von Ingrid (Kap 9 und 14) und von Peter (Kap 7 und 17) erzählt werden.
Alma greift in ihren Erinnerungen aus der fiktiven Gegenwart in die fiktive Vergangenheit zurück, woraufhin wieder in die fiktive Gegenwart zurückgekehrt wird.
In Rückblenden und aus verschiedenen Perspektiven erzählt der Autor die Geschichte der Familien, beginnend 1938 während der Naziherrschaft. Nach dem Anschluss Österreichs erfahren wir, wie das gutbürgerliche Familienleben der Familie Sterk durch die Affäre Richards mit dem Hausmädchen getrübt ist.
Das Jahr 1945 beschreibt das Kriegsende und die Flucht Peter Erlachs.
Im Jahr 1955 besitzt Richard Sterk als Minister großen politischen Einfluss, das Verhältnis zu seiner Tochter Ingrid jedoch ist von Unverständnis und Entfremdung geprägt, weil ihr Lebensgefährte Peter nicht seinen bürgerlichen Vorstellungen entspricht.
In den 60er Jahren, in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, heiraten Ingrid und Peter und gründen eine Familie, die Beziehung zu Alma und Richard ist weiterhin belastet.
In den 1970er Jahren arbeitet Ingrid als Ärzten, fühlt sich in ihrer Mehrfachbelastung unglücklich und überfordert, weil Peter sie in keiner Weise unterstützt. Bei einem Unfall kommt sie ums Leben.
Im Jahr 1978 reist Peter mit den beiden Kindern Sissi und Philipp in den Urlaub, es tritt ein Vater-Tochter-Konflikt zutage.
Fragmente setzen sich als Ganzes zu einer Familienchronik zusammen, auch wenn sie dem Leser so Manches vorenthält, wie z.B. die Entwicklung Peters/Philipps vom Jugendlichen zum Erwachsenen, seine Ausbildung bzw. die Zeit des Studiums, also eine Zeit, in der die Weichen für die Zukunft gestellt werden.
Im Schluss deutet sich ein radikaler Schnitt bei Philipp zum großen Neuanfang hin an. Es ist ein Szenario, das an Münchhausen erinnert.
Der Autor wurde 1968 in Bregenz geboren und wuchs in Wolfurt, einer kleinen Gemeinde im Vorarlberg, in der Nähe von Bregenz auf. Der Einfluss Österreichs und die österreichische Mentalität finden sich im Roman, sei es im Dialekt in den Dialogen (‚deppert‘, ‚Tropf‘), im Humor oder in der Situierung des Romans in Wien.
1987 absolvierte A. Geiger in Bregenz die Matura. Als einziger Schüler der Schule ging er zum Studium der Jurisprudenz nach Salzburg, finanziell unterstützt von seinen Eltern. Er arbeitete in den Sommermonaten als Videotechniker bei den Bregenzer Festspielen.
Während seines Jurastudiums begann er mit dem Schreiben und spürte, dass dies seiner Neigung entsprach; er brach das bisherige Studium ab und wechselte 1987 zur Germanistik, sein besonderes Interesse galt der vergleichenden Literaturwissenschaft und der Geschichte.
Geiger spricht davon, dort als Schriftsteller „viel gelernt“ zu haben und vergleicht es mit dem Verhältnis von „Kommissar und Kriminellen. Dort ist es auch von Vorteil, wenn der Kriminelle die Seite des Kommissars kennt, will er ein guter Krimineller werden.“ [lxix]
Waren die ersten Texte bei Geiger noch durch sprachliche und formale Aspekte geprägt,„Schreiben um des Schreibens willen“[lxx], steht heute der Inhalt an erster Stelle und erst dann die Umsetzung. Er sieht sich als Beobachter, der über die Existenz staunt und darüber, wie merkwürdig sie ist und zieht das Erzählen dem Betrachten, Beurteilen und Bewerten vor. [lxxi]
Sein Schreiben ist ein Ergebnis der Erfahrung, Dinge erlebt zu haben, die den Eindruck machten, normal und durchschaubar zu sein, es aber nicht waren, „ein Erzählen und Nachdenken (…) Verstehen-wollen und trotzdem-nicht-verstehen. Ein Pendeln zwischen materieller Welt und Vorstellung, zwischen Stoff und Wort.“ [lxxii]
Schon früh hatte er, so erklärt er in einem Interview, Interesse für andere Menschen und begründet dies damit, dass er „keine allzu ausgeprägte Vorstellung hatte, wer er selbst war.“ [lxxiii] Die Romanfigur Philipp stellt eine Personifikation seiner selbst dar, er gehört der modernen Generation mit ihren unbegrenzten Möglichkeiten an, fühlt sich in Anbetracht dessen überfordert und tritt den Rückzug an. Die Haltung Philipps zur Vergangenheit ist eine Parallele zu Österreichs Haltung gegenüber der eigenen Geschichte - „Es geht uns gut“ wird aus diesem Grund als ein Schlüsselroman eingestuft. [lxxiv]
Fiktion und Wirklichkeit der Geschichte wechseln sich in diesem Roman ab, der Autor zeigt dem Leser die Vertrautheit des persönlichen Erlebens im Zusammenhang mit der Geschichte. [lxxv] Um die historische Dimension der Figuren zu begreifen, las Arno Geiger Tageszeitungen, Magazine, Aktuelles, Briefe und Tagebücher, die er in der AK Bibliothek oder der sozialwissenschaftlichen und historischen Präsenzbibliothek fand, und schuf auf dieser Art eine zeitnahe Atmosphäre.
Aber auch ganz persönliche Erinnerungen wurden in dem sonst fiktiven Roman verarbeitet. Eine davon findet sich in der Krankenhaus-Szene mit Richard Sterk in der Personalisierung von Geigers Onkel Toni: Dieser zeigte stets einen so starken Leistungsgedanken, dass er sogar im Sterbezimmer des Krankenhauses mit dem Zimmernachbarn stritt, wer „im Leben mehr geleistet“ hat: „Der Ingenieur habe immer gerufen, was er alles gebaut habe, und Onkel Toni habe zur Decke geschimpft, das sei alles Unfug und vergeudetes Geld gewesen. Er habe beim Zoll dafür gesorgt, dass Geld in die Kassen kommt, und beim Bundesheer hätten sie es verpulvert.“ [lxxvi]
Eine ähnliche Szene findet sich im Roman:
S. 342
Donnerstag vor vier Tagen wurde Hofrat Dr. Sindelka, Richards Zimmernachbar im Pflegeheim, in Richards Bett angetroffen. Richard lag mit einem Oberschenkelbruch und mehreren Platzwunden am Fußboden davor.
… Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich Dr. Sindelka, der ebenfalls ein hoffnungsloser Sklerotiker ist, im Zimmer geirrt und gedacht, sein Bett sei widerrechtlich von Richard okkupiert. Die beiden haben sich von Anfang nicht vertragen, teils aus politischen Gründen, teils aus Eifersucht, wer sich in physisch besserer Verfassung befindet. Sindelka muss mit einem hölzernen Kleiderbügel auf Richard losgegangen sein, auf diese Weise gelang es ihm, Richard aus dem Bett zu werfen und es für sich in Beschlag zu nehmen.
Ebenso finden sich Züge von Arno Geigers Vater August in der Person Richards: Erste Anzeichen von Alzheimer nimmt zunächst nur seine Frau wahr, während Bekannte, die ihn als geachteten, beliebten und allseits bekannten Gemeindeschreiber wertschätzen, sich weigern, diese Erkrankung zu akzeptieren.( In dem Buch „Der alte König im Exil“ beschreibt Arno Geiger das Zusammenleben mit dem alleinlebenden alten Herrn und dessen zunehmenden Verlust von Gedächtnis und Fähigkeiten.
S. 32f
Alma sagte, dass sie - bevor sie ihre Bitte ausspreche - einiges erzählen wolle, so dass Richard überall behaupte, sie (Alma) nenne ihn Mörder. Und dass er beim Weggehen zwei Anzugröcke übereinander anziehen wolle mit der Begründung, dass er nichts anderes habe. Zuletzt kam sie zum Eigentlichen und bat Frau Ziehrer, sie solle ihr die Demütigung erspraren, mit Richard auf die Bank zu gehen, falls er sie darum ersuchen sollte.
- Sie wollen damit sagen, der Herr Doktor ist deppert.
- Ich habe dieses Wort nicht gebraucht.
- Nein, gebraucht nicht, aber Sie haben mir den Herrn Doktor so beschrieben, dass ich es bei mir nicht anders als mit ‚deppert‘ zusammenfassen kann. Und wie ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war nichts zu merken, das auf einen Zustand schließen ließe, wie Sie ihn schildern. Sie haben nicht immer recht, Frau Doktor Sterk. Schon vor Jahren war ich schockiert, als Sie dem Herrn Kommerzialrat Lonardelli sagten, Ihr Mann wisse nicht, was er rede.
5.3 Autobiographisches im Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“
von Eugen Ruge
„Eugen Ruge erzählt eine Familiengeschichte, die den Vergleich mit den Buddenbrooks nicht scheuen muss.“ [lxxvii] Hier wird eine Familiensaga überliefert, mit ihr werden Zusammenhänge mit der Geschichte des Heimatlandes erzählt und gleichzeitig die Relativität von Normen gezeigt. Die Familiengeschichte der Familie Ruge, einer Vorzeigefamilie der DDR, ist der biografische Ausgangspunkt des Romans. Es ist die Geschichte vom Verlöschen der Familie und gleichzeitig vom Verlöschen einer Ordnung, eines Landes und einer Idee. [lxxviii] Eugen Ruge selber als der letzte Überlebende schrieb das Schicksal seiner Familie auf, um Erinnerungen und Erfahrungen zu bewahren (siehe dazu: Ererbte Dinge). [lxxix]
Ruge konstatierte für sich eine Verbindung zwischen den politischen Ereignissen seit dem Jahre 1989 und seinem literarischen Interesse an der Familiengeschichte. Erwollte nach dem Tod der Eltern an die Einflussfaktoren der Familie und seiner Herkunft erinnern und hatte das Ziel „bevor alles vergessen wird von der DDR und alles zum Negativen berichtet wird“ dies in Erinnerung zu bewahren.
Der Roman spiegelt die Identitätsbildung Ruges und seine Prägung durch die Lebenserfahrungen unter dem sozialistischen Regime wider und wie sich daseigene Ich in einem Familienzusammenhang integriert. Anders als Geiger, der das Thema Vergessen in den Mittelpunkt stellt, ist bei Eugen Ruge die Vergangenheit der zentrale Gegenstand, durch diese Art der Erinnerungs-Literatur werden Einblicke in historische Prozesse möglich, Geschichte aber nicht gedeutet.
Zunächst zum Inhalt:
In Anknüpfung an bürgerliche Literaturtraditionen kommen vier Generationen der Familie Umnitzer zur Sprache. Der Roman beginnt im Jahre 2001, als Alexander, die Reflektorfigur, nach einem Krankenhausaufenthalt, bei dem ein unheilbarer Tumor diagnostiziert wurde, seinen dementen Vater Kurt besucht und versorgt. Dort nimmt er Geld aus dem Wandtresor und kündigt eine Reise an, eine Reise nach Mexiko, die eine Spurensuche nach den Ursprüngen seiner Familiengeschichte darstellt.
Das Leben der Familie Umnitzer wird fast über das ganze 20. Jahrhundert erzählt. Dreh- und Angelpunkt ist der 90. Geburtstag von Wilhelm im Jahre 1989, der aus verschiedenen Perspektiven wiedergegeben wird. Wilhelm wird an diesem Abend von seiner Frau Charlotte vergiftet.
Markus Umnitzer (1977)
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Alexander (Sascha) Umnitzer (geb. 1954) verh. mit Melitta, gesch. (2. Ehe mit Klaus Greve)
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Werner Umnitzer und Kurt Umnitzer (geb. 1921),verh. mit Irina Umnitzer (geb. 1921)
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Wilhelm Powileit. / Charlotte Powileit, gesch. Umnitzer (geb. 1903)
Die Großeltern Alexanders (Sascha) sind Wilhelm und Charlotte, überzeugte Kommunisten, die zu Beginn des Romans im mexikanischen Exil leben, dann in die neu gegründete DDR reisen, um beim sozialistischen Aufbau eines neuen Deutschlands zu helfen. Ihr Sohn Kurt kehrt aus der Sowjetunion aus dem Straflager mit einer russischen Frau nach Hause zurück. Alexander, der Sohn von Kurt und Irina, steht im Mittelpunkt der Zuneigung seiner Großmutter Charlotte und seiner Mutter Irina.
Während Wilhelm in der DDR immer wieder Ehrungen von Seiten der Partei erfährt, obwohl er nichts leistet, schreibt Charlotte Buch-Rezensionen für das „Neue Deutschland“, ohne für ihre Leistungen belohnt zu werden. Der versprochene Führungsposten an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften bleibt ihr versagt.
Kurt wird ein anerkannter Historiker und verfasst Biographien über historische Persönlichkeiten. Er und Irina arrangieren sich mit den Gegebenheiten der DDR, sympathisieren mit dem Kommunismus und leben noch als Rentner in der DDR. Alexander flieht in den Westen, er hat keinen Glauben an den Sozialismus. Irina sucht Zuflucht im Alkohol. Markus, der Sohn Alexanders aus erster Ehe, erlebt die DDR nur noch als Kleinkind und lebt wie ein West-Jugendlicher, was ihm zwar Freiräume, aber keine eigentliche Zufriedenheit schenkt. Er erscheint 1995 auf Irinas Beerdigung, ohne Kontakt zu seinem Großvater oder Vater aufzunehmen, diese erkennen ihn auch gar nicht mehr. Seine Mutter ist nun mit einem Pfarrer verheiratet, der vor der Wende Friedensgebete organisiert hat und nun im Bundestag arbeitet.
Im Roman ist der Rückgriff auf eine autobiographische Vorlage unverkennbar: Ruge benutzt die verwandten Personen als Vorlage für ein Erinnerungsbuch nach dem autobiografischen Erlöschen der Familie bzw. dem Tod der Familienmitglieder.
Der Autor selber wurde am 24. Juni 1954 in Soswa, Oblast Swerdlowsk in der Sowjetunion als Sohn von Wolfgang Ruge geboren, der als Kommunist vor den Nazis nach Russland geflohen war und als Deutschstämmiger nach Kriegsbeginn nach Kasachstan deportiert und ins GULAG gesperrt wurde. In einem Arbeitslager erlebte Wolfgang Ruge als Häftling unmenschliche Bedingungen, Kälte, Hunger und kaum erfüllbare Arbeitsnormen. [lxxx] Nach seiner Zeit als Zwangsarbeiter musste er im Nordural bleiben, wurde Fernstudent an der 300 km entfernten Universität von Swerdlowsk und absolvierte sein Diplom als Historiker. Dort lernte er seine russische Frau kennen. 1956 durfte der Vater des Autors nach Deutschland zurückkehren und hoffte dort auf den echten Sozialismus. Er wurde ein berühmter DDR Historiker.
Eugen Ruge war zwei Jahre alt, als er mit den Eltern aus dem Ural nach Ost-Berlin kam und dort eine DDR-Eliteschule besuchte.
Nach dem Mathematikstudium und dem Diplom an der Humboldt-Universität in Berlin wurde er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik an der Akademie der Wissenschaften der DDR. Mit Mitte dreißig wandte er sich 1986 einer Tätigkeit als Schriftsteller, Drehbuchautor und Dokumentarfilmer zu. Er siedelte 1988 in die Bundesrepublik über und wirkt seit 1989 als Autor für Hörspiele, Drehbücher, Theaterstücke und als Übersetzer von Stücken aus dem Russischen. Er war Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin. Eugen Ruge ist Vater von vier Kindern und lebt in Berlin und auf Rügen.
Wir können bei Ruges Roman von einer Mischform des Schlüsselromans sprechen, der zwischen Fiktion und Faktualität schwankt: Er weist eine besondere Form des Wirklichkeitsbezugs auf und exemplifiziert anhand der Viten mehrere Jahrzehnte deutscher Geschichte - stellt aber keine historische Quelle dar (typisch für den Familienroman). Eugen Ruge versetzt sich aus der Distanz von Jahren in seine Figuren, gibt ihnen Züge der Verwandtschaft und lässt sie erzählen [lxxxi] :
Durch Alexander /Sascha Umnitzer, einem Vertreter der Nachkriegsgeneration, wird Ruge selbst im Roman vertreten. So wie Sascha, sein Alter Ego,schreibt der Autor Eugen Ruge Theaterstücke und erlebt die Welt der Künstler in ihren politischen Ausprägungen, die die bürgerlichen Werte und Normen infrage stellen. Wie bei Alexander wurde auch beim Autor eine Krebserkrankung diagnostiziert.
Kurt Umnitzer repräsentiert Ruges Vater Wolfgang Ruge (geb. 1917). Er emigrierte wie die Romanfigur nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in die Sowjetunion, wurde nach dem deutschen Angriff nach Kasachstan deportiert und kam später in ein Arbeitslager.
1956 kehrte er in die DDR zurück und wurde ein bedeutender Historiker der DDR. Ebenso wie Kurt veröffentlichte er seine Memoiren. Wolfgang, der Bruder Kurts, wurde nicht wie im Roman im Gulag ermordet. Er überlebte und und lernte in der Verbannung seine russische Frau Irina kennen. Deren Namen hat Eugen Ruge auf die Frau Kurts übertragen.
Den Namen seiner deutschen Großmutter Charlotte übernahm Eugen Ruge in den Roman, ihr zweiter Mann war, wie sein Pendant Wilhelm, ein Kurier der Komintern. Die Großeltern retteten sich vor den Nazis nach Mexiko. Das Denken und Fühlen der Großmutter war Eugen Ruge unbekannt und wurde neu von ihm erfunden. „Ich weiß nicht, wie sie sich bei der Rückkehr in die DDR fühlte.“ [lxxxii] Anders als im Roman haben die Großeltern die Wende jedoch nicht erlebt, sondern sind in den 60er Jahren gestorben.
Des weiteren verfremdet Eugen Ruge die Namen bekannter Persönlichkeiten aus der DDR, so erscheint der Verleger Walter Janka als Frank Janko, der Philosoph Wolfgang Harich mit dem vielsagenden Namen Karl Irwig und die Brecht-Schauspielerin Steffie Spira-Ruschin als Stine Spier.
So wie bei vielen Autoren Umbrüche in der eigenen Biographie zum Schreiben eines Familienromans führten, war für Eugen Ruge der Zusammenbruch des Systems ein Grund, noch einmal auf die Vergangenheitzu blicken und sich mit dem vergangenen System literarisch auseinanderzusetzen. Er verschriftlichte seine Erlebnisse der vergangenen Jahrzehnte aus der Retrospektive und machte abrupte Brüche in der Alltagswelt der DDR durch die Wende sichtbar. Es war nicht sein Bedürfnis, eine Bewertung ideologischer Art abzugeben, z.B. zum Mauerbau, sondern sich narrativ im Erzählen an die Vergangenheit zu erinnern, das Leben im anderen Deutschland lebendig zu halten und die verlorene Heimat (ebenso wie Geiger) zu rekonstruieren, „die als Kompensation und Gegenwelt zur BRD verstanden werden muss“. [lxxxiii]
Solch eine Form der Erinnerung war in der Nachwendezeit nicht außergewöhnlich, nach der Vereinigung und dem Verschwinden des ehemaligen ostdeutschen Staates und der damit verbundenen Assimilation der dortigen Bürger in die westdeutsche Gesellschaft kam es in den 90er Jahren bei vielen ehemaligen DDR Bürgern immer mehr zu einer Identifikation mit der verlorenen Heimat. Man nannte dies „Ostalgie" und beschrieb damit eineErinnerungskultur, die ein Unbehagen an die Anpassung an die fremde Gegenwart artikulierte und die nicht wollte, dass die realsozialistische Vergangenheit diskreditiert wurde und ihr früheres Land lediglich als ein Land mit Opfern und Tätern in die Geschichte einging. Stattdessen sollte es eine emotionale und narrative Erinnerung geben, eine „Erinnerung, die mit Fragmenten, Relikten, Einzelheiten jener verlorenen Zeit arbeitet“ . [lxxxiv]
Auch Ruge fühlte sich durch die Negativurteile über die DDR betroffen. Die private Erinnerung des Buches ist eine normale und fröhliche Erinnerung eines in der DDR sozialisierten Schriftstellers, der mit normalen Menschen unter alltäglichen damaligen Belastungen aufwuchs und damit bis zu einem bestimmten Zeitpunkt auch leben konnte. Erfahrungen der Mikroebene des Alltagslebens bilden den Kern seines Romans und bestimmte Spezifika des DDR-Alltags finden ihren Niederschlag, wenn eine Vielzahl von Begebenheiten und Gefühlen in kleinen Geschichten zwar multiperspektivisch, aber nie sozialgeschichtlich erzählt werden.
Die politische Diktatur der Politik in der DDR mit ihrer Unfreiheit und Totalkontrolle einerseits und das Alltagsleben der Menschen mit der Wärme der Gemeinschaft und der Sicherheit des Arbeitsplatzes sind für Eugen Ruge zwei Seiten einer Medaille - und in diesem Roman soll Letzteres von Bedeutung sein. (Die Gründe für die Ausreise des Autors spiegeln den Zusammenhang wider.)
Und so ließ er die Lebenswirklichkeit seiner Familie vor und nach der Wende zu Wort kommen, schuf glücklichere Bilder von der DDR als die, die Wissenschaft und Publizistik lieferten und setzte der Entwertung der DDR das Lebenswerte des damaligen Lebens entgegen.
Dabei muss man als Leser erkennen: Erinnerung ist nie objektiv. „Aus der Gedächtnisforschung wissen wir, dass Erinnerung immer ein Konstrukt ist (…) Im Schreiben werden Erinnerungs-möglichkeiten erprobt; man spielt mit Imagination und unterschiedlichen Perspektiven, um herauszufinden, wie es gewesen sein könnte.“ [lxxxv]
6. Erzählform und Stilistik in den Romanen
Jeder Mensch hat seine eigene Sprache. Sprache ist Ausdruck des Geistes.
(Novalis,1772 - 1801, eigentlich Georg Philipp Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg, deutscher Lyriker)
Quelle: Novalis, Fragmente. Erste, vollständig geordnete Ausgabe hg. von Ernst Kamnitzer, Dresden 1929. Kunstfragmente
Die drei Familienromane wurden zu jeweils unterschiedlichen Zeiten und literarischen Epochen geschrieben und nutzen Erzählmuster auf unterschiedliche Weise, um Geschichte und Gegenwart, Kontinuität und Veränderung der bürgerlichen Institution „Familie“ literarisch darzustellen.
6.1 „Buddenbrooks“
In einem Brief ordnet Thomas Mann selber das Buch einerseits der „Decadence“ zu, da es „mit einer Art spaßiger Hoffnungslosigkeit als Grundstimmung das Problem der Decadence behandelt.“ [lxxxvi] Das Schlagwort des „Fin de siecle“ galt für ihn als eine „Formel des Ausklangs, die allzu modische und etwas geckenhafte Formel für das Gefühl des Endes, das Gefühl eines Zeitalters, des „Bürgerlichen“ war. [lxxxvii] Andererseits sah er den Roman als „städtische Chronik“ in der Nähe des Naturalismus. [lxxxviii]
Thomas Manns Familienroman lässt sich jedoch nur schwer einer bestimmten literarischen Epoche bzw. Strömung zuordnen, er schrieb in einer Zeit, die als Schnittstelle zwischen Realismus (ca. 1850 - ca. 1890) und der „Frühen Moderne“ (1890 - ca. 1930) gilt. [lxxxix] Der normative Anspruch der familiären Wertvorstellungen ist für diese Zeit ebenso typisch wie „moderne“ psychologisch motivierte Figurenproblematiken. [xc]
Im Realismus grenzte man die Psychologie des Bewussten und Unbewussten noch aus und setzte das Werte- und Normensystem mit dem Bewusstsein gleich, wohingegen man die Nichteinhaltung von Normen sanktionierte. Normen galten als soziale Spielregeln, die „ein sich sozial zu integrieren strebendes Individuum einzuhalten hat,“ [xci] und so wurde eine Figur, wenn sie gegen Normen verstieß, negativ bewertet und die Verzichtleistung dagegen hoch angesehen.
Realität war in der Epoche des Realismus das, was zwischen den Subjekten konsensfähig war.
Der Protagonist erfüllt seine Rolle und bleibt in der Gesellschaft integriert, statt auf sich bezogen seine Gefühle auszuleben. Er verändert sich nicht, sondern ist auf Konstanz seiner Merkmale und auf Entwickungslosigkeit festgelegt. Der Roman von Thomas Mann zeigt uns die Konsequenzen, die ein fremdbestimmtes Leben ohne Selbstverwirklichung für einzelne Figuren (Tony, Thomas, …) hat. Anstatt neue Möglichkeiten zu eröffnen, dominiert „noch die ‚realistische‘ Erfahrung der Realität als ein zu Ende gehender Prozess“. [xcii]
Anders das Literatursystem der „frühen Moderne“, das „Entwicklungsprozesse im Erwachsenenalter zulässt und legitimiert“ und das Subjekt auch in dem darstellt, worin es nicht mehr konsensfähig ist [xciii] Das Figurenbewusstsein erweiterte sich um den Bereich des Nicht- oder Unbewussten. Man ließunbewusste Verhaltensantriebe zu, ohne die Figuren deswegen negativ zu bewerten, z.B. wurden Themen der radikalen individuellen und leidenschaftlichenLiebe,im Realismus noch eine Normverletzung, der die Figuren sich entsagen mussten, in der „Frühen Moderne“ legitim. Ebenso thematisierte man nun den Tod, Sterben wurde bewusster und der Sterbende zu Jemanden, der sich aus dem sozialen Bereich des Lebens ausgegrenzt fühlte und die Normen des Lebens in Frage stellte.
‚Zeitromane‘ des Realismus, und als einen solchen können wir die Buddenbrooks lesen, beziehen die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen ein und sollen als Sitten- und Gesellschaftsromane ein Bild der jeweiligen Zeit widerspiegeln. „Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Hässlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und unserem Herzen sprechen, Anregung geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluss aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte.“ [xciv]
Die Wertvorstellungen des deutschen Bürgertums und seine Lebensinhalte und -werte werden zu Forderungen der Literatur und nach dem Scheitern der großen Ideale in derRevolution 1848, die in den Romanen verdrängt oder diffamiert werden[xcv], galten nun Lebenserfahrung und der gesunde Menschenverstand als wichtige Prinzipien.
Eine formale Tugend des Bürgertums waren Objektivität, Maß und Ordnung, und diese Strenge zeigte sich in einer sprachlich-intellektuellen Zucht. Statt einer pathetischen Sprache waren Dialoge nun gekennzeichnet durch Unkompliziertheit und der Hinwendung zur realen Welt. [xcvi] Der realistische Stil schildert die Wirklichkeit in genauer Beschreibung, spielt im bürgerlichen Milieu, mit durchschnittlichen Menschen. Anders als im Naturalismus, werden Randexistenzen, Krankhaftes und Negatives nicht zum Thema.
Fontane - er gilt als Begründer des modernen Gesellschaftsromans und übte auf Thomas Mann großen Einfluss aus - spricht von dem „Wahren“, das er in der „Widerspiegelung des wirklichen Lebens dargestellt wissen will.“ [xcvii]
Vieles vom bisher Gesagten ist im Familienepos Th. Manns zu erkennen: Dieses Sprachkunstwerk, an dessen Sätzen man sich nicht satt lesen kann, war der „bürgerlichen Form“ verbunden und wurde bereits kurz nach seinem Erscheinen von Kritikern wegen seiner Sprache und des Stilshervorgehoben, beides vom Autoren beheimatetin der niederdeutsch-hanseatischen Sprachlandschaft, „das Instrument eines eher langsamen, spöttischen und gewissenhaften… Geistes“. [xcviii]
Thomas Mann selbst betonte die Unterhaltungsfunktion des Romans, auch wenn ihm damit eine Anpassung an den Lesergeschmack vorgeworfen wurde [xcix] und bewertete den Humor in den „Buddenbrooks“ als besonders positiv und stark. [c] Besonders hervor hob er, dass „der Zug zum Satirischen und Grotesken die große epische Form nicht nur nicht stört, sondern sogar unterstützt.“ [ci]
Im formalen Sinn war es für ihn vor allem ein deutsches Buch: „…es lässt sich wohl hören, dass dies Werk in französischer Sprache ein Unding und Monstrum wäre“. [cii]
DieErzählstruktur ist linear, die Ereignisse von Heirat, Geburt, Begräbnis werden neben den auftretenden Ereignissen chronologisch, mit Datum und Jahreszeit erzählt. Es finden sich keine Rückblenden oder Vorgriffe in die Zukunft.
Das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit wechselt, manche Ereignisse werden ausführlicher als andere geschildert, insbesondere die im Bürgertum beliebten Briefe dienen als ein Stilmittel der Zeitraffung. In den ersten Teilen des Romans gibt es noch einen großen Unterschied zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, beide nähern sich zum Schluss, wenn Hannos Leben erzählt wird, immer mehr an.
Der Autor präsentiert die Geschichte durch einen neutralen Erzähler. Fundament ist das „objektive (…) Erzählen, in dem sich die schildernde Darstellung mit der direkten Rede verbindet.“ [ciii] Die vielen verschiedenen Figuren verlangen eine Multiperspektive im Darstellen der Ereignisse: z.B. des Firmenjubiläums, das aus der Sicht von Thomas Buddenbrook, oder: das Nahen des Weihnachtsfestes, das aus Hannos Perspektive erzählt wird.
Leser und Erzähler haben nie mehr Wissen als die Figur selber.
Die Zeitformist fast durchgehend diedes Imperfekts. In Präsens lesen sich die Spannung tragenden Situationen (z.B. Senatorenwahl), oder wenn die Geschwister sich in ihren Eigenarten darstellen.
Auf deren Charakter schließen wir u.a. durch Selbstcharakterisierungen, z.B. wenn Tony des Öfteren von sich sagt, dass sie „eine Gans ist“ oder:
S. 456
Denn ein so dummes Weib ich bin, …
Christian sieht sich als ein gescheiterter Versager:
S.539
Theater …und sowas… Das taugt nichts, glaube deinem Onkel. Ich habe mich auch immer viel zu sehr für diese Dinge interessiert, und darum ist auch nicht viel aus mir geworden.
Thomas Mann ist ein Könner der Personenbeschreibung. Stets erkennen wir die Personen an ihren geläufigen Ausdrücken und der glaubwürdig-realistischen und individuellen Figurensprache, die die Figuren charakterisiert,oft auch humoristisch persifliert, z.B. in der floskelhaften Sprechweise Grünlichs:
S. 97
Aber ich inkommodiere nicht länger, nein, bei Gott, Frau Konsulin, ich inkommodiere nicht länger! Ich kam in Geschäften…allein wer könnte widerstehen… Nun ruft die Tätigkeit!…
Zahlreiche Sprachvarianten neben dem Hochdeutschen tragen zur Charakterisierung und Originalität der Figuren bei:
Französisch und Plattdeutsch beim Großvater, was ihn als gebildeten und volksnahen Menschen kennzeichnet:
S. 43
Na, min Söhn Johann! Wo geiht di dat!
…
Monsieur Gotthold- voila! … Ein Mann von conduite dein Herr Stiefbruder, Jean!
Dialekte wie Bayrisch karikieren die Figur Permaneder:
S. 343
Die Zugspitz’ wird’s halt net sein, aber a weng kraxeln wermer doch, und a Hetz wermer ham, a Gaudi a sakrisches, gelten’s, Frau Grünlich?!
Das Ostpreußische charakterisiert das Kinderfräulein:
S.336
Ja, ja, Tonychen, mein Kindchen, … Schlaf nur, wirst morgen früh aufstehen müssen, wirst nicht ausgeschlafen haben.
Als Schriftsteller der Frühen Moderne wählt Thomas Mann auf der Discours-Ebene im Zusammenhang mit der Zulassung und Integration von irrationalen unbewussten Verhaltensantrieben neue Darstellungsformen wie innere Monologe und Bewusstseinsstrom,z.B. im Selbstgespräch von Thomas Buddenbrook, in dem er sein Handeln und Leben für die Werte der Firma rechtfertigt und seinem Onkel die Fähigkeit der Erkenntnis dessen, was Firma und Familie darstellen, abspricht .
S. 275
Du hast es nicht sehr gut gehabt, Onkel Gotthold, dachte er. Du hast es zu spät gelernt, Zugeständnisse zu machen, Rücksicht zu nehmen… Wenn ich wäre wie du, hätte ich vor Jahr und Tag bereits einen Laden geheiratet…
Im Schopenhauer Erlebnis Thomas Buddenbrooks wechselt die direkte Rede zum inneren Monolog in die erlebte Rede, beides geht ineinander über, „verringer[t] die ironische Distanz und lässt die Lektüre des Romanabschnitts für den Leser geradezu zu einem ‚Schopenhauererlebnis’ zweiten Grades werden.“ [civ]
S. 657f
In meinem Sohne habe ich fortzuleben gehofft? In einer noch ängstlicheren, schwächeren, schwankenden Persönlichkeit? Kindische, irregeführte Torheit! Was soll mir ein Sohn? Ich brauche keinen Sohn!… Wo ich sein werde, wenn ich tot bin? … In allen denen werde ich sein, die je und je Ich gesagt haben, sagen und sagen werden: besonders aber in denen, die es voller, kräftiger, fröhlicher sagen ‚… … Und während er es nun begreifen und erkennen durfte - nicht in Worten und auf einander folgenden Gedanken, sondern in plötzlichen beseligenden Erhellungen seines Inneren - war er schon frei, …
Nichts begann und nichts hörte auf. Es gab nur eine unendliche Gegenwart, und diejenige Kraft in ihm, die mit einer so schmerzlich süßen, drängenden und sehnsüchtigen Liebe das Leben liebte…
Thomas Mann ist der „reichste Autor deutscher Sprache“ und als Humorist mit all seinen komischen Effekten schwer zu übertreffen. [cv] Dem Humor kommt die wichtige Rolle zu, Optimismus auszudrücken, negative Seiten der Wirklichkeit zu überdecken und Gegensätze zu überbrücken. [cvi] Das wichtigste stilistische Prinzip ist dabei die Ironie, durch sie wird die dargestellte erlebte Wirklichkeit nicht mehr ganz ernst genommen, sondern „vermittels Herausheben ihrer Widersprüche, Absonderlichkeiten und Brüche des vordergründigen Scheins entkleidet.“ [cvii] Dem Autor dient sie nicht als „kalten Spott sondern …[als] Zug der Objektivität“ [cviii] und ist in ästhetischer Hinsicht die Form, in der Th. Mann in der Zeit des fin de siecle Halt sucht und findet. [cix]
Sie zeigt sich im Kontrast zwischen Realität und Selbstdarstellung der Personen, z.B. bei Tony und Christian, in der karikierenden und sarkastischen Darstellung von Lehrern und Politikern, der Beschreibung der Revolution, die ihre Härte verliert oder in der immer wiederkehrenden Äußerung „Sei glücklich“ von Sesemi Weichbrodt, insofern es niemals eintrifft. [cx]
Zum Personalstil Manns gehört es, [cxi] dass die Syntax den Gedanken- und Redefluss nachbildet, „mit kleinen Stauungen und Schnellen und Mäandern und Kaskaden. Und ab und zu einem Wasserfall.“ [cxii] Syntaktisch und rhythmisch oft geballt, umfasst sie lange und gedehnte Beschreibungen und dient sowohl der indirekten Charakterisierung der Personen (z.B. ersten Auftreten Grünlichs) und der Schilderung einer Atmosphäre, z.B. der musikalischen Hingabe Hannos:
S. 506
Irgend ein ganz einfacher harmonischer Kunstgriff war durch gewichtige und verzögernde Accentuierung zu einer geheimnisvollen und preziösen Bedeutung erhoben. Irgend einem Accord, einer neuen Harmonie, einem Einsatz wurde, während Hanno die Augenbrauen emporzog und mit dem Oberkörper eine hebende, schwebende Bewegung vollführte, durch eine plötzlich eintretende, matt hallende Klanggebung eine nervös überraschende Wirkungsfähigkeit zu teil …
S. 748
Und nun begannen bewegte Gänge, ein rastloses Kommen und Gehen von Synkopen, suchend, irrend und von Aufschreien zerrissen, wie als sei eine Seele voll Unruhe über das, was sie vernommen …
„Mir wirft man meine langen Sätze vor und findet meinen Stil ‚pompus‘ und ‚ponderous‘.“ [cxiii]
Aber es gibt zudem noch einen ganz anderen Stil, einen wissenschaftlichen Traktatstil im Typhuskapitel und in den allgemeine Reflexionen, und ausgedehnte psychologische Deutungen in den letzten beiden Teilen des Romans:
S. 752
In der zweiten Woche ist der Mensch von Kopf- und Gliederschmerzen befreit; dafür ist der Schwindel bedeutend heftiger geworden, und in den Ohren ist ein solches Sausen und Brausen, dass es geradezu Schwerhörigkeit hervorruft. Der Ausdruck des Gesichts wird dumm.
Th. Mann scheut keine schönen Wiederholungenund auch das Leitmotiv (Atlasschleifen z.B., die von Tony in ihren Handarbeiten verarbeitet werden) entfaltet auf den Leser eine wiedererkennende „behagliche“ (Maar) Wirkung, da beides den Eindruck der Unveränderlichkeit erweckt und gleichzeitig anzeigt, wieviel Zeit mit all ihren historischen und familiären Veränderungen vergangen ist. Die ständige Wiederkehr eines Vorgangs, wie z.B. der Verweis Tonys auf ihre gescheiterten Ehen und auf ihre ‚politischen Kenntnisse‘ aus den Gesprächen in Travemünde, stellt Gegenwart und Vergangenheit nebeneinander und friert die gewesene Dynamik ein. [cxiv] Solche wiederkehrenden Worte oder Wortgruppen erhalten eine Symbolik und verknüpfen Textpassagen miteinander - Thomas Mann spricht hier von der „vor- und zurückdeutenden magischen Formel“. [cxv]
6.2. Die modernen Familienromane
Im Gegensatz zur Familiensage von Thomas Mann ist die Erzählstruktur in den modernen Familienromanen von Geiger und Ruge achronologisch und diskontinuierlich, beides macht die Relativierbarkeit von menschlichen und moralischen Werten erkennbar. [cxvi] Die Wahl der unterschiedlichen Perspektiven statt einer Monoperspektive soll zeigen, dass niemand „alleinigen Anspruch auf die Wahrheit bzw. die wahrheitsgetreue Darstellung besitzt und dass es keine monoperspektivische historische Wahrheit geben kann.“ [cxvii]
Diese Romane sind weder an ein chronologisches Nacheinander gebunden noch an die Einheit von Zeit, Ort und Handlung und können so die Fragmentierung von Raum und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die die Geschichte des 20.Jahrhunderts in besonderem Maße auszeichnet, mit genuin literarischen Mitteln erfassen. [cxviii]
Historische Wissensbestände werden beim Leservorausgesetzt: die Zeit des Nationalsozialismus und die der DDR-Wende.
Der fragmentarischer Charakter zeigt sich in einem offenen Schluss.
In Eugen Ruges Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“gibt es drei Erzähl-Linien:
1. Den 90.Geburtstag von Wilhelm im Jahr 1989, das zentrale Ereignis und das „geheime Zentrum“ [cxix] des Romans. Dieser demente Greis ist noch fest im Kommunismus verankert und seit 70 Jahren Mitglied in der Kommunistischen Partei.
Seine Frau sehnt sich danach, dass er stirbt, ebenso hoffen die Söhne und Enkel auf Befreiung - eine Parallele zur Hoffnung auf ein Ende der erstarrten Ideologie des DDR-Staates. [cxx]
2. Die Reise Alexanders wird als Rahmenhandlung in die Familiengeschichte eingeblendet. Alexander/Sascha/der Autor geht 2001, das Jahr der Erzählgegenwart, nach einer Krebserkrankung auf Spurensuche in der Familiengeschichte. Erzählanlass ist seine Erkrankung, durch sie rücken Gedanken über die Endlichkeit des Lebens und über Unvergängliches in den Mittelpunkt. So reist er nach Mexiko, um der Vergangenheit seiner Großmutter nachzuspüren, die dort im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit im Exil gelebt hatte. Er wird zum Aussteiger, und findet Beruhigung (S. 407, Er schaukelt leicht, stößt sich…) in dem Erleben der Gleichheit und der Wiederkehr. (S. 425, Einzig das Knirschen…)
3. Und dann gibt es die zwischen diesen beiden Strängen erzählte Familiengeschichte in chronologischer Wiedergabe: 1952, 1959, 1961, 1966, 1973, 1976, 1979, 1991, 1995, unterbrochen von dem wiederkehrenden Datum 1989. Das Buch beginnt im Jahr 2001 und führt im zweiten Kapitel in das Jahr 1952 zurück.
Der Roman hat insgesamt 20 Kapitel, Vergangenheit und Gegenwart kreuzen sich in der Abfolge der Kapitel: fünf tragen den Titel „2001“ und erzählen aus Alexanders gegenwärtiger Perspektive, sechs Kapitel haben als Überschrift das Datum „1. Oktober 1989“, den Geburts- und Todestag von Alexanders Großvater. Dieser Tag wird aus den sechs verschiedenen Perspektiven der Familienangehörigen wiedergegeben. (Wilhelm, Charlotte, Irina, Nadjeshda, Kurt und Markus)
In Eugen Ruges Roman wird der Erzählfluss durch Montage unterbrochen: Der Beginn spielt in der Gegenwart, um dann aus der Retrospektive und der Erinnerung die Vergangenheit rückwärts zu erzählen.
Die Handlung des Romans hat unterschiedliche Zeitformen:
- Das Präteritum in den Kapiteln 1 – 10, 12 – 14, 16 – 19
- Das Präsens in den Kapiteln 11, 15, 20
- und Präsens und Futur II im Kapitel 20. Gewöhnlich verwendet ein erzählender Text das Präsens und das Präteritum, hier sind lediglich einige reflektierende oder erinnernde Passagen im Präsens gehalten. Insofern kommt der außergewöhnlichen Verwendung des Futurs in Kapitel 20 eine besondere Funktion zu und könnte auf eine offene Zukunft Alexanders verweisen oder aufgrund seiner Krankheit auf eine bereits abgeschlossene Zukunft.
Das multiperspektivische Erzählen zeigt ein Ereignis von Wilhelms Geburtstagsfeier, z.B. die Blumenüberreichung und Ordensverleihung, aus den verschiedenen Wahrnehmungen der anwesenden Personen. Dadurch wird einerseits eine komisch-ironische Wirkung erzielt, die dem Leser eine weitere Erkenntnisperspektive gibt und die Spannung steigert, da jede Person die Situation und auch die anderen Personen anders bewertet.
Andererseits reflektiert der Autor damit das heterogene Erscheinungsbild der Familie, setzt es wie ein Puzzle zusammen und spiegelt eine Entfremdungsoptik wider, die die scheinbar kollektiv geteilte Wirklichkeit in individuelles Bewusstsein separiert. [cxxi]
Der anonyme personale Erzähler schlüpft in die Personen und gibt jedem das gleiche Mitspracherecht über die Familiengeschichte, ohne dass einer Generation eine besondere Position zukommt, und macht dadurch Motivationen, Gedanken, und die gesellschaftliche Position der Figur erkennbar. Im Verband der Familie wird jedes Mitglied mit den an die verschiedenen Generationen und Zeiten gebunden Perspektiven der anderen Mitglieder konfrontiert und kann sich auf diese Weise am besten entfalten. [cxxii]
Es gibt kein chronologisches Erzählen, weil die durchgehend beibehaltene Multiperspektivität der Erzählung Abschweifungen in die noch fernere Vergangenheit beinhaltet und der Roman darauf angelegt ist, „etwas von der inneren Erfahrung der Überwältigung, der nachwirkenden Last und Bedrohung, der Faszination und der Unverständlichkeit der Geschichte mitzuteilen.“ [cxxiii]
Jede Figur erzählt Privates und Persönliches und für die damalige Zeit Typisches, hebt für sie alltägliche und bedeutsame Elemente hervor, ist Individuum und Stellvertreter für bestimmte Themen (so z.B. ist Irinas Thema: ihre Kochrezepte). Die weiblichen Figuren thematisieren l. Ingrid Meyer Legrand, in Jahrbuch…l. Ingrid Meyer Legrand, in Jahrbuch…Keine Antwort, somit auch kein Interesse.
S. 329
- Schau, sagt sie, alles, was du machst, verspricht nicht den geringsten Erfolg… Weil du nichts anpacken willst.
In Geigers Roman geben nicht, wie man erwarten könnte, die Enkelfiguren die familiäre Vergangenheit wieder. Stattdessen erzählt in den vergangenheitsbezogenen Kapiteln ein heterodiagetischer Erzähler aus der Perspektive von Vertretern anderer Familiengenerationen. [cxxiv]
In jedem Kapitel des Romans wird ein bestimmter Tag zwischen 1938 und 2001 aus der Erinnerung einer Generation/eines Protagonisten wiedergegeben und die erzählte Situation reflektiert, so dass Vergangenheit und Gegenwart der Erzählstruktur sich durchdringen; und da in der dritten Person erzählt wird, erschließt sich dem Leser erst beim Lesen, um welche der Personen es sich hierbei handelt. Die Lebensgeschichten der Personen sind auf eine bestimmte Situation beschränkt und versinnbildlichen gleichzeitig eine zeitliche Epoche, man spricht von einem „postmodernen Puzzle“. Das Persönliche wird „in eine Art objektive correlative verlagert, [es] vermeidet sowohl naive Lösungen von Familienkonflikten wie auch das rein Dokumentarische der Zeitgeschichte“. [cxxv]
Ein Neben- und Übereinander von Erzählsträngen spiegelt das Dokumentarische einer reinen Zeitgeschichte wider. Literaturwissenschaft und Geschichte, Fiktion und Wirklichkeit, gehen ein Verhältnis ein, und stets besitzt die Ansprache des Lesers und das fiktionale Erzählen für den Autor die größere Bedeutung[cxxvi], z.B.:
Alma erzählt in der Vergangenheit von den noch weiter in der zurückliegenden Ereignissen ihres Lebens: den Kriegs- und Nachkriegszeiten der österreichischen Republik und der Wende im Jahr 1989:
S. 346
Also beginnt sie zu erzählen von den Umstürzen bei den Nachbarn im Osten, von Ungarn, wo die Diktatur des Proletariats dieser Tage zu Ende gegangen ist, von der Entwicklung der DDR …
S. 348
Ich weiß noch genau, wie wir uns kennengelernt haben, da waren wir noch ein bisschen jünger als heute, so jung wie das Jahrhundert damals …
die zwanziger und dreißiger Jahre, ich glaube, das war bei mir, was man die Blüte des Lebens nennt. …für dich waren die fünfziger Jahre die Blüte des Lebens… Ich glaube, in den fünfziger Jahren hast du die Zeit wiedergefunden, in die du hineingeboren wurdest, die Zeit vor dem ersten Weltkrieg …
Peter und Ingrid erleben die 60er und 70er Jahre:
S. 259
Die Probleme begannen in den Jahren des zweiten Studienabschnitts, als Ingrid bis an den Rand des Nervenzusammenbruchs schuftete und von Peter keine Unterstützung bekam. Das begann schon in Hernals los, noch bevor Peter die Lizenzen seiner Spiele verkaufte. Mit dem Verkauf der Lizenzen Ende 1960, während der Schwangerschaft mit Sissi, hoffte Ingrid, dass jetzt ein besseres Leben beginnen werde. Stattdessen wurde es schlimmer. … Die vielen einsamen Spaziergänge am Wilhelminenberg mit dem Kinderwagen und später das langweilige Entenfüttern mit Sissi …
S. 207
Als der ockerfarbene Kleinbus, den Peter sich ausgeborgt hat, hupend in die Einfahrt biegt, ist es kurz nach vier …
S. 212
Du musst dich damit abfinden, dass unsere Tochter Stahlrohrmöbel bevorzugt. ..
S. 238
Drei Aufnahmen und Telefonate um ihre Lohnzettel mit der AUVA und mit dem Rathaus. .. Beide schicken ihr die Lohnzettel von 1968.
S. 303
Und er weiß, dass die Jahre vor Ingrids Tod die am wenigsten erfolgreichen Jahre seines Lebens waren, das will was heißen …
Vor allem in den letzten Jahren hatten sie viel gestritten, meistens war der Ausgangspunkt eine Kleinigkeit …
Philipp ist derjenige, der den Beginn des 21. Jahrhunderts verkörpert:
S. 7f
Er hat nie darüber nachgedacht, was es heißt, dass die Toten uns überdauern. …
Philipp sitzt auf der Vortreppe der Villa, die er von seiner im Winter verstorbenen Großmutter geerbt hat.
In der Metafiktion des eiternden Zahns von Richard oder der letzten Spielregel in Peters Spiel bricht der Autor den Bezug zur Realität:
S. 23
Wegen eines eitrigen Backenzahns waren 1955 die Feiern zur Unterzeichnung des Staatsvertrags für Richard ins Wasser gefallen. Er fehlt auf sämtlichen offiziellen Fotos und in allen Filmen.
S. 202
Vaterland gerettet, doch das gilt nicht für ihn. Er, der den Staatsvertrag mit ausgehandelt hat, aber auf den wichtigen Fotos fehlt. Pech gehabt.
S. 255
An dem Tag, an dem die Verhandlungen um den Staatsvertrag zum Abschluss gekommen waren und Ingrid erst um elf Uhr zu Hause eintraf, weil sie mit Peter im Magazin geschlafen und sich vertrödelt hatte, rechnete sie mit einem Riesenwickel. Wegen der Zahnschmerzen ihres Vaters, die so akut geworden waren, dass sogar Sehstörungen auftraten, fiel aber niemanden etwas auf.
In diesen modernen Familienromanen gibt es nicht die Platzierung in einer längst vergangenen Zeit und auch keinen „raunenden Beschwörer des Imperfekts“. [cxxvii] Statt einer chronologischen Darstellung ist eine neue nicht kontinuierliche Zeitstruktur und mit ihr das Präsens charakteristisch.[cxxviii]. Arno Geiger schreibt durchgängig in Präsens und nicht im Präteritum, so dass im Moment des Lesens die Zeit vergeht[cxxix]. Er wählt diese Zeitform, um nahe an die Figuren herangehen zu können. „Im Ergebnis ist sowohl die Zeithierarchie aufgebrochen, die etwas Wertendes hat, weil weniger wichtig erscheint, was länger her ist, als auch die Generationenhierarchie.“ [cxxx]
Diese moderne Form der Zeitstruktur hat ihren Grund in der Gleichberechtigung aller Figuren, damit „nicht die Figuren der älteren Generation nur Zuträger der Enkelgeneration“ sind. [cxxxi] Jeder Zeit und ihrem Protagonisten wird dabei die gleiche Bedeutung eingeräumt, so dass das, was länger her ist, nicht weniger wichtig ist. [cxxxii] Der Leser erlebt die frühere Zeit der Familiengeschichte so, als sei es die Gegenwart. Das Vergangene ist präsent, aber doch vergangen und somit dem Vergessen von Phillip anheim gegeben. Geiger spricht von einer „Reibungsfläche zwischen Erinnern und Vergessen“. [cxxxiii]
Das Inhaltsverzeichnis besteht aus Zeitangaben, von denen dreizehn auf die Gegenwart, vier auf die Zeit der Großeltern und vier auf die der Eltern entfallen. Im Hauptstrang fallen Erzählzeit und erzählte Zeit zusammen, festgelegt auf das Jahr 2001, in ihm kommt es zu einer Vergangenheitsbewältigung, bezogen auf die Gegenwart. [cxxxiv]
Die Sprache wird im Roman kontrolliert eingesetzt, so dass dieser Roman von einer „hochkomplexe[n] formale[n] Grundlage, die die Geschichte ausmacht“, getragen wird. [cxxxv] Geiger setzt hier das um, was er im Studium während seiner literarischen Sozialisation [cxxxvi] beim Experimentieren mit Form und Sprache lernte: „Diese frühen Jahre sind eine ganz wichtige Phase meiner Entwicklung, ohne die die aktuellen Bücher gar nicht denkbar wären. Die Experimente und Erfahrungen, die ich damals im Bereich der Prosa gemacht habe, bilden heute ein relativ breites Fundament, von dem aus ich nun weiter schreibe.“ [cxxxvii]
Arno Geiger „begleitet“ seine Personen [cxxxviii] in Form des inneren Monologsoder der erlebten Rede und gibt die innere Welt der Protagonisten, deren Reflexionen, Aktivitäten und Gefühle aus der persönlichen Sicht und in ihrem je eigenen Sprachduktus wieder. So fördert er beim Leser das Verständnis für die Personen und eine Identifikation mit deren sozialen Rollen in den dargestellten Handlungssituationen.
Erzählformen fließen ineinander, wenn aus der erlebten Rede ein innerer Monolog oder ein stream of consciousness wird oder der vermeintliche Leser durch Apostrophe angesprochen wird.
Im Stilmittel der „erlebten Rede“ befindet sich der Erzähler nicht in einer auktorialen Höhe, sondern nahe an den Figuren. (Im Gegensatz dazu würde eine Ich-Perspektive die Sichtweise auf die Figur, die spricht, hervorheben und betonen.) „Die erlebte Rede ist nicht nur ein Handwerkszeug, sie ist eine Methode, die Welt zu erschließen(…) im Wechselspiel verschiedener Innenwelten, im Erfassen von Stimmungen, wie sie entstehen und sich verändern, oft nur durch eine Geste oder das richtige Wort.“ [cxxxix] Der Autor „kennt seine Figuren ganz genau und führt sie dem Leser plastisch vor Augen, und doch lässt er ihnen genügend Spielraum.“ [cxl]
Ingrid S. 146
… Nur zu, das wollen wir mal sehen, dann wird sich zeigen, wofür die Erfahrungen, die er beim homo sovieticus gesammelt hat, zu gebrauchen sind, da wird er nämlich gegen eine Wand laufen, …
Alma S. 355
… Weshalb er seiner Schwester den Garten in Schottwien überschrieben hat, das hat sich ihr nie erhellt. Und weshalb er 1938 ohne Angabe plausibler Gründe sein Geld aus dem Geschäft ihrer Mutter gezogen hat, das hat sich ihr ebenfalls nie erhellt. Und warum die Lüge mit Gastein …
Almas Träume:
S. 371
Gesagt wird viel.
Das Vergessen ist der beste Gehilfe des Henkers.
Man lebt nicht nur einmal einmal …
Dialoge werden in den Erzählfluss integriert und oft nicht wörtlich wiedergegeben. Gesagtes, Gedachtes, Figurenrede und Erzählerstimme verwischen sich, die Erzählerstimme nimmt dabei die Merkmale mündlicher Rede an, die Dialoge klingen natürlich und nicht nach Schriftsprache, eine „Ästhetik der Beiläufigkeit“. [cxli]
Die Protagonisten äußern sich in
- Fachsprachen mit Fachausdrücken und bringen damit ihre Kompetenz und intellektuelle Entwicklung zum Ausdruck, z.B. im Kapitel 17, als Peter auf dem Weg in den Urlaub seiner beruflichen Tätigkeit als Verkehrsexperte für Kreuzungen nachgeht.
S. 308
Es ist ein Knoten mit drei Ästen, ein schiefes T, wo ein Nebenast in eine stark mit Durchgangsverkehr belastete Hauptstraße stößt. Der schwächere Ast hat lediglich lokale Bedeutung und mündet von unten in spitzem Winkel in den Hauptast. Das bringt Nachteile bei der Übersichtlichkeit, zumal die Kreuzung durch private Liegenschaften in der Breitenwirkung beengt ist. Wie Peter feststellt, werden auf der - für sich betrachtet - übersichtlich verlaufenden Hauptachse hohe Geschwindigkeiten gefahren. Trotzdem gibt es für abbiegende Fahrzeuge keinerlei Verzögerungs-und Vorsortierungsspuren, dadurch auch keinen Stauraum.“
Ebenso zwischen Johanna und Philipp im 18. Kapitel:
… Also über den Wassergehalt der Wolken … die zu untersuchende Luft durch Kohlensäure absorbierendes Material leitete und den C0 2 Gehalt aus der Gewichtzunahme der absorbierenden S ubstanzen erschloss …
- der Umgangssprache (Vulgarismen) und im Dialekt in emotionalen Dialogen:
S. 332
„Schleicht’s euch“wird von Philipp ausgerufen( Bedeutung: „Haut ab, geht weg.“).
S. 289
„Das zipft mich so an,..“von Sissi geäußert in der negativen Stimmung der Urlaubsfahrt. Es bedeutet: „es ärgert mich“, „ es macht mich verdrossen“.
S. 291
„grindig“, was soviel heißt wie „ekelhaft“, „hässlich“
Bedeutsame weitere Stilmittel sind:
- Sprachwitz: S. 30 Ein Minister a.D. Adé, wie’s die Sieben Schwaben sagen. Auf Wiedersehen, servus.
- Humor (in der komischen Übertreibung):
S. 343
Bis in sechs Wochen haben wir das ausgestanden, Herr Doktor, beruhigte ihn die Krankenschwester. Und Richard beinah gütig: Das will ich allen Mitgliedern des Hohen Hauses empfehlen .
S. 311
Voraussetzung für eine derartige Ausbildung wäre allerdings, dass man dieses Haus niederreißt. Nette Aussichten. Die Miene der Frau bleibt ziemlich ausdruckslos.
- Ironie, diese bereits im Titel: Die Floskel „Es geht uns gut“ wird verwendet, wenn keine ausführliche Antwort / Auskunft gegeben wird; sie ist nichtssagend und lässt keine Widerrede zu, [cxlii] ist eine Schutzbehauptung, um keine weitere Auskunft auf Fragen geben zu müssen. [cxliii] Diese Floskel als kurzer, fünfsilbiger Postkartengruß bedeutete in Österreich eine Portoermäßigung, die Alma skeptisch und als ein staatliches Prinzip beurteilt, das geringe Kommunikation unterstützt:
S. 28
„…als ob man an Staatsbürgern interessiert sein müsse, die für eine Ersparnis von zwei Schillingen darauf verzichteten, mehr mitzuteilen als nur Mama, mir geht es gut!“
Kurz darauf kommt Alma auf diese Floskel zurück, sie erzählt von familiären Konflikten und erkennt, dass die Lebenswirklichkeit der konventionellen Phrase widerspricht. Es geht eben keiner Person im Roman gut, es herrscht Kommunikationsunfähigkeit und letztendlich erzählt der Roman, was hinter der Floskel steht. [cxliv]
S.33
Unterm Strich, weiß Gott: Von gut ist das alles weit entfernt.
Der Verfasser bedient sich weiterhin dessen, was er in seiner literarischen Sozialisation als Handwerkszeug lernte, z.B.
- das ‚pars pro toto“-Prinzip: Der Bienenstock besitzt Symbolcharakter und weist auf frühere Ereignisse hin, auf die Enteignung und Deportation der jüdischen Familie [cxlv] Als Alma den Bienenschwarm auseinander treibt und die Bienenkönigin tötet, ist dies ein Sinnbild für die Zerstreuung ihrer Familie.
- das Stilmittel der Metonymie: Die Unordnung im Haus wird parallel gesetzt zur Unordnung in der Familie und in der Welt: Ebenso deutet das Gebiss Richards auf die historische Situation um 1955 hin, als er noch Minister war.
Bereits die literarische Epoche des Realismus verlegte Prozesse des Alterns und Sterbens in die Winter- und Herbstzeit oder in die Dämmerung und wählte eine Tages- und Jahreszeitensemantik. [cxlvi] Im Roman von Th. Mann ist z.B. das herbstliche Wetter beim Kuraufenthalt in Travemünde „öde“, „müde“, „starr“, (S. 665ff), und spiegelt mit den dazu gehörenden Naturbeschreibungen eine Untergangs- und Niedergangsatmosphäre wieder. Metaphern wie z.B. das Wetter und das Wasser werden auch bei Geiger zu Leitmotiven: In fast jedem Kapitel spielt sich die Handlung vor Sonne oder Regen ab und zumal Philipps Partnerin Meteorologin ist, wird das Wetter oftmals zum Thema bzw. Ersatzthema ihrer Gespräche. Das Wetter ist wechselhaft wie die Beziehungen und das Leben und dient als Metapher für das Leben in seiner Wechselhaftigkeit und Unbeständigkeit. [cxlvii] So unvorhersehbar wie das Wetter mit seinem permanenten Wechsel, (S. 168: man kann sich „aufs Wetter genauso wenig verlassen wie auf so vieles“ ) so temporär sind Ereignisse im Familienleben und können dieses durch ihre jeweiligen Umstände und Geschehnisse verändern.
Eine weitere Metapher ist außerdem das Wasser der Donau, es verkörpert Zufälligkeit, Vergänglichkeit und stetige Veränderung (z.B. die tödliche Bootsfahrt von Ingrid).
7. Temporale und zeitgeschichtliche Situierung der Romane
Ich weiß nicht, ob die Geschichte sich wiederholt: Ich weiß nur, dass die Menschen sich wenig ändern.
(Octavio Paz)
Eine Leistung des Familienromans ist die „Verknüpfung von Einzelschicksal und Weltenlauf“[cxlviii].Alle drei von mir untersuchten Romane stehen auf dem Hintergrund der Geschichte - historische Ereignisse werden durch den subjektiven Blick der Autoren anschaulich wahrgenommen - und zeigen uns, wie das Leben der Individuen durch das politische System beeinflusst wird und dass man stets in einem Kontext sozialer, politischer und wirtschaftlicher Zwänge lebt.
Sie sind somit zeitabspiegelnd und geben die Außenwelt realistisch, mit realen Erscheinungen wieder und informieren uns als Leser über damalige Vorkommnisse.
Diese Abbildung ist nicht in der Leseprobe enthalten.
7.1 Das 19. Jahrhundert im Spiegel des Romans „Buddenbrooks“
Im folgenden die genealogische Struktur der Familie Buddenbrook:
Der Roman von Thomas Mann spielt in der Zeit von Oktober 1835 bis Oktober 1877 in Lübeck. Für den Autor waren für die Niederschrift historische Studien notwendig.
Die Datierungen der Ereignisse gleichen in ihrer Objektivität einer Chronik[cxlix], in deren Mittelpunkt die Familie und ihre vier Generationen stehe. Die dritte Generation um Thomas Buddenbrook bildet den Schwerpunkt des Romans, Hannos kurzes Leben wird mit wenigen zeitlichen Lücken erzählt. [cl]
Der Autor wählt einzelne wichtige Ereignisse aus und gibt diese chronologisch wieder.
Das Buch umfasst 11 Teile mit einer unterschiedlichen Zahl von Kapiteln. Die zehn Kapitel des 1. Teils geben eine geniale Exposition, denn bereits dort treten fast die gesamten Figuren auf und benennen Ort,Thematik und die Problemstellungen.
1. Teil. 10 Kapitel
2. Teil. 11 Kapitel
3. Teil. 9 Kapitel
4. Teil 11 Kapitel
5. Teil 8 Kapitel
6. Teil 11 Kapitel
7. Teil 8 Kapitel
8. Teil 9 Kapitel
9. Teil 4 Kapitel
10. Teil. 9 Kapitel
11. Teil. 4 Kapitel.
Die Kapitel erzählen die Zeit der Familie Buddenbrook zwischen 1835 und 1877, es kommt sowohl zu allgemeinen Überblicken als auch zu starken Verdichtungen, letzteres bei der ausführlichen Erzählung von kleineren Zeiträumen. [cli]
Bereits beim Tischgespräch zu Beginn des Buchs wird mit der Situation der Zeit bekannt gemacht. In einer familiären Anekdote, veranschaulicht durch Pastor Wunderlich, finden sich gesellschaftliche und politische Zeitbezüge zur Franzosenzeit 1806 , mit General Blücher, der vor Napoleon flieht, als dieser in die Stadt eindringt und sie plündert.
S. 24
Fürst Blücher war fort, die Franzosen waren in der Stadt…
Der alte Johann Buddenbrook, so erfahren wir, hatte in den napoleonischen Kriegen Gewinne gemacht:
S. 12
… war anno 13 vierspännig nach Süddeutschland gefahren, um als Heereslieferant für Preußen Getreide einzukaufen …
Die Restaurierung der alten Lübecker Verfassung von 1813 betonte die Privilegien der Fernhändler und erteilte Umlandkaufleuten nicht die Genehmigung für den Senatsbeitritt: Davon profitierte Johann Buddenbrook, so dass ein Umzug in ein ansehnliches Haus 1835 erfolgen konnte.
Der Roman selber entfaltet sich zu Beginn vor der geschichtlichen Wirklichkeit Lübecks in der Zeit von 1835 bis 1850. Die beiden ersten Buddenbrook-Generationen verkörpern die Zeittendenzen Lübecks. Im zweiten Romanteil, der von Thomas Buddenbrook und Hanno handelt und die dritte und vierte Generation der Familie zwischen 1855 und 1877 umfasst, werden vom Verfasser autobiographische Elemente mit der Welt der Romanhelden vermischt.
Die Zeit danach, in der Lübeck eine Modernisierung und eine Verfassungsreform erlebte, in der die dominierende Stellung der Fernhandelskaufleute relativiert wurde und Lübeck eine technische Entwicklung mit dem Anschluss an das Deutsche Reich mitmachte, wird vom Autoren ausgeblendet. Für ihn war die Einzigartigkeit Lübecks im Zusammenhang mit der Senatorenschaft des Vaters aus der Riege der Fernhandelsleute von großer Bedeutung. Dies begründete sein bürgerliches Bewusstsein [clii] und spiegelt sich im Roman wieder.
Nun ein kurzer historischer Rückblick auf die politische Entwicklung in Preußen und Lübeck und ihre Darstellung im Roman:
Das Königreich Preußen war bereits im 18. Jahrhundert eine europäische Macht mit einem funktionierenden Beamtenapparat und einer schlagkräftigen Armee. Markt und Wettbewerb bestimmten die Wirtschaftsordnung. Nach dem Ende des Zunftzwangs herrschte Berufs- und Gewerbefreiheit, man setzte eine Schul- und Hochschulreform und ebenso eine Kommunal- und Heeresreform um und kam der Idee einer Bürgerlichen Gesellschaft nahe. Es fehlten dafür aber noch die bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte und eine Verfassung, die das gewählte Parlament mit Judikative und Legislative an den Willen der Bürger band.
Die Forderung nach einer Verfassung, die die Grundrechte und Freiheit, Mitbestimmung und Mitarbeit am staatlichen Gemeinwesen der Bürger garantieren sollte, kam im Vormärz. Nach der napoleonischen Fremdherrschaft war der Wunsch nach einem Nationalstaat vorhanden, es folgte 1815 der „Deutsche Bund “ als lose Föderation unabhängiger Staaten mit den Führungsmächten Preußen und Österreich. Diese schränkten die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit stark ein und unterbanden Kritik an bestehenden politischen Verhältnissen durch Polizeigewalt.
Der Beitritt zum Zollverein des Norddeutschen Bundes 1835, von Preußen initiiert, bedeutete für Lübeck eine Verfassungsänderung, da Lübeck bisher ein Staat mit eigener Zollpolitik war und von Zolleinnahmen lebte.
Jean Buddenbrook heißt dies, im Widerspruch zu anderen Gästen, aus wirtschaftlichen Gründen gut.
S. 39
…Konsul Buddenbrook war begeistert für den Zollverein!
„Bei erster Gelegenheit sollten wir beitreten …“
Herr Köppen aber war nicht dieser Meinung, nein, er schnob geradezu vor Opposition.
„Und unsere Selbständigkeit? Und unsere Unabhängigkeit?“
„Aber im Zollverein würden uns die Mecklenburgs und Schleswig-Holstein geöffnet werden …“
„Unser System ist doch so einfach und praktisch, wie? Die Einklarierung auf Bürgereid…“
„… das mit dem Bürgereid ist ein Unfug, allmählich, das muss ich sagen! Es ist eine Formalität geworden, über die man ziemlich schlank hinweggeht… und der Staat hat das Nachsehen. …
In den 40er Jahren entwickelten sich in Deutschland soziale Spannungen und es bildete sich eine liberale Opposition gegen Ständegesellschaft und Obrigkeitsstaat: Das Bürgertum als führende Kraft in Wirtschaft und Kultur verlangte nach mehr Teilhabe und Freiheiten, gleichzeitig politisierten sich auch die sozialen Unterschichten mit dem Ziel einer Verbesserung ihrer ökonomischen und politischen Lage.
Die Pariser Februarrevolution von 1848 brachte auch in Deutschland große Versammlungen zusammen: Politische Vereine, liberale Clubs expandierten, Forderungskataloge wurden verabschiedet.
Als 1848 in Frankreich die Republik ausgerufen wurde, griff die Revolution in kurzer Zeit auf alle deutschen Staaten über, wobei sich Wirtschafts- und Bildungsbürger zurückhielten und nicht auf die Straßen gingen, denn sie befürchteten eine unkontrollierbare Machtergreifung des ungebildeten und besitzlosen „Pöbels“ und forderten eine kontrollierte Bewegung in „geordneten Bahnen“.
1848 begann die Nationalversammlung in Frankfurt mit der Ausarbeitung einer Verfassung und einem Katalog von Grundrechten, wie die Abschaffung der Standesprivilegien, Versammlungs- und Pressefreiheit, Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit. Zur Durchsetzung kam es nicht, die Machtverhältnisse verschoben sich zugunsten des alten Regimes, und der Adel bewahrte sich seine Privilegien trotz der Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz.
Die politischen Ereignisse von 1848 spielen nur eine unbedeutende Rolle im Roman und haben für die Familie geschäftlich und politisch keine Bedeutung. Sie bilden stets den Hintergrund, Schwerpunkt bleibt im Roman die innere charakterliche Entwicklung der Protagonisten, deren Lebensprobleme und -entscheidungen und der Verfall einer Familie.
Thomas Mann verspottet die Ereignisse vom 9. Oktober 1848 anhand einer Anekdote und stellt sie als einen Protest von jungen Leuten aus den unteren Schichten dar.
S. 190f
Diese Menge war an Zahl nicht viel stärker, als die Versammlung im Saale und bestand aus jugendlichen Hafen- und Lagerarbeitern, Dienstmännern, Volksschülern, einigen Matrosen von Kauffahrteischiffen und anderen Leuten. Auch drei oder vier Frauen waren dabei, die sich von diesem Unternehmen wohl ähnliche Erfolge versprachen, wie die Buddenbrooksche Köchin. Einige Empörer, des Stehens müde, hatten sich, die Füße im Rinnstein, auf den Bürgersteig gesetzt und aßen Butterbrot.
„Ja, Herr Kunsel…“ brachte Carl Smolt kauend hervor. „Dat’s nu so ‚n Saak… öäwer… Dat is nu so wied… Wi maaken nu Rvolutschon.“
Aus heutiger Sicht wäre diese Darstellung aufgrund der Ernsthaftigkeit des Zwischenfalls zu kritisieren.
Konsul Buddenbrook empfindet Unmut über die nicht angezündeten Lampen, „eine offenbare und unerhörte Unterbrechung der Ordnung“ (S. 190), Leprecht Kröger verachtet die aufständische „Canaille“ und stirbt vor Entrüstung nach einem Steinwurf.
S. 195
Der alte Kröger schwieg, er schwieg beängstigend. …Dann aber kam es ganz tief aus ihm heraus… langsam, kalt und schwer, ein einziges Wort: „Die Canaille.“
In Wirklichkeit war die 48er Revolution in Lübeck, anders als Thomas Mann erzählt, ein Protest von selbständigen Handwerkern, die die Beibehaltung des ständischen Prinzips verlangten und in die Versammlung der Bürgerschaft eindrangen, als diese die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts beschließen sollte. [cliii] Der Senat in Lübeck forderte auf dem Hintergrund der Frankfurter Nationalversammlung und der dort gefassten Bestimmungen die Schaffung des freien und gleichen Wahlrechts. Die Bürgerschaft stimmte für die Senatsvorlage, woraufhin Demonstranten eine allgemeine Ständewahl verlangten, aus Angst vor der Verschlechterung der eigenen wirtschaftlichen Lage. „Kenner wirtschaftsgeschichtlicher Zusammenhänge haben geäußert, den Demonstranten, in der Mehrheit Handwerksgesellen, sei es in der Sache weniger um das Wahlrecht gegangen als um die Befürchtung, durch die neue Verfassung werde kurz über lang die Gewerbefreiheit eingeführt.“ [cliv]
Die Person des Konsuls Jean Buddenbrook agiert heroisch und behält als Mitglied der Bürgerschaft unter den Eingeschlossenen im Versammlungssaal die Oberhand. Er trägt die Züge von Th. Manns Großvater.
S. 189f
„Sie sehen mich gewillt, zum Volke zu reden.“
Der Konsul sagte:
„Nein, lasen Sie mich das lieber tun, Gosch… Ich habe wahrscheinlich mehr Bekannte unter den Leuten…“
Man machte sich aufmerksam, stieß sich in die Seiten und sagte gedämpft:
„Dat’s Kunsel Buddenbrook! Kunsul Buddenbrook will ‚ne Re‘ hollen! Holl din Mul, Krischan, hei kann höllschen fuchtig warn!…“
„Na Lüd“, sagte schließlich Konsul Buddenbrook, „ick glöw, dat is nu dat Beste, wenn ihr Alle naa Hus gaht!“…
die Menge fing an, sich in der allerbesten Laune zu zerstreuen. …
Die Verfassung von 1848 zog eine Verwaltungsreform und eine Gewaltenteilung zwischen Verwaltung und Justiz im Jahre 1852 nach sich und veränderte die Privilegien der Fernhandelskaufleute.
Der aristokratische Kaufmannsgeist, vertreten im Roman durch Konsul Kröger, löste sich auf.
Aufgrund der dänischen und mecklenburgischen Zollschranken hatte Lübeck sich bereits 1849 für die Hegemonie Preußens in der Reichsversammlung ausgesprochen. Der Krieg 1864 - er wird im Roman geschildert - bringt preußische und österreichische Einquartierungstruppen in die Stadt.
S. 436
Krieg und Kriegsgeschrei, Einquartierung und Geschäftigkeit. Preußische Offiziere bewegen sich in der parkettierten Zimmerflucht der Bel Etage von Senator Buddenbrooks neuem Haus. …
Im Spätherbst und Winter kehren die Truppen siegreich zurück, werden wiederum einquartiert und ziehen unter den Hochrufen der aufatmenden Bürger nach Hause. - Friede. Der kurze, ereignisschwangere Friede von fünfundsechzig.
Im Jahre1866 begann Bismarck einen Krieg gegen Österreich und besiegte eine Reihe von deutschen Mittelstaaten. Daraufhin löste sich der Deutsche Bund auf und ein „Norddeutscher Bund“ wurde gebildet, in dem Preußen die Führung über den Zusammenschluss der Staaten nördlich der Mainlinie innehatte. Der Weg zum Nationalstaat war offen und 1871 folgte die Gründung des Deutschen Reichs als konstitutionelle Monarchie mit einem Kaiser an der Spitze.
Im Zusammenspiel von Liberalen und Otto von Bismarck verwirklichte man einige bürgerliche Reformen, wie Freizügigkeit, eine Gewerbeordnung mit einer Beseitigung der alten Zunftverfassungen, ein neues Eherecht, das die freie Wahl des Ehepartners garantierte und die Einführung der Zivilehe. Die Befugnisse der Kirche wurden beschnitten, die Gegensätze zwischen der katholischen Kirche und der preußischen Regierung verschärften sich in einem „Kulturkampf“.
Carl Crüger beschreibt in seiner Handelsgeographie von 1834 noch Lübeck als eine Provinzstadt mit wenigen Getreide- und Weinhandelshäusern, schlechten Straßen und geringer Industrie, lediglich Gerbereien werden erwähnt und die Produktion von Seife und Spielkarten.[clv].
Als ab 1850 in Deutschland ein Aufschwung einsetzte, litt Lübeck noch unter den Folgen der Kontinentalsperre, die zum Konkurs vieler Firmen und Banken führte und unter der Politik Dänemarks die Verkehrsanbindung Lübecks verhinderte.
Fischfuhren waren eine einträgliche Beschäftigung für Fuhrleute aus Travemünde, die mit großen vierspännigen Wagen bis zu sieben Tonnen Fisch in die Stadt fuhren und Fisch auf dem Markt anboten, die Marktszene im Roman erzählt davon anschaulich:
S. 673
Im Centrum der Stadt war es lebendig, denn es war Sonnabend und Markttag. …Auf dem Marktplatz selbst aber, um den Brunnen herum, war Fischmarkt. Dort saßen, die Hände in halb enthaarten Pelzmüffen und die Füße an Kohlenbecken wärmend, beleibte Weiber, die ihre naßkalten Gefangenen hüteten… Man konnte sicher sein, etwas Frisches zu erhandeln, denn die Fische lebten fast alle noch, die fetten, muskulösen Fische… Einige hatten es gut. Sie schwammen, in einiger Enge zwar, aber doch guten Mutes, in Wassereimern umher und hatten nichts auszustehen. Andere aber lagen mit fürchterlich glotzenden Augen und arbeitenden Kiemen, zählebig und qualvoll auf ihrem Brett und schlugen hart und verzweifelt mit dem Schwanze, bis man sie endlich packte und ein spitzes, blutiges Messer ihnen mit Knirschen die Kehle zerschnitt. Lange und dicke Aale wanden und schlängelten sich zu abenteuerlichen Figuren. In tiefen Bütten wimmelte es schwärzlich von Ostsee-Krabben. Manchmal zog ein starker Butt sich krampfhaft zusammen….
Die rückständige Wirtschaftsverfassung und -praxis Lübecks änderte sich nach der Eingliederung ins Deutsche Reich, als sich die Transportwege verbesserten und sich Industrien ansiedeln konnten.
Seine besondere geographische Lage, die Schifffahrt und der Handel im Ostseeraum brachte Lübeck eine wirtschaftliche Macht, in der sich eine starke Kaufmannschaft mit Geschäftsverbindungen zu anderen Ländern entwickelte. Der Kaufherr wurde zu einem einflussreichen Bürger im Rat der Stadt und übte oberste exekutive und judikative Gewalt aus, „Ratsherr oder Senator wurde man auf Lebenszeit. Drei Schichten der städtischen Bürger waren ratsfähig: die alten Patrizierfamilien, die Gelehrten und die Kaufleute.“ [clvi]
Später als im restlichen Preußen wurden in Lübeck die Infrastrukturen der Eisenbahnlinien und Straßen ausgebaut, die Gewerbefreiheit eingeführt (erst 1866). Damit war die Ausgangslage für eine ökonomische Entwicklung durch die industrielle Revolution geschaffen. Wir lesen davon im Roman, als Thomas Budddenbrook darüber mit dem Friseur Wenzel plaudert:
S. 359f
Was hat zum Beispiel nach 48 und zu Anfang dieses Jahrzehnts mein Vater nicht Alles für die Reformation unseres Postwesens getan! Denken Sie mal, Wenzel, wie er in der Bürgerschaft gemahnt hat, die Hamburger Dilegencen mit der Post zu vereinigen, und wie er anno 50 beim Senate, der damals ganz unverantwortlich langsam war, mit immer neuen Anträgen zum Anschluss an den deutsch-österreichischen Postverein getrieben hat.
… welche Genugtuung ich empfinde, dass nun die Arbeiten für die Gasbeleuchtung begonnen haben und endlich die fatalen Öllampen mit ihren Ketten verschwinden…
1851 entstanden die ersten Bahnverbindungen, die für Lübeck den wirtschaftlichen Anschluss brachten. Th. Buddenbrook erzählt seinem Barbier von dem Mitwirken seines Vaters am Bau er Bahn, gemeint war der Großvater von Th. Mann:
S. 358
„Ja, Herr Konsul, und das Dumme ist, dass die Altona-Kieler Eisenbahngesellschaft und genau besehen ganz Holstein dagegen ist;…“
„Versteht sich, Wenzel. Solch neue Verbindung zwischen Ost- und Nordsee… Und Sie sollen sehen, die Altona-Kieler wird nicht aufhören, zu intrigueren. Sie sind imstande, eine Konkurrenzbahn zu bauen: Ostholsteinisch, Neumünster-Neustadt, ja, das ist nicht ausgeschlossen. Aber wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen, und direkte Fahrt nach Hamburg müssen wir haben.“
„… Ich interessiere mich für die Eisenbahnpolitik, und das ist Tradition bei uns, denn mein Vater hat schon seit 51 dem Vorstand der Büchner Bahn angehört, und daran liegt es denn auch wohl, dass ich mit meinen zweiunddreißig Jahren hineingewählt bin …“
Die Vorstadtentwicklung Lübecks, von der Th. Buddenbrook spricht, begann 1864 mit der Abschaffung des Ansiedlungszwangs innerhalb der Stadtmauern:
S. 361
Wir haben nicht mehr 37 000 Einwohner, sondern schon über 50, wie Sie wissen, und der Charakter der Stadt ändert sich. Da haben wir Neubauten, und die Vorstädte, di sich ausdehnen, und gute Straßenkönnen die Denkmäler aus unserer großen zeit restaurieren.
Und wieder ist an dieser Stelle der Zollverein ein Thema, für den sich der Konsul starkmacht:
S. 361
„… der Zollverein, Wenzel, wir müssen in den Zollverein, das sollte keine Frage mehr sein, und Sie müssen mir Alle helfen, wenn ich dafür kämpfe… Als Kaufmann, glauben Sie mir, weiß ich da besser Bescheid, als unsere Diplomaten, und die Angst, an Selbständigkeit und Freihit einzubüßen, ist lächerlich in diesem Falle. …“
1861 bildete sich der Verein zur Förderung der Gewerbefreiheit, eingeführt wurde diese von der Bürgerschaft 1866.
Es gab in Lübeck bereits 1838 mit über hundert Bierbrauern eine Brauzunft, die alle im sog. „Reihebrau“ Bier herstellten. Doch trotz dieser großen Anzahl von Bierbrauern verbesserte sich die Qualität des Getränks erst, als der Senat 1865 die Brauzunft aufhob und den Weg für eine Großbrauerei frei machte. Bis dahin hatten mittelalterlichen Zunftverhältnisse und die verschiedenen Befugnisse stets eine Hürde für die industrielle wirtschaftliche Entwicklung dargestellt.
Thomas Buddenbrook bietet dem Besuch aus Bayern Bier an, Herr Permaneder ist in Verhandlungen mit einer Brauerei in Lübeck:
S. 330
…“ Dös is fei a nett’s G’schäfterl! Mer machen a Geld mit der Aktion-Brauerei, wovon der Niederpaur Direktor is, wissen’s. ….“
S. 335
Zwei „Kindertagen“ hatte der Hopfenhändler schon angewohnt - denn obgleich er bereits am dritten oder vierten Tag nach seiner Ankunft beiläufig zu erkennen gegeben hatte, dass sein Geschäft mit der hiesigen Brauerei erledigt sei, waren allgemach anderthalb Wochen seitdem verflossen …
Die Tony-Morten-Episode lässt Travemünde, beherrscht von den Interessen Lübecks, als ein exklusives Seebad erscheinen, obwohl es in Wirklichkeit zur Zeit Th. Manns aufgrund des Eisenbahnanschlusses bereits zum Volksbad geworden war und sich die Fischer dort ein Zubrot durch Lotsendienste und Zimmervermietungen verdienten.
Während der Lotsenkommandant im Roman sich den Forderungen der Herrschaften aus der Stadt unterordnet und das hierarchische Gefälle akzeptiert, ist sein Sohn Morten ein Mitglied der Burschenschaft und des „Vormärz“ und sympathisiert mit den Ideen der Pressefreiheit. Er fordert die Abschaffung der Standesprivilegien und die Anerkennung von Leistung als Maßstab der Wertschätzung.
S. 136
„… wir, die Bourgeoisie, der dritte Stand, wie wir bis jetzt genannt worden sind, wir wollen, dass nur noch ein Adel des Verdienstes bestehe, wir erkennen den faulen Adel nicht an, wir leugnen die jetzige Rangordnung der Stände…wir wollen, dass alle Menschen frei und gleich sein, dass niemand einer Person unterworfen ist, sondern alle nur den Gesetzen untertänig sind!…
Vor vier Jahren sind die Bundesgesetze über die Universitäten und die Presse erneuert worden - schöne Gesetze! Es darf keine Wahrheit niedergeschrieben oder gelehrt werden, die vielleicht nicht mit der bestehenden Ordnung der Dinge übereinstimmt… Verstehen Sie? Die Wahrheit wird unterdrückt, sie kommt nicht zum Worte…“
Im Jahre 1866 trat Lübeck dem Norddeutschen Bund bei, trotz des Misstrauens dem König von Preußen und Bismarck gegenüber. 1868 folgte als nächstes der Eintritt in den Deutschen Zollverein.
Befürworter wie Konsul Johann Buddenbrook wiesen in diesem Zusammenhang auf die florierenden Städte wie Kiel, Stettin und Wismar hin, während anders denkende Kaufleute um ihre Freiheit und Selbständigkeit fürchteten.
Letztendlich wuchs durch den Eintritt der Handelsverkehr, insbesondere der skandinavische Handel.
Von nun an zog preußischer Drill in die Stadt ein. 1871 erfolgte der Bau der ersten Kaserne und die Niederlassung einer Bundes-Garnison, die mit der seit 1814 bestehenden Bürgergarde für Ruhe und Ordnung sorgte. Wie preußisch Lübeck infolge der politischen Ereignisse geworden war, zeigt sich im Besuch des Realgymnasiums von Hanno: Die Schule funktionierte wie ein Staatswesen mit Konkurrenzstreben und „preußischer Dienststrammheit“, mit Untertanenmentalität, dem Recht des Stärkeren, mit Unterdrückung und Ungerechtigkeiten.
S. 722
Damals war Doktor Wulicke, bislang Professor an einem preußischen Gymnasium, berufen worden und mit ihm war ein anderer, ein neuer Geist in die alte Schule eingezogen. Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichen Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Carrière zu höchster Würde gelangt. … Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in dem preußische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, dass nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern gut angeschrieben zu stehen…
S. 740
Direktor Wulicke musterte eine Weile die salutierenden Kolonnen, worauf er die Arme mit den trichterförmigen, schmutzigen Manschetten erhob …
Das Wirtschaftspotential in Lübeck im Zeitraum von 1835 bis 1877 wuchs, der Getreidehandel florierte, so dass „die Liquidation der über hundert Jahre alten Firma nach dem Tode des Senators Mann denn auch keineswegs von wirtschaftlichen Notwendigkeiten diktiert [wurde].“ [clvii] Es gab wichtige Handelsverbindungen von Lübeck mit St. Petersburg und Riga, und die Vereinigung zur allgemeinen Kaufmannschaft stärkte die Interessenvertretung des Handels. Von jetzt an nahm Lübeck am Exportaufschwung und der Hochkonjunktur teil, so wie vorher bereits Hamburg und Bremen.
Vieles von dem, was sich historisch nach 1855 in Lübeck ereignete, findet im Roman keine Erwähnung, „der Autor mischt von dem Augenblick an, wo Th. Buddenbrook die Firma übernimmt, Vergangenes, Erfahrenes und Erlebtes.“ [clviii]
Aber einem Familienroman, so haben wir gelesen, geht es ja weniger um historisches Wissen oder um politische Einschnitte, die in die alltägliche Lebensführung hineinreichen, sondern um das familiäre Erleben, in diesem Fall bei den Buddenbrooks, die als wohlhabende Kaufleute das Bild eines Bürgertums verkörpern, das sich Ende des 19. Jh. als bürgerliche Klasse herausgebildet hatte.
7.2 Historie im österreichischen Roman „Es geht uns gut“ von Arno Geiger
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Bevor ich genau schreibe, wie sehr sich in Arno Geigers Roman Biographien und die Geschichte des 20. Jahrhunderts im Parallelisieren von individueller und historischer Entwicklung verflechten, sich private und öffentliche Geschichte verzahnt und das historische Panorama in die fiktionale Geschichte integriert werden, gebe ich in Kürze die Historie Österreichs im „bürgerlichen 19. Jahrhundert“ wieder, die der deutschen nicht unähnlich ist.
7.2.1 Die Geschichte Österreichs im „bürgerlichen 19.Jahrhundert“ - ein Exkurs
Österreich,ein Kaiserstaat mit der Herrschaft der Habsburger, war im 19. Jahrhundert ein Konglomerat verschiedener Länder, die ihr Eigenrecht besaßen und Loyalität gegenüber dem jeweiligen Landesfürsten zeigten. Es gab kein gesamtösterreichisches Volk sondern einen Vielvölkerstaat, in dem die Deutschen 23% der Gesamtbevölkerung repräsentierten, die Ungarn 18% , weiterhin gab es Völker wie die Slowaken, Rumänen, Slowenen, Serben, Kroaten. Das Ziel, ein „Totum“ Österreich zu bilden, konnte aufgrund der Heterogenität der Königreiche und Länder nicht wie erhofft erfolgen, stattdessen wurde diese Völkervielfalt im 19. Jahrhundert ein Konfliktfeld und ein Grund dafür, dass sich eine Demokratisierung des Staates verspätete und nur langsam im Vergleich zu Europa vollzog.
Die Epoche Maria und Josephs II. von 1740 bis 1811 gilt als Grundlage für die Herausbildung eines modernen Staates: Eine Verwaltungsreform mit hierarchisch gegliedertem Verwaltungsapparat, die die Entmachtung der Stände initiierte, schuf die Voraussetzung für eine moderne Staatlichkeit: Man führte die deutsche Sprache als Amtssprache ein und vereinheitlichte damit das Verwaltungshandeln. Dem folgte eine Professionalisierung und Bürokratisierung auf staatlicher Ebene durch eine Systematisierung der Dienstklassen und der Aufgabenbereiche der Beamten. Eine allgemeine Wehrpflicht ermöglichte von nun an der Jugend den sozialen Aufstieg und beendete das Vorrecht des Adels als „Wehrstand“.
Als bedeutendste Reformmaßnahme galt die gesetzliche Durchsetzung der allgemein Schulpflicht und ein Schulsystem, das den Einfluss der Kirche reduzierte. Die ersten Bildungsinstitute für Mädchen schufen eine Vorbereitung für Offiziers- und Beamtentöchter auf den Beruf der Erzieherin und Gouvernante.
Man spricht „im Zusammenhang mit der österreichischen Geschichte gerne [vom] ‚aufgeklärten Absolutismus‘ “[clix]. Regenten handelten im Zeichen der Vernunft und distanzierten sich von der römischen Kurie und der Volksfrömmigkeit und schufen so ein geistiges Klima, geprägt vom „liberalen Katholizismus, der Glaube und Vernunft zu vereinen hoffte“. [clx] Die Politik versuchte, die Vormachtstellung der katholischen Kirche zu beenden, definierte die Ehe als bürgerlichen Vertrag neu, hob den Jesuitenorden auf und schränkte die Wallfahrten ein. Die sozialen Maßnahmen von Joseph II führten zur Einrichtung von Armen- und Waisenhäusern und Schulgründungen.
Eine sehr wichtige Reform war die Vereinheitlichung des Rechts und damit die Beschränkung der adeligen, kirchlichen und städtischen Rechtsträger:
Das Privatrecht mit dem Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 unterwarf alle Untertanen der staatlichen Obrigkeit und sah eine ständisch ungebundene Gesellschaft vor, u.a. mit dem vom Staat garantierten Recht auf Eigentum. Das ständisch-feudale Denken und die ständische Grund- und Stadtherrschaft blieben jedoch weiterhin erhalten. „Das vereinheitlichte bürgerliche Privatrecht garantierte den Staatsbürgern moderne Freiheitsrechte, dennoch bildeten die ständische Grund- und Stadtherrschaft weiterhin die Grundlage des öffentlichen Rechts.“ [clxi]
Die sog. „Heilige Allianz“ von 1815 zwischen Russland, Preußen und Österreich sah nicht das Volk sondern Gott als den Souverän für die „christliche Nation“ in Europa. Ruhe und Ordnung wurden mit Hilfe eines bewaffneten Interventionsrechts bewahrt und eine politische Partizipation der Staatsbürger durch die absolute Alleinherrschaft des Kaisers unterbunden.
Der erfolgreiche Abschluss des Wiener Kongresses schuf eine österreichische Vormachtstellung in Europa: Der Österreichische Kaiser galt als höchster europäischer Würdenträger, Österreich hatte den Vorsitz innerhalb des Deutschen Bundes und galt bei den Bundesversammlungen als führende Macht.
Es folgte die Ära Metternich, eine Zeit der Restauration. Ihr Ziel war es, die europäische Führungsposition Österreichs in der Nachfolge des römisch-deutschen Kaisertums wiederherzustellen, und dies durch Zensur, Meinungskontrolle, mangelnde Bürgerrechte und gegenrevolutionäre Politik. Politisches Handeln und staatsbürgerliche Partizipation wurden verhindert.
1830 begann die Industrialisierung. Sie führte insbesondere durch die Textilproduktionzu wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, beschleunigte den Ausbau der Eisenbahn und schnellere Verbindungswege. Eine expandierende Papierindustrie ermöglichte die Publikation von Druckerzeugnissen, die wiederum auf das Leseverhalten breiter Bevölkerungskreise wirkte.
Eine allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt: Realschulen und die Gymnasien, die zu höheren Bildungsanstalten wurden, standen nun den Bürgersöhnen offen. Sie rekrutierten sich nicht nur aus den Beamten- und Kaufmannsfamilien, sondern auch aus Teilen der neuen technischen Berufe und Wirtschaftsbereiche, die nun vermehrt an die Universitäten strebten.
Die Bevölkerung stieg zwischen 1790 und 1850 von 22 auf 31 Millionen. Als soziale Gruppen gewannen die Arbeiterschaft und der Mittelstand, d.h. Akademiker, Kaufleute, Beamte und Künstler an Bedeutung. Mit letzteren etablierte sich wie in Deutschland eine bürgerliche Kultur,in Österreich insbesondere in Kaffeehäusern, in Salons und in der Kultur dienenden Vereinen. Zu diesem bürgerlichen Spektrum gehörten Bankiersfamilien wie Rothschild. Sie pflegten einen feudalen Lebensstil, wurden nobilitiert und rangierten fast auf der Höhe der Hocharistokratie. In der bürgerlichen Wohnkultur und einer entsprechend der unterschiedlichen Geschlechterrollen modischen Differenzierung der Kleidung präsentierten sie den Wohlstand eines neuen Standes.
Beide Gesellschaften („erste Gesellschaft, d.h. der Adel und die „zweite Gesellschaft“, d.h. das Bürgertum) waren Förderer deskulturellen Schaffens, wobei die Bürger sich durch besonders großes Interesse und Fachkundigkeit auszeichneten und ein breites Publikum mit hohem Bildungsniveau darstellten, für die „die Lektüre schöngeistiger Literatur, der Besuch von Opern- und Theateraufführungen, Museen und Kunstgalerien allmählich zum selbstverständlichen Bestandteil eines neuen Lebensstils wurde.“ [clxii]
Besondere Bedeutung kam der Tanz- und Unterhaltungsmusik, geprägt durch den Walzer, und der Hausmusik zu. Die Mehrheit der Künstler selbst stammte aus (groß)bürgerlichen akademischen Elternhäusern, hatte eine gymnasiale Ausbildung und übte ihre Kunst ohne Förderung von Seiten des Hofs aus - denn waren bis ins 18. Jahrhundert Kunst und Musik im höfischen Kontext angesiedelt, entwickelte sich nun ein neuer Künstlertyp, der von der Kunst lebte, unabhängig seinen Beruf ausüben konnte, wenn auch finanziell von Mäzenen abhängig.
Unter den Künstlern und ihren künstlerischen Sujets zeigte sich der Trend zur Verbürgerlichung: Der ‚freie‘ Künstler war als Auftragskünstler für Kaiserhof, Adelshäuser und für finanzkräftige Bürger, Kaufleute und Unternehmer tätig. Damit war Kunst nicht mehr das Privileg der Aristokratie, sondern diente auch der Selbstrepräsentation breiterer Kreise. [clxiii] Das Bewusstsein für die Freiheit der Kunst ermöglichte es Musikern und Komponisten wie Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, und Johann Strauß sich ganz der Musik zu widmen.
Dann kam das Jahr 1848 und trotz präventiver Maßnahmen von Seiten Metternichs regte sich der Widerstand des Volkes gegen die herrschenden Systeme.
Dem Bürgertum mit einem gemäßigten konstitutionellen Programm standen zwar radikalere Studenten gegenüber, die die soziale und nationale Frage einbezogen, doch der Sturz Metternichs, die Zusage einer Verfassung und das Ende der Zensur waren im Sinne des Bürgertums. Es hatte für sich verfassungsmäßig gesicherte Rechte und Mitsprache in Wirtschafts- und Finanzfragen gefordert, gleichzeitig aber politische Rechte für die Arbeiterschaft ausgeschlossen. [clxiv]
Mit der Niederschlagung der Revolution bildete sich das Prinzip der Gleichberechtigung aller Nationalitäten in Österreich.
Das Gemeindegesetz von 1849 konstituierte die Ortsgemeinden als kleinste Einheit der Verwaltung und ermöglichte eine politisch aktive Gestaltungsmöglichkeit für die freien und gleichen Staatsbürger. So waren nach der Revolution bürgerlich-liberale Eliteregierungen an der Umgestaltung des Staates zur Doppelmonarchie beteiligt, und ebenso wie in Deutschland gab es die Forderung der bürgerlichen Eliten nach einer Garantie für bürgerliche Freiheiten wie Wirtschafts-, Meinungs- und Pressefreiheit. Verstärkt wurde dieser gesellschaftliche Emazipationsprozess durch eine unabhängige Justiz.
1848 schuf man ein neues Unterrichtsministerium. Es modernisierte Gymnasienmit der Einführung der Maturitätsprüfung nach acht Jahren und der stärkeren Betonung der naturwissenschaftlichen Fächer und der Mathematik. Realschulen boten eine höhere Bildung auf verschiedenen Wissensgebieten mit einer modernen Fremdsprache und mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern für den Teil der Bevölkerung, der kein Studium absolvierte.
Bildung wurde nun die wichtigste Möglichkeit des sozialen Aufstiegs und ermöglichte auch jungen Männern aus bäuerlichen und kleinbürgerlichen Milieu mit der Maturitätsprüfung den Einritt in die „bessere“ Gesellschaft.
Die Umbildung der Universitäten erfolgte nach dem Vorbild der „preußischen Lehranstalten“ mit der Einheit von Forschung und Lehre und brachte mit der Neuregelung des Lehramtsstudiums eine Professionalisierung des Lehrerberufs.
Als 1868 die „Maigesetze“ die Schulaufsicht dem Staat unterstellten, entfiel das Aufsichtsrecht der Kirche und der Wechsel des Glaubensbekenntnisses wurde nun gesetzlich möglich, begrüßt von den bürgerlich-intellektuellen Kreisen.
Was war mit der Bildung der Frauen? Durch den Einfluss der Frauenvereine ermöglichte man ihnen auf der höheren Bildungsschule in Wien und auf dem Grazer Mädchenlyzeum ab den 1870er Jahren eine Ausbildung mit dem Schwerpunkt auf die musische Ausbildung und auf moderne Fremdsprachen. Ab 1897 wurden die Frauen an den österreichischen Universitäten zugelassen.
Franz Joseph I. schuf in der Zeit der neoabsolutistischen Reformpolitik eine liberale Handels- und Wirtschaftspolitik in Form der freiheitlichen Gewerbeordnung, die eine Voraussetzung für eine hierarchisch aufgebaute Staatsstruktur war.
Ab 1861 ließ das an die Steuerleistung gebundene Zensuswahlrecht das städtische Bürgertum und die ländlichen Oberschichten zu den Wahlen zu. Die politische Gruppierung der Liberalen war nun erfolgreich und in der Wiener Regierung dominierten die Deutsch-Liberalen, genauer: das Bürgertum.
Gleichzeitig verschärfte die liberale Wirtschaftspolitik soziale Gegensätze, Beschäftigungszahlen und Löhne sanken, so dass in den 80er Jahren unter der konservativen Regierung Taaffe Sozialgesetze die Arbeitszeit beschränkten und Unfall- und Krankenversicherungsgesetze eingeführt wurden. Es folgte eine Abkehr von der liberalen Wirtschafts- und Gewerbepolitik hin zu Einschränkungen der Presse- und Meinungsfreiheit und zu ‚Sozialistengesetzen‘.
Außenpolitisch änderte sich die Bedeutung Österreichs: Otto von Bismarck wurde ab 1862 zum außenpolitischen Gegner und stellte im Deutschen Bund dem katholisch-großdeutschen Modell Österreichs die protestantisch-kleindeutsche Lösung unter der Dominanz Preußens gegenüber.
Der Norddeutsche Bund und die Deutsche Reichsgründung 1871 beendeten die Führungsrolle Österreichs, und es folgte eine politische und diplomatische Annäherung zum Deutschen Kaiserreich. Das Drei-Kaiser-Abkommen von 1873 zwischen Wilhelm I., Kaiser Franz Joseph und Zar Alexander II betonte das Interesse am Erhalt der Monarchie als Staatsform, anders als Frankreich, das 1871 die Erste Republik ausgerufen hatte.
Den Imperialismus der europäischen Großmächte mit einer aggressiven europäischen Expansionspolitik setzte Wien kaum um, lediglich der Südosten Europas blieb zur politischen Machtentfaltung übrig. Im Krieg mit dem Osmanischen Reich wurde er aber russischer Machtbereich, was die Rivalität und die konkurrierenden Interessen zwischen Russland und Österreich verstärkte und aufgrund der Machtbestrebungen auf dem Balkan zur größeren Annäherung zwischen Deutschland und Österreich führte.
In den Jahren zwischen 1848 und 1918 hatte sich in Österreich eine Massengesellschaft gebildet: die Bevölkerungszahl stieg auf 50 Millionen, Städte wuchsen, so hatte z.B. Wien bereits vor dem Ersten Weltkrieg 2 Millionen Einwohner.
Der Bau der Eisenbahn beschleunigte ab den 80er Jahren die Bauwirtschaft, die Eisen- und Maschinenindustrie und den Kohlenbergbau, die zunehmende industrielle Produktion veränderte die Zahl der Beschäftigten in den einzelnen Wirtschaftssektoren und ließ sie insbesondere im nicht-landwirtschaftlichen Sektor stark anwachsen.
1893 formierte sich die Christlich-Soziale Partei, deren Politik sich gegen das jüdische Kapital richtete und antisemitischen Charakter hatte. Als nach der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts 1907 die hocharistokratische und großbürgerliche Vorherrschaft endete, zog sie neben den Sozialdemokraten, Konservativen und deutschnationalen Gruppierungen in den Reichsrat ein.
Eine antiliberale und antikapitalistische Grundstimmung machte sich breit. Sie kritisierte die liberale Wirtschaftspolitik, die zur Verelendung breiter Bevölkerungsschichten geführt hatte und insbesondere die weiblichen Dienstboten in den Großstädten das Elend dieser Zeit spüren ließ: Ihnen wurde oft nur eine Schlafstelle auf/in dem Flur oder in der Küche in der bürgerlichen Wohnung zur Verfügung gestellt. [clxv]
Man forderte, dass die sozialpolitische Verantwortung von nun an beim Staat liegen sollte und strebte durch die Stärkung des bürgerlichen Mittelstandes und handwerklicher Familienbetriebe an, die Kluft zwischen den Unterschichten und dem bürgerlichen Großkapital zu überbrücken. Bürgerliche Schichten setzten sich durch Vereins- und Genossenschaftsgründungen für die Verbesserung der Lebensbedingungen der sozialen Unterschicht ein, bürgerliche Frauenvereine traten für eine Öffnung der Bildungseinrichtungen für Frauen und für bessere Arbeitsmöglichkeiten ein. Ähnlich wie in Deutschland bewirkten Vereine als bürgerliche Organisationsform des 19. Jahrhunderts durch sozial- und bildungspolitische Aktivitäten eine Milderung der Armut breiter Bevölkerungsschichten. Genossenschaften, z.B. Raiffeisen-unterstützten Landwirtschaft und Handwerk mit Darlehen und Krediten bei Ernteausfällen oder Erbenauszahlungen.
Das Leben der Menschen hatte sich verändert: Technische Erneuerungen wie das Automobil, die Schreibmaschine, das Fahrrad, Kommunikationstechnologien/Telefon prägten den Alltag und das Arbeitsleben, neue Energieträger wie Erdgas und Elektrizität setzten sich durch, und in Wien siedelten sich in den neunziger Jahre die ersten Elektroindustrien an.
Mit dem Attentat auf den Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gattin in Sarajevo am 28. Juni 1914 durch einen radikalen serbischen Nationalisten kam es zur Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Der nun folgende vierjährige Krieg brachte innenpolitische Zerfallserscheinungen: Gewaltbereitschaft, Lebensmittelknappheit, Hunger und soziale Spannungen nahmen zu. Kaiser Franz Joseph starb 1916, sein Nachfolger wurde Kaiser Karl I..
Hatte bereits seit dem Revolutionsjahr 1848 die Habsburgmonarchie ihre Macht sukzessive verloren, waren nach dem 1. Weltkrieg die siegreichen Alliierten nicht bereit, eine Monarchie oder das Haus Habsburg zu unterstützen, so dass Karl I. am 12. November abdankte. Wilhelm I.war bereits am 9. November zurückgetreten.
Eine Republik Deutsch-Österreich wurde ausgerufen, und nach und nach erklärte man die Unabhängigkeit der „österreichischen Völker“. Der Plan, einen freiwilligen Staatenbund mit den Nachfolgestaaten zu bilden, hatte keine Aussicht auf Realisierung, und so erfolgte vertraglich eine Eingliederung Österreichs in die Deutsche Republik. Die Siegermächte verboten den kompletten Anschluss an Deutschland und zwangen die Republik in die Selbständigkeit.
Die freien Wahlen 1919 brachten eine Koalitionsregierung unter sozialdemokratischer Führung und den Christlich-Sozialen. In der Folgte schafften sie radikaler als in Deutschland in der Weimarer Republik die Adelstitel und -vorrechte ab und führten sozialpolitische Reformen wie die Arbeitszeit- und Urlaubsregelung und die Arbeitslosenversicherung ein.
Ab Mitte der 20er Jahre begann ein Wirtschaftswachstum, es fußte auf der (proto)industriellen Produktion (Textilindustrie) durch den Ausbau von Manufakturen, und dem Wachstum im landwirtschaftlichen Sektor.
Die Verfassung von 1920 war moderner als die deutsche und stattete das Parlament mit wichtigen Kompetenzen aus. Trotzdem gewannen paramilitärische Ortswehren und Frontkämpfervereinigungen, von Parteien teilweise gegründet und auf das Führerprinzip eingeschworen, mit der Idee des faschistischen Ständestaates (Heimwehr) immer mehr an Einfluss. Die patriarchalischen Strukturen in der Gesellschaft und eine militaristischen Ausrichtung führten zu immer weniger Akzeptanz des parlamentarisch demokratischen Systems. Als angesichts der Weltwirtschaftskrise und starker Arbeitslosigkeit sich in ganz Europa autoritäre Regime entwickelten, hatte die Verfassungsreform von 1929 mit der Etablierung eines starken Bundespräsidenten Ähnlichkeit mit dem Hindenburg-Modell in Deutschland.
Die Nationalsozialisten errangen 1932 auf Kosten der Christlich-Sozialen und der Sozialdemokraten große Erfolge. Man wandelte die christlich-soziale Partei in die „Vaterländische Front“ um. Dollfuß, die Symbolfigur des ‚Austrofaschismus‘, wurde 1933 Kanzler. Er lehnte sich eng an den italienischen Faschismus an, wurde 1934 Opfer eines Putschversuchs der illegalen SS-Standarte 89.
Aus der Republik wurde ein „christlich deutscher Bundesstaat auf ständischer Grundlage“, und dieser kann durchaus als „repressiv“ charakterisiert werden: Nun ruhte die Macht auf dem Kanzler und der katholischen Kirche, sie erhielt durch ein Konkordat größeren Einfluss auf das Schulwesen und auf das Eherecht.
7.2.2 Die Zeit des „Austrofaschismus“
Ab hier beginnt die Zeit, die den Hintergrund für den Familienroman von Arno Geiger bildet.
Die Familiengeschichte spielt in der Zeit des 20. Jahrhunderts zwischen 1938 und 1989 mit wechselnden Perspektiven der Hauptfiguren bzw. Familienmitgliedern.
„Die Familie wird zur Allegorie des Weltgeschehens.“ [clxvi]
Geiger fasst das vergangene Jahrhundert in Form von Diskursen der geschichtlichen, die Familie berührenden Ereignissen zusammen und gibt den Alltag von Alltagsmenschen wieder. So gelingt es ihm, dass „die Leser den Wert und die Bedeutung des Alltags in den Schilderungen erkennen können.“ [clxvii]
Neun einzelne Tage mit exakten Daten, ähnlich Tagebucheinträgen, stellen ein halbes Jahrhundert dar, wobei nicht die wichtigsten politischen Ereignisse im Vordergrund stehen, sondern Alltäglichkeiten und gewöhnliche Situationen der Protagonisten, „Kleinigkeiten, die so sehr ins Gewicht fallen“, so der Autor. [clxviii]
Folgende markante real-politische Ereignisse und Daten der österreichischen Geschichte werden zum Hintergrund familiärer Ereignisse und im Zeitraum einiger weniger Tage erzählt:
1938 Anschluss Österreichs
1939 Beginn des 2. Weltkriegs
1945 Kriegsende
1955 der Staatsvertrag
1962, 1978, 1979, 1982 beliebige Tage und Zeitkolorit
1989 Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten
Kurze dokumentarische Passagen in Kursivdruck in Form von Kurzmeldungen aus dem Radio, Dokumente, Zeitungs- und Radiomeldungen, Redewendungen, Merksätze zu Ereignissen des Tages spiegeln die Ereignisse der Figuren und das Verhalten der Figuren in Abhängigkeit der Zeit wider und suggerieren Authentizität und konkretisieren Historizität:
S. 206
1962
Im Jemen heißt es, bilden die Rebellen eine Regierung. Die Beduinen drohen mit Bürgerkrieg …Boykott gegen Negerstudenten löst Staatskonflikt in den USA aus. …
All die genannten Ereignisse und politischen Veränderungen in den einmontierten Pressemeldungen und Schlagzeilen sind plötzlich, unberechenbar, negativ und vom Zufall bestimmt (so wie manche der geschilderten Familienereignisse, z.B. Ingrids tödlicher Badeunfall). Die Daten dienen lediglich der besseren zeitlichen Orientierung des Lesers, denn letztlich ist das Familienleben das, was diesen Familienroman bedeutsam macht, auch wenn die Protagonisten politisch und kulturell in der österreichischen Geschichte verankert sind.
Zunächst ist die Zeit des Nationalsozialismus und der Zweite Weltkriegs der Hintergrund, vor dem individualisierte erlebte Geschichten erzählt werden. [clxix]
Biographische Elemente deuten den historischen Wandel der Kriegs- und Nachkriegszeit, die Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, der Frauenemanzipation an und berühren dabei Themen wie
- „Verwurzlung in Geschichte und Gegenwart,
- verlorene und neu gewonnene Heimat,
- Erinnerungsarbeit und Liebesbeziehung,
Menschenwürde und die Gestaltung einer freiheitlichen zivilen Lebensweise“. [clxx]
In den Lebensabschnitten der Figuren verschränkt sich ein Panorama verschiedener Motive: Liebe und Glück, Sehnsucht, Missbrauch von Gefühlen, familiäres Unglück, richtige Entscheidungen und falsche, Selbstvertrauen und Zweifel; aber auch soziales und nationales Selbstverständnis, Geschlechterrollen, Klassendünkel.
Geschichte und erzählerische Gegenwart des Jahres 2001 wechseln sich in den Kapiteln in ungleicher Reihenfolge ab.
Beginnen wir mit der Historie des Nationalsozialismus im Roman, dem sog. „Austrofaschismus“
Der deutschfreundliche Kanzler Kurt Schuschnigg schloss auf innen- und außenpolitischen Druck 1936 ein Abkommen, das nationalsozialistische Funktionäre in der Politik förderte und ihnen freie politische Entfaltung garantierte. Auf Druck von Hitler setzte er den nationalsozialistischen Innenminister Seyss-Inquart ein. Als Hitler einmarschierte, wurde dieser von den Österreichern, die auf ein Ende der Arbeitslosigkeit und eine Verbesserung ihre wirtschaftlichen Situation hofften, begeistert empfangen.
(AG)
S. 125
Dann: Wie Peter sich als Achtjähriger durch eine dichte Menge jubelnder Menschen hindurchtunnelte und plötzlich den Führer sah, der aus seiner Limousine heraus die Wiener Bevölkerung begrüßte.
Richard erlebt Hitlers Einmarsch davon abweichend:
S. 65
Am 13. März, dem Tag nach Beginn des Einmarsches, einem Sonntag, wurde Richard morgens von der Polizei aus dem Bett geholt und auf das Kommissariat in der Lainzer Straße verbracht…
Mit zunehmendem Schrecken richtete er sich auf seine erste Nacht im Arrest ein, die dann aber doch nicht stattfand, weil die Aktion wenigstens in seinem Fall vor allem der Einschüchterung diente.
Er muss ein Gelöbnis unterschreiben, dessen Inhalt ihn verpflichtet, sich nicht mehr politisch zu betätigen.
S. 66
Als ob er sich je ernsthaft politisch betätigt hätte. Daraufhin wurde er nach Hause entlassen.
Wirtschaftlicher Aufschwung durch eine massive Kriegsrüstung, Großprojekte im Autobahnbau und in der Schwer- und Rüstungsindustrie ließen die Arbeitslosigkeit sinken.
S. 126 (Peters Vater)
Die glückliche Zeit nach dem Anschluss, als der Vater plötzlich wieder in Arbeit und Brot stand und die Anspannung von ihm abfiel und es plötzlich eine größere Wohnung gab im gleichen Haus weiter oben …
Und wie der Vater ihn ins Vertrauen zog, dass selbstverständlich er und seine Kollegen es gewesen seien, die das Telefonhütterl gesprengt und die Hakenkreuze hinterlassen hatten, und wie glücklich er über die Ankunft der Genossen aus dem Altreich sei und dass der Tisch in Zukunft reicher gedeckt sein werde.
Hinzu kam in Österreich der mentale Aspekt: „Man war aus der Enge des außenpolitisch machtlosen Ständestaates herausgetreten, gehörte zu einer großen Nation, deren Führer alles zu gelingen schien, auch die Tilgung der Schmach von 1919. Der Preis - Wohlverhalten - war für viele zahlbar, man arrangierte sich.“ [clxxi]
(AG)
Richard ist ein Beispiel für den alltäglichen Opportunismus allenthalben,1938 bekommt er Besuch von NSDAP-Mitglied Crobath:
S. 80
Crobath hält Richard einen fünfminütigen Vortrag über erhebliche Veränderungen, vor denen man stehe, anhaltende Hochstimmung in der Stadt und darüber, dass Richards Verhalten ein ungünstiges Licht auf seine politische Einstellung werfe.
S. 84f
Wenn ich Sie richtig verstehe, soll ich angesichts der Zukunft, an der Sie und Ihre Parteikollegen arbeiten, meine eigenen Interessen in die zweite Reihe rücken. …
Er überdenkt seine guten Gründe, er versucht sich darin, Crobaths Argumente mit seinem Dilemma abzugleichen und auf diesem Weg zu einer Lösung zu gelangen: … und dass es insofern angebracht wäre, sich mit den neuen Herren gut zu stellen, das wäre nur natürlich. Er, Dr. Richard Sterk, ist keiner, der sein Zeitalter überragt, er hätte ein bisschen Ruhe verdient, findet er.
S. 89
… kann er sich unauffällig verhalten …
Schuschniggs geplante Volksabstimmung für ein freies, unabhängiges Österreich, in der er nach internen Umfragen eine Mehrheit von 70% erhalten hätte, war wegen des Drucks der deutschen Reichsregierung zurückgenommen worden. Terrormaßnahmen, Manipulationen und eine immense Werbemaschinerie hatten die Volksabstimmung zur „Wiedervereinigung“ im April 1938 vorbereitet.
Mit Hilfe des propagandistischen Aufwands und der wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen erbrachte sie eine Zustimmung von unwahrscheinlichen 99,6%. Juden und politische Gegner (8% der Stimmberechtigten, in Wien 18%) waren nicht wahlberechtigt .
Aus der österreichischen Bundesregierung wurde nun eine Landesregierung, es entstanden sieben Reichsaue. Das österreichische Bundesheer wurde von der Wehrmacht übernommen, von 1939 bis 1945 leisteten 1,25 Mio. Österreicher/innen militärische Dienste, wovon 247 000 im Krieg starben, 100000 als Invaliden heimkehrten und eine halbe Millionen Österreicher in Kriegsgefangenschaft gerieten. [clxxii]
„Doch rasch wurde klar, dass Österreich nicht als gleichberechtigter „zweiter deutscher Staat“ integriert wurde, sondern dass Funktionäre aus dem „Altreich“ häufig den Ton und die Richtung vorgaben. „Aber Seilschaften aus ehemaligen österreichischen Nationalsozialisten(…) kompensieren ihre Degradierung durch besonders umfassende und rasche Ausplünderung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung nach einer Vermögenserfassung.“ [clxxiii]
Es begannen antisemitische Aktionen, Verhaftungen von Juden aus rassistischen Gründen,wobei sowohl diejenigen nach den Nürnberger Rassegesetzen als Juden galten, die „von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammten, als auch mit Juden verheiratete Mischlinge“.
Die Staatspolizei Wien nahm 20793 Personen in „Schutzhaft“, Todesurteile gegen Sozialdemokraten wurden ausgesprochen und Transporte in das KZ Dachau durchgeführt.
Man plünderte jüdische Geschäfte und Wohnungen und veränderte durch „Arisierungen“ Besitzverhältnisse zugunsten der NS-Sympathisanten. [clxxiv]
Die Bereicherung an jüdischen Vermögenswerten, wie Wohnungen und Betrieben war groß: man beschlagnahmte 320 Mio. Reichsmark, löste jüdische Betriebe zügig auf und gab fast alle 26000 jüdischen Geschäfte in kommissarische Hände.
(AG)
Dr. Richard Sterk agierte ambivalent, nachdem Deutschland in Österreich einmarschiert war: Die Emigration der jüdischen Nachbarsfamilie hat (positive) Auswirkungen für ihn in privater Hinsicht:
S. 83
- Denken Sie an die eigenen Vorteile, an die wegfallende Konkurrenz bei sprunghaft steigender Nachfrage durch das deutliche Mehr an Männern in der Stadt und durch das Geld, das in Umlauf gebracht wird …
Es folgte die „Ausschulung“ jüdischer Schüler aus den öffentlichen Schulen und die Ausgrenzung der jüdischen Jugend durch diffamierende Parolen von der HJ und dem BDM.
127 000 Juden wanderten bis 1941 unter Beschlagnahmung des Vermögens aus, zwei Drittel der in Österreich lebenden Juden mussten ihre Heimat verlassen, ohne dass Rücksicht auf ihr Alter oder ihre Ausbildung genommen wurde, darunter Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten. Ihre Zukunft war ungewiss, viele scheiterten oder begingen Selbstmord, diejenigen, die geblieben waren, bekamen Berufsverbote, wurden verpflichtet den Judenstern zu tragen oder deportiert. [clxxv]
(AG)
S. 87f
Dann die Mauer zu den Nachbarn, die nach London gehen. …
Ottos weit auseinanderliegende Augen, die er on seiner Mutter hat, spähen nochmals zu den Nachbarn, dann wendet er sich zurück und ruft:
- Vorhänge und auch ein paar Teppiche hängen in den Bäumen! …
Gleichzeitig würde er sich bei Dr. Löwy erkundigen, ob ein Herauslösen des Bienenhauses aus der Verkaufsmasse möglich ist.
- Sie haben den Rasen mit Teppichen ausgelegt!
Solidarität mit den Juden war selten, es gab lediglich einige wenige Aktionen der Fluchthilfe durch kirchliche Organisationen, einzelne Priester widersetzten sich, 27 davon starben in Konzentrationslagern.
Wien, wo ein Drittel der Österreicher lebte, war das Zentrum der Sozialdemokratie und unterschied sich politisch von den anderen konservativ dominierten Bundesländern. Und doch wurden auch dort 70 000 Wohnungen „arisiert“ und jüdische Kulturgüter in Museen und Bibliotheken überführt.
Um den 10. November 1938 verhaftete man in Wien 7800 Juden, plünderte ihre Wohnungen und Geschäfte, zerstörte Synagogen und ermordete in der Klosterschule 27 Juden, 88 wurden schwer verletzt,4600 Verfolgte in das KZ Dachau gebracht, 680 Menschen begingen Selbstmord.
Die Bevölkerung reagierte auf dieses Massaker nicht ablehnend, so dass die SS berichten konnte: „Mitleid mit dem Los der Juden wurde fast nirgends laut, und wo sich ein solches dennoch schüchtern an die Oberfläche wagte, wurde diesem von der Menge sofort energisch entgegengetreten, einige allzu große Judenfreunde wurden festgenommen.“ [clxxvi] 65500 österreichische Staatsbürger jüdischer Abstammung fielen dem Holocaust zum Opfer.
S. 85
Selbst der äußere Anschein bei Arisierungen kümmert niemanden mehr.
Bürgerlich-liberale Schichten akzeptierten trotz Verachtung der NS-Ideologie das Regime, auch hierfür ist Richard ein Beispiel.
S. 60
Das große Reich der Ordnung und Gerechtigkeit hebt an. Na ja, denkt er, vorstellbar ist vieles, auch das Unwahrscheinliche, doch muss man von dem ausgehen, was wahrscheinlich ist, weshalb er an die nationalsozialistische Verheißung nicht recht glauben kann.
Richard verhielt sich unauffällig in der Zeit des Nationalsozialismus:
S. 26
Richard musste nie für die Jahre vor 1945 Rechenschaft ablegen, als es um seine Karriere ging.
Verfolgungen, Militarisierung, Enteignung und Deportation spiegeln sich in den Gesprächen der Familie Sterk wider. [clxxvii]
S. 68
- Werden weiterhin Truppen in die Stadt verlegt? fragt Alma.
- Wer Augen hat zu sehen, der sehe, antwortete Richard.
S. 74
- Und stimmt es, dass wir jetzt, wo wir Deutsche sind, niemanden mehr zu fürchten brauchen?
- Von wem stammt das? Doch bestimmt nicht von Frieda. Sie fürchtete sich ja vor jedem Soldaten.
- Fredl, der Sohn von Frau Puwein, sagt es.
- Na, in gewisser Weise hat er sogar recht, da wir bisher nur die Deutschen gefürchtet haben und das jetzt wegfällt, weil wir ja selber Deutsche geworden sind.
- Mir gefällt es, dass wir Deutsche sind. Am besten hat mir gefallen, als die Flugzeuge die Hakenkreuze aus Aluminiumfolie abgeworfen haben.
Am Morgen des 12. März bei niedrigstehender Sonne, wie ein riesiger Schwarm gleißender Fische sah es aus.
Die Euphorie nach Hitlers Siegen führte zu einer noch stärkeren Unterstützung Hitlers und auch nach der Niederlage in Stalingrad blieb der Widerstand gering: 100 000 verfolgten Widerstandskämpfern standen 700 000 NSDAP-Mitgliedern gegenüber. Im Raum Wien bildete der Anteil der Facharbeiter und der Intellektuellen eine Mehrheit in den entstandenen Widerstandsgruppen, wie die aus dem Arbeitermilieu stammende Jugendgruppe „Die Schlurfs“, sie demonstrierten als Zeichen der Opposition eine unangepasste Freizeit- und Lebensgestaltung.
Österreich trug seinen Teil zur Endlösung der Judenfrage bei: In Linz entstand das Konzentrationslager Mauthausen. In ihm kamen 100 000 Häftlinge um, und in der „Heilanstalt“ am Steinhof in Wien und in Schloss Hartheim in Oberösterreich ermordete man die nach der NS-Rassentheorie „minderwertigen“ Menschen, wie z.B. Geisteskranke oder missgebildete Kinder.
Auch die deutsch-faschistischen Erziehungsabsichten mit den Prinzipien des Führerkults und der Betonung von Volk und Heimat verwirklichte man ab 1933/34 in Österreich in straff organisierten Bünden. Nach deutschem Vorbild kam es zu Zentralisierungsbestrebungen der Jugendorganisationen und zu deren Eingliederung. Innerhalb der HJ bereitete eine militärische Schulung auf den Krieg vor. Aus ihnen rekrutierte sich das „letzte Aufgebot“ 1945. Verbände der Wehrmacht, der SS und des „Volksturms“ leisteten trotz auswegloser Lage noch in den letzten Kriegstagen erbitterten Widerstand und bereiteten der Roten Armee große Verluste, bevor sie selber aufgaben und abzogen.
Peter und Otto gehören diesem Volkssturm an:
S. 102ff
Wien ist Frontstadt. Auf klappernden Holzsohlen, eine Panzerfaust über der Schulter, rennt der fünfzehnjähriges Peter Erlach über die Straße und verschwindet in einer bizarr aufragenden Eckhaus-Ruine, in der sein Fähnleinführer und vier weitere Hitlerjungen Position bezogen haben.….
Unter den Tausenden Hitler-Jungen, die in den letzten Kriegstagen umkamen, befand sich Otto, der einzige Sohn von Dr. Richard Sterk:
S. 113f
Nach einiger Zeit unternimmt der Bub den Versuch, auf Peter zuzugehen. … Schwach die Lippen bewegend, wie fluchend, macht der Bub einen weiteren Versuch zu gehen, als wolle er das bisschen Leben, das er noch vor sich hat, dafür verwenden, einen oder zwei Schritte zu machen. Aber die Kraft reicht nicht …
Im letzten Kapitelwird, wenn die Motive des „Verfalls“ bzw. der Auflösung und des Auseinanderfallens der Familie analysiert werden, näher auf die transgenerationale Weitergabe solch traumatischer Kriegserlebnisse und auf die Erziehung in den Jugendorganisationen, wie in der HJ, eingegangen.
Die Zerschlagung des Nationalismus erfolgte mit dem Einmarsch und der Befreiung durch die Rote Armee und die Westalliierten. Die meisten Verluste hatte die Rote Armee in ihrem Kampf in Wien und Niederösterreich erlitten.
Österreich war bei aller Kollaboration mit dem NS-Regime auch ein Opfer der Aggressionsziele des Deutschen Reiches: 170 800 Wehrmachts- und Waffen-SS-Angehörige kamen im Krieg ums Leben, mehr als 70 000 galten als vermisst und 600 000 Österreicher kamen in Kriegsgefangenschaft.
7.2.3 Die Zweite Republik seit 1945
Bereits 1943 gab es eine Moskauer Erklärung, in der man Österreich als Opfer des Nationalsozialismus bezeichnete und ihm die Souveränität in Aussicht gestellt wurde. So setzte man 1945 von Alliiertenseite aus auf eine autonome, von Deutschland unabhängige Zukunft.
Der Alliiere Rat erkannte am 11. September 1945 die Wiedereinrichtung Österreichs in seinen Grenzen von vor 1938 an, es wurde in vier Besatzungszonen unterteilt, die innere Stadt Wien von den vier Besatzungsmächten gemeinsam verwaltet.
Die sozialen und politischen Probleme nach dem Krieg mit Flüchtlingen, Zwangsarbeitern, und Zerstörung waren groß.
S. 116
Auch die Landschaft, durch die Peter stolpert, scheint einen Angsttraum abbilden zu wollen, die krüppeligen, wie in Agonie verkrampften Weinstöcke, der säuerlich brandige Rauch überall, …
Herumfliegendes Papier, zertrümmerte Materialkisten und weggeworfene Ausrüstungsteile. Eine Panzerwabwehrkanone mit zerfetzten Lauf ist zwischen die Reben gefahren …
Sie erreichen den Baum überraschen schnell, Baum und Erhängter wachsen plötzlich heran. …
S. 121
… sein leerer Magen, der sich, seit Onkel Johann Trude zum Essen geschickt hat, immer wieder zusammenkrampft, in rasch kürzer werdenden Abständen. Peter hat Angst, sich übergeben zu müssen.
Care-Pakete aus den USA linderten die Not und bereits im April 1945 gab es eine „Provisorische Staatsregierung“ unter dem Sozialdemokraten Renner, der von 1918 bis 1920 Staatskanzler gewesen war, mit den Parteien der SPÖ, KPÖ und ÖVP. Sie proklamierten die Republik Österreich, die Vorkriegsgrenzen blieben bestehen.
„Die politische Nachkriegselite der SPÖ und ÖVP setzte sich kaum mit dem Leid, Elend und den Traumata der überlebenden wenigen Juden und Jüdinnen in Österreich in den Konzentrationslagern und im Exil auseinander.“ [clxxviii] Bei der Aufarbeitung der Judenverfolgung rechnete man die Verfolgung der Parteigenossen und ihr Opferstatus gegen die Judenverfolgung auf und statt Profiteure der „Arisierungen“ zu benennen, wurden „Alt-Reichsdeutsche“ und kleine Alt-Nazi-Gruppen für das Unglück verantwortlich gemacht. Aktiv am Holocaust beteiligte Österreicher und Kriegsverbrecher blieben unerwähnt, zumal existenzielle Not und Hunger dies verdrängten und für die Mehrheit der österreichischen Gesellschaft die Unschuldsvermutung galt.
S. 130
Auf der Donau, die gerade eine weite Biegung macht, beginnen die Spuren (des Krieges) sich bereits wieder zu verwischen.
Das Kielwasser glättet sich.
Die zaundürren, mit gestreiften Pyjamas bekleideten Häftlinge, die in tagelangen Märschen das Donauufer entlang nach Westen getrieben und, wenn sie erschöpft niedersinken, von Mitgliedern der Ortsgruppen erschossen werden, lässt man ebenfalls verschwinden.
Eine Entnazifizierung erfolgte von Seiten der Besatzungsmächte durch die Einrichtung von Internierungs- und Arbeitslagern, in sie wies man die Betroffenen ohne gerichtliches Verfahren ein. Ein Verbotsgesetz zum Verbot der NSDAP verpflichtete Parteiangehörige, sich registrieren zu lassen. Etwa 537 000 Männer und Frauen, „Illegale“, d.h. Parteiangehörige in der Zeit von 1933 bis 1938 und Personen, die vor dem „Anschluss“ der Partei finanzielle Zuwendungen leisteten, erhielten Sonderbestimmungen.
Über nationalsozialistische Betätigungen wie Denunziation, Hochverrat, Verletzung der Menschenwürde wurden in Volksgerichten Urteile gefällt, bis 1955 ergingen 13 500 Schuldsprüche, darunter 43 Todesurteile. Seyß-Inquart verurteilte man in Nürnberg zum Tode.
Ehemalige Mitglieder der NSDAP mussten zwar mit der Entlassung oder Versetzung rechnen, oft aber stufte man sie als „kleine Nazis“ ein und ließ sie ungeschoren davon kommen. Man vermied es in der Nachkriegsidentität der Alpenrepublik, sich als eine nationalsozialistisches Nation darzustellen und betrachtete sich eher als Opfer Hitlers.
S. 119ff
Im Vorgarten des Hauses wird ein Haufen Papier verbrannt. Onkel Johann fährt mit dem Laubrechen zwischen die glimmenden Bücher, Bilder und Dokumente, er steht mit dem Rücken zur Straße. …
- Als Neffe wärst du willkommen, aber nicht als Soldat. Wo doch die Russen. Du musst verstehen. die Familie. Da ist es besser, wir sind ab jetzt neutral.
Eine Sanktion für die ehemaligen 500 000 NSDAP Mitglieder war es, dass sie bei der ersten Wahl im November 1945 nicht wählen durften. 1947 folgte das NS-Gesetz, das zwischen „Belasteten“ (Funktionäre, SS-Angehörige) und „Minderbelasteten“ differenzierte und entsprechende Maßnahmen vorsah. Die 42 000 belasteten Personen durften ab sofort keine freien Berufe, kein Gewerbe und keine Betriebe betreiben, quasi ein Berufsverbot. Minderbelastete zahlten Sondersteuern und wurden von Wahlen ausgeschlossen.
S. 149
Es ist ja nicht Peters Schuld, dass sein Vater mit Berufsverbot belegt war …
S. 172
Dass sich Peters Vater zweimal vor einem Volksgerichtshof zu verantworten hatte und dass er nach mehreren Monaten Ziegelschupfen zur Zwangsarbeit war, für anderthalb Jahre in St. Martin am Grimming zur Verbesserung der Gesinnung, was nicht viel gebracht hat. Wie Richard behauptet. Was der alles weiß. In so was heiratet man besser nicht rein.
Wer beim Aufbau Österreichs Engagement zeigte, erlebte nur eine kurze Sanktionierung. Letztendlich wurden die Sanktionen zwischen 1948 und 1955 aufgehoben bereits 1948 die Maßnahmen gegen die Minderbelasteten beendet. [clxxix]
Eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus fand zur damaligen Zeit weder in den Schulen statt noch gab es eine Abschaffung der Drillschule. Aufgrund der kurzen demokratischen Tradition in Österreich waren autoritäre Einstellungen im Alltag weiterhin verbreitet und änderten sich erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Der Film „Hofrat Geiger“ ist ein Abbild dessen, wie wenig in Österreich in den 50er Jahren die nationalsozialistische Zeit mit der Judenverfolgung und die Entschädigung der Juden aufgearbeitet wurde bzw. Unterstützung fand:
S. 243
… der Hofrat trifft seine Jugendliebe, Marianne Mühlhuber, die er vor achtzehn Jahren sitzengelassen hat … Der Hofrat verspricht Wiedergutmachung ,,, Doch die ehemalige Geliebte verhöhnt ihn:- Weil wir ja jetzt im Wiedergutmachungszeitalter leben, nicht wahr! Wiedergutmachung! Wiedergutmachung! Ich kann das Wort schon nicht mehr hören.
Richard als Vater ist ein Beispiel für das weiterhin existierendes autoriär-patriarchalisches Denken/Verhalten:
S. 150f (1955) zu Ingrid:
…Und jetzt ist Schluss! Ich stelle mich nicht länger zur Verfügung, damit du deine Launen befriedigen kannst. Solange du die Beine unter meinem Tisch hast, tust du gefälligst, was ich sage. Haben wir uns verstanden?
- Ob wir uns verstanden haben?
- Ja, sagte sie kleinlaut …
S. 25 (1982)zu Alma:
Trotzdem trugen ihr ihre Deutungen mitleidige Blicke, abschätzige Handbewegungen und gönnerhafte Repliken ein, die alle auf dasselbe hinausliefen, dass in ihrem Kopf nicht allzuviel los sein könne.
Ist überhaupt so eine fixe Idee von ihm. Alles, was sie sagt, ist am Ende lächerlich oder banal oder überdreht. Davon verstehst du nichts, hört sie dann meistens.
Die Verdrängung der österreichischen Vergangenheit wird an Richard deutlich: Er verweigert die Aufarbeitung der Geschichte auf nationaler und individueller Ebene[clxxx]. Ein Symbol dafür ist seine desolate Zahnprothese, die er seit der Unterzeichnung des Staatsvertrages besitzt und nicht abgeben will.
S. 24
Es war immer noch dieselbe Prothese, in den fünfziger Jahren teuer wie ein Moped, österreichisches Handwerk, gestützt auf Erkenntnisse aus der noch jungen sowjetischen Weltraumtechnik. Das befremdliche Elaborat war trotzdem nicht für die Ewigkeit geschaffen, und ab Mitte der siebziger Jahre unternahm Alma verschiedentlich dezente und weniger dezente Versuche, Richard zu einem neuen Modell zu überreden. …
Als er diesmal kam, hoffte Alma, dass die Epoche der Staatsvertrags-Zähne endlich vorbei sei. Doch die verlangte Begutachtung führte lediglich zu der Feststellung, dass die von Richard beargwöhnten Sprünge nichts weiter waren als die dem Gaumen entsprechenden Erhöhungen und Vertiefungen .
- Von kaputt kann keine Rede sein. Abgenutzt und schlecht, das allerdings.
Er selber sieht sich nicht als Nationalsozialist:
S. 206
Jawohl, das hat er davon, dass ihm die Nazis nicht passten.
Alma dagegen kritisiert seine Form der Verdrängung und das politische Vergessen:
S. 195.
- Ein friedliches, ein freundliches und schönes Land.
- Vergesslich fehlt in deiner Aufzählung. Ein Land, in dem man bei der Einreise die Vergangenheit abgeben muss oder darf, je nach Lage der Dinge.
Peter setzt sich ebensowenig mit der Vergangenheit auseinander. Sein erfundenes Spiel „Wer kennt Österreich?“ ist geographisch angelegt, ohne Geschichtsbezug:
S. 161
Wer kennt Österreich? Ein Reise- und Geographiespiel, das die kleine, besetzte (und bald die Unabhängigkeit wiedererlangende?) Republik in ihrer Schönheit und Harmlosigkeit in den Mittelpunkt stellt.
Die erste demokratische gesamtösterreichische Wahl endete mit dem Ergebnis einer Koalition von SPÖ und KPÖ, die ÖVP wurde die stärkste Partei.
Im November 1947 begann dann die Zeit der „Großen Koalition“ von ÖVP/SPÖ, die bis 1966 gehen sollte. Die kontrollierte Demokratie war eine Sozialpartnerschaft zweier Parteien, in der die Proporzverteilung eine große Rolle spielte und die als ein wichtiges Kontrollelement galt. Beide politischen Lager konnten in Ministerien, auf Beamteneben, bei Stellenbesetzungen, Subventionen und in den Medien Einfluss nehmen.
Relevant für den Aufbau der Zweiten Republik wurde die „Sozialpartnerschaft“ zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, sie diente der Kontrolle der Lohn-Preis-Entwicklung und sicherte den sozialen Frieden des Landes.
Von den USA erhielt Österreich die Zusicherung für Hilfslieferungen über lebenswichtige Güter, Finanz- und Warenhilfe, was insofern eine politische Bedeutung hatte, da man damit den kommunistischen Einfluss verringern konnte.
Bereits 1946 hatten die Verhandlungen der Außenminister um einen Staatsvertrag begonnen. Bis zur Verabschiedung dauerte es aufgrund des Kalten Krieges neun Jahre. Als Stalin starb verbesserte sich mit dem neuen amerikanischen Präsidenten Eisenhower und der pragmatischen Politik der Regierung Raab gegenüber der UDSSR das Gesprächsklima, und Österreich wurde 1954 bei der Außenministerkonferenz gleichberechtigter Partner.
Man führte unter dem österreichische Staatsmann Julius Raab (1946 bis 1953 Präsident der Bundeswirtschaftskammer, 1953 bis 1961 Bundeskanzler und Bundesparteiobmann der ÖVP) die Verhandlungen direkt mit der Sowjetunion. Diese akzeptierte die Neutralität Österreichs als Voraussetzung für einen Vertragsabschluss, ebenso wie die Westmächte - Bündnislosigkeit und ökonomische Westorientierung sollten sich vereinbaren lassen. Die Mitverantwortung Österreichs am Zweiten Weltkrieg wurde durch das Bemühen von Außenminister Figl im Vertrag gestrichen.
Die Neutralität blieb eine der Säulen österreichischer Identität und „genießt bis heute bei der Bevölkerung eine hohe Wertschätzung“. [clxxxi]
Im April 1955 kam es dann in Moskau zu Verhandlungen zwischen der USA und der Sowjetunion, der Staatsvertrag wurde unterschriftsreif, die Unterzeichnung erfolgte am 15. Mai 1955 im Schloss Belvedere in Wien. „Der Abschluss des Staatsvertrages war für die meisten Österreicher/innen ein erstes weithin sichtbares Zeichen nationaler Selbstbestimmung, und die ausländischen Delegationen wurden im Mai 1955 dementsprechend herzlich begrüßt: Für viele, die damals in Wien dabei waren, war es in der Retrospektive der bedeutendste Tag in ihrem Leben.“ [clxxxii]
Im militärischen Bereich entschied man sich für die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht, für ein Bundesheer und für die bewaffnete Neutralität nach Schweizer Muster, ebenso für ein Verbot der politischen und wirtschaftlichen Vereinigung mit Deutschland, für die Anerkennung der Menschenrechte und der Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheit. Die Auflösung nazistischer und faschistischer Organisationen und die Unterbindung nationalsozialistischer Betätigung galten als eine wichtige Aufgabe.
(AG)
Richard Sterk ist als Verhandlungs-Teilnehmer von Österreichischer Seite tätig und gehört zur bürgerlichen Reserve nach 1945, die von den Besatzungsmächten gezielt abgerufen wurde. Als Teil der unbelasteten Honoratioren gelingt Richard die Kooperation mit den Alliierten, als „mündiger Bürger“ handelt er politisch und half mit, die neue Verfassung zu konzipieren.
S. 199
Als politischer Mandatar hat er die Verpflichtung, nicht nur für diejenigen da zusein, die ihn gewählt haben, er muss das ganze im Auge behalten.
S. 201
Dort (im Ministerium) hat er seit 1948 alles im Rahmen seiner Möglichkeiten gemeistert.
Er fehlt aber ironischerweise auf den offiziellen Fotos der Politik wegen eines vereiterten Zahns.
(Metafiktion)
S. 14
Überhaupt geht ihr die Großmannssucht ihres Vaters und der ganzen Komitatschibande, die mit den Verhandlungen betraut ist, auf den Wecker. Die mit ihrer Trinkfestigkeit. Als ob das etwas mit dem Staatsvertrag zu tun hätte.
S. 202
Er, der den Staatsvertrag mit ausgehandelt hat, aber auf den wichtigen Fotos fehlt. Pech gehabt. War lange genug ein hohes Tier.
Richard lehnt Peter, den ehemaligen Hitlerjungen aus einer Nazi-Familie als Partner von Ingrid ab, was letztendlich zum Zerwürfnis führt.
S. 145
Ich verhandel nicht jahrelang mit den Sowjets, damit meine Tochter den Verstand verliert..
Es folgte die Aufnahme Österreichs in die Vereinten Nationen und in den Europarat.
Das Wirtschaftswunder mit einer rasanten Entwicklung der österreichischen Volkswirtschaft in den 50er Jahren brachte einen enormen Aufschwung, der Lebensstandard stieg, mit entscheidend dafür waren die staatsvertraglich festgeschriebene Neutralität und die Nichteinmischung in militärische Konfrontationen.
S. 176
Er hält einen Moment inne, um die Baustelle über dem Feld zu betrachten. Ein Mann, eine Frau und zwei Kinder stehen vor einem Rohbau. Der Mann und die Kinder mit den Händen am Rücken, herausgeputzt in Sonntagssachen, geschniegelt, mit Zöpfen, mit Scheiteln wie zu Fronleichnam.
Peter setzt in dieser Zeit sein Studium nicht fort, sondern gründet eine Firma zum Vertrieb seines Brettspiels - der Erfolg ist gering:
S. 148
Richard lässt sich gerade über die Ungeklärtheit von Peters wirtschaftlichen Verhältnissen aus, und dass es viele junge Männer gebe, die durch die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse in ihrer Berufsentwicklung zurückgeworfen wurden.
S. 161ff
Ingrid, die nicht wenig erstaunt ist, dass nach einer Firma, die nichts als Verluste einfährt, eine solche Nachfrage besteht …
…
Wieviel das Warenlager wert ist, abzüglich der Spielpläne, die er wird wegwerfen müssen, weil - ein weiterer Fehlschlag im Leben des Peter Erlach, ein weiterer Hieb unter die wirtschaftliche Gürtellinie - der Staatsvertrag kommt und die Zonengrenzen fallen.
S. 167
Du musst doch einsehen, wenn wir heiraten, will die Verwandtschaft wissen, wie und was mit dir ist, und da würden sie reihenweise auf den Rücken fallen, wenn sie erfahren, dass du ein Nachhilfelehrer bist, der mit dem Vertrieb von Brettspielen Schulden macht.
S. 263
In Wahrheit war es eine Fortsetzung des Tschick-Sammelns in der Erbsenzeit, ein während der ersten Nachkriegsjahre entstandenes, aus der Not geborenes, völlig ineffizientes, letztlich sinnloses Unternehmen, mit dem Peter sich beschäftigte, um größeren Plänen aus dem Weg gehen zu können.
In den späten 50er Jahre begann in Österreich die Jugend- und Protestbewegung, wenn auch in schwächerer Form als in Deutschland und Frankreich.
Ingrids Auseinandersetzungen mit ihrem Vater sind hierfür ein Beispiel:
S. 149
Solange diese Spiele nichts einbringen, sind sie windige Unternehmungen, nichts weiter.
- Ja, weil für dich einer geerbt haben muss, damit er etwas anfangen darf. Alle anderen sind Gauner und Nullen.
Alma sagt erinnernd:
- Ingrid
- Mama, es ist so ungerecht, dass er sich zwischen zwei Menschen stellt, die sich lieben….
1955 gründete sich die FPÖ, die „sich unter einem dünnen liberalen Deckmäntelchen vor allem als Interessenvertreter der ehemaligen NSDAP-Mitglieder präsentierte und gegen Entnazifizierung und Restitution von „arisiertem“ ehemals jüdischen Eigentum polemisierte…“ [clxxxiii]
Ideologisch und ökonomisch zeichnete sich eine Integration in den Westen ab, so dass in den 60er Jahren der Schritt Richtung EWG gegangen wurde.
Der Korea-Krieg findet im Buch nur nebenbei Erwähnung, nämlich in Bezug auf seine persönliche Bedeutung für Ingrid und Peter:
S. 173
-Peter, wenn der Koreakrieg nicht gewesen wäre, hätte ich nicht mit dir geschlafen. Nicht gleich.
- Schön für uns, schlecht für Korea. Dein Vater sieht es vermutlich genau umgekehrt.
Restauration war ab 1966 mit der Wahl von Bundeskanzler Josef Klaus (ÖVP) angesagt, er regierte allein und war als der einzige Kanzler, der der „Heimkehrer“-Generation angehörte, einem konservativ-christlichen Kulturbild verbunden: Die Wiederbelebung eines katholisch-bürgerlich-bäuerlichen Weltbildes war der Rückgriff auf Bewährtes.
Die Familiengründung von Ingrid und Peter spiegelt dies wieder:
S. 159
Mit dem Verkauf der Lizenzen Ende 1960, während der Schwangerschaft mit Sissi, hoffte Ingrid, dass jetzt ein besseres Leben beginnen werde,. Stattdessen wurde es schlimmer. Ingrid lag im Krankenhaus, Peter war beruflich unterwegs …
Die vielen einsamen Spaziergänge am Wilhelminenberg mit dem Kinderwagen und später das langweilige Entenfüttern mit Sissi, als Ingrid eigentlich hätte lernen sollen. …
Richard wird 1962 von der Partei nicht mehr benötigt und hat das Gefühl, sowohl politisch als auch privat überflüssig zu sein. Kritisch hinterfragt er den politischen Zeitgeist und bezichtigt seine Parteimitglieder und Politiker einer mangelnden Verpflichtung ihres Gewissens und ihres öffentlichen Mandats:
S. 198f
Schieben ihn aufs Abstellgleis ohne ein einziges sachliches Argument. Oder weil ihm das Fernsehen nicht passt, wo es einem auf dem Bildschirm den Kopf verzerrt wie in einem Fischauge. Oder weil die Jungen sich einbilden, sie seien John F. Kennedy. …
Von politischen Charme und der Höhe der Zeit faseln, aber nicht wahrhaben wollen, dass die wichtigsten Grundlagen in Leben Verantwortungsgefühl, Sorgfalt und Respekt sind. …Es sind schon bittere Pillen zu sehen, wie man den Sozialisten die Wähler in die Hände treibt. …
Es ist die Lehre, die er seiner Meinung nach im Leben erteilt bekommen hat: dass man nicht anfangen soll, den Mitmenschen Gutes zu tun, wenn man es gedankt haben will. …
Auch er selbst, muss er sich eingestehen, hat bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg die Christlichsozialen für bessere Menschen angesehen, ganz wie auch die Sozialdemokraten dachten, sie seien bessere Menschen. …
Er muss erkennen, dass christlich-sozial nicht automatisch bedeutet, dass es einem um mehr als nur die eigenen Annehmlichkeiten geht, nicht bedeutet, dass man der Meinung des Gegners vorurteilsfrei entgegentritt …
Vielleicht ist irgendwohin ein Samen gefallen, vielleicht kommt seine Auffassung von der fundamentalen Verpflichtung eines öffentlichen Mandats in einigen Jahren wieder in Mode.
Langsam begann ein sozialer und mentaler Wandel patriarchal-autoritärer Strukturen. Das Obrigkeitsdenken wurde hinterfragt und so manche Partei sprach mit ihrer Mentalität und ihren Schlagworten die neue aufstiegsorientierte Mittelschicht nicht mehr an.
1970 kam es zur Minderheitsregierung der SPÖ, ab 1971 übernahm sie mit absoluter Mehrheit die Regierung. Bundeskanzler Bruno Kreisky, Jude, Emigrant und Intellektueller hatte zwar wegen seines großbürgerlichen Habitus mit Vorurteilen zu kämpfen, doch gilt seine Ära bis heute als die Zeit des Aufbruchs.
S. 266
Anschließend redet ihr Vater eine Weile über den Linksruck nach der letzten Wahl, über den sich Alma insgeheim freue. Er lässt einfließen, dass diese Entwicklung ihm keineswegs, wie man vermuten könne, das Gefühl gebe, er haben den Sinn seines Lebens verfehlt. Mittlerweile seien die einen wie die anderen.
Die Modernisierungs- und Demokratisierungsvorstellungen der Bevölkerung wurden erfüllt und umfassende Reformen verabschiedet, wie die Abschaffung von Studiengebühren, die Einführung von Heiratsbeihilfen, die Straffreiheit der Homosexualität und des Schwangerschaftsabbruchs in den ersten drei Monaten. Die Gleichberechtigung der Geschlechter wurde eine Grundlage des Familienrechts. Eltern und Schülern bekamen Mitbestimmungsrechte, es gab Gratisschulbücher, freien Universitätszugang für alle, und es kam zu sozialen Umverteilungsmaßnahmen durch den Ausbau des Sozialsystems. Die Zahl der Studierenden stieg von 20 000 Mitte der 50er Jahre auf 175 000 Mitte der 80er Jahre.
(AG)
1970 hat Ingrid ihr Studium beendet und arbeitet inzwischen als Ärztin.
S. 238
Die „momentane Einteilung mit Mann-Kinder-Berufstätigkeit-Haushalt“ wächst ihr zum Kragen heraus.
S. 272
Sie liebt ihren Beruf. Es ist der Beruf, den sie haben wollte. … In der Dienstkleidung fühlt sie sich als moderne, selbständige und kräftige Frau. Ihre Schrift in den Krankenakten. Der Umgang mit den Patienten und dem Personal. Sie gefällt sich dabei, es entspricht ihrem Gefühl von sich selbst, es ist das, was sie braucht.
Bis in die 70er Jahre und später war die ÖVP besonders einflussreich, was Kulturfragen betraf: das Monopol der Hochkultur, d.h. Staatsoper, Wiener Philharmoniker und Burgtheater garantierten ihre gesellschaftliche Dominanz, in der Literatur dominierten weiterhin Heimatromane und konservative und restaurative Themen. Kunst, die Österreich-Kritik zum Inhalt hatte, wurde aufgrund ihrer internationalen Erfolge anerkannt.
In den 80er Jahren kam es zur kleinen Koalition zwischen SPÖ und FPÖ, sie zerbrach an der Debatte um die Kriegsvergangenheit des gewählten Bundespräsidenten Kurt Waldheim (ÖVP); Waldheim, der seine Rolle in der NS-Zeit und im Zweiten Weltkrieg verdrängt hatte, spiegelte den Umgang mit der NS-Zeit und dem Zweiten Weltkrieg in Österreich wider. In der Folgezeit entwickelte diese Waldheim-Affäre eine Vergangenheits-Bewältigungs-Debatte, die Zeit der Verdrängung und die Betonung der Opferrolle Österreichs in der NS-Zeit war von nun an beendet.
Ende der 70er und in den 80er Jahren formierte sich eine Umweltbewegung und eine zivile Opposition z.B. gegen Atomkraftwerke (Atomkraftwerk Zwentendorf). Die Große Koalition von SPÖ und ÖVP unter Franz Vranitzky (SPÖ) folgte in den Jahren 1986 bis 2000 und konnte den EU-Beitritt 1994, mit Unterstützung der Beitrittsambitionen von Seiten Helmut Kohls,, als ihren Erfolg buchen. Im Vorfeld hatte die Sowjetunion hierin eine Neutralitätsverletzung und einen Bruch des Staatsvertrags gesehen, aber letztendlich war es Vranitzky, der Gorbatschow überzeugte, dass die Gefahr eines neuen „Anschlusses“ obsolet war.
S. 346
Michail Gorbatschow war in Berlin und hat zu weiteren Reformen gemahnt. Sie erzählt von den Wahlen in Vorarlberg, wo die ÖVP ihre absolute Mehrheit gehalten hat.
1998 kam es zur Aufnahme Österreichs in die Euro-Zone, 2002 führte Österreich als Zahlungsmittel den Euro ein.
So weit die historische Zeit in Arno Geigers Roman.
7.3 Zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Bezüge im Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“
„Erinnerung ist Interpretation.“
Ruge erzählt in dem Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ eine Familiengeschichte aus der ostdeutschen Vergangenheit und markiert als Eckpunkte darin die Kriegs- und Nachkriegszeit und die 70er Jahre bis zur Wende und Nachwendezeit.
„Dieses Buch ist Teil der Wende-Literatur, die „höchstens Ende-Literatur der ehemaligen DDR [ist]“ [clxxxiv] und umfasst den autobiographischen Hintergrund des Autoren.
In der Zeit einer geschichtlichen Wende erfolgt in der Regel eine Zäsur im Leben des einzelnen Menschen, so geschehen auch bei Eugen Ruge. Er thematisiert den Abschied von der Welt der DDR-Väter und wendet sich der historischen, biographischen und familiären Vergangenheit zu. Dabei setzt er nicht auf Politisierung, sondern legt den Schwerpunkt auf eine Privatisierung in Form von Familienprosa und den Grunddimensionen des menschlichen Lebens - sie sind in jedem politischen System ähnlich bzw. gleich.
Dieses Buch ist einzuordnen in den damaligen Erinnerungsboom an die DDR. Die Multiperspektivität und die Datierungen im Laufe der 40 - 50 Jahre geben uns eine Beschreibung des damaligen Lebens, dessen Alltag, Entwicklungen und Veränderungen in einer sozialistischen Gesellschaft, wie es die meisten Ostdeutschen unter den wechselnden Bedingungen, beeinflusst durch den realen Sozialismus, während dieser vier Jahrzehnte erlebten. Der Autor schildert eine individuelle Geschichte, in der nichts von den repressiven institutionellen Strukturen und dem Widerstand zu spüren ist und wo an kaum einer Stelle die DDR als ein Land der Überwachung und einer unter Repressionen lebenden Bevölkerung wahrgenommen wird.
Es gibt kein düsteres Bild der Unterdrückung und Angst, diese Ostdeutschen hatten nicht das Gefühl, in einer inneren Emigration oder in ständiger Angst und Konspiration zu leben. Wir als Leser hören nichts von den dunklen Aspekten des Lebens in einer von sowjetischen Panzern beherrschten Diktatur, es wird uns das „normale“ Leben der DDR-Bürger mit ihren (ungeschriebenen) kulturellen und spezifischen Regeln und Normen vor Augen geführt, aber es gibt auch kaum Momente des Glücks in diesem Roman, der knapp 50 Jahre überspannt. [clxxxv]
Wir erfahren, was die Menschen in der DDR bewegte und wie sie das halbe Jahrhundert im anderen Teil Deutschlands erlebten, sei es in Bezug auf Erziehung, Ausbildung, Kameradschaftlichkeit im Umgang miteinander oder in Bezug auf die Schwierigkeiten im Angebot an materiellen Gütern, von Autos bis zu Lebensmitteln
Eugen Ruge zeigt, dass das Leben in der DDR ein „Mitlaufen, das Abtauchen in Nischen, das Suchen nach dem ganz privaten Glück fern jeder Ideologie inmitten einer oft als grau empfunden Umwelt war.“ [clxxxvi]
Individuelle Gedächtniswelten ersetzen gesellschaftliche Gegenwartswelten. Es sind Erinnerungen an persönliche Erfahrungen (Gerüchen, Alltagsritualen), geformt durch den politischen und historischen Kontext. [clxxxvii]
Diese Familiensaga gibt die Geschichte von 4 Generationen zwischen 1952 bis 2001 wieder, erzählerische Rückblenden reichen bis in die Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Der Leser erfährt die Geschichte der DDR von ihren Anfängen bis zum Mauerfall.
Die unterschiedlichen Generationen, die jeweils für eine Phase der Zeitgeschichte ihres Landes stehen, spiegeln die Gefühle, Ängste und Wünsche, Hoffnungen von Großeltern, Eltern, Kindern und Enkeln wider, stets auf dem gesellschaftlich-politischen Hintergrund der DDR:
- Charlotte und Wilhelm werden in der Weimarer Rebpublik sozialisiert und erleben den 2. Weltkrieg in der Emigration in Mexiko;
- Kurt und Irina werden sozialisiert im Dritten Reich und erleben den Gulag in der Sowjetunion.
Saschas Großeltern und Eltern sind Kommunisten und Angehörige der Aufbaugeneration in der DDR und haben zur DDR eine positive Grundhaltung: Sie wollen eine Welt und einen Staat ohne Ausbeutung .
- Sascha gehört zur Generation, die in der DDR aufgewachsen ist und deren Sozialisierung in der DDR stattfand. Sie hatte sich daran gewöhnt, nach den Regeln des Regimes zu leben. Für Sascha spielt Politik keine große Rolle, für ihn stehen die Schule, seine Hobbys und Freundinnen im Mittelpunkt.
- Markus ist ein Kind der Wende-Generation.
Im folgenden werde ichdas halbe Jahrhundert der DDR-Existenz rekapitulieren und ergründen, ob und wie es sich im Roman wiederfindet.
Das Buch streift die Zeit vor 1952 in den Personen von Charlotte und Wilhelm.
Charlotte erlebt ihre Kindheit im Kaiserreich…
S. 134
- Als ich so alt war wie du, begann sie zum dritten Mal, da musste ich jeden Sonntag mit meiner Mutter in den Tiergarten gehen, weil meine Mutter den Spleen hatte, dem Kaiser, der dort manchmal spazieren ging, ihre Aufwartung zu machen.
…und tritt nach dem 1. Weltkrieg in die Kommunistische Partei ein, da sie dort intellektuell und beruflich gefördert wurde:
S. 46f
Was wäre sie heute, fragte sie sich, ohne die Partei? Kunststopfen und Bügeln hatte sie gelernt an der Haushaltsschule. Noch heute würde sie kunststopfen und bügeln für Herrn Oberstudienrat Umnitzer…
Erst die Kommunisten, die sie ursprünglich für Banditen gehalten hatte…hatten ihreTalente erkannt, hatten ihre Fremdsprachenausbildung gefördert.
Wilhelm Powileit, gelernter Metallarbeiter und überzeugter Kommunist, fühlt sich in seiner proletarischen Tradition gewissermaßen geadelt und belegt dies mit einer historischen Begegnung mit Karl Liebknecht, einem führenden Linken während der Revolution 1918. In seiner Erinnerung bleiben aber keine bedeutungsvollen politischen Worte, stattdessen muss er seine eigene Erinnerung auf eine Banalität reduzieren: Der Revolutionsführer sagt zu Wilhelm: „Junge, putz dir doch mal die Nase.“ In einer weiteren Stufe der Ironisierung wird die historische Gewissheit, dass es sich überhaupt um Liebknecht gehandelt habe, relativiert:
S. 190
Oder war es gar nicht Liebknecht gewesen? Oder war das gar nicht beim Eintritt in die Partei?
Wilhelm ist für seine Partei in der Zwischenkriegszeit immer aktiv, übernimmt Aufträge im Milieu der Geheimdienste, unterstützt von Charlotte.
S. 42
Zwar war er tatsächlich einmal - auf dem Papier - Co.Direktor der Lüddecke & Co. Import Export gewesen. Aber erstens hatte er dies-aufgrund einer lebenslänglichen Geheimhaltungsverpflichtung - nicht einmal in seinem von der Partei verlangten Lebenslauf angegeben. Und zwar war Lüddecke Import Export nicht mehr als eine von den Russen finanzierte Scheinfirma gewesen, die dem Geheimdienst der KOMINTERN zum Schmuggel von Menschen und Material diente.
S. 124
Drei Jahre lang hatte er im Büro gesessen und Zigaretten geraucht. Das war Wilhelms „Geheimdiensttätigkeit“. Drei Jahre auf verlorenem Posten. Nichts ging mehr. Nachrichten über Verhaftungen trudelten ein, und Wilhelm saß da und wartete.
Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 ist diese Tätigkeit zunehmend gefährdet, denn Kommunisten wie Wilhelm/Charlotte erleben das Regime Hitlers von Anfang an als ein Regime der Unterdrückung. Sie fliehen als potentielle Opfer der NS-Verfolgung vor den Nazis, emigrieren nach Südfrankreich und gehen über Marokko in das Exil nach Mexiko.
S.120
Schon 1940 in Frankreich, im Internierungslager Vernet, hatte Wilhelm durch den Skorbut alle Zähne verloren …. Du lieber Gott, was für eine Zeit, was für Ängste, was für ein Durcheinander.
Dort arbeiten sie in verschiedenen Berufen und engagieren sich bei der kommunistischen „Demokratischen Post“:
S. 36
Am Mittwoch war Redaktionssitzung wie immer. Wilhelm war zwar aus der Leitung der Gruppe abgewählt, hatte aber seine bisherigen Funktionen bei der ‚Demokratischen Post‘ behalten: Er machte die Abrechnung, verwaltete die Kasse, half beim Umbruch… und in dem Artikel, den man ihr zum Korrekturlesen gab, übersah sie absichtlich Druckfehler, damit die Genossen in Berlin auch wahrnahmen, auf welches Niveau die Zeitschrift gesunken war, seit man sie als Chefredakteur abgelöst hatte.
Für sie ist die Nachkriegshoffnung auf eine bessere Zukunft und der planmäßige Aufbau des Sozialismus eine Rechtfertigung für das, was auf das Exil folgen soll.
S. 47
…kehrte sie, die nur vier Klassen der Haushaltsschule besucht hatte, heute nach Deutschland zurück, um ein Institut für Sprachen und Literatur zu übernehmen…
Werner und Kurt, die Söhne Charlottes werden für ihre weitere Ausbildung in die Sowjetunion geschleust.
S.350
…, und zwar (auch das wusste er sofort) beginnend mit jenem Augusttag 1936, an dem er neben Werner an Deck des Fährschiffes stand und zusah, wie der Leuchtturm von Warnemünde im frühen Nebel verblasste.
Wegen ihrer Kritik am Hitler-Stalin-Pakt im Jahre 1939 verurteilt man beide in der Sowjetunion 1941 zu Haft und Zwangsarbeit im Gulag.
S. 369
- Du hast einfach nicht lang genug gesessen. Dir hätten sie nochmal zehn Jahre aufbrummen sollen!
Werner stirbt im Lager Workuta.
S. 136
Dein Sohn ist ein Workuta ermordet worden.
S. 185
Und wie so oft in diesen Momenten, wenn er es kaum fassen konnte, dass er tatsächlich lebte, dachte er zugleich daran, dass Werner nicht mehr lebte.
7.3.1 Die 50er Jahre und ihre Präsenz im Buch
Als der 2. Weltkrieg beendet war, wurden kleine Gruppen deutscher Kommunisten von Moskau in die sowjetische Besatzungszone geflogen, mit dem Auftrag, dort mit gleichgesinnten Genossen ein besseres Deutschland aufzubauen. Diese Kommunisten hatten Verfolgung und Exil in der Sowjetunion oder in anderen Ländern erlebt und kehrten nun aus Verstecken und aus dem Ausland zurück, um die Idee des Aufbaus zu realisieren. So wie zahlreiche Ostdeutsche beteiligen sich Teile der Familie Umnitzer (Ruge), insbesondere die Großeltern, aktiv an sozialen und kulturellen Projekten, um so die Vision einer besseren Gesellschaft bewusst zu gestalten.
Zum Jahreswechsel 1951/1952 reisen Charlotte und Wilhelm nach Puerto Angel, um sich von ihrer Arbeit und den Schwierigkeiten mit der Partei zu erholen.
S. 33
Ein Kaffeelaster brachte sie von dem kleinen Flugplatz nach Puerto Ángel. Ein Bekannter hatte den Ort empfohlen: romantisches Dorf, malerische Bucht mit Felsen und Fischerbooten.
Mehrere Rückreiseanträge sind abgelehnt worden, die Sorge um die Söhne lastet auf Charlotte, von Kurts Überleben ist sie informiert:
S. 35
Charlotte wünschte sich zuallererst, dass Werner am Leben sei. Kurt lebte, von ihm hatte sie inzwischen Post….Nur von Werner - nichts.
Die Großeltern Saschas hören den Aufruf der SED zum Aufbau:
S. 50
Dieses Land brauchte sie. Sie würde arbeiten. Sie würde mithelfen, dieses Land aufzubauen - gab es eine schönere Aufgabe?
Im April 1952 erhalten sie die Einreiseerlaubnis und die berufliche Beauftragung für Tätigkeiten an der Akademie zur Ausbildung der Diplomaten der DDR.
S. 43
Schon mehrmals war ihnen die Rückkehr in Aussicht gestellt worden, aber immer war am Ende etwas dazwischengekommen…..Aber dieses Mal schien es anders zu laufen. Tatsächlich wurden ihnen auf dem Konsulat Einreisevisa ausgehändigt.
S. 47
…um ein Institut für Sprachen und Literatur zu übernehmen.
Charlotte tritt die Rückreise in die DDR mit großem Enthusiasmus an, erlebt aber eine deprimierende Trümmerlandschaft (50 ff.), während Wilhelm ein politisch motiviertes Hochgefühl empfindet.
S. 48
Was sie von der Stadt zu sehen bekamen, unterschied sich im Grunde kaum vom Hafen, und obwohl Charlotte auf den ersten Blick keine unmittelbare Zerstörung erkennen konnte, sah eigentlich alles zerstört aus: die Häuser, der Himmel, die Menschen, die ihre Gesichter hinter hochgeschlagenen Kragen verbargen.
S. 54
Dann Berlin. Eine abgebrochene Brücke. zerschossene Fassaden. Dort ein zerbombtes Haus, das Innenleben entblößt: Schlafzimmer, Küche, Bad. Ein zerbrochener Spiegel…. Nichts kam ihr bekannt vor. Nichts hatte mit der Metropole zu tun, die sie Ende der dreißiger Jahre verlassen hatten.
Kurt überlebt den Gulag. In der sich der Lagerhaft anschließenden Verbannung in Slawa heiratet er 1951 Irina.
S. 242
Damals war sie Zeichnerin im Projektierungsbüro gewesen.
S. 243
…ob er derjenige Kurt Umnitzer sei, der von 1941 bis 1956 in Slawa, im Nord.Ural, gelebt habe.
1956 reisen sie mit ihrem Sohn Alexander in die DDR aus.
Anders als in Westdeutschland und Österreich, wo man sich für Demokratie unter Beibehaltung der alten wirtschaftlichen Ordnung entschied, veränderte sich für die Menschen im Osten weitaus mehr durch die neue wirtschaftliche Ordnung und die Änderung der Eigentumsverhältnisse. Die Schuld am Krieg und am Faschismus wurde auf die Kapitalisten und Kriegsgewinnler übertragen, die Bundesrepublik als eine Neuauflage des Nazireichs angesehen, während die Arbeiter und Bauern durch ihre Klassenzugehörigkeit als entsühnt galten. Die Bürger der DDR, die das System ablehnten und die sozialistische Umgestaltung als repressive Maßnahme empfanden, entschieden sich für den Weggang. [clxxxviii]
Die Nachkriegszeit war geprägt von Hunger und Lebensmittelrationierung.
S. 77f
Im Konsum gab es Milch gegen Marke. Mit einer großen Kelle füllte die Verkäuferin die Kanne. Früher hatte das immer Frau Blumert getan. Aber Frau Blumert hatte man verhaftet. Er wusste auch, warum: weil sie Milch ohne Marke verkauft hatte. Hatte Achim Schliepner gesagt. Milch ohne Marke war streng verboten. Deswegen war Alexander entsetzt, als er die neue Verkäuferin sagen hörte:
- Macht nichts, Frau Umnitzer, dann bringen Sie Ihre Marke morgen….
… Er begann zu weinen…
Zusätzliche Nahrungsmittel bekamen die „Opfer des Faschismus“. Man behandelte sie bevorzugt und räumte ihnen in dem neuen System in vielerlei Hinsicht Vorteile ein.
Von Anfang an war die DDR eng verbunden mit der UDSSR, so dass ‚der große Bruder‘ als Besatzungsmacht nach seinen Vorstellungen einen sozialistischen Bruderstaat formen konnte, diese enge Beziehung und Freundschaft zu Russland bestand bis zum Erscheinen von Gorbatschow.
Im Roman zeigt das Missverständnis der anwesenden Parteimitglieder bei Nadjeshdas Lied die ideologische Verblendung der Parteibonzen und ihre sinnleere Begeisterung, sie blamieren sich in ihrer Russenfreundschaft und entlarven den Charakter der Herrschenden.
S. 288
Baba Nadja war es , die sich plötzlich im Takt hin und her zu wiegen begann und mit tiefer rauer Stimme russische Laute hervorbrachte, welche sofort die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Psst-psst, hieß es, sogar Urgroßmutter wurde niedergepsst, man warf Baba Nadja aufmunternde Blicke zu, schon fingen die ersten Köpfe an, sich im Takt zu wiegen, …fingen die Ersten an mitzusingen, immer an der Stelle Wodka, Wodka…
S. 344
…denn natürlich zeigten sich alle begeistert von der russischen Babuschka, wetteiferten darum, ihre Verbundenheit mit dem sozialistischen Brudervolk unter Beweis zu stellen…
40 Jahre herrschte die Sozialistische Einheitspartei (SED) in dem unter sowjetischer Kontrolle stehenden Teil Deutschlands. Ihr Ziel war eine veränderte, bessere Gesellschaft mit Gleichheit und Gerechtigkeit, wobei sie zur Umsetzung dieser Idee nichtdemokratische Mittel verwandte und die anfänglichen autoritären Strukturen der fünfziger Jahre während der 40jährigen Existenz des Staates beibehielt.
Die DDR verstand sich als eine Diktatur des Proletariats mit einer klassenlosen Gesellschaft, in der jeder Mensch die eigenen Interessen und Begabungen entwickeln konnte. Der Westen dagegen schätzte diesen Staat als Unrechtsstaat ein, weil es in ihm keine einklagbaren Grundrechte, keine Freiheit der Meinung und keine freien Wahlen gab.
Die Geschichte des SED Staates begann mit Stalin. Stalin personifizierte Sinn, Kraft und Tat, war der Sieger über den Faschismus. Ihm waren nicht nur viele Intellektuelle und Künstler treu ergeben. Die Verehrung und der Personenkult um ihn führte bis zur Verherrlichung und einem quasi-religiösen Treueverhältnis.
Wilhelm und Kurt sind zwei von „Stalins jungen Hunden“ aus den späten vierziger Jahren. Wilhelm, ein Greis, der nie aus Stalins Schatten getreten ist, verkörpert das System der Repression. Als rückwärts gewandter Altstalinist stellt er die Ideale der Partei über seine eigene Familie. Da er nie unter autoritärer Herrschaft leiden musste, hat er auch keine Abneigung gegenüber stalinistischer Ideologie.
Kurt erinnert seine Mutter daran, dass Werner vom Stalinismus ermordet worden sei. Sein Brief an Werner, in dem er den Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vorsichtig in Frage gestellt hat, brachte den Brüdern zehn Jahre Lagerhaft wegen Bildung einer konspirativen Vereinigung ein und führte damit zu Werners Tod. Charlotte verdrängt dies:
Jetzt sah er ihn vor sich. Frappierende Ähnlichkeit…
- Sie haben Kritik an der Außenpolitik des Genossen Stalin geäußert.
Der Sachverhalt: Anlässlich des „Freundschaftsvertrags“ zwischen Stalin und Hitler hatte Kurt damals an Bruder Werner geschrieben, die Zukunft werde erweisen, ob es vorteilhaft sei, mit einem Verbrecher Freundschaft zu schließen.
S.136
- Ich verstehe dich nicht, sagte Kurt, und obwohl er gedämpft sprach, klang seine Stimme scharf, und er betonte jedes Wort, als er sagte: Dein Sohn ist in Workuta ermordet worden. Charlotte sprang auf, bedeute Kurt mit der Hand, zu schweigen.
S. 250
Und es kam ihr,…, wie ein böser Traum vor, dass sie tatsächlich einmal verblendet genug gewesen war, möglichst bald für diese Heimat sterben zu wollen: Für die Heimat, für Stalin! Hurra!
Wilhelm stimmt mit seiner geradezu magischen Wirkung auf die anwesenden Parteimitglieder bei seiner Geburtstagsfeier ein stalinistisches Parteilied an.
Trotz seiner Demenzerkrankung kann er sich noch an das „Lied der Partei“ erinnern, so sehr ist ihm das Dogma in Fleisch und Blut übergegangen.
S. 208
Er sang leise, für sich, jede Silbe betonend. In leicht schleppendem Rhythmus, er merkte es wohl.
Er unterschätzt Kurts Erfahrungen im sowjetischen Gulag , hält ihn für einen Schwächling und verabscheut seine liberale Einstellung zum Sozialismus.
S. 207
Aber Kurt? Kurt hatte währenddessen im Lager gesessen. Hatte arbeiten müssen, wie schrecklich, mit seinen Händchen, mit denen er noch nicht mal ein Gurkenglas aufkriegte. Andere, dachte Wilhelm, hatten ihren Arsch riskiert. Andere, dachte er, waren draufgegangen im Kampf für die Sache.
Stalinstarb 1953. Im selben Jahr kam es durch Normerhöhungen und wegen des Entzugs von Lebensmittelkarten zu Arbeiterstreiks in den Fabriken. In dieser gesellschaftlichen Krise suchte man vergebens die protestierende Stimme der Intelligenz.
Nikita Chruschtschow enthüllte 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU die Verbrechen Stalins und dessen Terrorsystem, das den Tod von 25 Mio. Menschen zu verantworten hatte. Es war eine finstere Zeit gewesen, in der Menschen einfach verschwanden und nie wieder auftauchten, in Arbeitslager verschleppt und hingerichtet wurden. Sowohl die Intelligenz als auch die jungen Menschen waren erschüttert und ließ sie auf Abstand zum Stalinismus gehen, nicht aber zum offiziellen Marxismus. [clxxxix] DDR und Sowjetunion distanzierten sich von dem grausamen Diktator und demontierten seine Denkmäler, doch gesprochen werden durfte über die stalinistischen Verbrechen nicht: „Das Schweigen darüber war so total, dass heute kaum noch jemand um die Verbrechen der Anfangszeit der DDR weiß, obwohl es nahezu keine Familie geben kann, die davon unberührt blieb.“ [cxc]
Das Umbenennen von Straßenamen und Bahnhofsnamen mit Stalins Namen (Stalinallee zur Karl-Marx-Allee z.B. ) sollte auch seine Verbrechen vergessen machen, stellte aber nicht die Frage nach der Ursache für den Terror des Stalinismus und ließ auch die von Stalin geschaffenen Machtstrukturen bestehen. [cxci]
Die politische Spannung in der Zeit des Kalten Krieges spiegelt sich in den Ängsten von Alexander wieder und den politischen Indoktrinationen, denen er als Kind durch Wilhelm ausgesetzt ist.
Alexander erlebt den Stalinismus, ohne ihn zu verstehen, mit der Angst vor staatlicher Bedrohung:
S. 77f
Im Konsum gab es Milch gegen Marke…
- Ich will keine Milch…Aber Saschenka, ich werde doch nicht verhaftet! …
- Aber Frau Blumert ist verhaftet worden, sagte er.
- Ach, Unsinn! die Mama verdrehte die Augen. Wir sind doch nicht in der Sowjetunion!
- Warum?
- Ach, das rede ich bloß so daher, sagte die Mama. Nicht, dass du Omi erzählst, in der Sowjetunion wird man verhaftet.
Von Wilhelm erfolgen politische, ideologische Belehrungen z.B. über Amerika und Indianer:
S. 92
-Die Indianer, erklärte er, sind heute die Ärmsten der Armen. Unterdrückt, ausgebeutet, ihres Landes beraubt. Omi sagte:
- In der Sowjetunion gibt es keine Ausbeutung und keine Unterdrückung.
- Das ist klar, sagte Wilhelm.
Dann kam es in Ungarn im Oktober 1956 zu Ereignissen, die Ängste vor einem Bürgerkrieg schürten und in der Intelligenz der DDR zu neuen Diskussionen über das Verhältnis der Partei zu Arbeitern und Intellektuellen führte. Ulbricht, in der Zeit der 50er Jahre SED-Vorsitzender, prüfte daraufhin die wissenschaftliche und literarisch-künstlerische Intelligenz in Prozessen auf ihre Verlässlichkeit und enthob, da das System noch nicht fest etabliert war, allzu kritische und reformistische und in seinen Augen konterrevolutionäre Intellektuelle von ihren Posten.
Es war eine Zeit, gekennzeichnet durch die Unterdrückung alternativer Stimmen. Verunsicherung und Verzweiflung machten sich breit und es kam die Forderung nach einer neuen Politik und freier Meinungsäußerung auf. [cxcii]
Dies findet im Buch Erwähnung:
S. 332
Früher waren zu Wilhelms Geburtstag hin und wieder ganz interessante Leute erschienen: …Karl Irrwig, der, immerhin, gegen Ulbricht einen deutschen Weg zu Sozialismus hatte durchsetzen wollen.
Die gesellschaftlichen Bereiche in der DDR waren an der Idee und Realität eines zentralistischen Sozialismus ausgerichtet und alle Bürger im nationalen Aufbauprogramm Anfang der 50er Jahre aufgerufen, beim Bau von Straßen und Gebäuden und Industrie mitzuhelfen. Zu diesem Zweck sollten Arbeitsnormen erhöht werden. Die damit verbundene Lohnminderung führte am 16. und 17. Juni zu Streiks und Demonstrationen, in deren Verlauf man politische Freiheit, freie Wahlen und die Wiedervereinigung forderte. Demonstranten riefen auf, SED-Einrichtungen zu erstürmen, in manchen Städten gelang dem Volk die Machtübernahme. Erst als Sicherheitskräfte und sowjetische Truppen zum Einsatz kamen, beruhigte sich die Situation.
Die SED behauptete propagandistisch, unterstützt von so manchen Persönlichkeiten der DDR, es sei ein „faschistischer Putsch“ gewesen, der vom Westen ausging und die Arbeiterklasse verführt hätte. Kritiker dagegen erkannten, dass Veränderungen und neue Entwicklungen in der DDR nur durch allmähliche Reformideen erreicht werden konnten bzw. mussten. [cxciii]
Die Produktionsverhältnisse und die sozio-ökonomische Struktur veränderten sich: größerer Besitz in der Industrie und im Bankenwesen wurde abgeschafft, Bildungswesen, Justiz und die Lokalverwaltung neu organisiert.
Alle Maßnahmen richteten sich gegen die bürgerlichen Schichten und ehemaligen Adlige und bewirkten, dass diese in den Westen flohen.
Man begann mit der Umgestaltung von Landbesitz und der Kollektivierung der Landwirtschaft. Dafür enteignete man große Bauernhöfe ohne Entschädigung, so dass es schon bald kein freies Bauerntum mehr gab, und zwang Bauern bis 1960 den LPGs (Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften) beizutreten und sich durch die Kollektivierung der Landwirtschaft zu landwirtschaftlichen Spezialisten zu entwickeln.
Während in Westdeutschland die europäische Wirtschaftsgemeinschaft wirtschaftliche Entwicklung nach sich zog, wurde dies in der DDR durch die Einbeziehung in den Rat für Wirtschaftshilfe (RGW), in dem weniger industrialisierte Länder vertreten waren, verhindert.
Man begann im Rahmen der Planwirtschaft mit dem Ausbau der Schwerindustrie und erhöhte damit das Prestige des Industriearbeiters.
Wegen fehlender finanzieller Mittel konnte die Sanierung alter Häuser/Wohnungen und der Bau neuer Wohnhäuser nicht in vollem Umfang finanziert werden, was dazu führte, dass viele Menschen in ihren Altbauten weder Warmwasser, noch ein Bad oder eine eigene Toilette besaßen.
S. 54
Nichts kam ihr bekannt vor. Nichts hatte mir der Metropole zu tun, die sie Ende der dreißiger Jahre verlassen hatte. Geschäfte mit armseligen, handgemalten Schildern. Leere Straßen. Kaum ein Auto, wenige Passanten.
S. 76
Es dämmerte schon. Bald kam der Mann, der die Gaslaternen anzündete.
Auch das Gesundheitssystem verschlechterte sich in seiner Leistung durch die großen wirtschaftlichen Probleme der DDR: Die Versorgung mit Medikamenten und mit Personal funktionierte nicht und je nach Macht, Privilegien und Produktivität, gab es mehr oder weniger eine Gesundheitsrationierung und eine unterschiedliche Behandlung für verschiedene Gruppen. [cxciv] Spezialkliniken hatten Vorrang und Gelder für wenig produktive Mitglieder wie Behinderte, Alte und Heimkinder fehlten. Oft waren es kirchliche Einrichtungen, die Sterbende nicht nur oberflächlich die elementarste Pflege, sondern auch Fürsorge und aktive humanitäre Zuwendung gaben.
Für alte Menschen waren nur wenige Pflegeplätze vorhanden waren, sie wohnten bei ihren Kindern, was wegen der Größe und Ausstattung von deren Wohnung oftmals zum Problem wurde:
S. 78
Sie wohnten im Steinweg. Unten wohnten Omi und Wilhelm. Oben wohnten sie. Mama und Papa und er.
Ende der 50er Jahre waren die Grundbedürfnisse der DDR-Bürger im Großen und Ganzen erfüllt, die DDR-Bürger erlebten einen kleinen Aufstieg und eine Modernisierung des Alltagslebens.
Kurt beginnt eine in der DDR erfolgreiche Karriere als Historiker.
Das Konsumverhalten wandte sich in dieser Zeit ungesunden „Luxusartikeln“ zu: Alkohol, insbesondere die proletarischen Getränke Bier und Schnaps wurden ein Teil der ostdeutschen Geselligkeit und eine gesellschaftlich akzeptierte Droge bei Familienmahlzeiten - ,‚Saufen‘ und Alkoholmissbrauch gehörten zum Lebensstil, waren eine ständige Begleitung und nicht nur auf Anlässe beschränkt oder zur Entspannung gedacht.
Es war anormal, abstinent zu sein, und so formten regelmäßige Trinkgewohnheiten den Menschen. Dabei steigerte sich bei vielen Erwachsenen das Niveau des Konsums. Sie verbrauchten hochprozentige Spirituosen, und nicht selten entwickelte sich der übermäßige Alkoholkonsum zum Alkoholismus und damit zu einem Problem. Das Thema „Alkoholabhängigkeit“ war ein Tabu und statt nach sozialen Ursachen zu forschen, sah man es als individuelle Geisteskrankheit und psychisches Problem. Das Buch schildert dies beeindruckend in Irinas steigender Abhängigkeit:
S. 155 (Geburtstagsfeier)
Er griff zur Schnapsflasche, um ihr noch einmal einen einzugießen..
S. 267 (Weihnachtsfeier)
So, jetzt brauche ich einen Kognak.
S.364
Sie (Irina) trank Whisky - das Zeug drehte ganz schön! - und rauchte noch eine Zigarette.
Ein normales Leben zu führen, war für sie nicht mehr möglich, als eine gewisse Schwelle überschritten war.
Ebenso war das Rauchen in der DDR ein akzeptierter Lebensstil und gehörte in allen Schichten zum normalen Bestandteil des Alltags.Nachdem in den 50er Jahren Zigarettenautomaten aufgestellt wurden, gab es Anfang der 60er Jahre unter den Männern 70% und unter den Frauen 20% Gewohnheitsraucher.
Die Folge war in diesem Zusammenhang das vermehrte Auftreten von Lungenkrebs. [cxcv]
S. 65
Ich muss erst eine rauchen, beharrte Irina.
S. 262
Na, komm schon, wir rauchen eine zusammen. Er nahm eine ‚Club‘ aus ihrer Schachtel, Irina hielt ihm das Feuerzeug hin.
7.3.2 Die 60er Jahre und ihre Präsenz im Buch
Die 60er Jahre waren eine Zeit des Aufbruchs und des Neubeginns in der DDR: Einerseits verstärkte sich die Abwanderung, andererseits richteten sich die Menschen, die nicht abwanderten, darauf ein, zu bleiben, so dass sich eine sozialistische Gesellschaftsordnung verfestigen konnte.
Die einzelnen Figuren des Romans sind ‚angekommen’, SaschasEltern waren mit der Realität im real existierenden Sozialismus einverstanden.
S. 130f
Alexander wartete am Auto, Irina ebenfalls… Das Auto war blau, winzig klein: ein Trabant. Man bestaunte es zunächst von allen Seiten …Irina hielt am Fuchsbau. Das Haus war von Baugerüsten umstellt.
S. 133
Kurt hatte promoviert, hatte sein erstes Buch geschrieben, ein großartiges Buch …
Der Lebensstandard zwischen der Bevölkerung in der DDR und der Bundesrepublik klaffte jedoch immer weiter auseinander. Die Industrieproduktion der DDR ging zurück, und es kam durch die Bildung der Produktionsgenossenschaften zu Engpässen in der Versorgung. Volksgenossenschaftliches Arbeiten hatte Desorganisation und mangelnde Arbeitsmoral zur Folge. [cxcvi]
S. 176
…zu den erfreulichen Seiten des notorischen Mangels in der DDR gehörte, dass es auch an Büroräumen mangelte….
In Berlin konnten sich die im Westteil Arbeitenden aufgrund des neuen Wechselkurses von 1:4 zwischen DM und DDR-Mark einen anderen Lebensstandard leisten als die Restbevölkerung, andererseits fuhren Westberliner zum preiswerten Einkauf von Nahrungsmitteln in den Osten, was die Versorgungslage noch mehr verschlechterte. Die DDR Bürger nahmen es auch mit Humor und zeigten in den DDR-Witzen die Grenzen der SED-Herrschaft und ihre Entbehrungen, die zu keinerlei materiellen Wohlsand führten.
S. 299
- Kenn’ Se den, flüsterte der andere Mann - offenbar von so viel Zustimmung ermuntert: Wat sin’ die vier Hauptfeinde des Sozialismus? Das Paar wechselte Blicke.
- Frühja, Somma, Herbst und Winta, sagte der Mann und kicherte in sich hinein.
Das Kapitel 6 fängt die politische Stimmung in der DDR 1961 kurz vor dem Mauerbau und zur Zeit der Kubakrise ein.
Wilhelm fordert eine Abriegelung der Grenze zur BRD, Charlotte erinnert an die Flucht des Hausmeisters.
S. 128
- Ein Affentheater mit Westberlin. Dann muss man die Staatsgrenze eben abriegeln…
- Der Hausmeister ist auch weg….
- Der Wollmann?
- Genau, der Wollmann, sagte Charlotte.
- Zum Teufel mit Wollmann, sagte Wilhelm. Aber die jungen Leute! Verstehst du: Studieren auf unsere Kosten und dann hauen sie ab. Da muss man den Riegel vorschieben.
In Wirklichkeit erfolgte die Schließung der Grenze in Berlin und der Mauerbau wegen der großen Zahl derer, die aus wirtschaftlichen und politischen Gründen das Land verließen, und in Übereinstimmung mit den Warschauer Pakt-Staaten. Der „antifaschistische Schutzwall“ sicherte und stabilisierte Ulbrichts Machtstellung und machte die DDR zu einer geschlossenen Gesellschaft und zu einer Zwangsanstalt, in der die Mentalität der Bürger nun von dem Bewusstsein geprägt wurde, wie in einem Käfig zu leben. „Die Mauer wurde zur Voraussetzung eines gigantischen Sozialexperiments am lebenden Objekt. Die DDR wurde zum Laborversuch für eine neue Gesellschaft samt neuen Menschen, für die lichte Zukunft des Kommunismus.“ [cxcvii] Unzählige Kontrolleure und Polizisten sicherten neben Zäunen, Stacheldraht und Stahltoren die Staatsgrenze.
Das Ereignis des Mauerbaus selber hat im Roman keine Auswirkungen auf die Lebensrealität und wird im häuslichen Umfeld der Umnitzers akzeptiert.
Lediglich das Thema „Schießbefehl“ an der Berliner Mauer findet Erwähnung, als Alexander zur Armee eingezogen wird:
S. 212
…während jetzt irgendein Unterfeldwebel mit der Dienstvorschrift in der Hand erläuterte, welche Position vom Schützen beim Liegendschießen einzunehmen sei, nämlich in sich gerade, schräg zum Ziel, nichts davon würde er je sehen, nichts davon würde er miterleben, weil zwischen hier und dort,…zwischen der kleinen, engen Welt, in der er sein Leben würde verbringen müssen, und der anderen, der großen, weiten Welt, in der das große, das wahre Leben stattfand - weil zwischen diesen Welten eine Grenze verlief, die er, Alexander Umnitzer, demnächst auch noch bewachen sollte.
Charlotte ist Sektionsleiterin und arbeitet erfolgreich und mit großem Engagement an der Akademie. Ihre Karriere bleibt jedoch wegen ihrer mangelnden akademischen Qualifizierung begrenzt.
S. 116
- Als Frau, hatte Gertrud Stiller heute beim Mittagessen gesagt, musst du doppelt so viel leisten, um dich durchzusetzen.
S. 122f
Sie war berufstätig, sie arbeitete wie ein Pferd, sie bekleidete einen wichtigen Posten an jener Akademie, an der die künftigen Diplomaten der DDR ausgebildet wurden….Sie war Sektionsleiterin an einer Akademie - und was war Wilhelm?
Wilhelm, der als Verwaltungsdirektor gescheitert war, betätigt sich ehrenamtlich als Wohnbezirks -Parteisekretär, engagiert sich in der Parteiarbeit, wobei er durch sein öffentlichkeitswirksames Handeln zunehmend Anerkennung erfährt.
S. 122
Ein Nichts…sie selbst hatte ihn ermutigt, den Posten des Wohnbezirksparteisekretärs zu übernehmen, sie hatte ihm eingeredet, dass dies eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe sei - das Problem war nur, dass Wilhelm dies inzwischen selbst glaubte. Und, was noch schlimmer war: Die anderen glaubten es offenbar auch!
Um sich gegenüber einem Rivalen im Institut zu profilieren, verfasst Charlotte für das Neue Deutschland eine Rezension zum Exilroman „Mexikanische Nacht“ eines BRD-Autors, die mit dem Verdikt endet, das Buch sei „defätistisch“ und „gehör[e] nicht in die Regale der Buchläden unserer Republik“.
S. 127
Es ging um das Buch eines westdeutschen Schriftstellers, das jüngst in einem DDR-Verlag erschienen war. Es war ein schlechtes, ein ärgerliches Buch…Nein, dieses Buch, las Charlotte und fand sich mit jedem Wort, jeder Silbe im Recht, dieses Buch eignet sich nicht, um die Jugend zu einer weltzugewandten, humanistischen Haltung zu erziehen. Es eignet sich nicht, um die Menschen gegen das drohende atomare Inferno zu mobilisieren. Es eignet sich nicht, um den Glauben an den Fortschritt der Menschheit und an den Sieg des Sozialismus zu fördern, und deswegen gehört es nicht in die Regale der Buchläden unserer Republik.
Charlottes Rezension zeigt politische Differenzen zu Kurt, der ihr ein naives Verständnis der aktuellen politischen Lage in der Zeit kurz vor dem Mauerbau und der Kubakrise vorhält und ihr vorwirft, sich für einen härteren politischen Kurs und eine Rückkehr zum Stalinismus instrumentalisieren zu lassen. Kurt gerät als Befürworter eines demokratischen Sozialismus mehrmals mit den Erwartungen des Regimes in Konflikt. Im Gegensatz zu seinem Stiefvater Wilhelm befürchtet er die Rückkehr des Stalinismus in die DDR:
S. 136
- Nein, sagte Kurt. Es geht hier um Richtungskämpfe. Es geht hier um Reform oder Stillstand. Demokratisierung oder Rückkehr zum Stalinismus. “
Bei einer Reise 1966 zu einem Treffen mit Wissenschaftlern in Moskau traut sich Kurt, inzwischen einer der führenden Historiker der DDR, nicht, diese nach der Einschätzung der politischen Lage zu fragen.
S. 163
Und dass er einsam gewesen war zwischen all den wohlgesinnten Menschen, von denen er keinen so gut kannte, dass er es gewagt hätte, die Fragen, die ihn beunruhigten, auch nur anzutippen - zum Beispiel die Frage, inwieweit, nach Ansicht seiner Kollegen, eine Re-Stalinisierung der Sowjetunion drohte, nachdem der tölpelhafte, aber doch irgendwie sympathische Reformer Nikita Chruschtschow (ohne den er, Kurt, noch immer als „ewig Verdammter“ hinterm Ural säße) als Parteichef abgelöst worden war.
Nach der Rückkehr von einer Dienstreise nach Moskau wird Kurt von einem Parteisekretär über den „Verrat“ eines Kollegen aus seiner Forschungsgruppe informiert, der die Einheitsfrontpolitik der KPD während der Weimarer Republik in einem Schreiben an einen BRD-Historiker kritisch betrachtete und das darüber verhängte Denkverbot in der DDR kritisierte.
S. 171
(welche, wie jedem klar war, die die Sozialdemokratie verunglimpft und das Erstarken des Faschismus auf schlimmste Weise gefördert hatte!)
S.. 171
Die Angelegenheit war ebenso einfach wie dumm. Paul Rohde, ein immer schon etwas übermütiger und nicht immer disziplinierter Mitarbeiter aus Kurts Arbeitsgruppe, hatte in der ZfG das Buch eines westdeutschen Kollegen besprochen, in dem die sogenannte Einheitsfrontpolitik der KPD Ende der zwanziger Jahre kritisch beleuchtet wurde…., und dann hatte Rohde dem westdeutschen Kollegen persönlich seine Rezension geschickt, versehen mit der Bemerkung, er möge entschuldigen, dass sie so negativ sei, die gesamte Arbeitsgruppe finde das Buch klug und interessant, aber in der DDR sei es leider noch längst nicht so weit, dass das Thema Einheitsfrontpolitik offen diskutiert werden könne…
Die Geschichtsverfälschung des SED-Regimes zeigt sich in dem folgenden Prozess um den Parteiausschluss des Historikers Rohde.
S. 171
Mit wachsendem Unbehagen hörte er sich an, wie Günther vom Fortgang der Sache berichtete, welcher, kurz gesagt, darin bestand, dass die Abteilung Wissenschaft des Zentralkomitees der SED eine harte Bestrafung des Genossen Rhode forderte, welche Morgen, am Montag, auf der Parteiversammlung beschlossen werden sollte.
Auf einer Institutsversammlung von ZK -Mitgliedern folgt die Verurteilung und die Enthebung aus seinen Ämtern. Kurt nimmt am Partei-Gericht über Rohde teil, ohne sich zu exponieren.
S. 178
…während er von den revisionistischen und opportunistischen Kräften sprach, innerhalb denen, so der Genosse Ernst, der Hauptfeind zu suchen sei, und bei dem Wort Hauptfeind senkte sich seine Stimme, und Kurt entdeckte Paul Rohde, …, grau, geschrumpft, den Blick ins Leere gerichtet, erledigt, dachte Kurt. Paul Rohde war erledigt, Parteiausschluss, fristlose Entlassung, plötzlich war es ihm klar….Hier ging es längst nicht mehr um Paul Rohde…..Hier geschah, was Kurt seit langem, genauer gesagt, seit der Ablösung Chruschtschows …. befürchtet hatte….das letzte Plenum, auf dem man kritische Schriftsteller niedergemacht hatte.
Bei diesem Anlass erinnert sich Kurt an seine Verhaftung 1941 in Moskau und an seinen damaligen Vernehmer, dessen „Schweinsgesicht“ (S. 181) dem des ZK-Genossen, der die Anklagerede gegen Rohde hielt, verdächtig ähnelte.
Kurt tröstet sich mit der Erkenntnis, es sei schon ein Fortschritt, wenn Kritiker nicht mehr erschossen, sondern nur noch aus der Partei ausgeschlossen werden:
S. 184
Und war es nicht auch ein Fortschritt,, wenn man die Leute - anstatt sie zu erschießen - aus der Partei ausschloss? Was erwartete er? Hatte er vergessen, wie mühsam die Geschichte sich vorwärtsbewegte?
Dementsprechend erscheint Kurt auch die Festrede eines Parteifunktionärs zu Wilhelms 90. Geburtstag als ein Sammelsurium an Lügen, zu denen er aber dennoch Beifall klatscht (S. 341). An diesen Stellen verdeutlicht der Roman, wie sehr die fehlende Offenheit in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu den Geburtsfehlern der DDR gehörte und dazu beitrug, dass das sozialistische Experiment misslingen musste. Und es zeigt sich, dass, wer zur Opposition gehörte, als mangelnde ideologisch gereifte Persönlichkeit angesehen wurde und als vom westlichen Feind beeinflusst. Und so wie Eltern erzieherische Maßnahmen bei einem Kind ergriffen, vollzog der Staat erzieherische Maßnahmen am Erwachsenen.
Im Laufe der 60er Jahren begann ein im Vergleich mit dem Westen bescheidenes Wirtschaftswachstum. Lohnsteigerungen, eine vermehrte Freizeit mit dem Ausbau der Gastronomie und Konsummöglichkeiten durch Nachahmung westlicher Produkte brachten Signale der Hoffnung. Mit der Ausbreitung des Wohlstands stiegen aber gleichzeitig auch die Ansprüche und die Erwartungen der Bürger.
Waren in den 50er Jahren Bauern und Schwerindustrie die Symbole des DDR Zeitgeistes, kamen in den 60er Jahren Wissenschaft und Chemie hinzu, die es ermöglichen sollten, die Bundesrepublik auf wissenschaftlich-technischem Gebiet einzuholen.
Wichtig für den Bürger war das Arrangement mit der Mangelwirtschaft und damit der Erwerb bzw. die Jagd nach knappen Artikeln. Durch Beziehungen und Freundschaften war der Alltag gut zu bewältigen. Man fühlte sich nicht unfrei, Gesetze und Verhaltensnormen waren klar definiert und bei Anpassung war es ein friedliches und ruhiges Leben. „Aus der Unfreiheit resultierte tatsächlich eine Art von Geborgenheit“. [cxcviii] Die DDR bot ein idyllisches Bild. Die Bürger hatten sich in ihrem Land ihrem Vernehmen nach gut eingerichtet, ohne Kritik oder Widerspruch zu äußern.
Die Frauen im Roman sind ein Beweis dafür. Irina hat einen ausgeprägten Pragmatismus:
Sie ist stolz auf die eigene Arbeit und auf die Fähigkeit, Güter und Dienstleistungen zu organisieren und Strategien zu entwickeln. Sie hat gute Kontakte - und die waren in der Mangelgesellschaft der DDR von großem Nutzen. In diesem Bereich blühte die Eigeninitiative, Kreativität im Improvisieren war gefragt. Beziehungen und ein Netzwerk von Menschen, die in Schlüsselpositionen saßen, wie Klempner, Maurer, Elektriker musste man haben, und es entwickelte sich im informellen Bereich ein Tauschmarkt, der die Versorgungslage im privaten Bereich verbesserte und Versorgungsengpässe mit sonst zu knappen Gütern umging.
S. 168
Betrachtete, während er die zunehmende Hitze am Hintern spürte (ja, auch die Gasheizung war eine gute Idee gewesen!), die schwedische Importbücherwand, die Irina ihm vermittels irgendwelcher undurchsichtiger (hoffentlich nicht krimineller) Transaktionen beschafft hatte.
Nadjeshda besitzt eine ganz besonders ausgeprägte Ausdauer, z.B. in ihrer Kindheit, beim Betteln:
S. 144
…als Kind hatte sie immer Ausschau gehalten nach solchen Schuhen, wenn sie in irgendein Dorf kamen und sie vor der Kirche saß, gehasst hatte sie das, die beiden Großen durften sich Arbeit suchen im Dorf, und sie, die Kleinste, musst die Hand aufhalten, den ganzen Tag lang, Kopf runter, Hand hoch…
…in ihrem steten Gesang an Wilhelms Geburtstag:
S. 288
…während Baba Nadja ernst und stur eine Strophe nach der anderen ableierte, bis schließlich alle, am lautesten der Dicke mit dem Pavianarschgesicht, mitbrüllten….
Charlotte kämpft um berufliche Anerkennung in der DDR:
S. 115
Wie immer am Freitag war sie die Letzte. Sie war seit fünf Uhr morgens auf den Beinen. Vor der ersten Briefkastenleerung hatte sie noch einmal, ein letztes mal, den Artikel durchgesehen, den der Genosse Hager bei ihr bestellt hatte. Am Vormittag zwei Stunden Spanisch. Nach dem Mittag das Realismus-Seminar: Fortschrittliche Literatur Nordamerikas….Autodidakt. Das Wort kam ihr in den Sinn, jetzt um Viertel nach vier, während sie den Schreibtisch aufräumte.
Die Menschen der DDR dachten an ihr berufliches Fortkommen und daran, die Entwicklung und Laufbahn ihrer Kinder zu fördern. „Alte deutsche Tugenden schienen hier ihren Wert behalten zu haben: Ruhe, Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Pflichterfüllung.“ [cxcix]
S. 147
Ein guter Mann, Kurt, immer höflich, immer mit Vor- und Vatersnamen… Professor war er, fuhr nach Berlin jeden Montag, mit einer Aktentasche, machte da irgendwas, sie wusste nicht genau, aber von Staats wegen irgendwas, und Geld verdiente….
S. 173f
Gewiss bestand keine akute Gefahr, dass Sascha „Gammler“ wurde. Aber seine lasche Haltung, seine Faulheit, sein Desinteresse für alles, was er, Kurt für wichtig und nützlich hielt… Wie konnte man dem Jungen nur begreiflich machen, worauf es ankam. Der Junge war intelligent, keine Frage, aber irgendwas fehlte ihm, dachte Kurt.
Auf die linke Studentenbewegung im Westen reagierte die DDR Bevölkerung mit aggressiver Aversion, so wie der Großteil der westlichen Bevölkerung.
S. 174
- Aber wenn deine Begeisterung für diese Beatmusik dazu führt, dass du Gammler werden willst, dann muss ich dir sagen, dass deine Lehrer recht haben, wenn sie so was verbieten. trägst du das Ding etwa auch in der Schule? …
- Ich frage dich: trägst du das Kreuz auch in der Schule?
- Ja, sagte Sascha. Kurt merkte, wie der Ärger in ihm aufstieg.
- Bist du denn wirklich so dämlich?
S. 176
…weil ein hundertprozentiger linientreuer Direktor…den Einfluss einer westlich-dekadenten Jugendkultur witterte…
S. 212
…niemals würde er Paris oder Rom oder Mexiko sehen, niemals Woodstock, noch nicht einmal Westberlin mit seinen Nacktdemos und seine Studentenrevolten, seiner freien Liebe und seiner Außerparlamentarischen Opposition.
In der Tschecheslowakei wurde in den 60er Jahren der Gedanke eines „Dritten Weges“ als Modell des Sozialismus mit menschlichem Antlitz durch die Wahl von Alexander Dubćek zur Realität. Die DDR Bürger reisten als Touristen in dieses Bruderland, um die freie Kultur mit ihren Westwaren zu erleben. Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes erfolgte am 21. August 1968 und machte ein Ende mit dem „Prager Frühling“. [cc]
7.3.3 Die 70er Jahre und ihre Präsenz im Buch
In den 70er Jahren entstand im Zuge einer Ostpolitik der westdeutschen sozialdemokratischen Führung eine Akzeptanz der DDR als Staat, und auch Ulbricht setzte sich von der Seite der DDR für eine friedliche Koexistenz und eine Annäherung an die BRD ein. Dies war im Sinne der Sowjetunion, denn so konnte sich der Graben zwischen den beiden Staaten vertiefen und die Position der DDR festigen.
Als Ulbricht 1971 aus alters- und gesundheitsbedingten Gründen abgesetzt wurde, begann die Zeit Honeckers, ebenfalls ein von der Sowjetunion gestützter Apparatschik. Er gewann als SED-Vorsitzender eine enorme Macht und Bedeutung.
Zentrale Gestalt aller mächtigen Männer war Stasi-Chef Erick Mielke, mitentscheidend von 1957 bis 1989 als Minister für Staatssicherheit und die Sicherheitspolitik, zuständig für Überwachung und Unterbindung politischer Oppositionsbewegungen.
S. 223
…während er dem Tischgespräch lauschte, das zwischen verschiedenen Themen mäanderte, …und …auf die Erdölkrise im Westen kam (wo, Gott sei Dank, auch nicht alles klappte) und schließlich … zu irgendeinem politischen Handbuch, über das Christina und Kurt sich einvernehmlich amüsierten, weil der Name von Honeckers Vorgänger in der Neuauflage vollständig eliminiert worden war, nachdem er ursprünglich auf beinahe jeder Seite gestanden hatte.
Auf gegenseitige Bespitzelung seitens der DDR-Bürger wird im Roman mehrmals angespielt:
S. 94
- Und gewählt haben die auch wieder nicht, die Schliepners. Aber die kriegen wir auch noch dran, sagt Wilhelm.
S. 276
- So einfach ist das nicht, Muddel sprach leise, als hätte sie die Omi vorn im Bus unter Stasi-Verdacht: Da brauchst du ein Visum für Ungarn, aber das kriegst du nicht mehr …
Der Machtwechsel zu Honecker war mit Liberalisierungstendenzenverbunden. Es zeigte sich eine gewisse Offenheit in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, wodurch man schon fast an eine Aufweichung des strikten vorgegebenen Kurses glauben konnte. [cci] Honecker korrigierte die Wirtschaftspolitik Ulbrichts zum Konsumsozialismus : Das materielle und kulturelle Lebensniveau sollte angehoben werden, um Arbeitsniederlegungen und wirtschaftliche und politische Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu verhindern, ein höherer Lebensstandard hatte die Bürger zufrieden zu stellen und die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern. In der Warenproduktion selber zählte in der Folgezeit der Umfang, die Menge - Farbe, Design und die ästhetische Qualität waren für die Verantwortlichen irrelevant.
S. 213
Kurt schrieb wieder an seinem Buch über Lenis Exil in der Schweiz, hoffte, nach dem Amtsantritt Honeckers, nun doch auf Veröffentlichung.
Der Umlauf der D-Mark als Zweitwährung war nun nicht mehr direkt verboten und all die staatseigenen HO-Läden und Intershops existierten von jetzt an für den einfachen Bürger. Jedem fiel aber eine „Versorgungshierarchie“ auf: Städte wie Ost-Berlin und Leipzig wurden bevorzugt und boten Westwaren an, kleine Städte dagegen hatten nur ein trostloses Sortiment - Pendlerfahrten wurden üblich.
Die Zwischenbilanz von Honecker in den 70er Jahren sah nach all den Maßnahmen gut aus: Der Lebensstandard der DDR war der höchste im Ostblock und nach dem VIII. und IX. Parteitag 1976 erfolgte die Anhebung der Mindestlöhne, die Einführung der Mindestrenten, die Erhöhung der Urlaubstage. Es gab von nun an Vergünstigungen für berufstätige Mütter und zinsgünstige Kredite für junge Paare und als soziale Zugeständnisse u.a. die schrittweise Einführung der 40-Stunden-Woche. [ccii]
Ein weiterer Wohlstandsschub bahnte sich an. International bedeutsam war in den 70er Jahren der sog. „Grundlagenvertrag“ zwischen der Regierung Brandts und der DDR, er regelte die Beziehungen zwischen den beiden Ländern: Die Bundesrepublik verzichtete auf ihren Alleinvertretungsanspruch und erklärte sich einverstanden, dass keiner der beiden Staaten den anderen international vertreten könne. Damit war der Weg in die UNO und andere internationale Organisationen für die DDR zwar offen, doch die Einrichtung von „Ständigen Vertretungen“ (und nicht von „Botschaften“) zeigte, dass die DDR von Westdeutschland immer noch nicht als Ausland betrachtet wurde. [cciii] „Die Anerkennung des Status quo führte zu dessen Überwindung. Im Grunde begann damals ein langfristiger Prozess der Destabilisierung durch Stabilisierung.“ [cciv]
S. 225
…wie auch das knallkurze Acrylkleid, das sie unter dem nun absichtlich geöffneten Mantel trug, von ihrer im Westen lebenden Schwester stammte (beides unmittelbare Konsequenzen des Grundlagenvertrags zwischen der DDR und der BRD)…
Die DDR änderte ihren Artikel 1 der Verfassung in der Hinsicht, dass sie nun nicht mehr ein „sozialistischer Staat deutscher Nation“, sondern von nun an ein „sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern“ war. Für die Bevölkerung änderte sich damit nichts, aber man signalisierte damit der Bundesrepublik, dass man von nun an eigene Wege gehen wolle.
Die 70er Jahre im Buch stellen sich 1973 im Wehrdienst von Alexander an der Grenze zur BRD dar. Er leistet seinen Wehrdienst widerwillig, empfindet sein Leben als unfrei, sein Wunsch nach persönlicher Freiheit durch die Möglichkeit, Rock- Konzerte im Westen zu erleben, scheint unerfüllbar. Nur ungern trägt er bei einem Besuch Wilhelms im Krankenhaus die Uniform.
S. 209
Ein Kopf erschien. Der Kopf trug eine Uniformmütze. Der Kopf begann zu schreien…Im Übrigen war nicht zu verstehen, was der Kopf schrie: Seltsame Sprache, die fast nur aus Vokalen zu bestehen schien…
S. 211
Alexander sah auf den Nacken des Vordermanns, auf seine Ohren, welche genauso aussahen, wie seine eigenen Ohren sich anfühlten, nämlich knallrot - und musste auf einmal an Mick Jagger denken; fragte sich, was wohl jetzt, während er hier stand… ein Mensch wie Mick Jagger tat.
S. 212
…niemals würde er die Rolling Stones live erleben, niemals würde er Paris oder Rom oder Mexiko sehen, niemals Woodstock,
Explizite zeitgeschichtliche Bezüge finden sich in diesem Kapitel zur Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann 1976 und zu Christa Wolfs Roman „Kindheitsmuster“. Kurt und Sascha diskutieren zu Weihnachten miteinander darüber:
S. 253
…immer hatten sie sich etwas zu sagen, immer redeten sie sofort und laut aufeinander ein, hatten drängende Neuigkeiten auszutauschen, in diesem Fall, wie auch anders, über das Biermann-Konzert in Köln.
S. 254
Es war gerade von Christa Wolf die Rede, großartiges Buch, warf Irina ein, obwohl sie das Buch gar nicht zu Ende gelesen hatte, aber sie hatte so viele Diskussionen darüber gehört, dass sie schon zu vergessen begann, wie sehr sie der umständliche Stil zermürbt hatte.
Seit Bestehen der DDR stellte die Subventionspolitik Milliarden bereit für die Beibehaltung von Wohnungen, deren niedrige Mieten nie erhöht wurden, für niedrige Preise von Grundnahrungsmitteln, so dass die Lebenshaltungskosten stabil blieben, für Verkehrstarife/Verkehrswesen und sowohl im kulturellen und sportlichen Bereich als auch im Gesundheitswesen. Bis in die 70er Jahre war diese Subventionspolitik erfolgreich, doch sicherten die Mieten nicht die Kosten für Instandsetzung und Modernisierung. Abgaben (Mehrwertsteuer) auf hochwertige Industriewaren und „Delikat- und Exquisitwaren“ mussten erhoben werden, um die wachsenden Subventionen finanzieren zu können. [ccv]
Mahnende Stimmen sahen, dass die Finanzierung des Sozial- und Konsumprogramms nicht aus eigener Wirtschaftskraft geschah und registrierten eine steigende Verschuldung. Es wurde mehr verbraucht als produziert, so dass letztendlich der ökonomische Kollaps nur mit Hilfe von Krediten aus der Bundesrepublik verhindert werden konnte. [ccvi] Um die Zinsen für die Kredite aufzubringen, verringerte die DDR den Import von Waren und erhöhte den Export.
Als Gegenleistung für die Kredite aus Westdeutschland entfernte die DDR Selbstschussanlagen und Minen an der innerdeutschen Grenze, bewilligte eher als sonst Westreisen von DDR-Bürgern und lockerte Besuchsmöglichkeiten bei „dringenden Familienangelegenheiten“. Die Folge war eine Flut von Ausreiseanträgen.
Zur gleichen Zeit bewirkte der Einfluss des Westfernsehens eine Teilnahme an Kultur-und Freizeittrends des Westens und Ost-Jugendliche entwickelten Konsumwünsche nach westlichen Maßstäben - die die DDR aber nicht erfüllen konnte.
S. 164
Stattdessen nahm er jetzt mit dem Tonbandgerät neumodische Musik im RIAS auf.
S. 140
…Amerika, sie kannte es ja aus dem Fernsehen, das andere Programm, zweimal schalten, sie guckte, ehrlich gesagt, meisten das andere Programm, Breschnew hatte sie genug geguckt, war irgendwie doch interessanter, Amerika, auch wenn man sich manchmal nicht hinzuschauen getraute, was die alles zeigten…
Bis Mitte der 70er Jahre gab es zwar für die DDR keine existenzbedrohende Krise, jedoch die Entbehrungen im Vergleich zu Westdeutschland zeigten jedem, wie gering die eigene Wirtschaftskraft war. Eine Szene im Buch spiegelt dies wieder:
Im Januar 1979 (14. Kapitel) sucht Kurt Alexander auf, der sich illegal in einer leerstehenden und völlig heruntergekommenen Wohnung im Prenzlauer Berg einquartiert hat, nachdem er Melitta und seinen kleinen Sohn Markus verlassen und sein Geschichtsstudium abgebrochen hat. Der Gang auf den zugeschneiten Bürgersteigen durch das baufällige Stadtviertel auf der vergeblichen Suche nach einem geöffneten Restaurant und das ständig vom Verkehrslärm unterbrochene Gespräch spiegeln sowohl die gestörte Kommunikation zwischen Vater und Sohn als auch das Scheitern des sozialistischen Aufbaus wider. Letzteres kommentiert ein in der Schlange stehender Gaststättenbesucher mit folgendem Witz: „Wat sin‘ die vier Hauptfeinde des Sozialismus? […] Frühjah, Somma, Herbst und Winta“.
S. 290
Die hohen Mietshäuser links und rechts sahen erbärmlich aus. Die Stuckfassaden waren vom Rauch er Kohleöfen geschwärzt, wo nicht nacktes Mauerwerk bleckte. Die Balkone sahen aus, als könnten sie einem jeden Moment auf den Kopf fallen.
S. 292
Inzwischen war es dunkel geworden. Nur die Hälfte der alten, von vor dem Krieg stammenden Laternen funktionierte….
S. 293
An der Ecke Gleimstraße war die Gaststätte Vineta. An der Tür hing ein handgemaltes Schild: „Wegen technischer Probleme geschlossen.“
Die DDR-Bürger erlebten hautnah das Fehlen von Waren- und Dienstleistungsangeboten und wie wenig das Angebot die Nachfrage deckte und in wie geringem Maße sich individuelle Konsum- und Lebensstile entwickeln konnten. Auch wenn die Realeinkommen und Haushaltsnettoeinkommen stiegen, war es nicht möglich, die Kaufkraft in Konsum umzusetzen. Dies verringerte die Lebensqualität und frustrierte die Menschen. „Die gesellschaftliche und individuelle Bedeutung des Konsums sind […] in gerade grotesker Weise verkannt worden.“ [ccvii]
Als sich im Zuge der Liberalisierung der visafreie Reiseverkehr zwischen der DDR und Polen bzw. ČSSR entwickelte, lernten die Menschen der DDR dort zum ersten Mal ein freiheitlicheres Lebensgefühl kennen. Im eigenen Land aber entwickelten sich die Bürger zu „Jägern und Sammlern“. Auf einem informellen Konsummarkt tauschte man knappe Waren, Tätigkeiten und Beziehungen, kaufte auf Vorrat und plante lange im Voraus wegen des allzu knappen planwirtschaftlichen Angebots: Man erwarb durch persönliche Anstrengungen notwendige Güter, kaufte ein, was es gab, nicht das, was man brauchte, erwarb vorrätige Ware für irgendwann in der Zukunft - und so blieb es bis zum Ende der DDR. Genuss und Entspannung gab es selten, das Zeitbudget der meisten Frauen wurde durch Organisation und Wartezeiten belastet.
Die Mangelwirtschaft der DDR wird in Eugen Ruges Roman an mehreren Stellen und aus verschiedenen Figurenperspektiven dargestellt und zeigt sich vor allem im Bereich des Wohnens und Essens. Da viele Produkte schwer oder überhaupt nicht verfügbar waren, fehlte es oft an Zutaten, um etwas einfallsreichere Gerichte zu kochen. Die begehrten Lebensmittel konnten nur durch persönliche Kontakte und einen manchmal extrem aufwändigen Tauschhandel erworben werden. Dies wird im 12. Kapitel durch Irina verdeutlicht:
S. 244
Der größte Teil des Sobakin’schen Kaviars jedoch ging als Schmier- und Zahlungsmittel in den undurchsichtigen Kreislauf der unter Ladentischen und in Hinterzimmern gehandeltenWaren ein.
Am Weihnachtstag des Jahres 1976 (12. Kapitel) trifft Alexander mit seiner neuen Freundin Melitta bei seinen Eltern ein. Mutter Irina bereitet ihre französische Klostergans zu, deren Zutaten sie sich jedes Jahr durch einen umfangreichen Tauschhandel organisieren muss.
S. 245
… und zwei[Aale bekam, I.MB]schließlich eine ehemalige Kollegin, aus deren väterlichen Kleingarten jene getrockneten Aprikosen stammten, außerdem Quitten und dickschalige Winterbirnen, die Irina schälte und würfelte und zusammen mit den schon eingeweichten Aprikosen sowie halbierten Feigen aus dem Russenmagazin, Rosinen (die sie anstelle von Weintrauben benutzte), Esskastanien…in eine Pfanne gab.
Geduld, Geschicklichkeit, Taktieren und Insiderwissen waren erforderlich, um an Waren und Material zu kommen. Dies zeigt Irina beim Hausbau.
S. 244
In der Galerie am Stern erstand Irina gegen Zuzahlung von Kaviar mehrere Stücke der begehrten Waldenburg-Keramik, Ofenbrand mit bräunlichen Flugascheresten, die sie wiederum als Schmiermittel beim Erwerb von Dachfenstern verwendete; einen Teil der Dachfenster, die sie selbst nicht benötigte, brachte sie mit dem PKW-Anhänger nach Finsterwalde und tauschte sie dort gegen etwas breitere Dachfenster (100cm) ein, welche alsbald Fischer Eberling aus Großzicker auf Rügen abholte und dafür eine Kiste Aal hinterließ, den er - natürlich illegal - in einer hinter der Garage versteckten Kammer geräuchert hatte.
Ende der 70er Jahre entstanden immer größere Defizite bei der Planerfüllung, die Gründe waren vielfältig: schlechte Arbeitsorganisation, fehlende Motivation bzw. Arbeitsdisziplin…
Wirtschaftlich investiert wurde schwerpunktmäßig in die Mikroelektronik. Computertechnik sollte die Gesellschaft zwar modernisieren, konnte jedoch nicht mit den internationalen Standards konkurrieren. Es gab hohen Sanierungsbedarf,und dies vermehrt bei den Anlagen der Chemieindustrie, wo die Bevölkerung und die Beschäftigten von nun an einer noch stärkeren Gesundheitsbelastung ausgesetzt waren.
7.3.4 Die 80er Jahre und ihre Präsenz im Buch
Immer mehr zeigte sich, wie sehr die sozialistische Wirtschaftim Vergleich zur profitorientierten Wirtschaft der westlichen Länder zurückblieb.
Von Beginn an war die Abhängigkeit der Wirtschaft von der Sowjetunion groß gewesen, und ohne deren Rohstofflieferungen hätte die DDR nicht existieren können. Der sozialistische Partner jedoch reduzierte aufgrund von Missernten und den daraus resultierenden Nahrungsmittelimporten aus dem Westen und wegen der Unruhen in Polen in den 80er Jahren die Erdöllieferungen. In der DDR wurde daraufhin von Öl- auf Braunkohleantrieb umgerüstet - mit schweren ökologischen und strukturpolitischen Auswirkungen.
Hinzu kam, dass das Bild der Arbeiterklasse sich veränderte: Der Anteil der Arbeiter an der Gesamtbevölkerung sank, die Arbeiterbewegung wurde schwächer und trat bei dem aktuellen Thema der ökologischen Umgestaltung gar nicht in Erscheinung.
Die DDR war hohe Verbindlichkeiten eingegangen, um Technologie zu importieren und näherte sich nun der Zahlungsunfähigkeit. Milliardenkredite aus Westdeutschland entschärften nur kurzfristig die Krise, denn die Subventionierungen für Verkehrsmitteln, Wohnungen, Grundnahrungsmitteln, Sozialleistungen wie Kinderbetreuungen und Gesundheitsfürsorge bestanden weiterhin und ließen die Wirtschaft immer mehr in den wirtschaftlichen Niedergang abgleiten. Hinzu kam die Unfähigkeit der DDR, Auslandsschulden zu tilgen.
Besonders groß war die Unzufriedenheit mit dem Wohnungswesen, das in einer auffälligen Abhängigkeit vom Staat bestand. Viele Bürger forderten eine Verbesserung, schrieben Bittschreiben und Briefe an staatliche Behörden, wurden oft aber nur schroff abgefertigt. [ccviii]
S. 347
Hier waren die Häuser so niedrig, dass man die Dachrinnen mit der Hand erreichte. Kurt folgte dem Zickzack der kurzen, kopfsteingepflasterten Straßen, die in dieser Gegend, wo es aus offenen Fenstern nach Küche und Alkohol roch … über der mit Stacheldraht bewehrten Mauer des Reichsbahnausbesserungswerks, seit Jahren (oder Jahrzehnten?) ein blassrotes Transparent mit der Aufschrift ‚Der Sozialismus siegt‘ vor sich hin rottete.
In den 80er Jahren änderte sich das Lebensgefühl: materielle und erlebnisbezogene Orientierungen verstärkten sich, das Streben nach Selbstverwirklichung bekam eine besondere Bedeutung.
Die Menschen der DDR machten die Erfahrung, dass der Sozialismus nicht funktionierte. Finanzielle Anreize und eine Konsummöglichkeit für ein erweitertes Warenangebot fehlten, und die Loyalität zum Staat ließ nach.
S. 275
Die LPG kam in Sicht, ein verwahrlostes Gelände: überall verrostete Maschinen im hohen Gras. Dann das Schweine-KZ, ein Bauwerk aus rohen Betonplatten, das ihm immer einfiel, wenn sie in der Schule das Lied singen mussten:
Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer …
Für die DDR-Bürger war wieder der Witzein „Ventil für aufgestaute Unmut und zugleich ein Barometer für ihre Stimmung.“ [ccix]
S. 290
Ruinen schaffen ohne Waffen, der Witz fiel ihm ein: die Losung der Kommunalen Wohnungsverwaltung.
Viele wussten nicht mehr, wofür sie sich engagieren sollten und verweigerten sich, denn schon
längst hatte sich die DDR-Gesellschaft an dem Konsum und die Lebensweise des Westens orientiert. „Der Besuch des Intershops…. war zu einer Art Sonntagsvergnügen avanciert. Auch die Delikat- und Exquisitläden, die Produktion von Farbfernsehern und Heimcomputern zählen wohl zu den Versuchen, die immer deutlicher spürbare Stagnation und individuelle Perspektivlosigkeit zu kompensieren.“ [ccx]
Bei Sascha zeigt sich eine Entwicklung weg von den Traditionen hin zu einer entwurzelten und traditionslosen Lebenswelt, in der politisches Interesse, kulturelle und gesellschaftliche Teilnahme nicht mehr vorhanden sind.
S. 291
Kurt betrat eine leere Wohnung. Er nahm kaum Einzelheiten war - es gab kaum Einzelheiten. Ein brutal kahler Flur. Eine Küche ohne ein einziges Möbel, alle Küchenutensilien standen auf einer alten Kochmaschine herum. Das Zimmer: blanke Dielen von roter Fußbodenfarbe….
S. 292
- Ich habe ein neues Schloss eingesetzt.
- Du willst sagen, du bis eingebrochen.
- Vater, die Bude steht leer. Da kümmert sich kein Mensch drum
- Und wie kommst du hier rein? Woher hast du den Schlüssel?
S. 296
- Und eins sag ich dir: Wenn das rauskommt, dass du dort eingebrochen bist… Das ist kriminell, ist dir das klar? Dann ist dein Studium beendet.
- Mein Studium ist sowieso beendet, sage Sascha und betrat die Gaststätte Balkan-Grill.
S. 299
- Hast du deine Diplomarbeit fertig?
- Ich schreibe meine Diplomarbeit nicht fertig.
- Sag mal, drehst du jetzt vollkommen durch?
Sascha schwieg.
- Du kannst doch nicht hinschmeißen, so kurz vorm Schluss. Was willst du denn machen ohne Diplom? Auf’n Bau gehen oder was?
- Weiß nicht, sagte Sascha. Aber ich weiß, was ich nicht will: Ich will nicht mein Leben lang lügen müssen.
Für die einen war die Bundesrepublik ein imperialistischer Staat, für die anderen das Ziel ihrer Wünsche und Sehnsüchte, und dementsprechend sahen viele ihre Bedürfnisse nach Autos und Reisen im Westen mit seinem höherem Lebensstandard für die breiten Massen eher befriedigt als im östlichen Deutschland. „Der Westen war in der DDR Projektionsfolie aller Bedrohungsängste, Hoffnungen und Sehnsüchte.“ [ccxi] „Statt um den Freiheitsbaum tanzten die Menschen nun um das Goldene Kalb der Wohlstandsgesellschaft und vollzogen damit die unausweichliche Logik der bürgerlichen Revolution nach.“ [ccxii]
Insbesondere die Generation der jungen Erwachsenen und Jugendlichen hatte in den 80er Jahren ein anderes Verhältnis zum Staat und zum Gesellschaftssystem als die älteren Generationen, die Kriegsende und Wiederaufbau erlebt hatten. Die utopischen Hoffnungen der Nachkriegszeit waren kaum noch erkennbar und als der dynamische jüngere Gorbatschow auftrat, wuchs die Kritik am Staat. Das Echo auf ihn als den neuen Generalsekretär der KPDSU war in der DDR differenziert: Die DDR-Politiker blieben in Distanz und steuerten einen Gegenkurs zu seinem neuen Denken und seiner Perestroika und ein großer Teil derIntelligenz „unterließ …den Bruch mit der autoritären, dogmatischen Führung“[ccxiii], lediglich eine reformbereite geistige Intelligenz aber bildete eine leise Front und sah inMichail Gorbatschowihren Hoffnungsträger. Mit ihm hoffte sie auf Reformen und Erneuerung in der DDR, wurde aber enttäuscht, als Gorbatschow das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung achtete und der Auflösung der DDR und der Wiedervereinigung zustimmte.
Kurts Haltung als Historiker zu den Geschehnissen 1989 ist nicht eindeutig und wenig konkret:
S. 69
- Das ist die Warnung, dozierte Kurt. Das bedeutet: Leute, wenn es hier zu irgendwelchen Demonstrationen kommt, dann machen wir das wie die Chinesen auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Herrgott, nee wirklich, Beton, sagte Kurt. Beton!
S. 336:
Aussichtslos, dacht er, diesen Leuten seine Meinung über Gorbatschow begreiflich zu machen: dass Gorbatschow nicht weit genug ging…dass er konzeptionslos und inkonsequent war… dass ein Buch über die Perestroika nicht die Spur eines theoretischen Ansatzes enthielt.
S. 343
Die Wahrheit, sagte er oder wollte es sagen - der Satz, den zu bilden er im Begriff war, hätte in etwa gelautet: Die Wahrheit ist nicht etwas, das die Partei besitzt und an die Bevölkerung als eine Art Almosen austeilt.
Im Gegensatz dazu verstand ein Großteil der Bevölkerung die abweisende Haltung der SED-Führung nicht. Für viele stellte sich die UDSSR als ein Reich der Hoffnung und Freiheit dar. Sie unterstützten Gorbatschows reformerisches Denken und wünschten sich eine demokratische Transformation des eigenen sozialistischen Systems. Honecker sah die Perestroika als eine innere Angelegenheit der UDSSR und als ein Problem mit einer zerstörerischen Kraft und lehnte die Reformpolitik von Gorbatschow ab.
S. 335
- Wenn unser Nachbar tapeziert, brauchen wir ja nicht auch gleich zu tapezieren.
…
- Auf Korbatschow, sagte Bunke. Auf die Berestroika in der DDR. Till wehrte ab, als man ihm einen Becher reichte. Der Abschnittsbevöllmächtigte tat, als hätte er nichts gehört…
Wilhelm zählt zu dem Häufchen alter Leute, das, wie Honecker, die DDR der siebziger Jahre verkörpert und eine nostalgische Sicht auf die Parteigeschichte hat.
S. 195
Gern hätte er ihm erklärt, dass Probleme - solche Probleme - in Moskau gelöst wurden und dass das Problem gerade darin bestand, dass Moskau selbst das Problem war.
Die sozialistische Welt war in Bewegung geraten: In Polen fanden im Juni 1988 die ersten halbdemokratischen Wahlen statt, die den Kommunisten eine Niederlage brachten, in Ungarn gab es Demonstrationen für Freiheit und Demokratie.
Mit diesem Wandel und der Offenheit in den Bruderstaaten entstand in der zweiten Hälfte der 80er Jahre in der DDR eine Diskussionskultur, die auch die literarische Intelligenz, zu der Sascha gehörte, beeinflusste. In Foren, Diskussionsrunden, Versammlungen wurden unterschiedliche Meinungen zum Ausdruck gebracht und zwangen letztendlich die Partei 1988, die Zensur abzuschaffen, wenn auch, da das Papier kontingentiert war, weiterhin eine Erlaubnis für Druckerzeugnisse eingeholt werden musste. 1989 stellte man die volle Verantwortlichkeit der Verlage her.
Und dann kamen die unvergesslichen historischen Momente im Herbst 1989: Immer mehr DDR-Bürger flüchteten in die Botschaft, eine Ausreisewelle setzte ein. Doch noch immer wurde der Kurs der Partei nicht auf die Realität bezogen und korrigiert[ccxiv], wurden keine Antworten auf konkrete Fragen gegeben oder von den Medien objektiv über die Probleme informiert. Man rechnete damals im Herbst 1989 einfach noch nicht mit dem Zusammenbruch des Systems, und die bevorstehenden Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR schränkten die Handlungsfähigkeit der DDR-Führung ein. Der 40. Jahrestag der DDR sollte nämlich mit Militärparaden gemeinsam mit dem prominenten Zuschauer Gorbatschow begangen werden. Als es so weit war, kam es zur Demonstration und zu „Freiheit“-Sprechchören, und obgleich nach dem Heimflug von Gorbatschow die Anti-Terror-Einheit des MfS zuschlug und auf Demonstranten einprügelte, kam es an den folgenden Tagen und in den Wochen danach zu weiteren Demonstrationen.
Am 11. September 89 wurden in Ungarn die Grenzen nach Österreich geöffnet und eine Ausreisewelle setzte ein, auf deren Höhepunkt das „Neue Forum“, unterstützt von großen Teilen der Bevölkerung, mit offenen Worten hervortrat und einen demokratischen Dialog über Fragen des Rechtsstaates, der Wirtschaft und Kultur forderte. Die Partei reagierte mit einem Verbot. Begründung: Staatsfeindlichkeit, doch zeigte das alles keine Wirkung mehr, im Gegenteil, es organisierten sich immer weitere Gruppierungen.
Markus denkt an die Möglichkeit eines Ausreiseantrags:
S. 276
- Warum stellen wir eigentliche keinen Ausreiseantrag, fragte er.
- Wenn wir heute einen Ausreiseantrag stellen würden, sagte Muddel, dann würde er - und auch nur vielleicht, genehmigt werden, wenn du achtzehn bist. Oder zwanzig.
- Oder wir hauen ab, sagte Markus.
- Nicht so laut, sagte Muddel….
- Und wie willst du das machen, fragte Muddel.
- Na, wie alle - über Ungarn.
Schriftsteller gingen im November auf die Straße und forderten in einer Protestdemonstration Reformen, sie votierten nicht gegen das Land, aber gegen die Massenflucht. Um sie aufzuhalten, verlangten sie, wie im Aufruf u.a. von Christa Wolf, einen menschlichen Sozialismus und eine veränderte DDR, eine bessere Gesellschaft auf demokratischer Grundlage, und keinen Ausverkauf der DDR. Dieser Aufruf fand ablehnende und zustimmende Reaktionen[ccxv], hatte aber keine politischen Konsequenzen mehr, denn im gesamten kommunistischen Bereich stand nun der Untergang bevor - die sozialistische Utopie existierte nicht mehr. Die DDR, im Zuge des Kalten Krieges entstanden, endete, als das sowjetische Imperium zusammen brach.
Am 9. November kam es zur Öffnung der Grenzübergangsstellen und jeder DDR Bürger konnte sie passieren. Die Mauer fiel, virtuell und real, die Kulissen des alten Systems stürzten ein.
Die Ausreisenden wollten keine Utopie mehr, sondern das kleine solide Glück im Westen, andere aber erfuhren die Wende 1989 als Demütigung und als Entwertung ihrer Lebensleistung und Biografie. Beides findet sich im Roman:
Wilhelms 90. Geburtstag ist das private Pendant zur nur sechs Tage später stattfindenden, von Protesten umrahmten und von Gorbatschows Perestroika überschatteten staatlichen Jubelfeier zum 40. Jahrestag der DDR. In den Ehrungen zu Wilhelms Geburtstag zeigt sich, wie sehr die DDR ein Land der Jubiläen und der proklamierten Jahrestage war. „Je mehr die DDR in Bewegungslosigkeit erstarrte, desto liebevoller wurden die Rituale der Erinnerung zelebriert.“ [ccxvi]
Die Ehrenreden an Wilhelms Geburtstag sowie die Überreichung von Orden und Geschenken sind seit Jahren gleich oder ähnlich, wirken leer und nicht zukunftsfähig. Wilhelm sieht in den Blumenvasen „Grabsteine“ (192) und kommentiert die Blumengeschenke, eigentlich ein traditionelles Lebenszeichen, mit „... Bring das Gemüse zum Friedhof" (194 u.ö.). Die Ehrenreden sind weder zukunfts- noch gemeinschaftsorientiert und wirken wie Grabreden auf die DDR und absurde Totenreden auf Wilhelm.
Kurt erkennt in der Feier und den Ehrungen ein Zeichen des Untergangs des politischen Systems der DDR.
S. 241f
Die ganzen zwanziger Jahre waren eine einzige Lüge - und die dreißiger Jahre auch. Auch der „antifaschistische Widerstand“ war in Grunde genommen nichts als eine Lüge.
S. 343
…begriff er, was Wilhelm sang: Nee, dümmer ging’s nicht. Oder nein, nicht dumm, dachte Kurt, sondern verbrecherisch. Im Grunde, dachte er, war es die kürzeste Formel für das gesamte Elend. Im Grunde genommen, dachte er, war es die Rechtfertigung allen Unrechts, dass im Namen der „Sache“ begangen worden war, die Verhöhnung von Millionen Unschuldigen, auf deren Knochen dieser sogenannte Sozialismus erreichtet worden war: die berühmte Parteihymne…
Wilhelm wird am Ende aufgrund seiner ideologischen Gesinnung in die Rolle des Täters gedrängt, obwohl er zum Besten des Volkes in seiner Überzeugung gelebt hat.
S. 198
- Ich bin Metallarbeiter. Ich bin siebzig Jahre in der Partei.
S. 203
Die Sondermanns. Deren Sohn im Gefängnis saß: wegen versuchter Republikflucht.
- Euch kenn ich nicht, sagte Wilhelm.
- Aber das sind doch Sondermanns, erklärte Charlotte.
- Euch kenn ich nicht.
Das Grummeln im Raum würde für einen Augenblick leiser.
- Gut, sagte Sondermann. Drückte Charlotte den Blumenstrauß in die Hand und verschwand, zusammen mit seiner Gattin.
Am 13. November traten Regierung und das Präsidium der Volkskammer zurück, am 3. Dezember das Politbüro und das ZK der SED. 1990 folgten freie Volkskammerwahlen, am 1. Juli 1990 kam die Währungs- , Wirtschafts- und Sozialunion und am 3. Oktober 1990 trat die DDR gemäß Art 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik bei. In der gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember 1990 wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt.
Die vollzogene Einigung „löste bei der Intelligenz einen Schock, einen Mentalitätssturz aus….Obwohl die Einheit dem Wunsch der oppositionellen wie auch der systemtreuen Intelligenz entsprach, sollte sie sich nicht so vollziehen, wie sie sich vollzog.“ [ccxvii]
S. 367
- Aha, sagte Kurt, darf man jetzt also nicht mehr über Alternativen zum Kapitalismus nachdenken! wunderbar, das ist also eure Demokratie…
- Scheiß auf eine Gesellschaft, in der zwei Milliarden Menschen hungern, schrie Kurt.
Für die Aufbaugeneration, zu der die Romanfiguren Charlotte und Wilhelm gehören, zerbrach die Bindung zur Sowjetunion, die aufgrund der Opfer und des Widerstands in der Zeit des Nationalsozialismus von Achtung und Zusammengehörigkeitsgefühl geprägt gewesen war. Am Ende der DDR standen für die noch lebenden Menschen der Aufbaugeneration der Verlust aller Ideale und Hoffnungen.
Für Wilhelm bedeutet es die Aufgabe der eigenen Biografie:
S. 191
Wofür hatte er seinen Arsch riskiert? Wofür waren die Leute draufgegangen? Dafür, dass irgend so ein Emporkömmling jetzt alles zugrunde richtet?
Die friedliche Revolution und der Vereinigungsprozess veränderten die Lebensbedingungen und die Alltagsverhältnisse der Ostdeutschen. Der Systemumbruch wurde zum gesellschaftlichen Umbruch und war für die Lebensverläufe der Romanfiguren sehr bedeutsam. Er wirkte sich auf das (Familien-) Leben der Menschen aus, denn der Zusammenschluss mit Westdeutschland beeinflusste Form und Verlauf ihre Lebensführung, Wertvorstellung und Lebensziele.
Dies betrifft die Romanfigur Kurt insofern, dass die außeruniversitären Forschungseinrichtungen wegen ihrer zu großen Staatsnähe überprüft wurden und für die Universitäten eine „Selbstreinigung“ angesagt war. Eine Arbeitsgruppe von Wissenschaftlern untersuchte die frühere Staatsnähe von DDR-Intellektuellen und sprach Ausgrenzungen aus politischen Gründen aus. Es kam zur Auflösung von Wissenschaftsbereichen in den Akademien, lediglich 12 % der Wissenschaftler wurden weiter beschäftigt. [ccxviii] „Die ostdeutsche Bevölkerung gar nahm es ohne Bedauern hin, dass die Intelligenz der DDR abserviert wurde.“ [ccxix]
Kurt wird in der Folge der Wiedervereinigung von einer anerkannten gesellschaftlichen Führungsfigur zum Wendeverlierer, er verliert seine Stellung, sein Institut wird aufgelöst.
S. 358
Sie verstand ja, dass es ihn aufregte. Er kämpfte gegen die, wie es neuerdings hieß: “Abwicklung“ seines Instituts. Ständig war er unterwegs. Fuhr nach Berlin, öfter als früher, sogar in Moskau war er noch einmal gewesen, weil irgendein Archiv plötzlich zugänglich war…
Die Familie ist besonderen Belastungen ausgesetzt, Alexander arbeitet nun im Westen, es kommt zu Streit und Spannungen und zu Interessenkollisionen einzelner Familienmitglieder:
Die Älteren, in diesem Fall Kurt, zeigen Unsicherheit und eine Unlust auf Veränderungen:
S. 366
- Was hier geschieht, ist der Ausverkauf der DDR, sagte Kurt…
- Die DDR war pleite, hörte sie Sascha sagen…
S. 369
- Du hast überhaupt keine Ahnung, was Kapitalismus bedeutet!…
- Der Kapitalismus mordet, schrie Kurt…
Bei Irina kommt die Angst vor Entwurzelung hinzu, Unsicherheit und Perspektivlosigkeit machten sich breit.
Charlottes Haus wird an die früheren Besitzer zurückgegeben:
S. 365
Nein, natürlich hatte Irina sie nicht im Haus haben wollen. Aber sie ins Pflegeheim abzuschieben erschien ihr brutal,…
und bei Irina besteht die gleiche Gefahr.
S. 358f
Und wenn sie jetzt noch das Haus verloren, dann gute Nacht. Selbst wenn man sie nach der „Rückübertragung“ - auch eine der Wörter, die mit der Wende gekommen waren - weiter hier wohnen ließe, würden sie die Miete auf Dauer kaum zahlen können…
Die Familie hat finanzielle Probleme:
S. 352
…wenn man schon morgens mit einem unguten Gefühl im Bauch zum Briefkasten ging und die Post zuerst daraufhin überprüfte, ob ein gerichtliches Schreiben dabei war… Dumm, ja natürlich! Dumm war es gewesen, das Haus nicht zu kaufen. … wozu, wenn man irgendwelche hundertzwanzig Mark Miete zahlte.
…
Dabei war noch nicht einmal heraus, wie viel Rente Kurt nun, nach der Umstellung bekommen würde. von ihrer eigenen Rente ganz zu schweigen. Plötzlich sollte sie irgendwelche Arbeitsnachweise aus Slawa bringen: Was für eine Bürokratie!… Auch ihre Zusatzrente würde sie vermutlich nicht mehr bekommen (die DDR hatte ihr eine Rente als sogenannte Verfolgte des Naziregimes zuerkannt, als Ersatz für die Ehrenrente, die sie als „Kriegsveteranin“ in der Sowjetunion bekommen hätte): Kaum anzunehmen, dass die westdeutschen Behörden sie dafür belohnen würden, dass sie als Gefreite der Roten Armee gegen Deutschland gekämpft hatte…
Markus lebt bei seiner Mutter, zusammen mit deren neuem Mann:
S. 373
Klaus, der neuerdings versuchte, auf Vater zu machen.
Er beginnt eine Ausbildung…
S. 380
Er hatte Klaus niemals drum gebeten, ihm eine Lehrstelle als Kommunikationselektroniker zu besorgen (eigentlich wäre er gern Tierpfleger geworden, und wenn das nicht möglich war, weil es angeblich keine offenen Lehrstellen gab, wäre er am liebsten Koch geworden, da gab es offene Lehrstellen, aber nein: Kommunikationselektroniker).
…und füllt seine Freizeit mit Discobesuchen, Drogen und Videospielen.
S. 371
Dann öffnete er die nur notdürftig mit einer Schraube befestigte Seitenwand seines Tower-PC, drückte die Karte in den entsprechenden Steckplatz…, bootete den Computer und spielte probehalber eine Runde DOOM: Wahnsinn! Das Röcheln der Monster war so echt, dass man Angst bekam.
S. 375
Zeppelin schob eine Ecstasy rüber. Markus bezahlte gleich und spülte sie mit einer großen Cola runter….Dann verlor er die Frau, tanzte eine Weile allein, trank ein Bier. Fing wieder an zu tanzen, hatte Augensex mit einer zerrissenen Strumpfhose, mit schwarzen Zombieaugen…
S. 376
Auf einmal hatte jemand noch Dope dabei…
Er führt ein desorientiertes Leben:
S. 371
Er feuerte seine Dreckwäsche ins Bad, stürmte hoch in sein Zimmer und packt die Soundkarte aus, die er im Computerladen in Cottbus gekauft hatte..
S. 374f
Kurz vor Mitternacht kamen sie am Bunker an, Zeppelin kannte die Türsteher. sie stiegen die Treppe hinab. Schon hier war die Musik laut. Der typische säuerliche, rauchige, modrige, versifte Kellergeruch schlug ihm entgegen, so penetrant, dass Markus nicht einatmen mochte, aber als sich die Stahltür öffnete, droschen die Techno-Bässe auf seinen Körper ein wie eine riesige, unsichtbare Faust, und es gab keinen Geruch mehr…Zeppelin schob eine Ecstasy rüber …
hatte Augensex mit einer zerrissenen Strumpfhose…Dann fand er die Schmutzigblonde mit den Sporttitten wieder, sie verständigten sich mit den Augen auf was trinken, und irgendwann später, nachdem jeder von ihnen zwei Black Russian getrunken hatte, knutschten sie in einem Gang rechts vom Klo..
S. 379
Es stellte sich heraus, dass wieder mal ein Brief von seiner Telekom gekommen war. Das Übliche: Fehltage, schlechte Noten, aber allmählich brannte die Sache…
Ohne überzeugende berufliche oder menschliche Perspektive, unglücklich und weder an politischen, sozialen oder andere existentiellen Fragen interessiert, gerät er in Gefahr, in ein der Kriminalität nahes Milieu zu geraten.
S. 380
… und nachdem sie eine Weile geschrien hatte (Inhalt uninteressant), holte sie aus und knallte mit einer übertriebenen Bewegung ein winziges Plastiktütchen auf den Tisch: Dope. Gras….
- Wenn du nicht sofort umkehrst, Markus, dann müssen wir irgendwann…
- O mann, sagte Markus.
- Du hörst jetzt zu, schrie Muddel…
Aus dem heutigen Blickwinkel betrachtet muss man aber sagen, dass sich letztendlich durch das Ende des totalitären Systems die Lebensumstände der meisten DDR-Bürger verbesserten und neue Freiheiten entstanden.
7.3.5 Abwanderung und Ausreise
Seit 1961 gab es Flüchtende und Übersiedler in der DDR und alle wünschten sich ein Leben ohne Mangel, in Wohlstand, Demokratie und Freiheit. Als seit 1984 den Rentnern der Umzug zu Kindern oder Verwandten gestattet wurde, gab es gleichzeitig eine steile Zunahme an jüngeren Menschen und Familien, die die DDR verließen.
„Wer flüchtete, dachte in längeren Zeiträumen. Er verließ, wie er annahm, derzeit nicht zu verändernde Verhältnisse.“ [ccxx]
Nachdem der Reiseverkehr zwischen der DDR und dem westlichen Ausland gelockert worden war, umfasste er ca. 6 Mio. Besucher in die Bundesrepublik, ca. 3,5 Mio. aus der Bundesrepublik in die DDR, dies trug mit zur Destabilisierung bei und ging über in die späteren Botschaftsbesetzungen. [ccxxi] Anfang der achtziger Jahre kam es zur Massenbewegung, in der Zigtausende ausreisten; allein 1989 wurden 50 000 Genehmigungen erstritten, dies und die anschließende Massenflucht von Flüchtlingen über Ungarn, die im Zug durch die DDR gen Westen fuhren, zeigte, wie viele Menschen zu diesem Zeitpunkt bereits keine Hoffnung mehr auf Besserung hatten.
Die weltpolitischen Veränderungen versuchte das DDR-Regime zu verdrängen:
S. 68f
- Wirklich kein einziges Wort, sagte Kurt. Keine Silbe über Ungarn, kein Wort über Flüchtlinge, nichts über die Botschaft in Prag…
Da aber niemand mit dem Untergang der DDR rechnete, verließ auch Eugen Ruge noch kurz vor dem Ende der DDR mit einem Ausreiseantrag sein Heimatland und war „richtig sauer“ als ein Jahr später die Öffnung der Mauer für alle bekannt wurde.
Im Roman verübt sein alter ego Sascha Republikflucht, er glaubt Mitte der 80er Jahre, also kurz vor dem Mauerfall nicht mehr an eine politische oder wirtschaftliche Verbesserung, ihm erscheinen die Erwartungen, sozialen Wertvorstellungen und scheinbaren Gewissheiten der Eltern illusorisch und fragwürdig. Sie hatten, so war seine Meinung, ideologische Scheuklappen.
S. 74
-Was ist denn, wo ist er?
- In Gießen, sagte Kurt leise.
Leitgebend für Saschas/Ruges Entscheidung in den Westen zu gehen, war, dass er dort eine größere Möglichkeit zur künstlerischen Entwicklung hatte, ohne staatliche Vorgaben erfüllen zu müssen. Als junger Literat miteinem Drang zur Veröffentlichung gibt es für ihn in der DDR nur eingeschränkte Möglichkeiten, seine Einsichten und Erfahrungen mitzuteilen oder sich unbeeinflusst zu äußern. Hinzu kam, dass ihm die Mentalität der Aufbaugeneration widerstrebte und er, anders als sie, zum Sozialismus einen eher gleichgültigen bzw. nichtsozialistischen Standpunkt hatte und gar kein Interesse daran, Traditionen zu wahren oder sich mit den Idealen der Vätergeneration auseinander zu setzen.
Er stellte einen Ausreiseantrag, das hieß im Amtsdeutsch der DDR: einen „rechtswidrigen Übersiedlungsversuch“ zu unternehmen, und nach einiger Wartezeit, die von „sofort“ bis zu zehn Jahre reichte, wurde diesem stattgegeben. [ccxxii]
Damit bricht Sascha aus der Reihe der Angepassten aus und muss mit der Reaktion der Umwelt leben: Neid, Bewunderung und Ablehnung schlagen ihm entgegen.
Er verlässt seine Heimat und nimmt in Kauf, die Eltern auf unabsehbarer Zeit nicht mehr wiederzusehen und sie eventuell auch in berufliche Schwierigkeiten zu stürzen.
Durch seine Flucht in den Westen schlägt er sich zwar auf die Seite der politischen Sieger, vermag aber weder im neuen kulturellen noch im politischen Umfeld Fuß zu fassen oder eine seinem Vater vergleichbare Stellung zu erlangen.
Irina ist verzweifelt:
S. 75
- Sascha ist weg, schrie sie. Tot, verstehst du, tot!
- Irina, sagte Kurt auf Deutsch, du kannst doch nicht so etwas sagen! Zu Nadjeshda Iwanowa sagte er auf Russisch:
- Sascha ist nicht tot, Irina meint, dass er sehr weit weg ist. Dass er nicht mehr kommen wird.
- Aber zu Besuch, sagte Nadjeshda Iwanowa.
- Nein, sagte Kurt, auch nicht zu Besuch…
S. 324
Nun fehlte nur noch, dass Kurt sie, um ihre Verzweiflung zu mildern, vorsichtig daran erinnerte, dass auch sie, da sie bereits über sechzig, also im Rentenalter war, das Recht hatte, ihren Sohn im Westen zu besuchen…
Mein Sohn hat mich verratten, hieß die Formel, in der ihre Enttäuschung ihren endgültigen Ausdruck fand…
Da sich Wiederholungen bis in Alexanders Leben im Jahr 2001 durchziehen, deuten sie auch eine Skepsis im Hinblick auf die politischen Möglichkeiten unter den Bedingungen des Westens an.
8. Stadträumliche Situierung der Familienromane
Wo du weg willst, wenn du älter wirst und zurückwillst, wenn du alt bist, das ist Heimat.
(deutsches Sprichwort)
Alle drei Romane sind lokal verankert und haben charakterliche Örtlichkeiten einer Stadt, in der die Roman-Familie und der Autor selber beheimatet sind. Allein über Thomas Mann und Lübeck und seinen Ferienaufenthalt in Nidden gibt es bereits unzählige Bücher. Dahinter liegt der Gedanke, dass „bestimmte Orte, an denen Menschen gewohnt und gearbeitet haben, wie ein Wurzelgeflecht ihren Denkweisen zugrunde liegen.“ [ccxxiii]
8.1 Lübeck
„Es gibt eine Charakterverbindung zwischen Ort und Person.“ [ccxxiv] Diese ist im Falle von Thomas Mann und Lübeck offen und greifbar und in diesem Roman nachlesbar: Die Familie und die Firma Buddenbrook sind Teil der Geschichte Lübecks - Lübeck zeigt uns die Strömungen und Tendenzen der jeweiligen Zeit!
Zentraler Wohnsitz und Schauplatz von Thomas Manns Roman ist eine bei Travemünde gelegene Hafen- und Handelsstadt, mit giebeligen und winkeligen Straßen (S. 659), die zwar nie als Lübeck bezeichnet wird, jedoch mit seinem öffentlichen und geschäftlichen, bürgerlichen Leben auf die Heimatstadt des Dichters hindeutet.
Lübeck zählte 1835 24000 Einwohner, das gesamte Staatsgebiet lediglich 40000 und die Überschaubarkeit des kleinen Staatswesens führte zu keinerlei großen Veränderungen oder revolutionären Spannungen in den Verhältnissen, man pflegte die althergebrachten Konventionen und Verhältnisse. Die „freie und Hansestadt“ (S. 56) spiegelt ein Milieu von tradierten Werten des Konservativismus’ und der Solidität, das Leben ist geprägt von Tradition.
Wie bedeutsam Thomas Mann die Beziehung zu seiner Heimatstadt damals empfand, zeigte sein Brief 1903 an Martha Hartmann: „Eine Stadt, über die man ein elfhundert Seiten starkes Buch schreibt, kann einem ja im Grunde nicht gleichgültig sein.“ [ccxxv]
Lübeck war für Thomas Mann eine „persönliche Lebensform und -stimmung und -haltung“[ccxxvi], und er verwahrte sich 1913 dagegen, dass er zu seiner Heimatstadt ein schlechtes Verhältnis habe; dieser Vorwurf war ihm nämlich von seinem Onkel Friedrich Mann gemacht worden, der ihn in dem Lübeckischen Anzeiger vom 28.10.1913 als „Nestbeschmutzer „bezeichnete. „Was mich ärgert, ist die Vorstellung als stünde ich mit der Vaterstadt auf dem schlechtesten Fuße.“ [ccxxvii]
Th. Mann trat stets als ein Lübecker Bürger auf, dem die Reflexion seiner Bürgerlichkeit als Künstler und die Abgrenzung von Künstler und Bürger ein bedeutsames Thema in seinen Werken und Reden war.
Eine große Anzahl der städtebaulichen Elemente Lübecks finden sich im Roman:
Giebelhäuser, Öllampen und eine Straße, die abschüssig zur Trave führte, vermitteln das Bild einer verschlafenen ruhigen Kleinstadt.
S. 155
Diese grauen Giebel waren das Alte, Gewohnte und Überlieferte, das sie wieder aufgenommen und in dem sie nun wieder leben sollte.
So sieht es Tony Buddenbrook.
Der Klavierlehrer Hannos, Herr Pfühl wohnt in einem…
S. 503
geräumigen alten Giebelhaus mit vielen kühlen Gängen und Winkeln…
Thomas Buddenbrook beschreibt die Stadt seiner Jugend als eine gemütliche aber auch unansehnliche Stadt:
S. 360
„Sie wissen besser als ich, wie es damals bei uns aussah. Die Straßen ohne Trottoirs und zwischen den Pflastersteinen fußhoher Graswuchs und die Häuser mit Vorbauten und Beischlägen und Bänken….“
Auswärtige Gäste besichtigten die Sehenswürdigkeiten der Stadt, die mittelalterlich unversehrt waren: das enge Burgtor, durch das Tony B. hindurchfährt, die alte Stadtmauer mit den halb verfallenen Türmen, die Katharinenkirche, all das wirkt malerisch-romantisch. Pastor Tiburtius aus Riga verweilt länger bei den Buddenbrooks:
S. 283
Es vergingen acht Tage, und noch immer hatte er diese oder jene Sehenswürdigkeit, den Totentanz und das Apostel-Uhrwerk in der Marienkirche, das Rathaus, die „Schiffergesellschaft“ oder die Sonne mit den beweglichen Augen im Dom nicht besucht.
Herr Permaneder bekommt eine Stadtführung von Thomas Buddenbrook persönlich:
S. 335
Trotz allen geschäftlichen und städtischen Pflichten nahm er sich Zeit, ihn in der Stadt umherzuführen, ihm alle mittelalterlichen Sehenswürdigkeiten, die Kirchen, die Tore, die Brunnen, den Markt, das Rathaus, die „Schiffergesellschaft“ zu zeigen, …
Dem Senat waren so manche Ausgaben zur Erhaltung von Baudenkmälern zu teuer, so dass sich ein verwahrloster Anblick bot.
Darüber spricht Thomas Buddenbrook mit dem Barbier, wenn er sagt:
S. 360
„…Und unsere Bauten aus dem Mittelalter waren durch Anbauten verhäßlicht und bröckelten nur so herunter, denn die einzelnen Leute hatten wohl Geld und niemand hungerte, aber der Staat hatte gar nichts und wurstelte so weiter … und an Reparaturen war nicht zu denken.“
Restaurierungen setzten in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts am Holstentor, am Rathaus und an den Kirchen ein. [ccxxviii]
Mittelpunkt der Stadt war und ist noch immer die im Inneren und im Äußeren imponierende St. Marienkirche, sie erlangte ihre Größe und Bedeutsamkeit bereits 1839 nach einer Restaurierung.
Für ihren Wiederaufbau spendete Thomas Mann nach dem Krieg Geld, in ihr findet Hanno seinen Rückzug in die Musik:
S. 503
Manchmal auch, am Sonntag, durfte der kleine Buddenbrook dem Gottesdienst in der Marienkirche droben an der Orgel beiwohnen … Hoch über der Gemeinde, noch über Pastor Pringsheim auf seiner Kanzel saßen die Beiden inmitten des Brausens der gewaltigen Klangmassen, die sie gemeinsam entfesselten und beherrschten, denn mit glückseligem Eifer und Stolz durfte Hanno seinem Lehrer manchmal beim Handhaben der Register behilflich sein.
Regierungssitz der Stadt Lübeck war das mit vielfältigen Stilelementen bestückte und Ehrfurcht gebietende alte Rathaus. Dort tagte der Senat zweimal wöchentlich. An diesen Tagen gab es Beflaggungen, Wachen und eine Sperrung der Straße für den Wagenverkehr.
Dies und der „Marktplatz“ spielen bei der Senatorenwahl eine Rolle, Tony wartet dort auf die Bekanntmachung des Ergebnisses.
S. 413
In der Breitenstraße vor dem Rathaus mit seiner durchbrochenen Glasurziegel-Fassade, seinen spitzen Türmen und Türmchen, die gegen den grauweißlichen Himmel stehen, seinem auf vorgeschobenen Säulen ruhenden gedeckten Treppenaufgang, seinen spitzen Arkaden, die den Durchblick auf den Marktplatz und seinen Brunnen gewähren… vorm Rathaus drängen sich mittags um 1 Uhr die Leute.
Der „Lübecker Hafen“, in dem Güter von Schiffen gelöscht werden, wird Hanno durch seinen Vater bekannt gemacht, statt der Salzspeicher spricht der Roman von „Getreidespeichern“. Das Löschen und Laden der Segelschiffe erfolgte zur damaligen Zeit von Trägerkompagnien, speziellen Hafenarbeitern, ab 1866 von Kränen. Als Baggerarbeiten eine Vertiefung der Trave schufen, konnten ab den 1850er Jahren auch Dampfschiffe in den Hafen einlaufen. Thomas Buddenbrook führt seinen Sohn in die Kaufmanns-Tätigkeit am Hafen ein:
S. 625
… er nahm ihn mit sich auf Geschäftsgänge, zum Hafen hinunter und ließ ihn dabei stehen, wenn er am Quai mit den Lösch-Arbeitern in einem Gemisch von Dänisch und Plattdeutsch plauderte, in den kleinen, finsteren Speicherncomptoiren mit den Geschäftsführern konferierte oder draußen den Männern einen Befehl erteilte, die mit hohlen und langgezogenen Rufen die Kornsäcke zu Boden hinauswarfen… Für Thomas Buddenbrook selbst war dieses Stück Welt am Hafen, zwischen Schiffen, Schuppen und Speichern, wo es nach Butter, Fischen, Wasser, Teer und geöltem Eisen roch, von Klein auf der liebste und interessanteste Aufenthalt gewesen;…Wie hießen nun die Dampfer, die mit Kopenhagen verkehrten?
Die „Fischstraße“ ist eine gute Adresse, in ihr wohnt der Tapezierer Jacobs, den Tony mit der Einrichtung des Hauses beauftragt.
S. 297
…unterdessen aber sollte Antonie, zusammen mit dem Tapezierer aus der Fischstraße, das hübsche kleine Haus in der Breitenstraße bereit machen…
Die Buddenbrooks reisen, so lesen wir, nach Travemünde oder nach Hamburg mit der sog. „Fensterchaise“, einer Pferdekutsche, für die man damals einen Vertrag mit einem Mietkutscher abschloss. [ccxxix] Der Verkehr über Land erfolgte von 1838 an über Oldesloe nach Hamburg, die Reisedauer betrug sieben Stunden und kostete einen Preis von sieben Mark. Bereits 1851 gab es dreimal die Woche Bus-Reiseverbindungen nach Hamburg oder Travemünde, bis dann 1865 eine direkte Eisenbahnverbindung mit Hamburg entstand, die, nach langwierigen Verhandlungen mit Dänemark, den Land-und Postverkehr erleichterte und mit der die Industriealisierung begann.
Erwähnung finden im Roman die gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse Lübecks.
Es existierte in Lübeck eine große Kluft zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden: Die 10% Bedürftigen lebten in Kellerwohnungen oder in anderen engen Wohnverhältnissen und erhielten Zuwendungen durch Sammlungen privater und öffentlicher Wohltätigkeitsanstalten.
Bei der Weihnachtsfeier im Hause zeigt die Konsulin Buddenbrook ihnen gegenüber ihre Mildtätigkeit:
S. 530
…, hinaus auf den Korridor, wo scheu und verlegen einige fremde alte Leutchen umher standen, Hausarme, die ebenfalls an der Bescherung teilnehmen sollten,…
Diese Tradition wird im Hause von Thomas und Gerda Buddenbrook nicht mehr fortgesetzt:
S. 607
Es fehlte der Chor der „Hausarmen“, die in der Mengstraße Schuhzeug und wollene Sachen in Empfang genommen hatten, …
Ein Waisenhaus am Domfriedhof war das Zuhause von Knaben und Mädchen, die ihre Schulstunden dort absolvierten und nach der Konfirmation mit einem kleinen Guthaben entlassen wurden.
Für die Altersversorgung mittelloser Mädchen aus alteingesessenen und verdienten Familien existierte das St.-Johannis-Jungfrauenkloster, in dem ca. 30 Konventualinnen mit eigener Haushaltung und Dienstmädchen still und vornehm-zurückgezogen leben konnten.
Klothilde wird in dieses Kloster aufgenommen und Thomas Buddenbrook bezeichnet sie als „ein wenig exklusiv“:
S. 541
Klothilde war weitaus die Glücklichste von allen an diesem Abend, … Sie war in das „Johanniskloster“ aufgenommen worden. Der Senator hatte ihr die Aufnahme unter der Hand im Verwaltungsrat erwirkt, obgleich gewisse Herren heimlich über Nepotismus gemurrt hatten. Man unterhielt sich über diese dankenswerte Institution, die den adeligen Damenklöstern in Mecklenburg, Dobberthien und Ribnitz, entsprach, und die würdige Altersversorgung mittelloser Mädchen aus verdienter und alteingesessener Familie bezweckte. Der armen Klothilde war nun zu einer kleinen aber sicheren Rente verholfen, die sich mit den Jahren steigern würde, und, für ihr Alter, wenn sie in die höchste Klasse aufgerückt sein würde, sogar zu einer friedlichen und reinlichen Wohnen im Kloster selbst…
Ende der 1860er Jahre siedelten sich immer mehr Familien in den Vorstädten Lübecks an.
Tony mietet eine helle Etage am Lindenplatz, und auch Gerda zieht nach dem Tod des Senators in eine kleine Villa vor dem Burgtor.
S. 607
Man gedachte der seligen Mutter, sprach über den Hausverkauf, über die helle Etage, die Frau Permaneder vorm Holstentore in einem freundlichen Hause angesichts der Anlagen des „Lindenplatzes“ gemietet hatte …
S. 698
Herr Kistenmaker besorgte auch den Ankauf des neuen Hauses, einer angenehmen kleinen Villa, die vielleicht ein wenig zu teuer erstanden wurde, die aber, vorm Burgtore an einer alten Kastanien-Allée gelegen und von einem hübschen Zier- und Nutzgarten umgeben, den Wünschen Gerda Buddenbrooks entsprach…
Lübeck als Stadt war ein Ort, der den Menschen Sicherheit gab für die Entwicklung einer Persönlichkeit, aber auch zugleich als beengend empfunden werden konnte. Hanno Buddenbrook ist das literarische Beispiel dafür, dass eine Künstlerpersönlichkeit versucht, aus den Normen und sozialen Verpflichtungen, aus verwandtschaftlichen Bindungen und den Erwartungen der bürgerlichen Welt ihrer Heimatstadt auszubrechen. Auch Christian Buddenbrook ist jemand, der der individuellen Einengung durch Ausbruch aus der bürgerlichen Gemeinschaft versucht zu entfliehen.
8.2 Wien
Wien, die Hauptstadt Österreichs, ist in Arno Geigers Roman die Heimat der Familie Sterk, für Peter der Ort der Kriegserinnerung, der in verschiedenen Kapiteln durch Straßen und Parks charakterisiert wird.
Beginnen wir mit Historie Wiens, als das Bürgertum seine Bedeutung gewinnt. Überschneidungen zwischen der Historie Wiens als Haupt- und Regierungsstadt und der ganz Österreichs sind hierbei unausweichlich ( siehe: Historie Österreich).
Nach der Französischen Revolution artikulierten auch angesehene österreichische Bürger zusammen mit prominenten Persönlichkeiten neue politische Gedanken und bildeten 1794 in Wien einen Diskussionskreis um demokratisches Gedankengut. („die Jakobinerverschwörung“). Die Politik reagierte: Es kam zu einer harten Verurteilung und einem Verbot des Wiener Vereinslebens, der „geheimen Gesellschaft“.
Von 1796/97 an bedrohte der junge Napoleon Österreich und eroberte acht Jahre später Wien.
Nach den Napoleonischen Kriegen ließ die Ansiedlung von Industrieansiedlungen ein Industrieproletariat entstehen, dessen Lage sich durch die Technisierung und den technischen Fortschritt mehr und mehr verschärfte. Hilfe kam durch die privaten Wohltätigkeitsvereine aus dem Bürgertum.
Diese sozialen Probleme brachten eine Polarisierung in der Gesellschaft mit sich, „in der der Kleinbürger zum Ideal erhoben worden war.“ [ccxxx] Bürgerliche Gesinnung spiegelte sich in einem Heim und in einem bescheidenen Wohlstand, und noch heute zeugen spätklassizistische Häuser von der damaligen Gesellschaftsschicht der bürgerlichen Handwerksmeister und Fabrikanten.
Die Zeit des Vormärz, die politische Periode zwischen dem Wiener Kongress (1814/1815) und der Revolution 1848 prägte Wiens Ruf als Weltstadt der Musik und machte diese zu einem wichtigem Bestandteil des dortigen Lebens.
Das Sturmjahr 1848 begann in Wien mit einer spontan entstandenen Bewegung unterschiedlicher Bevölkerungsschichten, es kam zu Massendemonstrationen von Wiener Arbeitern, ausgelöst durch Lohnkürzungen. Die Garde stoppte sie in der Wiener Innenstadt, es gab Verletzte und Todesopfer.
Bürger bewaffneten sich zunächst mit dem Ziel einer Verfassung, in der ein allgemeines und gleiches Wahlrecht fixiert werden sollte. Doch schon bald wandte sich das besitzende Bürgertum gegen eine Radikalisierung. Arbeiterschaft und Angehörige des Handwerks, traditionsmäßig zunftgebunden, kämpften jeweils für ihre eigenen Interessen. Daraufhin bereitete die Reaktion ein Eingreifen vor.
Der Wiener Oktoberaufstand 1848 , oft auch „Wiener Oktoberrevolution“ genannt, war die letzte Erhebung der österreichischen Revolution. Als am 6. Oktober 1848 von Wien aus kaiserlich österreichische Truppen gegen das aufständische Ungarn ziehen sollten, versuchten die mit den Ungarn sympathisierenden Wiener Arbeiter, Studenten und meuternde Truppen den Abmarsch zu verhindern. Es kam zu Straßenkämpfen. Kriegsminister Graf Theodor von Latour wurde von der Menge gelyncht . Der Hof floh mit Kaiser Ferdinand am 7. Oktober. Im Verlauf der Kämpfe gelang es den Wiener Bürgern, Studenten und Arbeitern, die Hauptstadt in ihre Gewalt zu bringen.
Aber die Revolutionäre konnten sich nur kurze Zeit halten. Am 23. Oktober wurde Wien von konterrevolutionären Truppen eingeschlossen. Am 26. Oktober begann das österreichische und kroatische Militär mit der Beschießung Wiens. Nach einer Woche wurde Wien gegen den heftigen, aber aussichtslosen Widerstand der Wiener Bevölkerung von den kaiserlichen Truppen wieder eingenommen und die innere Stadt am 31. Oktober erstürmt.
Das Gesicht Wiens veränderte sich. Ab 1857 kam es zu einem Bauboom und zu architektonischen Veränderungen des Stadtbildes, und Eingemeindungen ließen Wien nicht nur flächen- sondern auch bevölkerungsmäßig wachsen.
Privatkapital mit einer entsprechend liberalen Auffassung machte die Stadt zu einer Metropole, städteplanerisch vom Kaiser umgesetzt. Man organisierte die Energieversorgung und den Verkehr und begann die Anlage der Ringstraße mit den bedeutendsten öffentlichen repräsentativen Bauten und Palais für Großindustrielle, Bankiers und Angehörige des Herrscherhauses. Die Stadt erhielt ihre typische Prägung und Bedeutung als kulturelles Zentrum der Monarchie.
Das Theater wurde für die höfische Aristokratie und das literarisch interessierte Bürgertum besonders interessant, Wien als Haupt- und Residenzstaat hatte dabei eine Vorreiterrolle mit dem Burgtheater als führendem deutschsprachigen Schauspielhaus, neben dem Kärntner-Tor-Theater und den Vorstadt-Theatern.
Es bildete sich ein kreatives Milieu mit revoltierenden, modernen Künstlern in der Malerei (Klimt), der Musik (Schönberg) und in der Literatur (Schnitzler), das sich von der traditionellen klassischen Kunst abwandte.
Ein ausgeprägter Denkmalskult mit Helden der Vergangenheit zeigte sich auf dem Heldenplatz in Wien.
Im südlichen Wiental und im Nordwesten ließ ein vermögendes Bürgertum unter Hinzuziehung von namhaften Architekten Villenvororte entstehen, und die Innenstadt entwickelte sich mit Geschäftshäusern und Zentralstellen der Industrie zur City.
Avantgardismus in den Künsten und ebenso in der Architektur überwanden am Ende des 19. Jahrhunderts den Historismus. Hier muss man Otto Wagner in den 1890er Jahren als den einflussreichsten Architekten Wiens als bahnbrechend ansehen. [ccxxxi]
Wir lesen bei Arno Geiger über Wiens Sehenswürdigkeiten beim Spaziergang Ingrids mit den Kindern:
S. 257
Eigentümlich geduckt sind die Gebäude von Schönbrunn diesmal hingestellt, dick und voll. Das Gelb der Fassaden wirkt gebleicht vom niedergedrückten Schornsteinrauch, nach dem die Luft schmeckt. Die Alleen sind fast menschenleer, die Hecken aufgepackt mit Schneehauben, und die kahlen, schmutzigen Laubbäume stehen hart gezeichnet im weißgrauen Licht … Man hört Böllerschießen und Musik aus der Gegen des Tiergartens …
Merkantilisches Gedankengut aus deutschen Staaten des Reichs beeinflusste von nun an die Wirtschaftspolitik Wiens: Landwirtschaftsgesellschaften lieferten die theoretische Kenntnisse über neue Techniken zur Verbesserung von Land-, Forst- und Viehwirtschaft und wirtschaftliche Maßnahmen zum Ausbau des Verkehrsnetzes; die industrielle Produktion von Konsum- und Luxusgütern ließ Fabriken entstehen. Besonders erfolgreiche Unternehmer kamen in den Genuss von Nobilitierungen.
Politisch hatte seit Ende des 19. Jahrhunderts die Sozialdemokratie mit etlichen Jugend- und Frauenorganisationen in Wien große Bedeutung gewonnen. Sie stellten das Wahlrecht und die sozialen Probleme in den Mittelpunkt; ebenso aber erreichten Antisemiten, die sich gegen das jüdische Großbürgertum wandten, zunehmend die Wiener Wählerschichten.
Die Zuwanderung von Tschechen führte zur Zunahme der Bevölkerung. Sie stammten zumeist aus der unterprivilegierten Schicht, arbeiteten als Dienstmädchen und Tagelöhner, bezogen ihre Tageszeitungen in tschechischer Sprache und hatten eigene Parteien und Vereine.
Juden aus Ungarn und Polen, ebenfalls der Unterschicht zugehörig, sympathisierten mit der Sozialdemokratie und stärkten sie. Es entstand die zionistische Bewegung in Kreisen des Wiener Judentums. Führender Kopf war Theodor Herzl, ein Journalist aus Wien; er verfasste 1896 die Schrift „Der Judenstaat“ als Grundlage für einen theoretischen Zionismus.
Deutschnationale sahen die Überfremdung als ein Problem und griffen insbesondere das starke Engagement der Juden im Pressewesen („Judenpresse“) an.
Als Kaiser Franz Joseph 1916 starb, endete eine entscheidende Epoche in Wien.
Ab 1918 gab es in der Ersten Republik Österreichs eine Neuorientierung in der Stadtverwaltung: Die ersten Neuwahlen nach Einführung des allgemeinen Wahlrechts brachten den Sozialdemokraten die absolute Mehrheit, Bürgermeister war Jakob Reumann.
1922 wurde Wien zu einem selbständigen Bundesland, und die dadurch gewonnene Steuerhoheit ermöglichte der sozialdemokratischen Mehrheit Reformen durchzuführen: Fürsorgewesen und Wohnungsbau hatten Priorität, Abgaben auf Luxus schufen neue Einnahmen.
Und obwohl die Angst vor der „roten Gefahr“ immer wieder geschürt wurde, entwickelte sich das „rote Wien“ zur „Weltstadt des sozialen Gewissens“: Im Bereich des Gesundheitswesens und der Schulreform gab es soziale Fortschritte und man realisierte ein kommunales Wohnungsbauprogramm mit weitläufigen Wohnblöcken, -anlagen, reicher Begrünung und einer Abkehr von den Mietskasernen.
Am 1. Mai 1920 trat das „Hausgehilfinnengesetz“ in Kraft, das Arbeits- und Urlaubszeit, Kündigung, Verpflegung und Unterkunft regelte. Der Begriff „Hausgehilfin“, statt der des „Dienstmädchens“ entsprach nun mehr dem Selbstverständnis der jungen Frauen, die im Dienst waren und sollte das Bild des Hausherrn vom Gutsherrentum befreien.
Bis Anfang der 30er Jahre verschlechterte sich wie anderswo auch die wirtschaftliche Lage in Wien, und das bisherige Sozialprogramm konnte nicht wie bisher durchgeführt werden, u.a. weil der Verteilungsschlüssel für den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern zu Ungunsten Wiens erfolgte.
Es gelang nun der NSDAP 15 Mandate im Gemeinderat Wiens zu erlangen, und als ab Frühjahr 1933 Bundeskanzler Dollfuß mit Hilfe eines Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917 regierte, war „das ‚Rote Wien‘ und die Wiener Arbeiterschaft (…) zu den letzten Verteidigern der Demokratie in Österreich geworden.“ [ccxxxii] Die sozialdemokratische Stadtregierung wurde abgelöst, militärische, bürgerliche und katholische Traditionen, wie z.B. die katholische Soziallehre, wieder aufgegriffen unddie Fürsorge den privaten und konfessionellen Aktivitäten überlassen. Die Regierung änderte die Steuerpolitik zugunsten der Oberschichten. Von jetzt an nannte sich die Gemeindevertretung „Bürgerschaft“.
1938 nach der „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ wurde Bürgermeister Schmitz in Schutzhaft genommen, eingesetzt wurde der Nationalsozialist Ing. Hermann Neubacher. Er „säuberte“ die Beamtenschaft zu Gunsten von Parteigenossen und stellte Juden außer Dienst. Am 14. März erschien Adolf Hitler aus Propagandazwecken für die Volksabstimmung am 10. April in Wien. Hitler hatte zwar aus seinen Wiener Jugendjahren noch Ressentiments der Stadt gegenüber, trotzdem sollte nun ein „Aufbauprogramm“ greifen.
Wien ging gegen Juden mit Plünderungen, Misshandlungen und anderen Übergriffen vor und trieb sie so in die Emigration. Wem dies nicht gelang, dem stand die Deportation in Vernichtungslagern bevor. Gleichschaltung erfolgte in allen Bereichen, indem man missliebige Kräfte ausschaltete, auch wenn dadurch viel schöpferisches Potentials verloren ging.
Die sog. „Arisierung“ richtete sich gegen jüdische Unternehmen und hatte das Ziel, jüdisches in nicht jüdisches Eigentum zu überführen.
(AG)
Richards Erlebnisse während der Nazi- Herrschaft werden im Kapitel von 1938 erzählt. Die Familie erlebt eine Unruhe in der Stadt, ihr Familienleben ist aber nicht wesentlich von der Politik geprägt. Richards Haltung ist durch vorsichtiges Lavieren [ccxxxiii] geprägt. Als seine jüdischen Nachbarn wegziehen müssen, profitiert er von deren Entrechtung und kauft das Bienenhaus als beschlagnahmtes Judengut.
Der Reichsgau Wien war nun ein staatlicher Verwaltungsbezirk und eine Selbstverwaltungskörperschaft. Der Reichsstatthalter stand an der Spitze der Stadt, der Bürgermeister fungierte als eine Art Stadtrat und „Ratsherren“ lösten die „Bürgerschaft“ ab.
Während des Krieges war Wien den Luftangriffen Englands und Amerikas ausgesetzt, Industrie- und Wohnbezirke fielen in Schutt und Asche, Lebensmittel wurden gehortet und die Preise stiegen.
Im März 1945 erreichten aus Ungarn heranrückende Sowjettruppen Wien und es begann eine regelrechte Schlacht, angefeuert von der Propaganda der Nationalsozialisten, die sich die Angst der Menschen vor der Zukunft zunutze machten und auf den Straßen plakatierten: Bolschewismus ist Sklaverei, Vergewaltigung, Massenmord, Vernichtung. Wehrt euch! Kampf bis zum Sieg! Kapitulation Niemals! [ccxxxiv] Die Menschen sollten ihr Äußerstes geben, um das Überleben von Volk, Staat und Regime zu retten.
(AG)
Das Kapitel „Weißer Sonntag 1945“ veranschaulicht diese historische Situation.
Peter erlebt im Volkssturm den Kampf um Wien:
S. 102ff
Wien ist Frontstadt… Beim Hochsteigen aus dem dritten Keller ist von Maschinengewehrfeuer nichts mehr zu hören. Hinter dem Fähnleinführer drückt sich Peter durch den Hausgang Richtung Straße, er tritt möglichst vorsichtig auf, um mit den schiefen Holzsohlen seiner Goiseserer nicht allzuviel Lärm zu machen. Doch die Bolschewisten haben sich zurückgezogen. Rotarmist und Kinderwagen liegen nicht mehr in der durch eine Blutlache markierten Stelle, und auch die Brotziegel haben die Bolschewisten mitgenommen.
Viele Wiener wohnten in den Kellern ihrer Wohnhäuser, weil sie sich dort vor den Artilleriegeschossen sicher fühlten. Sie befürchteten einen Kampf um Haus und Straße, doch es kam anders. Die Sowjetführung nahm Wien rasch und zügig von Westen her ein und machte die Unterlegenheit der Deutschen offensichtlich, auch wenn das Führerhauptquartier einen siegreichen Abwehrkampf befahl und Panzerdivisionen in die Stadt verlegte. „Einheiten von Wehrmacht, SS und Volkssturm benutzten Eckhäuser und Stadtbahnstationen als Abwehrstellungen.“ [ccxxxv]
S. 102ff
Auf klappernden Holzsohlen, eine Panzerfaust über der Schulter, rennt der fünfzehnjährige Peter Erlach über die Straße und verschwindet in einer bizarr aufragenden Eckhaus-Ruine …
Chaos regierte in der Stadt: Es kam zu Plünderungen:
S. 106
Der Mann, ein älterer Herr, ist in Unterhosen, seine schwarzen, verwaschenen Drillichhosen hat er dabei, nur sind sie unten verknotet und offenbar mit Mehl gefüllt. Diesen aufgeblasenen, aufgeblähten, wasserlleichenähnlichen Torso zerrt der Mann schnaufend und fluchend, aber mit dem Eifer des Glücklichen über den Gehsteig in Richtung der Buben.
NS-Funktionäre, die sich nicht mehr am Kampf beteiligen wollten, flüchteten, die Feuerwehr floh aus der Stadt und ließ ausgebrochene Brände ungelöscht zurück. Trotzdem rief Gauleiter Baldur von Schirach noch am 9. April zum Kampf bis zum letzten Mann auf, setzt sich selber aber ab.
Deutsche Verbände zogen sich hinter den Donaukanal zurück, sprengten Brücken und überließen den Rotarmisten das Innere Wiens. Da diese einen Hinterhalt befürchteten, drangen sie langsam von Haus zu Haus und Häuserblock zu Häuserblock vor, unterstützt durch Bombardements sowjetischer Tiefflieger und Panzergefechte.
S. 108
Von Südwesten trommelt der Feind schon den ganzen Tag mit allen Batterien über die Buben hinweg in die Radialstraßen zum ersten Bezirk hinein.
S.113
Der Panzer macht einen Satz nach vorn. Einen Augenblick später detonieren die Mine und die Handgranate in einem einzigen betäubenden Knall, der zwischen den Häusern widerhallt. Der Motor des Panzers heult auf, das Gefährt wendet sich nach rechts und rattert die Straße hinunter in den schwarzen Qualm des abgeschossenen T 34 hinein. …
Hoch oben das Rumoren eines Flugzeuges in dem von dünnen Gewölk überzogenen Himmel, auch dieses Geräusch bis zur Irrealität gedämpft.
Obwohl die meisten Österreicher sich nach einem Ende des Schreckens sehnten, waren fanatische Nationalsozialisten bereit, Verräter (und Plünderer) gnadenlos zu erschießen.
S. 106
- Die sollen ihn erschießen, schnauzt der Fähnleinführer: Du siehst doch, was das für einer ist.
…
- Man könnte ihm in die Hosen hineinschießen, schlägt Peter vor zur Wiedergutmachung dafür, dass er den Plünderer vor den Russen warnen wollte.
Am 6. April war der Generalangriff von der Roten Armee eröffnet worden, am 10. April folgte die Eroberung der Stadt, am 12. April drängten die Sowjettruppen deutsche Verbände vom Donaukanal ab und am 14. April verließen die letzten deutschen Truppen, die noch das Nordufer der Donau gehalten hatten, das Stadtgebiet. Ein großes Schrecknis für die Wiener: Der Stephansdom fiel einem Brand zum Opfer.
S.115
Seine gelegentlichen Blicke zurück auf die Stadt, von der man nicht viel wiederfinden wird, wenn der Krieg noch eine Weile mit der momentanen Wut voranschreitet.
…
Dass die Stadt keineswegs deshalb rücksichtsvoll und gebäudeschonend erobert werde, weil Österreich das erste Opfer der Hitlerschen Aggression war …
Das Fazit: In 52 Luftangriffen starben 8000 Menschen, 21000 Gebäude wurden zerstört, eine Wiener Judengemeinde existierte nicht mehr und viele der an Hitlers Gewaltherrschaft Beteiligten entgingen der gerechten Bestrafung durch Selbstmord, aus Angst zur Verantwortung gezogen zu werden. „Die Rückkehr zur Demokratie, zu geordneten Verhältnissen musste in unerreichbarer Ferne erscheinen.“ [ccxxxvi]
Doch rasch bildete sich eine Zivilverwaltung. Über die Neuorganisation und Maßnahmen, um Österreichs Wiederaufbau zu sichern, berieten jetzt führende Funktionäre aus den jahrelang verbotenen Parteien, aus denen nun die Parteien SPÖ und ÖVP als neugegründete politische Organisationen hervorgingen. Generalleutnant Blagodatow forderte einen Bürgermeister von Seiten der früheren demokratischen Parteien. Auf Vorschlag der Sozialdemokraten wurde es der ehemalige k.k. Oberst Theodor Körner, und nun organisierte man nach demPrinzip der alten Verfassung die Stadtverwaltung neu.
Doch ohne Zustimmung der Besatzungsmacht konnten die Probleme der Versorgung und des Wohnraums nicht angegangen werden. Bereits 1944 hatten die Alliierten die Teilung Wiens entschieden und besiegelten diese am 9. Juli 1945 in der Unterzeichnung des Alliierten Zonenabkommens. Oberste Behörde der Besatzungsmacht war der Alliierte Rat, ihm war die interalliierte Kommandantur als eigentliche Regierungsbehörde unterstellt, und ihr mussten alle Gesetze und Verordnungen vorgelegt werden.
Bei den Gemeinderatswahlen im November 1945 erhielt die SPÖ die absolute Mehrheit, die KPÖ bekam 6 Mandate und aus Gründen der Diplomatie das Kulturressort zugesprochen.
Die Nachkriegsjahre in Wien waren geprägt von einer schwierigen Wirtschaftslage: Schwarzhandel, Hamsterfahrten und eine hohe Kriminalität verbreiteten sich, und das Wohnungsproblem vergrößerte sich, weil die Besatzungsmächte eine große Anzahl von Villen und Wohnungen beanspruchten. Die Sozialdemokratie Wiens stellte den sozialen Wohnungsbau in den Mittelpunkt ihres Programms, durch ihn schuf sie Arbeitsplätze und stärkte den Aufbau der Wirtschaft.
Bis in die 50er Jahre erfolgte eine Verbesserung der Lebensumstände.
Richard sinnt über seine Teilhabe an der Entwicklung Wiens nach, als er in den Ruhestand geschickt wird:
S. 201
Er hat für die Arbeit gelebt, Wochen ohne Sonn- und Feiertage, in denen er politisch für das Privatleben der Leute eintrat, während sich bei ihm zu Hause die Niederlagen summierten mit dem Effekt, dass er sich weiter in Richtung Ministerium zurückzog. Dort hat er seit 1948 alles im Rahmen seiner Möglichkeiten gemeistert. Noch in diesem Jahr wird die letzte Gaslaterne in Wien erlöschen, nahezu wöchentlich weiht irgendwo ein Pfarrer ein Transformatorenhäuschen ein. Er, Dr. Richard Sterk, der Römer, hat Turbinenhallen bauen lassen groß wie Opernhäuser. Er hat mitgeholfen, den Platz zu schaffen, den der Wohlstand benötigt, um sich auszubreiten.
Die sog. „Österreichfrage“ löste man 1955: Vom 2. bis um 12. Mai tagten die Botschafter erfolgreich im Gebäude des Alliierten Rats am Wiener Schwarzenbergplatz, die Außenminister fixierten den Vertragsabschluss am 14. Mai, die Unterzeichnung des Dokuments folgte am 15. Mai im Marmorsaal des Belvederes.
S. 23
Wegen eines eitrigen Backenzahns waren 1955 die Feiern zur Unterzeichnung des Staatsvertrags für Richard ins Wasser gefallen. Er fehlt auf sämtlichen offiziellen Fotos und in allen Filmen.
S. 145
Ich verhandle nicht jahrelang mit den Sowjets, damit meine Tochter in der Zwischenzeit den Verstand verliert.
Die letzten Besatzungstruppen zogen am 25. Oktober 1955 ab, und man feierte die Deklaration der österreichischen Neutralität mit einer großen Festkundgebung im Wiener Konzerthaus mit Delegationen aus allen Bundesländern. Wien war nun wieder die Hauptstadt eines freien und demokratischen Österreichs, und man unterstrich dies mit der Eröffnung von Staatsoper und Burgtheater.
Politisch herrschte von nun an lange Zeit in Wien die „Rathauskoalition“ zwischen SPÖ und ÖVP, die dazu führte, dass Wien als Bundeshauptstadt akzeptiert wurde. Die nun folgende Historie Wiens ist eng verbunden mit der des Staates Österreichs und im dementsprechenden Kapitel nachzulesen.
8.3 Ost -Berlin
Ruges Roman spielt in Ost-Berlin. Der Schriftsteller ist in Babelsberg groß geworden und schreibt von einem Ort „Neuendorf“, ein „augenzwinkerndes Changieren“ zwischen Kleinmachnow, wo er zur Schule ging und Babelsberg. [ccxxxvii] Die Wohnung lag in einem zweistöckigen Haus in der Domstraße und hatte eine stattliche Größe von 164 qm. Die Miete war mit 200 Mark zwar sehr hoch, doch seine Mutter entschied, es zu bewohnen. Das eigentliche Haus aus dem Roman, in das seine Mutter so viel Kreativität steckte, ist das Ferienhaus an der Ostsee, ein kleines Haus mit Schilfdach. Eugen Ruge hat es nach der Wende gekauft.
S. 55
Es war die Stille eines abgeschnittenen Ortes, der seit über einem Vierteljahrhundert im Windschatten der Grenzanlagen vor sich hin dämmerte, ohne Durchgangsverkehr, ohne Baulärm, ohne moderne Gartengeräte.
S. 31
Sie gingen den Fuchsbau entlang, vorbei an den Nachbarhäusern.
S. 305
Neundorf, Am Fuchsbau sieben, sagte Kurt und erwartete die Frage, wo das sei: Neuendorf? Fuchsbau?
Berlin bzw. die Geschicke Ost-Berlins waren in der Zeit Eugen Ruges eng verbunden mit der Sowjetunion (heute noch sichtbar im Treptower Ehrenmal, bei dem ein zwölf Meter großer Rotarmist ein Kind auf dem Arm hält und ein Hakenkreuz zertritt).
Bereits kurz vor Ende des 2.Weltkriegs 1944 gab es einen Entwurf, der Berlin in Sektoren teilte: Der sowjetische Sektor sollte acht Stadtbezirke umfassen: Pankow, Prenzlauer Berg, Mitte, Weißensee, Friedrichshain, Lichtenberg, Treptow und Köpenick.
Walter Ulbricht prägte das (architektonische Gesicht) der Stadt. Mit Kommunisten, Sozialdemokraten und Nazigegnern bildete er die „Gruppe Ulbricht“. 1946 erfolgte die Zwangsvereinigung von Kommunisten und Sozialdemokraten zur SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, deren Kommandozentrale in Ost-Berlin blieb, mit den zentralen Institutionen der Macht, den Ministerien und Behörden.
Am 7. Oktober 1949 verkündete der Deutsche Volksrat die Gründung der DDR. Die Abgeordneten kamen im ehemaligen Gebäude des Reichsluftfahrtministeriums zusammen und wählten Wilhelm Pieck zum Präsidenten der DDR.
Westdeutschland hatte beschlossen, rein deklamatorisch, dass Berlin die Hauptstadt Deutschlands sein sollte. Man ging von einem Groß-Berlin aus, doch schon in kürzester Zeit sprach man in beiden Teilen Deutschlands von Ostberlin/Ost-Berlin bzw. Westberlin/West-Berlin, mit oder ohne Bindestrich.
Die Zerstörung durch die Bombardierungen und die unzähligen Luftangriffe waren in der Nachkriegszeit allenthalben noch zu sehen.
S. 54
Dann Berlin. Eine abgebrochene Brücke. Zerschossene Fassaden. Dort ein zerbombtes Haus, das Innenleben entblößt: Schlafzimmer, Küche, Bad. Ein zerbrochener Spiegel. Fast glaubte sie, noch die Zahnputzbecher zu erkennen. Der Zug rollte an dem Gebäude vorbei - langsam wie auf einer Stadtrundfahrt. Fast bedauerte Charlotte die Bewohner dieses Landes. Was für ein Aufwand!
Die Versorgung normalisierte sich erst 1948 nach der Blockade: Die erste Verkaufsstelle der HO (Handelsorganisation) wurde im November dieses Jahres in der Frankfurter Allee eröffnet, es folgten weitere neben den teils privaten oder staatlichen Läden, den Verkaufsstellen der Konsum-Genossenschaft und den eröffneten Selbstbedienungsläden.
Das eigentliche Zentrum Berlins lag/liegt hinter dem Brandenburger Tor mit dem überdimensionierten sechsspurigen geschichtsträchtigen Boulevard „Unter den Linden“ und rund um den Alexanderplatz. Freiflächen östlich und südlich davon machten in den Anfängen der DDR den Eindruck einer Einöde, dazwischen standen einige Gebäude, die den Luftkrieg überstanden haben. [ccxxxviii]
Der Platz war nach den Häuserabrissen und der Verlegung von Straßenzügen viermal so groß wie vor dem Krieg.
In der Friedrichstraße fehlten Häuser, Gras wuchs auf den freien Grundstücken, Baracken mit kleinen Läden oder Lagerräumen klemmten dazwischen. Lücken machten die Straße hell. Hinter dem S-Bahnhof erstreckte sich eine große Brache mit nur einem einzelnen Kiosk, der Blumen verkaufte. [ccxxxix]
Berlin sollte als Hauptstadt der DDR eine politische, wirtschaftliche und geistig-kulturelle Sonderstellung haben und das „Schaufenster einer blühenden und fortschrittlichen Gesellschaft werden.“ [ccxl] So entstand in der Karl-Marx-Allee eine Flaniermeile mit einem reichhaltigen Warenangebot: Es gab Karl-Marx-Buchhandlungen, Bekleidungsgeschäfte, Elektrowaren. „Die sozialistische Welt schien in dieser Straße in Ordnung zu sein.“ [ccxli]
Großzügige Straßenzüge waren ideal für Massenaufmärsche…
Das 1951 in Leben gerufene Nationale Aufbauprogramm, das jedermann aufforderte, drei Prozent des Monatseinkommens ein Jahr lang auf ein Aufbausparbuch zu zahlen, hatte das von der Parteiführung verfügte Ziel, den Ausbau der Stalinallee im Osten der Stadt zu finanzieren. Baustellen entstanden allerorten, neue Stadtteile versprachen moderne Wohnungen.
Ab Januar 1954 richtete die Handelsorganisation (HO) Nachtlokale mit verlängerten Öffnungszeiten in fast allen Stadtbezirken ein, in denen Künstler und Kabarettisten auftraten.
Als Ausflugsziele der Ost-Berliner dienten die Seen im Osten der Stadt mit ihren Ausflugslokalen, ebenso waren das Strandbad Müggelsee, der Tierpark und der Weiße See mit seinen Milchhäuschen und Ruderbooten oder der Orankesee mit seinem Ostseeflair in der näheren Umgebung ein Erholungsort der Hauptstadtbewohner. [ccxlii]
Auffälligster Arbeitsort war das Gaswerk Dimitroffstraße mit seinen markanten Gasometern, das Mitte der 80er Jahre gesprengt und demontiert wurde - es war durch Gaslieferungen aus der Sowjetunion entbehrlich geworden.
Über die Sektorengrenze kamen bis zum Mauerbau Besucher zum Einkauf aus dem Westen, weil der Wechselkurs günstig war. Ostberliner dagegen gingen im Westen arbeiten, weil die hohen Stundenlöhne lockten, z.B. Putzkolonnen für die Büros und Privatwohnungen, ebenso besuchten Schüler westliche Konfessionsschulen.
Als 1960 die Anziehungskraft West-Berlins viele DDR-Bürger zur Abwanderung bewegte, wurde der politische Druck groß und man entschied sich, dies mit Gewalt zu unterbinden: durch Stacheldraht und den Bau der Mauer. Das Zentrum der Stadt Berlin bildete nun auch den Rand und machte „die Grenze fast überall präsent [..], wenngleich sie mit den Jahren den Blicken immer weiter entzogen war. Jedenfalls von der Ostseite her.“ [ccxliii]
Das erste Passierscheinabkommen wurde im Dezember 1963 unterzeichnet und ermöglichte West-Berlinern den Besuch der Verwandten über die Feiertage, es folgten weitere. Ab diesem Zeitpunkt gab es in den Stadtbezirken an der Mauer eine enorme Dichte an Kontroll- und Überwachungsinstanzen. Die Mauer wurde ein wichtiger Imageträger der Metropole Berlin. [ccxliv]
Wohnraum musste her: Die SED Führung entschied sich für großflächige Lösungen im Zentrum und „dafür nahm sie auch den Abriss von intakten Gebäuden in Kauf.“ [ccxlv] Wohnhäuser gruppierte man um hohe repräsentative Gebäude, es entstanden Stätten der Bildung, der Kultur und des gehobenen Konsums. Spezifisch für den DDR-Architekturstil waren große Wandmosaike und Kunst am Bau. Ein „Haus des Lehrers“, das zwischen 1961 und 1964 errichtet wurde, ist ein Beispiel für die entstehende industrielle Bauweise mit ihren Glas- und Aluminiumteilen und einem hohen Wandfries aus Keramikelementen.
Den Straßenzug Unter den Linden erweiterte man in den 60er Jahren zu einem Platz, das sechsgeschossige Interhotel dort war für ausländische Gäste gedacht. 1966 eröffnete das Lindencorso mit gastronomischen Einrichtungen, z.B. dem legendären Szenecafé „Espresso“, der Treffpunkt der (Lebens)Künstler und Intellektuellen Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße. In dessen Umkreis befanden sich die Universität mit ihren Instituten und Buchhandlungen.
Ein besonderes Bauprogramm begann rund um den Alexanderplatz, der zwanzig Jahre später in den schicksalhaften Tagen im Oktober 1989 im Mittelpunkt der großen Demonstrationen und des politischen Umbruchs stehen sollte. Das eigentliche Zentrum legte man still, riss vieles ab, darum herum entstanden Großbauten wie das Centrum-Warenhaus, das Hotel Stadt Berlin. „Der neue Alex wurde eine Utopie aus Glas, Stahl und Beton, ein Stadtraum für Großinszenierungen, wo der Einzelne in der Masse unterging.“ [ccxlvi]
Die dortige Weltzeituhr galt als ein beliebter Punkt für Verabredungen.
S. 304
- Wo gehen wir eigentlich hin, frage Sascha. Sie standen jetzt vor der Weltzeituhr. In New York war es halb eins, in Rio halb vier. Ringsum ein paar verfrorene Gestalten, die sich leichtsinnigerweise trotz der Kälte hier verabredet hatten: war ein beliebter Treffpunkt, die Weltzeituhr, als spürte man hier etwas von der großen, weiten Welt.
Berlin-Karlshorst war Sperrgebiet, dort beanspruchten die sowjetische Armee und der KGB ein großes Areal für sich, quasi das Regierungsviertel für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ).
In den 50er Jahren kam das Ministerium für Staatssicherheit der DDR hinzu. „Zahlreiche deutsche Neu-Karlshorster arbeiteten in staatlichen oder staatsnahen Einrichtungen und lebten im Einklang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR. Für sie gehörte die ‚deutsch-sowjetische Freundschaft‘ zum Stadtteilleben dazu.“ [ccxlvii] Die Lebensqualität war hoch, die Events auf der Trabrennbahn zogen viele Ausflügler an, Schrebergärten blieben trotz mancher Abrisse eine prägende Erscheinung in diesem Stadtviertel und machten Karlshorst zu einer „glücklichen Insel im Grünen“. [ccxlviii]
Im Buch gibt Kurt anlässlich einer Sitzung im Institut seinen Eindruck von Berlin in den 60er Jahren wieder:
S. 177
Von der Friedrichstraße aus waren es nur noch fünf Minuten zu Fuß. Das Institut lag schräg gegenüber der Universität in der Clara-Zetkin-Straße, eine ehemalige Mädchenschule, gebaut in der Gründerzeit, Sandsteinfassade, von Kohlenruß mit den Jahren geschwärzt und noch immer, auch zwanzig Jahre danach, gezeichnet von Einschusslöchern aus den letzten Kriegstagen.
Treffpunkte der sog. „Gammler“ war der Bahnhof Lichtenberg zwischen den Bahnsteigen, der Stadt stets ein Dorn im Auge; die „Mokka-Milch-Bar“ in der Karl-Marx-Allee galt als ein bekannter Versammlungsort der Jugend.
„Die aus dem Prenzlauer Berg waren stolz auf ihren Wasserturm, die Gasometer und den kleinen Friedhof hinter der Schule(…), die aus Friedrichshain, die prahlten mit dem Bunkerberg und der Knochenrodelbahn im Winter. Was war das schon im Vergleich zum Fernsehturm?“ [ccxlix] Zum 20. Jahrestag der DDR nahm der Fernsehturm seinen Betrieb auf. Er war im Vergleich zum konkurrierenden Funkturm in West-Berlin, wesentlich höher, ja, mit seinen 368 Metern das höchste Gebäude Deutschlands. Auf ihn mit seiner glänzenden Kugel und dem Restaurant können Besucher seit 1969 hoch fahren. [ccl]
Seit 1960 residierte der Ministerrat der DDR im Alten Stadthaus am Molkenmarkt, ehemals ein mittelalterlicher Markt, nun durch eine vierspurige Durchfahrtstraße entstellt. Ein wichtiger Ort, denn dort unterzeichneten Vertreter Westdeutschlands und der DDR den Grundlagenvertrag 1972, der die Beziehungen zwischen beiden Ländern regeln sollte. Büros von ARD und ZDF nahmen ihren Betrieb auf, westliche Journalisten akkreditierten sich im Ostteil. Um am Ost-West-Verkehr zu verdienen, eröffnete man Intershops am Bahnhof Friedrichstraße. Als ab dem Jahre 1974 die DDR- Bürger ausländische Währungen besitzen durften, schossen in der ganzen Republik diese Wellblech-Container aus dem Boden, der größte mit mehreren Stockwerken war der im Hotel Metropol in der Ost-Berliner Friedrichstraße. In ihm gab es unzählige Statusartikel, z.B. die beliebten Levis Jeans, zu kaufen.
Das Stadtbild der Potsdamer Altstadt in den 70er Jahren beschreibt Eugen Ruge aus Alexanders Sicht:
S. 221
Aber es genügte, wenige Schritte von der Hauptachse abzuweichen, und man befand sich in einer ganz normalen, das heißt verfallenen Straße mit ursprünglich hübschen, zweistöckigen Wohnhäusern, deren Fassaden nun grau und schwarz und von aus löcherigen Dachrinnen tropfenden Regenwasser gescheckt waren. Hier und da konnte man im Putz, sofern vorhanden, sogar noch Einschüsse aus den letzten Kriegstagen erkennen….
Ein wichtiges Großereignis waren die X. Weltfestspiele in Ost-Berlin 1973, zu dem westliche und östliche Jugend-Gruppen sich trafen, miteinander diskutierten und feierten. Partei und Staatssicherheit bereiteten sich langfristig vor, die Doppelstrategie war höchstmögliche Sicherheit und Kontrolle bei Wahrung des Scheins von Weltoffenheit - und diese ging auf. [ccli] Die Eröffnungsfeier fand im Stadion der Weltjugend, ehemals Walter-Ulbricht-Stadion, statt,
Nach Ulbrichts Ablösung durch Honecker änderte sich die Baupolitik. Die Imagekampagne des Staates, 1976 als Beschluss auf dem IX. Parteitag manifestiert, beinhaltete städtebauliche Maßnahmen wie den Bau des Palasts der Republik, das Sport- und Erholungszentrum in der Landsberger Allee, Plattenbausiedlungen und die privilegierte Versorgung mit Nahrungs- und Konsumgütern. [cclii] Der „Palast der Republik“:ein 180 m langer Kolossalbau mit 8000qm bronzefarbenen Glasscheiben, einem großen Saal, dem Plenarsaal der DDR-Volkskammer, mit Theater, Restaurants und Cafés, er bot Freizeitmöglichkeiten für die ganze Familie. [ccliii] Der Abriss erfolgte zwischen 2006 und 2008, für ihn hat man das alte Berliner Schloss und das heutige Humboldt- Forum errichtet. Der Wohnungsbau und die Bedürfnisse der Menschen standen von jetzt an im Vordergrund.
Stadtbezirke spiegeln Lebensentwürfe wieder wie „Jahresringe der Stadtentwicklung“ [ccliv] : in der Innenstadt Mietshäuser aus der Zeit um 1900, der Industrielandschaft folgten städtische Villen von 1900 in Karlshorst, Köpenick und Friedrichshagen, dann kamen Kiefernwälder, Vorstadtsiedlungen mit Einfamilienhäusern und Gärten, nicht weit davon Wälder und Seen, am Dämeritzsee begehrte Wassergrundstücke und die Laubengegend mit vielen Kanälen.
Städtebaulich gesehen gab es sehr unterschiedliche Milieustrukturen und es fanden sich durchaus Intellektuelle Lebensstile im mondänen Pankow, im idyllischen Köpenick und in den Luxusplattenbauten der Innenstadt. [cclv] .
Das Wohnungsproblem war wie in der ganzen DDR auch in Berlin stets das Thema Nr. 1. Im Nordosten von Berlin entstand im Rahmen des „komplexen Wohnungsbauprogramm“ von 1977 das neue Wohngebiet in Marzahn, als „Wohnen in der Platte“ bekannt: große Wohnensembles mit neuen Plattenbauten und moderner Grundausstattung stellten für manche Bewohner eine wesentliche Verbesserung ihrer bisherigen Wohnsituation im Altbau dar. [cclvi] Die Infrastruktur beinhaltete Kinderkrippen, Schule, Kaufhalle und Poliklinik, alles fußläufig zu erreichen, Schnellstraßen durchzogen das Gebiet. Gleiches geschah im benachbarten Hohenschönhausen. Wer so nicht leben wollte, versuchte durch Tauschaktionen, in ein schönes Altbauviertel in Weißensee oder Pankow zu kommen.
Ein ganz besonderes Lebensgefühl repräsentierte der Prenzlauer Berg: [cclvii] kein Arbeiterviertel, stattdessen ein Ort mit maroden Gründerzeitfassaden. Dorthin zog ein gemischtes Publikum: Studenten, junge Familien, Künstler. Der Verfall machte es zum Szeneviertel, man zog in leerstehende Ladenwohnungen, die nicht zu vermieten waren und besetzte Altbauwohnungen; durch die Anmeldung bei der Polizei und eine dreimonatige Mietzahlung bei der KWV folgte dann die Legalisierung. Prenzlauer Berg stand für eine Subkultur, deren Anführer Sascha Anderson war, und wurde bald zum Mythos. Alexander wohnt dort nach der Trennung von seiner Frau:
S. 290
Haus Nummer 16 schien unbewohnt zu sein. Falsche Adresse? Die Tür stand offen. Kurt passierte einen ruinösen Hausflur. An der Decke die Reste von Blumenreliefs. Dornröschenschlaf.
Uralte Schilder: Hausieren verboten….
Kurt betrat eine leere Wohnung. Er nahm kaum Einzelheiten wahr - es gab kaum Einzelheiten. Ein brutal kahler Flur…
- Hast du eine Zuweisung oder so was? Sascha lachte, schüttelte den Kopf.
- Und wie kommst du hier rein? Woher hast du den Schlüssel?
- Ich hab ein neues Schloss eingesetzt.
- Du willst sagen, du bis hier eingebrochen.
- Vater, die Bude steht leer. Da kümmert sich kein Mensch drum.
In den 80er Jahren regte sich Widerstand in der Bevölkerung: Man forderte eine behutsamere Umgestaltung und Erneuerung mit der Rückbesinnung auf die Geschichte und der Erhaltung des baulichen Erbes. Die Ost-Berliner sensibilisierten sich für ihr historisch gewachsenes Umfeld, für verborgene Zeugnisse der eigenen Geschichte, wie z.B. Orte des jüdischen Lebens, Spuren der Arbeiterkultur, traditionelle Orte großstädtischen Vergnügens und der reichen Industriegeschichte ihrer Stadt.
Alte Stadtviertel wurden saniert, es entstanden kleine Kaffeehäuser in den Altstadthäusern, einen hohen Bekanntheitsgrad hatte die Milchbar und die „Mokkabar“.
Es gab in Ost-Berlin der 80er Jahre mehr als 1200 gastronomische Einrichtungen, teils staatlich, teils privat geführte Bars und Tanzlokale, wo strenge Etikette herrschte: So musste der Herr Krawatte tragen. [cclviii]
Eine „neue Gemütlichkeit“ entwickelte sich in der historisch wieder errichteten Husemannstraße in Prenzlauer Berg . Man sanierte das Viertel am Akonaplatz und eröffnete kleine Läden, historische Kneipen und das Museum „Arbeiterleben um 1900“.
Ein großes Projekt war die „Sonderbaumaßnahme“ Nikolaiviertel zum 750. Jubiläum der Gründung Berlins, ein finanzieller Kraftakt: Rehistorisierung von Wohnungen und ein Altstadtviertel mit Gaststätten, Kaffeehäusern und kleinen Läden machten das Viertel nun zum Touristenziel. Berlins ältestes Gotteshaus, die Nikolaikirche, wurde als ein staatliches Museum wiedererrichtet.
Nicht alle waren begeistert: Die Ausgaben sorgten für Unmut in der DDR. Wieder einmal wurde Berlin zum scheinbaren Überfluss-Viertel, um nach außen repräsentabel zu wirken. In der Provinz dagegen fühlte man sich vernachlässigt.
Ost-Berlin zog nun junge Leute an. Es hatte das Image der Szenestadt, die Versorgung und die Einkaufsmöglichkeiten waren besser, Löhne und Gehälter höher als im Rest der Republik und es gab ein attraktives Kulturangebot.
Viele alte Kirchen in den Altbauvierteln Berlins waren, auch wenn sie der Renovierung bedurften, Orte, in denen sich Predigt, Musik und politische Kultur vollzogen. Bekannt wurden einige davon durch Oppositionsveranstaltungen Ende der 1980er Jahre: die Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg, die Samariterkirche im Bezirk Friedrichshain oder die Zionskirche in Berlin-Mitte. Die Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg war das Zentrum der demokratischen Bewegung, dort hielt man Mahnwachen ab, Mitglieder lagerten auf Matratzen vor dem Altar und begannen mit Hungerstreiks.
S. 273
-Aber ihr kommt doch heute Abend zur Friedensandacht, sagte Klaus.
- Mal sehen, ob wir’s schaffen, sagte Muddel.
- Das ist aber schade, rief Klaus ihnen hinterher. Gerade heute!
In der Silvesternacht zogen Ostberliner stets zum 78 m hohen Bunkerberg im Volkspark Friedrichshain, benannt nach dem dortigen geschützten Bunker, den man mit Bauschutt aufgeschüttet hatte und von wo man einen weiten Blick über Berlin hatte. Im Winter bot sich auf diesem künstlichen Hügel die Gelegenheit zu rodeln.
Ost-Berlin war auch Industriestadt - das erlebte man im Industriebezirk Oberschönweide - dort hatte in den Hallen der Vorkriegszeit die Planwirtschaft Einzug gehalten[cclix], Werksuhren an den Hauptverkehrskreuzungen erinnerten stets daran.
Überall sichtbar waren die Kleingärten der Ost-Berliner. Sie dienten der Versorgung der Bevölkerung mit Obst und Gemüse. Ihre Bedeutung wurde politisch unterstrichen, als das SED System die Vorzüge der Kleingartenkultur nach dem „Erlahmen des revolutionären Elans und der Etablierung des Systems“ erkannte. [cclx] Seit 1963 gab es in den Schulen der DDR das Unterrichtsfach Schulgarten.
Eine Art propagandistischer Leuchtturm für den Breiten- und Freizeitsport wurde das 1981 errichtete Sport- und Erholungszentrum in Berlin-Friedrichshain, „die damals größte und modernste Freizeitsporteinrichtung Europas“. [cclxi] Der Eintrittspreis war hoch subventioniert und erschwinglich, so dass jedermann Turnhallen, Spaßbad, Saunen, Tischtennishallen nutzen konnte.
„Die heutige Fast-Ruine und der bevorstehende Abriss werden von vielen nicht nur als schmerzlicher Verlust empfunden, sondern sogar, wie schon beim Palast der Republik, als Teil von Bestrebungen gewertet, die positiven Erinnerungen an das Leben in der DDR für immer auszulöschen.“ [cclxii]
Nach der Maueröffnung konnte man über den früheren Checkpoint gehen, der Grenzübergang Chausseestraße war offen, Mauer, Militärparaden Volkspolizisten waren verschwunden.
„Ost-Berlin ging ein ins Reich der Mythen, Legenden, Erzählungen, Anekdoten und Verklärungen.“ [cclxiii] Heute gilt Berlin als die Metropole der unbegrenzten Möglichkeiten und der grenzenlosen Freiheit.
Architektonische Relikte der ehemaligen DDR-Hauptstadt sind noch überall in der Stadt zu finden.
9. Das Haus als bürgerliche Wohnstätte - Standort und Wohnkultur
Wer auf die Welt kommt, baut ein neues Haus.
Er geht und lässt es einem zweiten;
der wird sich’s anders zubereiten,
und niemand baut es aus.
Johann Wolfgang von Goethe
Quelle: J.W. v. Goethe, Gedichte, west-östlicher Divan, Buch der Sprüche
Vom Land über die Stadt zum Haus - alle drei Örtlichkeiten sind in unseren Familienromanen konkretisiert und haben Einfluss auf Leben und Wirken der Familienmitglieder.
Das eigene Haus hatte im Bürgertum eine große Relevanz. Es war ein Synonym für Besitz und Eigentum und für eine bürgerliche Familie zwingend erforderlich.
In den Jahrhunderten zuvor sprach man von einem „Haus“, wenn es sich um das Eigentum der Familie handelte, implizierte aber gleichzeitig damit Familienangehörige aus mehreren Generationen u n d das engere Personal, das dort wohnte. In einem patriarchalisch-hierarchischen Verhältnis zeigte sich die Denk- und Lebensweise des „ganzen Hauses“ .
Der Kulturwissenschaftler Wilhelm Heinrich Riehl, Professor für Kulturgeschichte in München von 1854 bis1892, verband die „ganze Familie“ mit dem „ganzen Haus“ und bewertete dies sehr positiv:
„Die moderne Zeit kennt leider fast nur noch die „Familie“, nicht mehr das „Haus“, den freundlichen, gemütlichen Begriff des ganzen Hauses, welches nicht bloß die natürlichen Familienmitglieder, sondern auch alle jene freiwilligen Genossen und Mitarbeiter der Familie in sich schließt, die man vor Alters mit dem Wort „Ingesinde“ umfaßte. In dem „ganzen Hause“ wird der Segen der Familie auch auf ganze Gruppen sonst familienloser Leute erstreckt, sie werden hineingezogen, wie durch Adoption, in das sittliche Verhältnis der Autorität und Pietät.“ [cclxiv]
9.1 Bürgerliches Wohnen im 19. Jahrhundert bei den Buddenbrooks
Eine gewisse Ähnlichkeit dazu findet sich im Roman von Thomas Buddenbrook: Er beginnt mit der Einweihung des Hauses, einem Bürgerhaus, in dessen Innenräumen ein Großteil des Romans spielt. Es ist nicht mehr der Verband des „ganzen Hauses“, jedoch sind Familie und Firma räumlich nahe, die Comptoirräumlichkeiten sind im Untergeschoss des Wohnhauses, durch dessen Diele die Transportwagen passieren können. Die Angestellten, das Gesinde, sitzen nicht mit der Familie an einem Tisch, die Familie bleibt unter sich, bis auf das Kindermädchen Ida Jungmann, das quasi zur Familie gehört.
In einer Kaufmannsfamilie des 19. Jh. waren Hausbesitz und der Sinn für Häuslichkeit selbstverständlich.Es existierte eine enge Verflechtung von Arbeiten und Wohnen - ebenfalls bei Ärzten und Juristen, Freiberuflern und Pfarrern - der Arbeitsplatz war im Wohnhaus integriert und das Verhältnis zum Dienstpersonal aufgrund eines lang bestehender Arbeitsverhältnisses stark persönlich geprägt.
Stets zeigte sich in der Wahl des Hauses und der Ausstattung der Zimmer, allgemein im Wohnstil, das Selbstverständnis des Bürgertums, seine materielle Situation und die jeweilige gesellschaftliche Konvention. Man orientierte sich stadtnah, in großzügigen Vorstadthäusern, wie Thomas Buddenbrook, oder -Villen wie die der Sterks bei Arno Geiger. In Lübeck entwickelte sich ebenso wie in Wien eine soziale Segregation bürgerlicher Wohnquartiere, „man wohnte“ in einer bürgerlichen Straße mit Statussymbolik: Lage, Größe und Art des Hauses sagten etwa über den sozialen Status der Familie aus und spiegelten das Selbstbild der jeweiligen Familie wider.
Zu Beginn des Buddenbrooks-Romans erfolgt der Umzug der Familie aus einem „kleinen Haus in der Alfstraße“, einem typischen Händlerhaus am Hafen, das eingeengt von Nachbarhäuschen und von hohen Grenzmauern umschlossen war, in ein Haus der ersten Adresse Lübecks in der Mengstraße, Es liegt in der Nähe der St. Marienkirche und führt abschüssig zur Trave hinunter. Der eigentliche Wohntrakt befindet sich im angeschlossenen zweistöckigen Seitenflügel, hinter dem Hof schließt sich der Garten mit dem Gartenhaus an, ein Gartenzimmer gehört zum neuen Stil, man wohnt im Sommer „auf dem Garten“, ein Speicher begrenzt einen zweiten Hof.
Dieses Haus ist weitaus herrschaftlicher und größer zugeschnitten als das bisherige, Durchgangszimmer verschwanden, Zimmer werden separat vom Flur aus erschlossen, so dass eine Unabhängigkeit und Abschirmung und ein Schutz der Intimsphäre des Einzelnen entsteht. Dies gab auch Anlass zur Kritik: Riehl war der Auffassung, dass die Spezialisierung der Zimmer für die einzelnen Familienangehörigen und die immer seltener werdenden Gemeinschaftszimmer die Familie zerstörten. [cclxv]
S. 10
Man saß im „Landschaftszimmer“, im ersten Stock des weitläufigen alten Hauses in der Mengstraße, das die Firma Johann Buddenbrook vor einiger Zeit käuflich erworben hatte und das die Familie noch nicht lange bewohnte…
Durch eine Glastür, den Fenstern gegenüber, blickte man in das Halbdunkel einer Säulenhalle hinaus, während sich linker Hand vom Eintretenden die hohe, weiße Flügeltür zum Speisesaale befand.
S. 37
Rechts führte die Treppe in den zweiten Stock hinaus, wo die Schlafzimmer des Konsuls und seiner Familie lagen; aber auch an der linken Seite des Vorplatzes befand sich noch eine Reihe von Räumen. Die Herren schritten rauchend eine breite Treppe mit dem weißlackierten, durchbrochenen Holzgeländer hinunter.
„Dies Zwischengeschoss ist noch drei Zimmer tief,“ erklärte er, „das Frühstückszimmer, das Schlafzimmer meiner Eltern und ein wenig genutzter Raum nach dem Garten hinaus, ein schmaler Gang läuft als Korridor nebenher…“
Im Rückgebäude, über einen zweiten Hof zu erreichen, ist im ersten Stock der Billardsaal untergebracht:
S. 38
…woselbst der Konsul seinen Gästen die weiße Tür zum Billardsaal öffnete.
In diesem Wohn- und Geschäftshaus gibt es keine Trennung zwischen Privat- und Erwerbssphäre, und wie bereits im Mittelalter ist die Diele ein Arbeits- und Durchgangsraum. Arbeitssphäre und Wohnbereich berühren sich, typisch für das Haus eines frühbürgerlichen Großkaufmanns; Diele, Comptoirräumlichkeiten, finden sich im Erdgeschoss, auf der Haupttreppe gelangt man in das o.g. erste Stockwerk mit seinen Wohn- und Repräsentationsräumen. Der „wirtschaftliche Unterbau“ wird durch den „kulturellen Überbau“ ergänzt. [cclxvi]
Konsul Buddenbrook informiert bei der Einweihung seine Gäste darüber:
S. 37f
„…Ja, sehen Sie, die Diele wird von den Transportwagen passiert, sie fahren dann durch das ganze Grundstück bis zur Beckergrube. …
Die weite, hallende Diele, drunten, war mit großen, viereckigen Steinfliesen gepflastert. Bei der Windfangtüre sowohl wie am anderen Ende lagen Comptoirräumlichkeiten …
…Dort führten schlüpfrige Stufen in eine kelleriges Gewölbe mit Lehmboden hinab, das als Speicher benutzt wurde, und von dessen höchsten Boden ein Tau zum Hinaufwinden der Kornsäcke herabhing.
S. 156
Drei mächtige Transportwagen schoben sich soeben dicht hintereinander durch die Haustür, hoch bepackt mit vollen Kornsäcken, auf denen in breiten schwarzen Buchstaben die Firma „Johann Buddenbrook“ zu lesen war. Mit schwerfällig widerhallendem Gepolter schwankten sie über die große Diele und die flachen Stufen zum Hofe hinunter.
Im Laufe des 19.Jahrhundert änderte sich der Wohnstil: Familien- und Produktionsbereich teilten sich, es entstanden reine Wohnhäuser ohne Zimmer für das Personal oder für entferntere Verwandte. Das wesentliche strukturelle Merkmal der bürgerlichen Wohnkulturwurde die Dreiteilung in Wirtschaftsbereich (Hof, Küche, Waschhaus), repräsentativen Wohnbereich (Empfangs- und Gesellschaftsräume) und Schlafbereich.
Anstelle der Gemeinschaft im „ganzen Haus“ , die sich im Wohnzimmer abgespielt hatte, kam es nun zurVereinzelung mit Zimmern für Personen und für bestimmte Zwecke (Arbeits- Kinderzimmer etc.)[cclxvii]; um den Familienzusammenhalt und die Gemeinschaft aber weiterhin zu stärken, führte man Familientage ein.
Der Roman zeigt in diesem Zusammenhang, wie sehr der Bürger vom Drang nach Aufstieg beherrscht war und unter dem gesellschaftlichen Zwang stand, ein großes Haus zu führen. Bei einem beruflichen Karrieresprung fand als Aufstiegsindiz der Umzug der Bürger in ein größeres Haus und in eine bessere Wohngegend statt. Der biographische Bezug zu Thomas Mann ist an dieser Stelle unübersehbar: Johann Siegmund Mann jun. kaufte ein Haus 1841, 1863 übernahm sein Sohn Thomas Johann Heinrich Mann das Geschäft mit Sitz in der Mengstraße, verlegte den Geschäftssitz 1883 in die Beckergrube 52, in das große Haus im Neorenaissance-Stil, wo Thomas Mann und seine Geschwister die Jugend verbrachten. Die Tante von Thomas Mann blieb im Wohnhaus in der Mengstraße, die Kontorräume wurden vermietet.
Thomas Buddenbrook baut 1864 ein reines Wohnhaus und separierte die Erwerbsarbeit von der Familie. Dass er individuelle Einflussmöglichkeiten auf die Planung des Hauses hat und sich die Beauftragung des Architekten leisten kann, zeigt seinen hohen materiellen Standard.
Er adaptiert eine dem Adel ähnliche Wohnform mit einer ganzen Zimmerflucht von Bade- und Schlafzimmer, Kinderzimmer, Speise-, Wohnzimmer, einem luxuriösen Salon und einem Saal mit einer ungeheuren Parkettfläche und hohen weinrot verhangenen Fenstern, die auf den Garten hinausblicken (S. 473), einem Rauchzimmer mit angrenzendem Kabinett (S. 471) und einem Musikzimmer für Gerda (S. 421) - alles ein Zentrum von familiärer Intimität und Privatheit. Dies neue Haus ist repräsentativ von der Schwester Tony im Stil des zweiten Rokoko mit Pseudo-Renaissanceschmuck eingerichtet worden, u.a. mit schweren Samtportieren und niedrigen Sofas von dem Rot der Portieren.
S. 424f
Herr Voigt übernahm den Bau, und bald schon konnte man Donnerstags im Familienkreise seinen sauberen Riß entrollen und die Fassade im voraus schauen: ein prächtiger Rohbau mit Sandstein-Karyatiden, die den Erker trugen ,,,
… denn auch seine Comptoirs gedachte der Senator in die Fischergrube zu verlegen …
S. 426
… wo über ihr das kolossale Treppenhaus sich auftat, dieses Treppenhaus, das im ersten Stockwerk von der Fortsetzung des gußeisernen Treppengeländers gebildet ward, in der Höhe der zweiten Etage aber zu einer weiten Säulengalerie in Weiß und Gold wurde, während von der schwindelnden Höhe des „einfallenden Lichts“ ein mächtiger, goldblanker Lustre herniederschwebte…
S. 427
Sie passierten den rückwärts gelegenen steinernen Flur, indem sie die Küche zur Rechten ließen, und traten durch eine Glastür über zwei Stufen in den zierlichen und duftenden Blumengarten hinaus … der von hohen, lilafarbenen Iris umstandene Springbrunnen sandte seinen Strahl mit friedlichem Plätschern dem dunklen Himmel entgegen.
S. 493
Beim Aufgang zur zweiten Etage bildete der Korridor ein Knie, um sich nun in der Richtung der Saal-Länge bis zur Gesindetreppe hinzuziehen, bei der sich ein Nebeneingang zum Saale befand. Der Treppe zum zweiten Stock gegenüber war die Öffnung zum Schacht der Winde, mit der die Speisen aus der Küche heraufbefördert wurden, und dabei stand, an der Wand, ein größerer Tisch, an welchem das Folgemädchen Silberzeug zu putzen pflegte.
Man muss bedenken, dass dieses Haus für die Kleinfamilie von Thomas, Gerda und Hanno zu einer Zeit des wirtschaftlichen Umschwungs entsteht. Die Geschäfte der Firma laufen immer schlechter, was in der Fehlspekulation bzgl. der Pöppenrader Ernte gipfelt, so dass sich in der fehlenden Einbindung der Familie in den Produktionsprozess auch eine Flucht Thomas’ vor der Berufssphäre ausdrücken kann.
Hageström hat nach seinem wirtschaftlichen Erfolg den Wunsch, das großbürgerliche Haus der Buddenbrooks zu kaufen.
S. 600
Die Leute sind emporgekommen, ihre Familie wächst,… Aber es fehlt ihnen etwas, etwas Äußerliches, worauf sie bislang mit Überlegenheit und Vorurteilslosigkeit verzichtet haben …Die historische Weihe, sozusagen, das Legitime… Sie scheinen jetzt Appetit danach bekommen zu haben, und sie verschaffen sich etwas davon, indem sie ein Haus beziehen wie dieses hier…
S. 602
„Raum! Mehr Raum!“ sagte er. „Mein Haus in der Sandstraße… Sie glauben es nicht, gnädige Frau, und Sie, Herr Senator… Es wird uns effektiv zu eng, wir können uns manchmal nicht mehr darin rühren…“
Der räumliche Bereich der Wohnung selber als das Zentrum des menschlichen Familienlebens wandelte sich seit dem Mittelalter im baulich-räumlichen Bereich und veränderte das häusliche und soziale Zusammenleben.
„Das Wohnen war in einem langen Wandlungsprozeß zu einem von der Erwerbsarbeit und dem Bereich der Öffentlichkeit separierten Verhaltensbereich geworden, der so etwas wie eine ‚kulturelle Eigendynamik‘ entwickelt hatte - eine Eigendynamik, die sich im Assoziationsfeld der Begriffe ‚behaglich‘ und ‚gemütlich‘ bewegte und die das Wohnen einem Wertesystem unterstellt hatte, das scheinbar abgehoben von der Alltagswirklichkeit war.“ [cclxviii]
Im Biedermeier noch standen die sachliche Zweckmäßigkeit und nüchterne Strenge im Vordergrund. [cclxix] Verschwendung widersprach dem bürgerlichen Ethos des Sparens, als Bürger wandte man sich gegen die Verschwendungssucht und die Unmoral, die am Hof und beim Adel zu sehen war und stand den aufklärerischen Ideen positiv gegenüber - Werte wie Sparsamkeit, Fleiß, Rechtlichkeit und Biederkeit wurden hoch geschätzt und Schlichtheit im Wohnstil betont. Typisch und zentral in der Wohnung war für diese Zeit ein Tisch, um den sich die Familie in mehreren Generationen versammelte, die Fenster von duftigen weißen Musselinvorhängen umrahmt und ein Nähtisch für die Frau des Hauses mit Schubladen mit vielen Utensilien.
Dieser Biedermeiergeschmack zeigt sich später noch im massigen Buffet und im mächtigen Sofa.
Mit dem Anwachsen der bürgerlichen Schichten und dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft bildete sich eine ganz besondere bürgerliche Wohnkultur heraus. Soziale Distinktion und der gesellschaftliche Rang der Familie spiegelte sich in der Eleganz und Distinguiertheit der Einrichtung, steinerne Vortreppen beeindruckten bereits beim Eintreten und führten den Besucher zunächst in den Flur, von dem prächtige Treppenhäuser in den oberen Bereich führten.
Das Haus teilte sich in einen Bereich der Rekreation und einen der Repräsentation: Bei Gesellschaften, in denen stets nur die eigene Bezugsgruppe eingeladen wurde, machte man die prunkvoll ausgestatteten Salons, Herren-, Speise- und Wohnzimmer den Gästen zugänglich. Diese Räume zum Feiern und für Familienfeste wiesen zur Straße, während man den Privaträumen der Rekreation den hinteren Bereich zuwies.
Man schuf sich als Voraussetzung einer bürgerlichen Kultur „die Trennung der Lebensbereiche, der Familie von Arbeit und der Öffentlichkeit, die Aufteilung der körperlichen und der kulturellen Funktion auf zweckmäßig bestimmte und eingerichtete Räume, die Vergegenständlichung von Bildung und Besitz in repräsentativen und sinnlichen Eigentum, Stabilität und Identifikation eines Rückzugs- und Distanzbereichs, lange müßige Verweildauer in einer arbeitsfreien Sphäre.“ [cclxx]
Bürgerlich-standesgemäß zu wohnen bedeutete im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Herrenzimmer, ein vom Wohnzimmer getrenntes Speisezimmer, getrennte Schlafzimmer für Sohn und Tochter zu haben, so dass sich jeder zurückziehen und man Initimität wahren konnte.
Die Separierung von Küche, Arbeits- Wohn, Ess- und Schlafräumen bildete individuelle Sphären für Kinder und Eltern und bedeutete eine „Privatisierung der Kernfamilie“[cclxxi], die dazu führte, dass sich die Familie eine Privatheit schaffte, in der das Kind einen „mutterfernen“ Bereich ohne elterliche Kontrolle hatte, immer mit der Möglichkeit der Nähe zur mütterlichen Bezugsperson.
Dienstboten hatten nur auf Verlangen Zutritt, dafür sorgten die Klingelzüge in allen Zimmern, die eine Verbindung zum Dienstbotenbereich im Souterrain, in der Nähe der Wasch- und Mangelkammer, hatten. Dem Personal standen eigene winzige Räume zur Verfügung, oft nicht abgeschlossen. Ihr Wirkungsbereich, Küche und Wirtschaftsräume, wurde an den Rand der Wohnung und in den Keller verbannt, damit die hauswirtschaftlichen Tätigkeiten für Gäste und Hausherrn unsichtbar blieben. Sie dienten dem Personal als Essbereich und als Aufenthaltsraum, bei den Buddenbrooks befanden sich unweit davon die Mädchenkammern:
S. 37
… während die Küche,aus der noch immer der säuerliche Geruch der Chalottensauce hervordrang, mit dem Weg zu den Kellern links von der Treppe lag. Ihr gegenüber, in beträchtlicher Höhe, sprangen seltsame, plumpe aber reinlich lackierte Holzgelasse aus der Wand hervor, die Mädchenkammern, die nur durch eine Art freiliegender, gerader Stieg von der Diele aus zu erreichen waren.
Durch eine hohe Glastür trat man über einige ganz flache, befahrbare Stufen in den Hof hinaus, an dem linkerseits sich das kleine Waschhaus befand.
Tony Grünlichs Villa bei Eimsbüttel besitzt in der oberen Etage Schlaf-, Bade-, Ankleide- und Dienerschaftszimmer (S. 171)
Betrachten wir nun genauer die einzelnen Zimmer dieser Zeit im Haus einer bürgerlichen Familie, wie die der Buddenbrooks:
Da ist zunächst der Salon: der große und repräsentative Gesellschafts- und Empfangsraum im Haus, für Besucher und den Austausch geschäftlicher Angelegenheiten und für den eher distanzierten Kontakt. Der Wandschmuck war je nach Besitzer differenziert: ein repräsentatives Ölgemälde im Salon oder patriotische Darstellungen.
Familie Grünlich blickt von ihrem Holz getäfelten Speisezimmer in diesen Raum:
S. 196
An der entgegengesetzten Seite gestatteten halb zurückgeschlagene grüne Tuchportieren den Durchblick in den braunseidenen Salon und auf eine hohe Glastür…
Im Wohnzimmer fand der familiäre Austausch statt[cclxxii], es zeigte den künstlerischen Geschmack und die geistigen Intentionen der Eigentümer. In üppiger Größe demonstrierte er mit seiner eleganten Ausstattung eine Zurschaustellung des Lebensstandards und den Wunsch „nach einem Ort des verpflichtungsfreien, entspannten Beisammenseins in der Intimgemeinschaft der Familie.“ [cclxxiii] Es befindet sich im Haus von Thomas Buddenbrook im oberen Stockwerk:
S. 299
Ein behagliches Wohnzimmer in grauem Tuche war da, nur durch Portièren getrennt von einem schmalen Salon mit grüngesteiften Rips-Fauteuils und einem Erker.
Ein bedeutsames Möbelstück war der Sekretär, bei den Buddenbrooks im Speisezimmer. Er entstand aufgrund des steigenden Bildungsdrangs der Bürger und war wichtig für geschäftliche und private Korrespondenz oder Einladungen und, wie bei den Buddenbrooks, für Familienpapiere gedacht.
S. 50
Um 9 Uhr, eines Sonntag morgens, saß der Konsul im Frühstückszimmer vor dem großen, braunen Sekretär, der am Fenster stand und dessen gewölbter Deckel vermittelst eines witzigen Mechanismus zurückgeschoben war. Eine dicke Ledermappe, gefüllt mit Papieren, lag vor ihm;…
Das Herrenzimmer mit seinen schweren dunklen Prunkmöbeln spiegelte die strikte Rollendifferenzierung des Bürgertums wieder. Porträts von Landesfürsten und antike Szenen offenbarten den Bildungsstand und verzierten dieses Zimmer.
Während sich die männlichen Gäste mit dem Herrn des Hauses nach dem Essen dorthin zurückzogen, plauderten die Damen im Gartenzimmer bzw. im Salon. Dort durfte ein heller Platz zum Handarbeiten für die Damen nicht fehlen.
Im Landschaftszimmer, in dem bürgerliche Familien Gäste empfingen und Gesellschaften gaben, zeigten die Tapeten künstlerisch-dekorative Wirkung mit Bildmotiven aus dem bäuerlichen Milieu des 18.Jh., die Arbeit der Schäfer und Weinbauern idyllisierend, die in ihrem Status ähnlich wie die Blumenhändlerin oder der Student Morton im Roman, im Laufe der Generationen als dem Standes- und Wertebewusstsein einer bürgerlichen Familie gegenüber nicht adäquat angesehen wurden. [cclxxiv]
S. 10
Die starken und elastischen Tapeten, die von den Mauern durch einen leeren Raum getrennt waren, zeigten umfangreiche Landschaften… Idylle im Geschmack des 18. Jahrhunderts, mit fröhlichen Winzern, emsigen Ackersleuten, nett bebänderten Schäferinnen, die reinliche Lämmer am Rande spiegelnden Wassers im Schoße hielten oder sich mit zärtlichen Schäfern küssten.
Das Schlafzimmer mit neuen Schlafmöbeln wie einem schlichten Bett, Toilettentisch und Waschgarnituren aus Porzellan trennte den Schlafbereich vom Wohnbereich ab, Dies kam der strengen bürgerlichen Sexualmoral entgegen und war ein Indikator für das neue Scham- und Peinlichkejtsgefühl innerhalb der bürgerlichen Familie. [cclxxv]
S. 299
Dann gingen sie ins Schlafzimmer hinüber.
Es lag zur rechten Hand am Korridor, mit geblümten Gardinen und mächtigen Mahagoni-Betten. Tony aber ging zu der kleinen, durchbrochenen Pforte dort hinten, drückte die Klinke und legte den Zugang zu einer Wendeltreppe frei, deren Windungen ins Souterrain hinabführten: ins Badezimmer und die Mädchenkammern.
Bedeutung erlangt für Thomas mit den Jahren das Kabinett, in dem er viele Stunden verbringt:
S. 613
Eine Tür, die in ein anderes Zimmer zu führen schien, verschloss die geräumige Nische, die in eine Wand des Ankleide-Kabinetts eingemauert war, und in der an langen Reihen von Haken, über gebogene Holzleisten ausgespannt, die Jackets, Smokings, …hingen…
Kindern räumte man einen Wohnbereich mit eigenen Möbeln und Spielgelegenheiten ein, dies stets in der Nähe des Kindermädchens, denn zu ihm hatten die Kinder oftmals eine engere Bindung und Freundschaft als zur Mutter, die sich durch ihre repräsentierende Rolle von ihnen distanzierte. Der Eigenbereich der Kinder diente dem Schlafen, Spielen und Schularbeiten machen und war ein kombiniertes Schlaf- und Spielzimmer, in dem man Kindern die Möglichkeit gab, Kind sein zu dürfen, sie aber gleichzeitig von dem nach Ruhe und Erholung suchenden Vater fern hielt. [cclxxvi] Kinderzimmerbilder suchte man speziell unter dem Gesichtspunkt aus, dass sie eine Langzeitwirkung hatten und pädagogisch wertvoll waren, z.B. Motive mit moralisierenden Themen. [cclxxvii]
Hannos Kinderzimmer im neuen Haus von Thomas Buddenbrook ist ein kleines…
S. 703
Schülerzimmer, kalt und kahl, mit seiner Sixtinischen Madonna als Kupferstich über dem Bette, seinem Ausziehtisch in der Mitte, seinem unordentlich, vollgepfropften Bücherbord, einem steifbeinigen Mahagoni-Pult, dem Harmonium, und dem schmalen Waschtisch
In der Mitte des Zimmers befindet sich ein großer Ausziehtisch (S. 460)
Die „Gleichheit“, die die Bürger in der Französischen Revolution gefordert hatten, trat mit Verspätung in der Wohnkultur hervor und führte zu einer Anpassung aristokratischer Einrichtung an den bürgerlichen Geschmack. [cclxxviii] Die oberste Gesellschaftsschicht wirkte als Vorbild und insbesondere die Repräsentationsräume, in denen gesellschaftliches Leben stattfand, wiesen auf eine Feudalisierung hin und rückten mit ihrer teuren Möblierung und seidenen Tapeten in die Nähe des Adels.
Die Archäologie des 18. Jahrhunderts hatte die Vergangenheit wiederentdeckt und faszinierte die Menschen derart, dass das Prinzip der Nachahmung zu einem Eklektizismus und zur Anhäufung von Stilen führte. Aufgrund der entdeckten Ausgrabungen wie Pompeji, fand der „goût antique“ großen Zuspruch und beeinflusste die Innenausstattungen. Neuerworbener Wohlstand und Macht hießen, dass die Wohnungseinrichtung nicht mehr behaglich sein durfte, Neo-Stile waren von großer Bedeutung. Man kopierte Stilarten der Vergangenheit und adaptierte fremden Geschmack, z.B. hatte die Neo-Gotik eine Vorliebe für Türme, burgenartige Hausfassaden und für die Romantisierung des Hausinneren. Der Charakter des Neo-Rokoko zwischen 1840 und 1860 zeigte sich in schwungvollen Ballustraden und in der Freude an Kurven und Wülsten, an Plüsch und Schwulst.
Der Gründerzeit-Stil ist charakterisiert durch ein verschnörkeltes, teures Interieur mit Ornamenten, luxuriösem Ambiente und teurem Wandschmuck, der Wohlsituiertheit präsentierte.
Gehobene Kreise bevorzugten statt des heimischen Buchenholzes das dunkle Mahagoniholz aus Übersee.
Äußerlichkeiten wurden betont und hatten fast musealen Charakter: So liebte man Wandbespannungen aus Samt und Seide und textile Zutaten wie Quasten und Bordüren. Als Motive im Wandschmuck dominierten Historien- und Genremalerei, Landschaften, dazu mythologische Themen, um die höhere Schulbildung anzusprechen. [cclxxix]
In Ess- und Speisezimmern sah man Gemälde mit Motiven, die Genuss und Vergnügen widerspiegelten, wie z.B. Blumen, Früchte, Musik, Wein, Gesang.
1760 setzte der Stil des Klassizismus in Deutschland ein. [cclxxx] Er entsprach der reservierten Haltung des nördlichen Deutschlands, wo er die bevorzugte Stilrichtung wurde, und betonte die Ideale der Griechen: „Edle Einfalt und stille Größe“. Das Bürgertum in Deutschland bevorzugte diesen Stil mit seiner symmetrischen Strenge, den Ornamenten und Reliefs in der Raumkunst, die Wände wurden mit antiken Motiven bemalt.
Sämtliche Zimmer strahlten Kühle aus, man bevorzugte die Farbe Weiß wegen des farblichen Vorbilds der Bauten im Altertum, so zu sehen im Speisesaal der Buddenbrooks, in dem gemalte Göttinnen eine aristokratische Selbststilisierung demonstrieren und den Geist des französischen Klassizismus widerspiegeln, vermittelt durch den deutsch-dänischen Architekten und Designer Joseph Christian Lillie nach Lübeck.
S. 10
Aus dem himmelblauen Hintergrund der Tapeten traten zwischen schlanken Säulen weiße Götterbilder fast plastisch hervor…über dem massigen Büffett, dem Landschaftszimmer gegenüber, hing ein umfangreiches Gemälde, ein italienischer Golf, dessen blaudunstiger Ton in dieser Beleuchtung außerordentlich wirksam war.
Beim Mobiliar entfernte man Betten aus den Gesellschaftsräumen, denn nun empfing man Gäste im Salon oder im Wohnzimmer. Kleines Mobiliar, wie z.B. Blumentische und Kommoden mit Halbsäulen und Bronzebeschlägen kamen in Mode:
S. 10
Außer den regelmäßig an den Wänden verteilten, steifen Armstühlen gab es nur noch einen kleinen Nähtisch am Fenster, und, dem Sofa gegenüber, einen zerbrechlichen Luxus-Sekretär, bedeckt mit Nippes.
Die Repräsentation der Ära Napoleons entwickelte pompöse Dekorationen im Empirestil: klotziges und gewollt-großartiges Mobiliar wie im neuen Haus von Thomas Buddenbrook.
S. 299
Es lag das Speisezimmer daran, mit einem schweren runden Tisch, auf dem der Samowar kochte, und dunkelroten, damastartigen Tapeten, an denen geschnitzte Nußholzstühle mit Rohrsitzen und ein massives Buffet standen.
Die Farbe Gold, Bücher- und Kleiderschränke mit Säulen, griechische Tempel und antike Motive - solch eine Monumentalität der Wohnweise sollte Macht und Reichtum widerspiegeln, so wie die Einrichtung im Haus des Konsuls Johann Buddenbrook, und ließ eine distinguierte Atmosphäre entstehen. Reichtum und Prestige zeigen sich in der bürgerlich-luxuriösen Ausstattung der Zimmer, so dass der Weinhändler Köppen ausruft: „…Diese Weitläufigkeit, diese Noblesse…“(S. 21)
S. 10
Die starken und elastischen Tapeten, die von den Mauern durch einen leeren Raum getrennt waren, zeigten umfangreiche Landschaften, zartfarbig wie der dünneTeppich …
Im Verhältnis zu der Größe des Zimmers waren die Möbel nicht zahlreich. Der runde Tisch mit den dünnen, geraden und leicht mit Gold ornamentierten Beinen stand nicht vor dem Sofa, sondern an der entgegengesetzten Wand, dem kleinen Harmonium gegenüber…
Von Biedermeier war nichts mehr zu spüren, im Gegenteil, aufwendige Einrichtungen zeigten gestiegen Wohnkomfort und die Relevanz, den Prestigewert zu betonen. Häuslicher Luxus wird zum Wohnstil mit Statussymbolen:
S. 16
Herr Hoffstede bewunderte am Sekretär ein prachtvolles Tintenfaß aus Sèvres-Porzellan in Gestalt eines schwarz gefleckten Jagdhundes
S. 20
Die schweren roten Fenstervorhänge waren geschlossen, und in jedem Winkel des Zimmers brannten auf einem hohen vergoldeten Kandelaber acht Kerzen, abgesehen von denen, die in silbernen Armleuchtern auf der Tafel standen.
Heute verachtet man die Wohnkultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus ästhetischer Sicht und bewertet sie als stillos.
Das Haus war im Bürgertum aber nicht nur Sinnbild des Repräsentationsbedürfnisses, sondern auch ein Symbol der Familie und affektiv hoch besetzt: In ihm zeigte die Familie ihre Einheit und Kontinuität. Sie fand hier ein räumliches und atmosphärisches Refugium gegenüber der modernen Welt mit all ihren Entfremdungstendenzen, eine schützende und abschließende Hülle für die Privatsphäre, einen Ort, in dessen Räumen sich Familiengeschichte abspielte und der Geborgenheit und Liebe versprach. [cclxxxi] Tony Buddenbrooks Trauer beim Verkauf ihres Elternhauses drückt dies aus:
S. 358
Ich wusste einen Ort, einen sicheren Hafen, sozusagen, wo ich zu Hause und geborgen war, wohin ich mich flüchten konnte, vor allem Ungemach des Lebens… ‚Mutter‘, sagte ich, ‚dürfen wir zu dir ziehen?‘ ‚Ja, Kinder, kommt‘… Als wir klein waren und ‚Kriegen‘ spielten, Tom, da gab es immer ein ‚Mal‘, ein abgegrenztes Fleckchen, wohin man laufen konnte, wenn man in Not und Bedrängnis war, und wo man nicht abgeschlagen werden durfte, sondern in Frieden ausruhen konnte. Mutters Haus, dies Haus hier war mein ‚Mal‘ im Leben, Tom…
Ihr Bruder dagegen argumentiert weniger gefühlsbetont, sondern wirtschaftlich-rational:
S. 358
„Ich weiß es ja, liebe Tony, ich weiß es ja Alles! Aber wollen wir nun nicht ein wenig vernünftig sein? Die gute Mutter ist dahin…Es ist unsinnig geworden, dies Haus als totes Kapital zu behalten… ich muss das wissen, nicht wahr?…“
S. 600
Um aber auf das Haus zurückzukommen, so hat ja das alte längst kaum noch eine tatsächliche Bedeutung für die Familie, sondern die ist allmählich ganz auf das meine übergegangen. …“
In allen Romanen hat das Haus seine Bedeutung als Familiendomizil in seiner sozialen Kontinuität, Räume scheinen „in ihrer Materialität wie Trägersubstanzen von Personen und Geschehnissen, die längst vergangen sind, und für uns die Zeit in unsere Gegenwart zu tragen.“ [cclxxxii] Das Haus beschwört Erinnerungen und ist ein Zeugnis der Vergangenheit, die wiederum ein Pfeiler der Gegenwart wird. „Erinnerungsräume“ [cclxxxiii] als Orte der verschiedenen Generationen zeigen jeweils das Verbindende, in dem jeder ein Teil einer größeren Einheit ist.
Familien wie die Buddenbrooks lebten in diesem Eigentum über mehrere Generationen hinweg und so ist es nicht verwunderlich, dass in bürgerlichen Kindheitserinnerungen - und solche finden wir in den Familienromanen - das Haus stets eine große Rolle spielt. Man erinnert sich positiv an eine bürgerliche Haus-Kindheit und sieht dies nur selten bis gar nicht als Einschluss und Einschnürung. [cclxxxiv]
9.2 Die Villa der Familie Sterk in Wien
In Geigers Roman wird uns eine ganz spezielles Gebäude vorgestellt: die Villa.
Sie war eine adlige Wohnform und Symbol des Großbürgertums, galt als Zeichen für wirtschaftlichen Erfolg und war durch Romane und Unterhaltungsillustrierten wie „Die Gartenlaube“ zum Traum des kleinen und größeren Bürgertums geworden
In den Gründerjahren entstanden Villengebiete in größerer Entfernung zu Industrie und Proletariat. Ihre Bauweise war straßenorientiert, der Vorgarten reduziert und der Hauptgarten hinter dem Haus. Es gab weite und ausladende Villen, aber auch Häuser mit Grundstücksgrößen von 600 bis 1000 qm.
Um 1900 war die städtische Villa zur „Standardwohnform“ des gehobenen und vermögenden Bürgertums geworden, und es galt in Österreich und Deutschland als modern, in einer Villa zu leben. [cclxxxv]
Das reiche Großbürgertum in Wien, bestehend aus hohen Beamten, wohlhabenden Geschäftsleuten, Gelehrten und namhaften Künstlern, schuf ab ca. 1870 Repräsentationsgebäude, die sog. Ringstraßen-Architektur, ihr Merkmal waren Prunkfassaden, monumentale Portale und ein aristokratischer Wohnstil.
Die Villa in Hietzing in Wien ist Kernstück von Philipps Erbe und ein Bindeglied zwischen den Generationen der letzten siebzig Jahre. Die Großeltern hatten sie von ihren Vorfahren übernommen, sie ist ein Symbol der Vergangenheit.
S. 71
Und er? Er hat gesagt, jetzt wird geheiratet. Ein großes Haus. Das war vorhanden.
Sie liegt
S. 12
… in dieser befremdlich heilen Gegend aus Villen und unbegangenen Bürgersteigen.
Mauern und hohe Hecken schirmen das Gebäude ab und zeigen das Bedürfnis der bürgerlichen Villenbesitzer nach Abkapselung der Familie. Wie in den bürgerlichen Schichten verbreitet, wohnt die Familie mit dem Haushaltspersonal zusammen.
S. 283
Seine Runde entlang der Gartenmauer beginnt er neuerdings im Norden.
Schon die geschwungene Vortreppe ins Haus hat herrschaftlichen und repräsentativen Charakter.
Dort stand in den Anfangsjahren ein Schutzengel, der jedoch durch „vandalierende Jugendliche“ (S. 359) abhanden gekommen war. Der Verlust zeigt den Wandel der Zeit, die Vergänglichkeit und die Veränderung sowohl im Zeitgeist als auch im Geschmack.
Die Kanonenkugel am Geländer verbindet das Leben der Familienmitglieder; ihre Bedeutung und Herkunft stellen ein Familiengeheimnis dar - ein unentbehrliches Motiv in Familienromanen.
S. 51
Auch eine Kanonenkugel hat das Anrecht auf ein Schicksal, das nicht zwangsläufig ereignisreich ist, zum Beispiel, dass sie nie zum Einsatz kam, nie etwas anderes als getragen oder gerollt wurde und schließlich als Zierstück in einem großbürgerlichen Stiegenhaus endete.
Im Inneren der Villa findet sich eine Anzahl von Räumen:
S. 8
Dann stemmt er sich hoch und tritt durch die offenstehende Tür in den Flur, vom Flur ins Stiegenhaus, das im Verhältnis zu dem, was als herkömmlich gelten kann, mit einer viel zu breiten Treppe ausgestattet ist.
S. 12
… die teppichbelegte Treppe
S. 212
… macht Ingrid am Absatz kehrt und biegt ins Nähzimmer ein, vom Nähzimmer ins Herrenzimmer, vom Herrenzimmer ins Speisezimmer und von dort in die Veranda.
S. 364
Von dort biegt sie ins Wohnzimmer …
dann geht sie die Kellertreppe hinunter …
S. 217
Sie setzen den Rundgang fort. Anfänglich ist Ingrid auch im oberen Stockwerk wählerisch. Das ändert sich, als die Kinderzimmer an der Reihe sind.
S. 209
Sie saßen in der Küche …
S. 193
Er geht nach oben ins Bad und öffnet die Wasserhähne.
Haus und Inventar der Eheleute Sterk sind Indikator für ein bestimmtes Wohnverhalten, sie weisen auf Wohlstand hin und repräsentieren einen hohen sozialen Status und Reichtum. Sie lassen die bürgerliche Kultur auferstehen: Die stilvolle Einrichtung zeigt die repräsentativen Absichten des Hausbesitzers in der vergangenen Zeit.
Wir lesen von krummbeinigen Kommoden mit bauchigen Lampen darauf, den Bücherschränken mit den teilweise verglasten Türen, hinter denen sich drapierte Vorhänge fälteln, den Biedermeierschränken und von geschnitzten Holzfassungen umlaufenden Sofas. In den letzten Kriegswochen hatte Richard aus Furcht vor den Plünderungen der Russen Schränke und Betten sogar verleimt und damit unverrückbar gemacht
S. 210
- Alt und gediegen: Für mich sind das Werte, sagte er.
S. 211f
Bei der spanischen Eichentruhe …
Als typisches Interieur steht eine Pendeluhr im Wohnzimmer. Sie ist Symbol für die häusliche Ordnung des Wohnens und wird in einem abendlichen Ritual von Richard aufgezogen.
S. 212
Er schaut beiläufig auf die Pendeluhr und nimmt sich vor, sie am Abend aufzuziehen, sie schlägt schon sehr schwach.
Aktuell (2001) nicht mehr intakt, stellt sie ein Symbol der abgelaufenen vergangenen Zeit dar. Philipp setzt sie nicht wieder in Funktion und verweigert sich damit symbolisch, die Familiengeschichte zu ‚öffnen‘.
S. 8
Johanna geht auf die Pendeluhr zu, die über dem Schreibtisch hängt. Die Zeiger stehen auf zwanzig vor sieben. Sie lauscht vergeblich auf ein Ticken und fragt dann, ob die Uhr noch funktioniert.
- Die Antwort wird dich überraschen. Keine Ahnung.
In ihrer Klein- und Kernfamilie haben Ingrid und Peter in ihrem Haus typische bürgerliche Strukturelemente übernommen: Es gibt Individualräume für die Kinder und Eltern, die Kellerräume enthalten Freizeiträumlichkeiten.
S. 249
Nachdem Peter sich beleidigt in den Keller verzogen hat, legt sie sich langgestreckt und mit spitz angewinkelten Ellbogen zurück auf die Couch …
S. 253
Sie kehrt in der gebotenen Schnelle ins Wohnzimmer zurück …
S. 255
Da sieht sie Philipp mit seinem Matchbox-Traktor auf dem oberen Treppenabsatz sitzen …
S. 272
Inzwischen ist es halb sieben, und sie hört die Kinder nach wie vor herumlaufen. Ihre kleinen trappelnden Schritt, die den Lampenschirm zum Erzittern bringen, wenn sie einander von einem Zimmer ins andere jagen.
Die Villa, ein Symbol der gemeinsamen familiären Geschichte, bot jeder Generation ein Zuhause, bis nach fast 60 Jahren Alma dort nur noch allein lebt. Bereits für die Tochter Ingrid war sie jedoch kein Ort der Geborgenheit oder der Erinnerungen, sondern nur ein „Haus“ in materieller Sicht.
S. 214
- Bloß ein Glück, dass ich hin und wieder hier bin, dann sehe ich, dass es nur ein Haus ist, nicht mehr. Nur ein Haus mit Garten.
Der Zahn der Zeit hat das Gebäude äußerlich beschädigt, es hat seinen alten Glanz verloren, ist vernachlässigt und sanierungsbedürftig. So wie in den anderen Romanen verfällt das Haus, d a s Symbol der Familie, und dieser Verfall spiegelt das Altern der sie bewohnenden Menschen wieder.
S.366
Alma denkt, hoffentlich gibt es nicht wie beim letzten starken Regen kleine Bäche in der Veranda, das hätte noch gefehlt. Sie hatte drei Sachverständige im Haus, und keiner wusste eine wirkliche Lösung ohne einen Umbau im großen Stil. Aber für wen? Für mich? Für mich lohnt es sich nicht, die paar Jahre, die ich noch lebe, wird es schon halten, dann sollen sich andere drum kümmern. … Seither befürchtet Alma, dass es eines Tages wirklich ganz arg werden wird. Ansonsten, das ist ihre Meinung, soll das Haus ausdienen, mehr wird nicht mehr verlangt.
S. 7
Schon bei seiner Ankunft am Samstag war ihm aufgefallen, dass am Fenster unter dem westseitigen Giebel der Glaseinsatz fehlt. Dort fliegen regelmäßig Tauben aus und ein.
Alma vererbt Philipp als „Strafe“ das Haus, wohl ahnend, dass eine finanzielle Erbschaft für ihn einfacher zu verwalten wäre und er sich darüber eher freuen würde.
S. 354
… ich habe mir überlegt, ob ich ihm ein Zimmer bei uns in Hietzing anbieten soll, er kann auch zwei haben oder drei, da besteht kein Mangel, was hältst du davon, dass er irgendwann zur Strafe das Haus kriegt …
Fast scheint ihr Wunsch in Erfüllung zu gehen, denn Philipp spielt mit dem Gedanken, eine untergegangene Kultur in der Villa zu dokumentieren:
S. 52
Und in alle Zimmer würde er Schreibtische stellen, in jedes Zimmer einen Schreibtisch, für jede Person auf dem Klassenfoto einen Schreibtisch.
S. 136
Er findet sogar den Mut, die Nachtkommode der Großmutter zu öffnen, die vollgestopft ist mit Papierkram. Er zieht die Schubfächer mit einer gewissen Gleichgültigkeit heraus und doch im Bewusstsein, dass er hier einer Möglichkeit gegenübersteht, vom Fleck zu kommen.
Er verbindet jedoch zu viele unangenehme Erinnerungen mit diesem Haus:
S. 226
Selbst die unangenehmen Erinnerungen , die hartnäckig hinter den Fenstern lauern ….
Mit Almas Tod scheint das Gebäude endgültig seine Funktion verloren zu haben. Philipp entsorgt die Vergangenheit in Abfallcontainern und wünscht sich das Haus „ausgeputzt, ausgewaschen..“
S. 52
Es müsste schön sein, wenn das Haus leer wäre und nicht nur leer, sondern ausgeputzt, ausgewaschen, ausgekratzt, alle Fenster offen.
Während der Säuberung des Hauses wählt er als Aufenthaltsort die Vortreppe des Hauses und nur selten einen Innenraum - ein Zeichen für die Abkehr von der Familientradition.
S.50
Den ganzen Vormittag bringt Philipp nichts zustande. Mit den Ellbogen auf den Knien sitzt er auf der Vortreppe …
9.3 Die Wohnsituation in der DDR: Geschosswohnung und bürgerlicher Besitz
Die DDR hatte sich zum Ziel gesetzt, menschenwürdige Verhältnisse durch wohnungspolitische Anstrengungen für a l l e Bürger zu schaffen. Dies geschah durch die Einführung der Planwirtschaft im Wohnungsbau, mit ihr sollte die gerechte Verteilung des Wohnraums nach sozialen Gesichtspunkten erfolgen und die Förderung von Baugenossenschaften und der Wohnungsneubau aus staatlichen Mitteln finanziert werden. [cclxxxvi] Bauherr war die Staatsmacht, und sie allein bestimmte das städtebauliche und architektonische Bild der Städte.
Das Ziel war die Beseitigung sozialer Unterschiede in der Wohnungsgröße bei Familien unterschiedlicher Klassen - wenn auch die Ausstattung diese oftmals weiterhin widerspiegelte - und eine soziale Durchmischung der Wohngebiete. [cclxxxvii]
Die „gerechte Verteilung des Wohnraums“ (Art. 37 der Verfassung der DDR) vollzog man durch die Umwandlung eines großen Teils der Wohnungen in volkseigene und genossenschaftliche Wohnungen. Die Wohnungsvergabe erfolgte von der Abteilung Wohnwirtschaft in Kreisen und Städten. Meist meldeten Bewohner Leerstände, um dann vielleicht selber davon zu profitieren. Die Vergabenormen besagten, dass jeder Erwachsene, aber nicht jedes Kind, einen eigenen Wohnraum haben sollte. Es gab bevorzugte Bevölkerungsgruppen bei der Zuteilung von Wohnraum, wie z.B. Familien, Kämpfer gegen den Faschismus, Lehrer, Erzieher, Hochschulabsolventen und ehemalige länger dienende Angehörige der bewaffneten Organe.
Der zentralistisch projektierte Wohnungsbau der DDR hatte strikte Normvorgaben und jedes einzelne DDR-Wohnungsbauprogramm zeigte sich in den jeweiligen typischen Wohnformen.
Man finanzierte den Wohnungsbau und die Wohnungserhaltung, indem man Mittel aus den produzierenden Bereichen der DDR-Volkswirtschaft, aus Maschinenbau, Elektroindustrie und Energiewirtschaft abzweigte. Jedoch erschwerten Materialknappheit in diesen Industrien und mangelnde finanzielle Ressourcen die Durchführung mancher Wohnungsbauprogramme und gaben durch die Vernachlässigung der Sanierung alter Bauten ganze Stadtteile dem Verfall preis.
Es war eine politisch-ideologische Frage, welche Bauwerke aus früheren Epochen erhalten bzw. wiederaufgebaut wurden und welche nicht. Altstädte galten als Ausdruck kapitalistischer Lebensweise und bürgerlicher Lebensart und von dieser hatten sich, so war die Auffassung, sozialistische Städte zu unterscheiden. Die Wohnungspolitik verachtete historisch Gewachsenes und Individuelles, riss alte Gebäude als Überbleibsel der Klassengesellschaft rigoros ab, ließ Wohnquartiere aus dem 19. Jh. verfallen und pflegte nur selten die Tradition. Denkmalschutz und der Wert von alten Stadtkernen wurde erst erkannt, als man merkte, dass in den Plattensiedlungen ein behagliches Umfeld mit Geschäften und Gastronomie fehlte.
Der Eigenheimbau wurde vernachlässigt, viele Eigenheimbesitzer erhielten nur nach Bittgängen geringe Mengen an benötigten Material für ihre Häuser. Primär waren jederzeit zunächst die Bedürfnisse der politischen Organe, für die man gigantische Fassaden und Repräsentationsbauten baute.
Eigentümer verschenkten sogar (Miets)häuser an die KWV, die Kommunale Wohnungsverwaltung, die sie zu niedrigem Preis an Privatpersonen vermietete. Der Boden von Häusern blieb stets Eigentum des Volkes, der Besitzer erhielt das Recht für die dauerhafte Nutzung.
In den 50er Jahre orientierte man sich in der DDR noch an der bürgerlichen Architektur, dem Baustil der Gründerzeit mit seinem repräsentativen Charakter. Es wurden Palast-Wohnhäuser für die Arbeiter- und Bauernmacht errichtet, die in ihrer Repräsentativität die Gebäude des bürgerlichen Zeitalters in Ausstattung und Architektur übertrumpfen sollten - im Sinne der Umkehr der Besitzverhältnisse bewohnten Arbeiter nun Prachtbauten.
Wilhelms und Charlottes Haus, in dem die Feierlichkeiten für Wilhelms Geburtstag stattfinden, war ursprünglich ein schönes Haus, das einen großbürgerlichen Lebensstil ermöglichte: eine Villa am Steinweg mit Turmzimmer, Diensboteneingang, Wintergarten…:
S. 78
Sie wohnten im Steinweg. Unten wohnten Omi und Wilhelm. Oben wohnten sie: Mama und Papa und er.
S. 328
Das Haus kam allmählich näher. Man sah schon, hoch oben zwischen den herbstlichen Baumkronen, das Turmzimmer mit seinen halbrunden Fenstern und seinen Zinnen … und auch wenn der Turm im Grunde den Gipfel einer gewaltigen Geschmacksverirrung darstellte (das ganze Haus war ein ziemlich übler, eklektizistischer Bau - ein neureicher Nazi hatte sich hier noch in den letzten Kriegstagen einen Traum verwirklicht), konnte Kurt nicht leugnen, dass er das kleine Turmzimmerchen immer gemocht hatte. …die massive Tür, die vergitterten kleinen Flurfenster, die das Haus endgültig zu einer Festung machten …
S. 120
Im Haus war es still. Charlotte ging durch die Tür zum ehemaligen Dienstboteneingang….durch die Doppeltür zum ehemaligen Weinkeller war Grummeln und Lachen zu hören.
S. 151
Das Haus von Charlotte und Wilhelm war ein schönes Haus. Das kleine Türmchen, das auf der einen Dachseite herausragte, gab ihm sogar etwas von einer Kirche…Der Eingang lag beinah zu ebener Erde, besonders dieser Umstand kam Nadjeshda Iwanowna herrschaftlich vor, man brauchte nur eine Stufe zu nehmen, dann stand man vor einer doppelt geflügelten Tür aus massivem Holz, mit Schnitzereien sogar und zwei goldenen Fischköpfen.
S. 152
Zuerst betrat man einen kleinen Vorraum, von hier führte eine Glastür in den geräumigen Flur, es gab sogar eine Nische für die Garderobe, die genau wie die Haustür aussah, aus Holz und geschnitzt.
S. 119
Im Wintergarten war es gut. Der Zimmerspringbrunnen brummte…
S. 277
Als er eine gute Stunde später vor dem Haus seiner Urgroßeltern stand, erinnerte er sich auch wieder an die Messingtürklopfer an der Haustür. Sie hatten die Form von chinesischen Drachen.
Wilhelm schaffte die Dienstbotenklingeln ab, weil sie gegen seine proletarische Ehre verstießen.
S. 400
Aber sie durfte sich die Kehle wund schreien, wenn Lisbeth wieder irgendwo im Haus herumstreunte. Das verstieß nicht gegen seine proletarische Ehre.
Dieses Haus wird, wie in allen Familienromanen, zum Symbol für den Verfall und in diesem Roman für das Scheitern einer sozialen Ordnung, ein Sinnbild für Menschen und ihre Gesellschaft. Es wirkt in späteren Jahren mit seinen ausgestopften Tieren bedrückend und düster - wie ein Relikt aus einer vergangen Zeit und ähnelt damit den Gästen. [cclxxxviii]
Zerfall und Zerstörung der Villa schreiten im Verlauf des Romans voran: Treppen führen ins Nichts, der Terrassenhang bricht ein. Renovierungs- und Umbaumaßnahmen entstellen das Haus und schränken die Funktionalität ein, so dass es zum Schluss nicht mehr bewohnbar ist. (Ein Bild für den sozialistischen Staat DDR)
Charlotte bewohnt zum Ende hin kleine Rückzugsräume, in die Wilhelm sie verdrängt hat.
S. 286
…nur der kleine Springbrunnen war außer Betrieb, und wenn man sich ganz herüber lehnte, sah man, dass das Parkett vor der Tür, die auf die Terrasse hinausführte, von einem Wasserschaden aufgequollen war, ja dass sogar Bretter fehlten. Schade, dachte Markus, nicht um den Fußboden, sondern um die schönen Sachen, die ihm plötzlich ziemlich vernachlässigt vorkamen.
S. 393
Oder das Bad… Alles kaputt. Alles hatte er aufgehämmert mit dem Elektrohammer. Weil er eine Fußbodenentwässerung hatte einbauen müssen.
Oder seine Terrassenaktion… Jetzt lief das Regenwasser in den Wintergarten. Der Fußboden hatte sich aufgelöst. Die Tür zur Terrasse war aufgequollen, die Scheibe geborsten.
S. 390
Kurz erwog sie, sich ins Turmzimmer zurückzuziehen, für einen Augenblick zur Besinnung zu kommen. Es war der einzige Raum, der ihr in diesem Haus geblieben war. Aber die vierundvierzig Stufen bis dort oben schreckten sie…
Die Reparatur des Ausziehtischs ist ein Beispiel für Wilhelms unsinnige und inkompetente Bautätigkeit und führt letztlich zum Zusammenbruch.
S. 200f
- Hammer und Nägel, sagte Wilhelm. Du weißt doch, wo’s steht. Mählich ging in den Keller und kam wieder mit einem Hammer und Nägeln. Wilhelm hob das Mittelteil auf, maß mit Daumen und Zeigefinger den Abstand zum Rahmen. Dort setzte er den Nagel an…….
S.245
Dann krachte irgendwas im Nebenraum. Kurt sah zu, wie die Leute aufstanden und nach drüben strömten - einzig Markus kam, entgegen dem Strom, von drüber herüber und fragte, was denn passiert sei….
Kurt goss sich noch einen Goldrand ein und ging ins andere Zimmer. Beiläufig registrierte er, dass das Buffet zusammengebrochen war.
Kurt, Irina und Sascha bewohnen als eine Familie, die der Intelligenz angehört, eine bürgerliche Villa mit Veranda und einem großen Garten; in ihm steht ein Apfelbaum und in ihm züchtet Irina Rosen. Die Adresse wird genannt: Am Fuchsbau 7.
Irina verwandte viel Zeit und Liebe für die Gestaltung ihrer Wohnung bzw. ihres Hauses, baute es nach ihrem Geschmack mit Kreativität um.
S.257
Wie hatte sie damals, als sie frisch aus Russland kam, Charlottes Haus bewundert! Und jetzt bewunderte Charlotte ihr Haus. Und manchmal, wenn Irina durch die Räume ging und ihr Werk betrachtete, war sie , ehrlich gesagt, selbst erstaunt, wie gut ihr alles gelungen war…
Esist durch die Renovierungsmaßnahmen mit dem bürgerlichen Bau Charlottes vergleichbar.
S. 165f
Es hatte ihm Angst gemacht, wenn Irina einfach irgendwelche Wände einreißen ließ, wenn er die Rohre und Leitungen sah, die da heraushingen, dieses ganze Zeug, da ja irgendwie wieder in die Wände hineinmusste. Er hatte, auch das war vorgekommen, Türen knallend das Haus verlassen, sooft er mitbekam, dass Irina Unsummen ausgab, weil es unbedingt diese Tür, dieses Holz, dieses Rot sein musste…
Es war ein herrliches, ein wunderbares Schlafzimmer. Im Grunde ganz schlicht: Nur das Bett stand darin…. Der Teppichboden war weiß, weiß auch die Wände, nur die Wand an der Stirnseite des Bettes war kaminrot…
Sie legte großen Wert auf eine stilvolle Einrichtung:
S. 17f
…schöne alte Vitrine,… Telefontisch,… alte Uhr…
2001 ist der an Demenz erkrankte Kurt noch der einzige Bewohner, und das Haus ist dem Verfall preisgegeben und damit ein Spiegelbild der Familie:
S. 8
… hier schien die Zeit stillzustehen: eine schmale Straße mit Linden. Kopfsteingepflasterte Bürgersteige, von Wurzeln verbeult. Morsche Zäune und Feuerwanzen. Tief in den Gärten, hinter hohem Gras, die toten Fenster von Villen, über deren Rückübertragung in fernen Anwaltskanzleien gestritten wurde.
Eins der wenigen Häuser hier, die noch bewohnt waren: Am Fuchsbau sieben. Moos auf dem Dach. Risse in der Fassade. Die Holunderbüsche berührten schon die Veranda. Und der Apfelbaum, den Kurt immer eigenhändig beschnitten hatte, wuchs kreuz und quer in den Himmel, ein einziges Gewirr.
In den späteren Jahren ihrer Existenz gestaltete die DDR Wohnraum nach den Idealen des sozialistischen Humanismus, d.h. in der Realität: das sozialistische Einheits- und Nützlichkeitsdenken förderte eintönige und gesichtslose Neubauviertel, die die Menschen glücklich machen sollten.
Es entstanden Wohnungsbautypen wie der serielle Typ der Plattenbauweise, diezwar die Wohnbedürfnisse der Menschen erfüllten, aber Konformität ausstrahlten und dieAnspruchslosigkeit der Bewohner einforderten. [cclxxxix] Solche Betonburgen mit ihren breiten Straßen und den genormten Rechtecken prägten die Stadtzentren und hatten den Status einer staatlich bereitgestellten Infrastruktur.
All diese Gebäude boten weder die Möglichkeit des Rückzug ins Private, so wie ein Eigenheim es tat, noch konnte man dort individuelle Interessen und Neigungen wie in einem Altbau ausleben.
Vorrang hatte die Geschosswohnung, für Rückzugsmöglichkeiten gab es den Kleingarten und das Wochenendhaus. [ccxc] Familien gestalteten ihren Garten individuell, in ihm besaß man die Freiheit, die Zeit nach eigenen Vorstellungen zu verbringen. Gartenarbeit wurde zu einem zentralen Freizeitinhalt der DDR Bürger und im Vergleich zur Bundesrepublik hatten Menschen in der DDR weitaus öfter einen Kleingarten oder ‚Datschen‘.
Noch in den 50er Jahren war solch ein Kleingarten als ein Relikt des Kapitalismus angesehen worden: die Bourgeoisie hätte Interesse, dem Proletariat Rekreationsmöglichkeiten zu geben, damit der eigene Profit gesteigert wurde, so hieß es. Gärtnern galt als kleinbürgerlich und der Kleingärtner als jemand, dem das politische Bewusstsein und der Klassenstandpunkt fehlte. [ccxci]
Diese Wertung änderte sich in den 60er Jahren, nun stand der ideelle Aspekt des Kleingartens im Vordergrund: Der DDR-„Kleinbürger“ sah den Garten als etwas Eigenes und unterschied sich in nichts vom Bürgerstreben.
„Die Transformation bürgerlicher Werte und Normen ins kleinbürgerliche Milieu, wofür das DDR-spezifische Kleingärtnerwesen exemplarisch steht, bedeutet eine Entbürgerlichung der Gesellschaft.“ [ccxcii] Dies findet Eingang in den Roman:
Irinas Garten ist ihr Refugium, den sie, so wie das gesamte Haus nach ihrem Geschmack angelegt hatte.
S. 72
- Dann geh in den Garten, sagte Irina, und schneide die Rosen ab.
S. 28
Blieb kurz am Küchenfenster stehen, warf einen Blick in den Garten, suchte, als sei er ihr wenigstens diese Sekunde des Andenkens schuldig, im hohen goldenen Gras die Stelle, wo Baba Nadja einst stundenlang in gebückter Haltung gestanden und ihre Gurkenbeete besorgt hatte…
S.. 172
Nachdem Günther gegangen war, zog Kurt seine Arbeitsklamotten an und ging in den Garten. Das Wetter war gut, und gutes Wetter musste man irgendwie nutzen. Er holte die Harke heraus, aber es war kaum Laub da, also überlegte er, ob er irgendetwas beschneiden könnte. Aber er war sich nicht sicher, die Knospen kamen bereits, womöglich war es zu spät zum Beschneiden. Und obwohl er den Gedanken ans Beschneiden schon wieder aufgegeben hatte, suchte er noch eine Weile die Gartenschere, ohne sie allerdings zu finden. Stattdessen fand er ein paar Tulpenzwiebeln und beschloss, sie einzupflanzen. Eine Zeitlang ging er im Garten herum und schaute nach einem geeigneten Platz, konnte sich aber für keinen entscheiden …
In den 70er Jahren wurde Wohnraum knapp und kommunale Wohnungsämter mussten, bevor sie „Zulassungsscheine“ an Wohnungssuchende verteilten, den Anspruch von Antragstellern auf eine Wohnung prüfen. Chancen für eine Zuweisung hatten primär SED-Funktionäre, Künstler und Prominente. Um als Normalbürger einen Anspruch auf eine Zwei-Zimmer-Wohnung zu haben, war eine Verheiratung erforderlich.
Die Sozialpolitik der SED bezog ihr Wohnungsbauprogramm insbesondere auf Arbeiter und junge Eheleute. Für sie wurde der Wohnungsbezug mit dem eigenen abgeschlossenen Wohnbereich zum Status bei der Familiengründung. „Der Kampf um eine Wohnung wird zum Synonym, eine Familie gründen und eigene Lebensvorstellungen umsetzen zu können.“ [ccxciii] Nicht Klassen- und Schichtzugehörigkeit bestimmten die Wohnbedingungen sondern die Personen- und Kinderzahl.
Für Familien entwickelte die Deutsche Bauakademie bis 1972 eine Wohnungsbauserie, das Plattenbausystem, bei dem die meist gebaute Wohnung 3 Zimmer mit max. 66 qm besaß und für die sozialistische Kleinfamilie mit zwei Kindern bestimmt war; das Kinderzimmer für zwei Kinder hatte 10qm. Diese monotonen und gleichförmigen Wohnverhältnisse sollten zwar gleiche Wohnbedingungen schaffen, wurden jedoch von vielen der Bewohner als unzumutbar angesehen. [ccxciv] Sicherlich ist der Mittelpunkt des alltäglichen Familienlebens die Wohnung, sei es zur Erziehung, zum Leben oder zur Pflege. Für die Gestaltung des Familienlebens jedoch ist es weitaus vorteilhafter, in Wohneigentum oder in einem eigenem Haus mit offener Bauweise und Spielräumen für die Kinder zu wohnen und nicht in einförmigen Betonburgen.
Jedes Wohnviertel hat Auswirkungen auf das Sozialverhalten und die sozialen Beziehungen der dort lebenden Menschen und auch die Lebensbedingungen der Familie Umnitzer und ihre Sozialisationsleistungen sind beeinflusst von der Ausstattung und dem Umfeld der Wohnung.
Saschas Familie ist mit ihrem Bildungs- und Qualifikationsniveau der Gruppe der Intelligenz zugehörig, und dies zeigt sich in den Wohnverhältnissen.
Kurts und Irinas Haus in Neuendorf liegt unweit von Charlottes und Wilhelms Haus und unterscheidet sich von der Plattenbauweise bzw. von den heruntergekommenen Wohnhäusern in den Altbauvierteln Ost-Berlins.
Die Eigentumsstruktur war 1989: volkseigen 41%, genossenschaftlich 17%, privates Eigentum: 42%. [ccxcv] und auch Familie Umnitzer hatte das Haus wie die meisten DDR-Bürger angemietet, da die Mietkosten extrem niedrig waren.
S. 352
Dumm war es gewesen, das Haus nicht zu kaufen. Andererseits: Wer weiß, ob die Kommunale Wohnungsverwaltung das Haus überhaupt verkauft hätte? Hätte sie fragen sollen? Niemand hatte gefragt. Alle Häuser in der Umgebung hatten der Kommunalen Wohnungsverwaltung gehört, und kein Mensch (außer diesem merkwürdigen Harry Zenk) war auf die Idee gekommen, das Haus, in dem er wohnte, auch noch zu kaufen. Wozu, wenn man irgendwelche hundertzwanzig Mark Miete bezahlte?
In einer Mehrzahl der Häuser und Wohnungen bestand im Laufe der Jahrzehnte ein dringender Sanierungsbedarf, sie entsprachen nicht mehr dem normalen Wohnstandard. Schäden waren nicht ausgebessert worden, weil man die Mietpreise der Wohnungen auf Vorkriegsniveau eingefroren hatte. Da die Kommunale Wohnungsverwaltung kaum Renovierungen und Schadenbehebungen durchführte, verfiel die Altbausubstanz gesamter Stadtviertel, viele Mietwohnungen und Häuser galten als unbewohnbar und gesundheitsgefährdend.
Diese Umstände werden durch die Beschreibung von Christinas Wohnung illustriert:
S. 221
Er [Alexander] trottete hinterher, schnupperte den wohl bekannten Hausflurgeruch (halb Schimmel, halb Katzenpisse), betrachtete andächtig das halbrunde Emaillebecken im oberen Flur, an dem sie ihr Wasser entnahmen, folgte Christina auf der krummen, knarrenden Treppe zum Dachboden, aus dem, vermittels zweier Lehmfachwerkwände, ein paar Kubikmeter herausgetrennt worden waren: das Mansardenzimmer…
Nach seiner Trennung von Melitta quartiert sich Alexander illegal in einem leer stehenden Haus im Prenzlauer Berg ein, das ebenfalls in einem desolaten Zustand ist:
S. 290
An der Decke die Reste von Blumenreliefs. Dornröschenschlaf…Abgerissene, aufgebrochene Briefkästen. Die Tür stand sperrangelweit offen, ließ sich nicht schließen, weil eine dicke Eisschicht auf dem Fußboden die Schwelle blockierte: Rohrbruch, dachte Kurt, das Wort dieses Winters.
Eigeninitiative und Selbsthilfe von Eigentümern wurden Hindernisse in den Weg gelegt und führten nur selten zum Erfolg. [ccxcvi] Sie versuchten, genauso wie die Mieter, z.B. Irina Umnitzer, in genossenschaftlichen und staatlichen Wohnungen, mit Kraft, Geld und Erfindungsreichtum, ‚ihre‘ Wohnung zu renovieren und in einen guten Zustand zu bringen, führten Malerarbeiten, bauliche Veränderungen, Renovierungen, Modernisierungen durch, mit und ohne Genehmigung der Wohnungsverwaltung. [ccxcvii]
Dass Geld bei der Sanierung und Renovierung der Häuser und Wohnungen für die Bewohner eine geringere Rolle spielte als vielmehr Beziehungen zu Personen, die mit Hilfe von Tricks und Kenntnissen Material beschaffen konnten, erfahren wir im Roman: Versorgungsprobleme z.B. bei Brettern oder Dachpappe verhindern die systematische Renovierung bzw. den Ausbau der eigenen Häuser, es mangelte schlichtweg an Handwerkern und Baumaterialien. Doch Irina besorgt die benötigten Materialien und Möbel pragmatisch und wie für die DDR typisch halb-legal.
S.17f
…schöne alte Vitrine…Irinas wunderbares, zeitlebens wackliges Telefontischchen,…Und auch die große schwedische Wand (wieso eigentlich schwedische Wand?)…
Nach der Wende hat sie Angst vor dem Verlust des Hauses, ihrem Zuhause, dem einzigen, was ihr geblieben ist.
Unsicherheiten entstehen wegen der Überführung des Wohnungssektors in die Marktwirtschaft. Nun musste das gesamte Leben und die Vorstellung von Wohnen revidiert werden. Irina fühlt sich hilflos in den neuen Bedingungen.
S. 358f
Und wenn sie jetzt noch das Haus verloren, dann gute Nacht…
In diesem Roman ist das Haus eine Metapher für die Familiengeschichte und ein Beispiel für den Verfall und den Untergang der Familie Umnitzer. In ihm spiegeln sich sowohl Krankheit und Alkoholismus als auch der politische Untergang des Regimes.
Einen Kontrast dazu bildet Melittas Haus: ein schönes Haus in Großkrienitz, das Markus’ Mutter, eine Wendegewinnerin, sehr billig erworben hat.
S. 372
Das Komische dabei: Plötzlich hatte sich die Gropiusstadt, die Markus einst aus der Ferne bewundert hatte, als eine eher prollige Gegend entpuppt, während Großkrienitz ein nobler Berliner Vorort geworden war, und das Haus, das Muddel irgendwann billig für Ost-Geld gekauft hatte, hatte sich als Hauptgewinn erwiesen. Als Klaus hier eingezogen war, hatten sie es komplett renovieren lassen, mit Gründach und allen Schikanen. Geld spielte keine Rolle.
Markus bewohnt es mit seiner Mutter und deren neuem Mann. Sein Stiefvater vertritt als Politiker westliche Werte, die Mutter passt sich ihrem neuen Mann an. Stil und Ausstattung der Wohnung sind aufgrund des Bildungs- und Qualifikationsniveaus der Familie teuer, bewirken aber bei Markus keine Zufriedenheit:
S. 373
Klaus war nämlich auf einmal Politiker und saß im Bundestag - Pfarrer Klaus, der in der Kirche von Großkrienitz mit Blaupapier durchgepauste Gedichte verteilt hatte…. Und Muddel verdiente noch dazu, hatte sich einen silbergrauen Audi gekauft…. Für all das konnte Markus nicht das Geringste. Auch hatte er persönlich gar nichts davon, dass seine Alten plötzlich Geld hatten…
In der Biographie des Verfassers spielt das (Ferien)Haus der Eltern in Hiddensee eine bedeutende Rolle: Es war in den 70er Jahren mit organisierten Schwarzmarktmaterialien in Form von Tauschaktionen (Holz, Zement, Glas) von seinen Eltern selber errichtet worden . Als Sohn nahm er es später in Besitz und lebt heute dort. Es ist für ihn ein Symbol der Familiengeschichte und seiner Identität, es ist eins von dem Wenigen,was Eugen Ruge von seiner Familie geblieben ist.
10. Bürgertum und Bürgerlichkeit im „langen 19. Jahrhundert“
Die Tugend adelt mehr als das Geblüt.
( Sprichwort)
Familienroman-Familien sind zumeist im Bürgertum verankert, doch was bedeutet dies konkret? Was versteht man unter den Begriffen „Bürgertum“, „Bürgerlichkeit“ und bürgerlichem Denken/Verhalten, die bereits öfters fielen?
Gerade in der heutigen Zeit ist das Thema der „Bürgerlichkeit“ in unserem Sprachgebrauch nicht mehr weg zu denken: Da reklamiert eine Partei wie die AfD für sich, das Bürgertum zu vertreten, dem gegenüber bescheinigen andere dieser Partei eine antibürgerliche Haltung, weil Bürgertum Rechtsstaatlichkeit, Menschen- und Bürgerechte und die Freiheit von Diskriminierung bedeute und autoritäres und völkisches Denken dem Bürgertum widerspräche. [ccxcviii] Dem konservativen CDU-Politiker/Vorsitzende Friedrich Merz sprechen die Wähler heute Biss und Ehrgeiz zu, doch dieser hatte für eben diese Tugenden in Teenager-Jahren rein gar nichts übrig, seine „Verbürgerlichung" sei eingetreten, als er das erste Mal Vater wurde. [ccxcix] Dies impliziert, dass Bürgerlichkeit also etwas mit einer moralischen Haltung zu tun haben muss.
Deshalb zunächst zur Bedeutung der Begriffe ‚Bürger‘, Bürgertum’ und ‚Bürgerlichkeit‘. Hierbei finden die konkreten Werte und Lebensformen des Bürgertums kurz Erwähnung, werden aber später noch ausführlich anhand der Romane analysiert.
Etymologisch leitet sich der Begriff ‚Bürger‘ von dem althochdeutschen Wort ‚purgari‘ bzw. mittelhochdeutsch ‚burgære‘ ab, was ‚Burgbewohner‘ bedeutete. In der Antike implizierte der Begriff „Bürger“ in den griechischen Städten rund um die Ägäis die aktive Teilhabe am politischen Leben einer ‚polis'. Gleiches galt für den ‚Civis romanus', den römischen Bürger. Ein kleiner Teil der Stadtbewohner besaß das Bürgerrecht, am Gemeinwesen, der ‚polis', teilzunehmen und somit wichtige Entscheidungen zu treffen. Es waren erwachsene Männer, die Haus und Grund in der Stadt besaßen und Steuern bezahlten, um so die Deckung der Kosten für die Stadtverwaltung mitzutragen.
Heute bezeichnet man mit dem Begriff ‚Bürger‘ im Deutschen sowohl den Staatsbürger (‚citoyen‘) als auch den Angehörigen des Bürgertums. [ccc]
Das deutschsprachige Bürgertum bildete sich seit dem 11. Jahrhundert in den Städten heraus. Der Ursprung der Sozial- und Kulturkategorie lag im Stadtbürgertum, das sich im späten Mittelalter von der weltlichen und geistlichen Herrschaft emanzipierte.
Von der mittelalterlichen Ständeordnung herkommend, meinte man mit dem „Bürger“ den ratsfähigen Stadtbewohner, der in den Bürgerverband aufgenommen wurde und der das Bürgerrecht hatte. Das Bürgerrecht, ein ständisches Recht und durch Geburt erworben, war ein Rechtsstatus und berechtigte zu selbständiger Erwerbstätigkeit und Mitwirkung an der städtischen Selbstverwaltung. Die aktive Teilhabe an der Verwaltung der Stadt begrenzte sich demnach auf den Kreis der privilegierten Bürger.
Das Bürgerrecht unterstellte den Bürger einer besonderen Gerichtsbarkeit und implizierte die Steuerpflicht. [ccci] Es fußte auf Besitz und Bildung und setzte beim Mann geordnete wirtschaftliche Verhältnisse, ein gesichertes Einkommen und Funktionen in Gewerbe und Handel voraus. Kaufleute und Handwerker gehörten zur breiten Masse der Stadtbürger, von denen sich wiederum die patrizialen Eliten, vermögende Kaufmannsfamilien, abschlossen. Nicht zu den Bürgern zählten Handwerksgesellen, Tagelöhner und Gesinde. Eine Voraussetzung für den Erwerb des städtischen Bürgerrechts war in vielen Städten und Gemeindeordnungen die Selbständigkeit, Arbeitern verwehrte man das Bürgerrecht, da sie als unselbständig galten. Preußen band das Bürgerrecht noch 1853 sowohl an Hausbesitz, was als ein Zeichen wirtschaftlicher Selbständigkeit galt, und an einen selbständigen Betrieb und steuerlicher Mindestleistung. Zum Erwerb des Bürgerrechts forderten die politischen Eliten in den Städten ein Bürgerrechtsgeld.
„Bürger zu sein, das hieß [ursprünglich]: ‚gesicherte Nahrung‘, Schutz des Einkommens durch die jeweilige Korporation, auch Fürsorge durch sie bei Alter und Krankheit und plötzlicher Not, hieß Mitbestimmung bei der Gestaltung des Lebensraumes, hieß auf Herkommen beruhende Ordnung in diesem Raum und […] Sicherheit in den Mauern der Stadt und unter dem Schutz des städtischen Rechts.“ [cccii]
Als in vielen Städten im 19. Jahrhundert das Klassenwahlrecht eingeführt wurde, trat die Bedeutung des Bürgerrechts zurück, sicherte aber weiterhin die Hegemonie des Bürgertums in der Bürgerschaft. [ccciii] Im Vordergrund steht bei den nun folgenden näheren Ausführungen die Entwicklung des deutschen Bürgertums; in Ländern mit vergleichbarer Gesellschaftsstruktur, wie z.B. in Österreich, verlief diese ähnlich.
Die Begriffe „bürgerlich“, „bürgerliche Gesellschaft“, „Bürgerlichkeit“, entstanden im 18. Jahrhundert, stellten Gegenentwürfe zum absolutistischen Staat, zum damaligen Status quo dar und waren gekoppelt an die Idee der Fortschrittlichkeit und der Vernunft.
In den Städten des 18. Jh. wurde das Gemeinwesen von einer breiten Schicht selbständiger Existenzen gleichberechtigt getragen: Die Stadtbürger - sie stellten einen Stand dar, der seine wirtschaftlichen, moralischen und kulturellen Lebensformen verteidigte und die lokale Identität im Zuge der Staats- und Nationbildung behielt. Seine Lebensart überdauerte Jahrhunderte! Dieses neue Stadtbürgertum bestand vorwiegend aus staatlichen Amtsträgern, Beamten und Juristen, protestantischen Pfarrern, Gelehrten und Ärzten.
Als das eigentliche ‚bürgerliche Zeitalter‘ gilt das 19. Jahrhundert. In ihm machte das Bürgertum zwar lediglich drei bis fünf Prozent der Gesellschaft aus, entfaltete dafür aber eine überaus große Wirkung. [ccciv] Es ist die soziale Formation, die im ‚langen 19. Jahrhundert‘ die Führung in der gesellschaftlichen Entwicklung übernahm, sich von Adel, Bauern, Klerus und Unterschicht abhob und die Gesamtheit der „Mittelklassen“ umfasste. Thomas Manns Roman gilt nicht nur als eine Schilderung über den Bedeutungsverlust der Familie, mehr noch als „ein Stück Seelengeschichte des europäischen Bürgertums“. [cccv]
Eine Definition nach Merkmalen von Beruf und Einkommen dieser Bevölkerungsschicht ist schwer zu geben, denn das Bürgertum war keine homogene soziale Schicht, sondern eine „Statusgruppe“, die sich durch ähnlichen Lebensstil und Werthaltungen und einem soziokulturellen Zusammenhalt definierte. [cccvi]
Ganz unterschiedliche Berufsgruppen zählten zu ihm: Lehrer, Kaufleute, Richter, Pfarrer, Beamte, Unternehmer…, die alle eines gemeinsam hatten: Sie wollten ihren ökonomischen, politischen und sozialen Einfluss erweitern und empfanden es als ungerecht, dass die Geburt und nicht der persönliche Einsatz die gesellschaftliche Position bestimmte. Das Bürgertum lief Sturm gegen die Privilegien der Geburt, gegen Standesgrenzen und obrigkeitsstaatliche Unterdrückung,und es ist jene Schicht von vorindustriellen Unternehmern, Kaufleuen, Beamten, die ihre gesellschaftliche Stellung ihrer Leistung und Initiative verdanken. Diese beiden Prinzipien wollten sie im Unterschied zum geburtsständischen aristokratischen Prinzip des Adels zu Hauptprinzipien einer neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung erheben!
In der Abgrenzung zum Adel und zur unteren sozialen Schicht sahen sie sich als „Mittelstand“, der die Entwicklung der Gesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft vorantrieb, mit dem Bewusstsein, dass der Mensch „nicht in seinem Stand[…] aufgehe und […] die Gleichberechtigung aller in Staat und Gesellschaft das Ziel sein müsse.“ [cccvii]
Die bürgerliche Idee der Freiheit und die Gleichheitsforderung war es, die sich Bedeutung schaffte und die an der bisherigen hierarchischen feudalen Ordnung rüttelte. Jeder war nach Meinung des Bürgertums „seines Glückes Schmied“, indem er seine Fähigkeiten, die wiederum durch Erziehung und Unterricht entwickelt wurden, und sein individuelles Engagement einsetzte. An die Stelle der geburtsständischen Privilegien und des klerikalen Einflusses standen für ihn die individuelle Freiheit, Gleichheit und ,materielle und intellektuelle Selbständigkeit’. Soziale Aufstiegsmobilität war möglich für den, der Besitz und Bildung erwarb!
Das politische Verständnis des Begriffs „Bürgerlichkeit“ umfasst als zentrale Werte neben dem liberalen Moment, d.h. den Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen, dessen Individualität und die Bereitschaft, sich als Bürger aktiv zu betätigen, also eine soziale Komponente. Der Bürger erfuhr sich in Relation zu anderen und hatte das Ziel, eine höhere und kulturelle Lebensqualität zu erreichen. [cccviii]
Eine Gemeinsamkeit aller Bürger war die wirtschaftliche Selbständigkeit, sei es die des Wirtschaftsbürgers und gewerblich selbständigen Kaufmanns in der Gruppe des Handels-/Wirtschaftsbürgertums oder der des Bildungsbürgertums, d.h. der Akademiker wie z.B. Ärzte, Apotheker und Rechtsanwälte und des Kleinbürgertums - doch es gab schon früh ein wachsendes wirtschaftliches Gefälle zwischen dem Wirtschaftsbürgertum und dem Bildungsbürgertum (Beamten).
(TM)
Zur „Gesellschaft“ zählten in Lübeck die Kaufmannsfamilien und Großkaufleute, Gelehrte, Juristen, Theologen, Ärzte und die Professoren vom Katharineum. Man distanzierte sich vom Mittelstand und von der Geldbourgeoisie à la Hagenström, Neureiche, die frei von Tradition und Pietät Entscheidungen trafen. Der Roman zeigt aber, dass ihnen die Zukunft gehört.
Das politische Organ des Bürgertums war die Bürgerschaft, die auf Einfluss und Mitbestimmung und auf Auflösung der ständischen Gesellschaft drängte, mit dem Ziel einer bürgerlichen Gesellschaft. Die Stadt wurde für die Bürger zum Modell für die Verfassung des Gesamtstaates, und in ihr nahmen sie zunächst Einfluss. [cccix]
Eigentum und Sittlichkeit waren die Schwerpunkte in der Idee bzw. Utopie von einer bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufklärung als die wichtigste Grundströmung des politisch-philosophischen Denkens des 18. Jahrhunderts und deren Vertreter John Locke und Immanuel Kant sahen die Vernunft und nicht Gewohnheiten und Vorurteile als Primat für die Organisation von Gesellschaft und Staat und forderten einen Diskurs und einen öffentlichen Austausch der Individuen untereinander.
Rationale Gesichtspunkte wie Übersichtlichkeit und Funktionalität galten als entscheidend bei der Umgestaltung des Staates und fanden auch Gehör bei den Monarchen Friedrich II in Preußen und Josef II in Österreich. Als Konsequenz daraus schafften sie die Folter ab und setzten die allgemeine Schulpflicht und die Reduzierung der kirchlichen Macht durch.
Eine entscheidende Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft war die Leistungskonkurrenz (Marktwirtschaft). So wie man die Beseitigung der Rechte des Adels bei der Besetzung von leitenden Stellen in Regierung und Verwaltung forderte, verlangten Bürger eine Reformierung der Steuerbefreiung oder der Rechte in der Ausübung der mit adeligen Gütern verbundenen Gerichts-, Jagd- und Patronatsrechte. In der Utopie der bürgerlichen Gesellschaft ist es der politisch mündige Bürger, der durch Besitz und Bildung qualifiziert ist, die Verantwortung zu tragen und im Parlament und in den Vertretungskörperschaften mitzuwirken. An die Stelle des Fürstenstaates sollte die konstitutionelle Monarchie bzw. die Republik als Regierungsform treten.
Weitere Kennzeichen der „Bürgerlichen Gesellschaft“ waren Menschen- und Bürgerrechte wie z.B. Meinungs- und Pressefreiheit und das Recht auf Eigentum. Und immer wieder: Die individuelle Leistung statt der Herkunft sollte entscheiden über die Lebenschancen; nicht der Geburtsstand sondern das Ansehen, das der Bürger sich kraft seiner individuellen Leistung, Bildung und Tugend bei den Mitbürgern erworben hat. [cccx]
„Ganz generell tendiert man heute eher dahin, die nicht unmaßgebliche Rolle des Bürgertums für den Prozess der Modernisierung in Deutschland zu betonen …“ [cccxi]
Die Verbreitung der Ideen der bürgerlichen Mittelstandsgesellschaft erfolgte vor Beginn der Industrialisierung und die neuen Kommunikationsformen wie Zeitungen, Lesegesellschaften, Briefkultur und Bildungsreisen halfen sie weiterzugeben. Das Bürgertum wurde zum Träger der Demokratisierung und die „amerikanische Verfassungsgebung (… )der erste welthistorisch sichtbare Erfolg.“ [cccxii]
Die bürgerliche Epoche war zwar durchdrungen von den Idealen Freiheit und Gleichheit, schuf jedoch auch gleichzeitig gesellschaftliche Grenzen, denn Freiheit assoziierte Gedankenfreiheit, Gleichheit meinte Gleichheit unter Gleichen und reproduzierte soziale Grenzen und Ausgrenzungsmechanismen. [cccxiii] Man hielt sich am Althergebrachten, was z.B. die Rolle der Frau betraf und sah lediglich die Männer als Träger der bürgerlichen Rechte und der geforderten Freiheiten.
Die Anerkennung der bürgerlichen Mentalität und ihrer Tugenden erfolgte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es begannen, sich zivilgesellschaftliche Strukturen durch Vereine, Gesellschaften, z.B. die Freimaurer zu formen, in denen die Bürger auf gleicher Ebene als Privatmensch, nicht als Repräsentant eines Standes miteinander umgingen und ihre Gedanken und vernünftige Argumente austauschten; vor allem akademisch Gebildete trugen diese Netzwerke.
Es entstand eine sog. bürgerliche Kultur, und um an ihr teilzunehmen, musste man Voraussetzungen erfüllen, z.B. in der aufklärerisch-humanistischen Bildungstradition stehen und ein regelmäßiges Einkommen beziehen, dies war ( s.o.) möglich bei selbständiger Tätigkeit und in beamteter Stellung.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatten sich zwar formal die Forderungen der „bürgerlichen Revolution“ wie rechtliche Freiheit und Gleichheit für alle Staatsbürger und soziale Aufstiegschancen bei individuellen Leistungen entsprechend durchgesetzt, aber da auf eine völlige Entmachtung des Adels verzichtet worden war, erleichterte der prestigeträchtige Adelstitel weiterhin die Erlangung hoher Positionen.
(TM)
Der Grafensohn Kai im Roman ist ein Beispiel für die Integration adliger Kinder in das staatliche Schulsystem im Laufe des 19. Jahrhunderts, mit der die Notwendigkeit für den Adel einherging einen Beruf zu erwerben.
Waren die Bürger zunächst „Gegenfiguren“ zum Adel, änderte sich dies im Verlauf des 19. Jahrhunderts. [cccxiv] Letztendlich beeinflusste der Adel mit seiner politischen Macht und seiner attraktiven Kultur das Großbürgertum so stark, dass es den Lebensstil des Adels, wie z.B. Dienerschaft, die Delegierung der Kindererziehung, die differenzierte geschlechterbezogene Ausbildung und die Differenzierung von erbenden bzw. nicht-erbenden Söhnen übernahm. [cccxv]
Man kopierte den aufwendigen Lebensstil und ließ Neubauten in prächtiger Größe entstehen, um die Stellung und das Ansehen als Bürgers in der Stadt zu demonstrieren. Auftreten und soziale Verhaltensweisen veränderten sich und bedeuteten eine soziale Abgrenzung nach unten: So zu sehen bei den standesbewussten Bürgern in ihren Umgangsformen, der Wahl der Ehefrau, in ihrem Benehmen, in der Kleidung und der Zahl der Dienstboten.
(TM)
Thomas Buddenbrook ist das Beispiel eines Bürgers, der adlige Standards übernimmt, um damit eine „standesgemäße“ und wirkungsvolle/repräsentative Lebensführung zu dokumentieren. Die Repräsentation seines hohen sozialen Status’ zeigt er durch teure elegante Kleidung und Prachtentfaltung in seinem Haus, das eine Imitation adliger Wohnkultur wird.
Die Bezüge zur Realität im fiktiven Roman ergänzen die von der Geschichte und Soziologie entwickelten Komponenten: Die bei den Buddenbrooks zu findende literarische Bürgerlichkeit „[verhält] sich prinzipiell idealtypisch (…) zur Bürgerlichkeit tatsächlich vorfindbarer oder aus außenliterarischen Quellen erhobener Verhältnisse.“ [cccxvi] Hier wird Literatur zu einem Spiegel der Zeitgeschichte und zeigt Ausdrucksformen einer bürgerlichen Lebenshaltung und dem, was als „bürgerlich“ zu gelten hatte. Es ist uns möglich, ein lebhaftes Bild vom Alltag des 19. Jh. im Bürgertum oder im Vergleich dazu vom 20. Jahrhundert zu gewinnen, wenn innere Impulse und Reaktionen der Figuren erzählt und uns Bilder vom bürgerlichen Leben vermittelt werden. Fakt aber ist: Dichtung perspekiviert Wirklichkeit immer anders als ein historischer Text!
Th. Mann zeigt in seinem Werk die historische Wirklichkeit des 18. und 19. Jahrhunderts (Johann der Ältere wurde 1765 geboren, Einsatz des Romans 1835, Todesjahr Hannos 1877) und war selber überrascht, dass seine persönliche Geschichte „das Nationale getroffen“ hat. [cccxvii] Der Autor selber deutete den Roman als Beispiel für den Niedergang des Bürgertums in Deutschland, „…tatsächlich ist das 19. Jh, in dem der Roman spielt, für das Bürgertum nicht eine Zeit des Niedergangs, sondern gerade des Aufstiegs gewesen. Die Verfallsstimmung der Buddenbrooks ist rein autobiographischer Natur und nicht auf die Situation des Bürgertums allgemein übertragbar. [cccxviii]
Für Thomas Mann selber bedeutete Bürgerlichkeit eine geistige humanitäre Idee und Lebensform; so spricht er in seiner Rede zur 700-Jahr-Feier der Stadt Lübeck („Lübeck als geistige Lebensform“) von bürgerlichen Werten wie Pflichterfüllung, Askese, Ordnung, Recht und Fleiß, auf die er sich als Künstler hat stützen können und die ihm als Gerüst dienten für sein Leben. „…ihre [Bürger; Anm. der Verfasserin] Art von Heldentum, die modern-heroische Lebensform und -haltung, den überbürdeten und übertrainierten am ‚Rande der Erschöpfung arbeitenden‘ Leistungsethiker…und hier ist meine seelische Berührung…mit dem Typen des neuen Bürgers. Ich habe ihn niemals real, als politisch-wirtschaftliche Erscheinung, gestaltet …Aber das Dichterische, das schien mir immer das Symbolische zu sein.“[cccxix]
10.1 Das Wirtschaftsbürgertum
Laut dem Allgemeinen Preußischen Landrecht (ALR) existierte ein höherer und ein niederer Bürgerstand, ausschlaggebend für die Zugehörigkeit waren Vermögen und Bildung (Universitätsbildung). Zum höheren Bürgerstand zählte man Beamte, Künstler, Kaufleute und Unternehmer; im Unterschied dazu gab es die Kleinbürger, zu denen Handwerksmeister, Kaufleute und Gastwirte zählten, und es gab noch die sog. Großbürger.
Generell unterschied man zwischen den Wirtschafts- und den Bildungsbürgern:Besitzer und Direktoren großer Wirtschaftsunternehmen und Bürger, die sich auf wirtschaftliche Tätigkeiten konzentrierten, gehörten zum Besitz-/Wirtschaftsbürgertum. Eine Anzahl davon kam aus dem kaufmännischen Milieu und hatte ein Netzwerk der gegenseitige Hilfe und des Nutzens aufgebaut. Wissenschaftlich-akademisch ausgebildete Lehrer, Professoren, Ärzte und Juristen zählten zum Bildungsbürgertum, Juden galten als integriertes Element im Bildungsbürgertum.
Sowohl Bildungs- als auch Wirtschaftsbürgertum gewichteten die individuelle Leistung und schätzten regelmäßige Arbeit, Hochkultur, Bildung und Wissenschaft. Durch ihre bürgerliche Lebensführung mit dem Hochhalten des Familienideals transportierten sie das bürgerliche Milieu in die nächste Generation.
Im Zuge des 19. Jahrhunderts entwickelten sich beide Varianten auseinander, das Wirtschaftsbürgertum unterschied sich aufgrund seines Lebensstils und seiner materiellen Grundlagen immer mehr vom Bildungsbürgertum und distanzierte sich von ihm. Die Einheit innerhalb des Bürgertums ging verloren und es entwickelte sich eine eklatante Kluft innerhalb des Bürgertums hinsichtlich Einkommen und wirtschaftlicher Stellung.
Als die Industriealisierung Mitte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien begann und sich bis Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland verbreitete, verbesserten sich die Verkehrsbedingungen und die Infrastruktur; Eisenbahn, Dampfschiff und der Telegraph kräftigten den Fernhandel und ließen kleinbürgerliche Besitz- und Erwerbsklassen entstehen. Insbesondere (Groß-)Kaufleute, Händler und Produzenten spezialisierten sich auf bestimmte Produktgruppen und gründeten Großbetriebe mit lohnabhängigen Arbeitskräften. Im Zuge davon lösten sich ständische Strukturen immer mehr auf und es entwickelte sich die kapitalistische Wirtschaft.
(TM)
Die Firma Buddenbrook war ein Familienunternehmen, das im Erbgang von einer Generation auf die nächste überging. Schon vom jugendlichen Alter an wird die Unternehmensnachfolge geplant und ein Sohn systematisch auf die Übernahme der Verantwortung vorbereitet.
Der für das 19. Jahrhundert typische Paternalismus umfasst in der Familienfirma bei den Buddenbrooks eine enge Verbindung von (Unternehmer-)Familie und Betrieb, mit einem persönlichen Kontakt zwischen Inhaber und Belegschaft und einer besonderen Treue der Arbeiter zu ihrer Firma. Demonstrativ spricht Thomas B. den heimischen Dialekt mit den Arbeitern, die langjährigen Mitarbeiter in der Firma, wie z.B. der Prokurist Friedrich Wilhelm Marcus, bleiben auch nach dem Tod des Konsuls Johann B. der Firma und ihrem neuen Chef loyal verbunden:
S. 254
„…Mein seliger Mann hat in seinen letztwillligen Verfügungen den Wunsch ausgesprochen, Sie möchten nach seinem Heimgang Ihre treue, bewährte Kraft nicht länger als fremder Mitarbeiter, sondern als Teilhaber in den Dienst der Firma stellen…“ „Gewiss, allerdings, Frau Konsulin“, sprach Herr Marcus. „…Ich weiß vor Gott und den Menschen nichts Besseres zu tun, als Ihre und Ihres Sohnes Offerte dankbarst zu acceptieren.“
Familie Buddenbrook ist mit ihrem Besitz und ihrem Ansehen 1835, zu Beginn des Romans, eine angesehene bürgerliche Familie, im damals gängig werdenden Verständnis des Wortes, nämlich Angehörige der ‚besitzenden Schicht‘. Zur Einweihung des Hauses erscheinen Mitglieder des Besitz- und Bildungsbürgertums, die zu den tonangebenden, gesellschaftlich führenden Familien der Stadt gehören und deren Söhne und Töchter, ihr Verhalten und ihre Karriere aufmerksam registriert werden.
Der gemäßigte Liberalismus des Bürgertums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte noch die Vorstellung von einer sich verbreitenden Mittelschicht, einer Verbürgerlichung der Gesellschaft mit erweiterten Bürgerrechten und einem sozialen Ausgleich. Voraussetzung waren Freiheit (Möglichkeit der Selbstbestimmung) und Gleichheit, von denen man Wohlstand und Gerechtigkeit erwartete[cccxx], denn Armut und Not hatten aus bürgerlicher Sicht ihre Ursache stets im persönlichen Versagen.
Die Wirtschaft, so war die Auffassung, sollte sich frei ohne willkürliche staatliche Intervention entwickeln, und zum Idealbild des Unternehmers gehörte eine bürgerliche Lebensführung, Selbstdisziplin und Verzicht auf egoistische Befriedigung privater Wünsche.
Gewerbefreiheit, Freihandel und der Ausbau des Zollvereins verhalfen vielen Bürgern zu geschäftlichem Erfolg und machten sie damit zu typischen Vertretern der städtischen Honoratiorenschicht. [cccxxi]
Die Interessen zwischen dem Bürgertum als soziale Schicht - und als eine solche erkannte und bekannte sie sich - und dem Volk waren unterschiedlich. Das nationalliberal gesinnte Wirtschaftsbürgertum, der Teil des Bürgertums, der selbständiger gewerblicher Arbeit nachging, sah sich immer mehr den Angriffen von den wirtschaftlich Abhängigen ausgesetzt. Der wirtschaftliche und soziale Strukturwandel führte in der modernen Industrie- und Verkehrswirtschaft zur Ausbildung großer sozialer Unterschiede und zu negativen Folgen für die Arbeiter. Es kam zu Arbeitslosigkeit und Pauperisierung, und die Schere zwischen arm und reich, zwischen gebildet und ungebildet, öffnete sich immer mehr. Erntekrisen und Bevölkerungswachstum führten zur Massenarmut, die nicht individuell verschuldet war.
Angesichts der Entstehung der industriellen Lohnarbeiterschaft und des Massenpauperismus ab den 1840er Jahren war der Gedanke einer Verbürgerlichung der Gesellschaft eine utopische Hoffnung.[cccxxii]„..mit dem Vordringen der bürgerlichen Marktwirtschaft und Marktgesellschaft, mit dem Kauf menschlicher Arbeitskraft als Ware, die auf vielfältigen Arbeitsmärkten erworben werden kann, [ist] eine deprimierende Abhängigkeit und menschliche Degradierung verbunden.“ [cccxxiii]
Im Zuge der Industrialisierung und der damit sich entwickelnden sozialen Ungleichheit erhielt das Wort „bürgerlich“ nun eine eher exklusive anti-proletarische Dimension [cccxxiv] Im Kaiserreich wuchs die Zahl der großen Unternehmen und damit der Wirtschaftsbürger, die eine akademische Bildung in naturwissenschaftlichen Fächern besaßen, und während man das Bürgertum nicht als eigene Klasse bezeichnen konnte, war die Bourgeoisie mit ihren Unternehmern und Arbeitgebern durchaus eine solche. [cccxxv]
Großeigentümer und Industrielle in Industrie und Handel, die „Bourgeoisie“, verdrängten das mittlere Bürgertum und lösten durch den fortschreitenden Differenzierungsprozess und der Arbeitsteilung „die innere, lebensweltlich fundierte, von der Ähnlichkeit der Lebensaufgaben sich herleitende Einheit der bürgerlichen Familie und mit ihr zugleich der bürgerlichen Gesellschaft mehr und mehr auf.“ [cccxxvi] „Der Aufstieg der Marktwirtschaft, die anti-ständischen Gesetzesformen wie auch der Siegeszug des zunehmend zentralisierend modernen Staates höhlten ihre ständische Exklusivität aus und zerstörten am Ende ihre Identität.“ [cccxxvii]
Der Idee der „klassenlosen Bürgergesellschaft“ wurde ein Ende gesetzt. Die Kluft zwischen der Masse der Handwerksmeister und Kleinhändler einerseits und den Großkaufleuten und Industriellen andererseits vergrößerte sich immer mehr. Bürger und bürgerliche Familien behaupteten nur dann ihren sozialen Status, wenn sie die neuen Rollen und Funktionen übernehmen konnten und zu Unternehmern wurden.
Die Regierung der drei Jahrzehnte vor dem 1. Weltkrieg begünstigte das Wirtschaftswachstum. Der Begriff „Bürger“ bezog sich von nun auf die mit Großbesitz und Macht ausgestattete Bourgeoisie und ein einflussreiches Bildungsbürgertum.
„Innovationsfreudige Söhne aus der oft industriefeindlichen Welt des traditionellen, handelskapitalistisch orientierten Stadtbürgertums stellen vielleicht die Hälfte oder sogar eine knappe Mehrheit und zehren vom „sozialen Kapital“ der Familienressource. Die anderen sind Homines novi, imponierende Persönlichkeiten wie Melissen und Hansemann.“ [cccxxviii]
10.2 Das Bildungsbürgertum
Das Bildungsbürgertum sah Bildung als ein hohes Gut und als ein Gebiet, auf dem man sich dem Adel überlegen fühlte. Bildung, das hieß, sich „aktiv das Wissen, die Fähigkeiten und die Erfahrungen anzueignen, die bei der Entwicklung zu einer gereiften und aufgeklärten ‚Persönlichkeit‘ als förderlich und notwendig angesehen wurden.“ [cccxxix] Man versuchte, einen Abstieg in eine andere Klassenlage zu verhindern und mit ökonomischen und sozialem Kapital auch einem weniger begabten Sohn eine bürgerliche Karriere vermitteln.
Zu den „gebildeten Klassen“ zählten die Akademiker, alle verband der gemeinsame Bildungsgang über das humanistische Gymnasium, reformiert durch Wilhelm von Humboldt.
Das Bildungsbürgertums war heterogen und bestand aus Akademikern in staatlichen Diensten, wie z.B. Lehrer und Pfarrer, Professoren, Gymnasiallehrer, sie waren durch erworbene Bildungspatente zur Berufslaufbahn in Staat, Kirche und Militärdienst berechtigt und hatten so die Chance des sozialen Aufstiegs bzw. des Statuserhalts. [cccxxx] „Ohne die akademisch gebildeten Beamten wäre das Bildungsbürgertum vor allem bis in die 1860er und 70er Jahre [..] erheblich schwächer gewesen […]“ [cccxxxi]
Ärzte und Juristen zählten ebenfalls zum Bildungsbürgertum, beide durch Professionalierungstendenzen ihres Berufs von einer wissenschaftlich-akademischen Ausbildung geprägt und im zeitgenössischen Verständnis „selbstständig“. Sie waren trotz evtl. fester Anstellung professionell autonom. Distanzen zwischen Juristen, Theologen, Medizinern und Lehrern gab es aber durch ihren differenten Status von Beginn an.
Als ein Aufsteigerberuf für Angehörige aus der Mittelschicht galt der Beruf des Pfarrers, er gehörte wegen seines wissenschaftlichen Studiums zur akademischen Elite und leistete „in ihrer kulturprotestantischen Variante…dabei einen besonderen Beitrag zum bürgerlichen Wertekanon“. [cccxxxii]
11. Das Bürgertum im 20. Jahrhundert - bürgerliche Lebensform im Wandel und das Fortleben bildungsbürgerlicher Traditionen
11.1 Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trugen politische, gesellschaftliche und kulturelle Faktoren trugen dazu bei, dass sich die Bedeutung des Bürgertums und seiner Denk- und Lebensformen marginalisierte und es seine ehemals tragende Funktion verlor.
Eingesetzt hatte der Zerfall des Bürgertums als Sozialform im Ersten Weltkrieg, als das Individuum in die größere Gemeinschaft der Deutschen einschmolz und der Wunsch nach einem gesellschaftlichen Aufbruch erkennbar wurde. Statt der Bürgerlichkeit wurde von jetzt an das Nationale zum Kernpunkt der Politik, der Einzelne ordnete sich in das eine Einheit präsentierende Gesamtgefüge ein. [cccxxxiii]
Im Bürgertum herrschte grundsätzlich die Sehnsucht nach Gemeinschaft. Aufgrund der Tatsache, dass ein freier Zusammenschluss bürgerlicher Individuen nun nicht mehr möglich war, belegte man den Begriff „Gesellschaft“ negativ, den der „Gemeinschaft“ aber positiv. Diese erlebte das Bürgertum bei Kriegsausbruch, als aus einer zerrissenen Gesellschaft eine „Volksgemeinschaft“ wurde. Statt des Begriffs „Klasse“ verwendeten Bürger den positiven Gegenbegriff „Stand“, Stände implizierten nicht die Spaltung der Gesellschaft.
Als im November 1918 der Kaiser abdankte und der monarchische Fürstenstaat ein Ende hatte, entstand eine Verfassung, die grundlegende bürgerliche Prinzipien hatte, wie Gewaltenteilung, Wahlberechtigung für alle erwachsenen Männer und Frauen, Unabhängigkeit der Rechtsprechung, all das war in der Weimarer Verfassunggrundgelegt. Das Bürgertum aber begrüßte es ganz und gar nicht freudig, es hatte Angst vor einer bolschewistischen Revolution wie in Russland.
Den Versailler Vertrag mit seinen Forderungen der Gebietsabtretungen und den Reparationszahlungen sah man als Demütigung an, und die Geldentwertung sowie die großen Summen für die Reparationszahlungen wirkten sich auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen aus: Die Bürger trafen dauerhafte Verluste ihrer Vermögensanlagen, die nun an Wert verloren, und sahen sich materiell und sozial bedroht.
Viele der Bildungsbürger, wie z.B. Akademiker im öffentlichen Dienst und Beamte, mussten Einkommenseinbußen in Kauf nehmen und weil die steigenden Rohstoff- und Halbwarenpreise ihre Gewinne reduzierten, gab es auch unter den Wirtschaftsbürgern nur wenige „Inflationsgewinner“. [cccxxxiv] Zwar bildete für viele das Familienvermögen den Rückhalt für ein standesgemäßes Leben, doch mancher war gezwungen, Dienstpersonal zu entlassen und seinen Konsum so weit einzuschränken, dass ein bürgerlicher Lebensstil aufgeben werden musste.
Von dem ursprünglichen Ziel, einer ständeübergreifenden und individualistischen, auf die Fähigkeiten des Einzelnen basierenden Gesellschaft, war nichts geblieben. Der „soziale Volksstaat“ stellte Privilegien in Frage, die der monarchistische Staat dem Bürgertum durch gehobene Positionen und „Bildungserbrechte“ der Kinder (privilegierter Schulbesuch) reserviert hatte und in der Wohltätigkeit, einer wichtigen Distinktion der Bürger, arbeitete nun die organisierte Arbeiterschaft mit.
Die Weimarer Republik schrieb die grundsätzliche Gleichberechtigung der Frau vor, und damit öffneten sich bis in die 30er Jahre Universitäten und akademische Berufe für die Frauen. Der Frauenanteil an den Hochschulen stieg und das bürgerliche Bild von der alleinigen Aufgabe der Frau in ihrer Mutter- und Hausfrauenrolle wurde obsolet.
(AG)
Alma erlebt diese Zeit als junge Frau, Richard erinnert sich 1938:
S. 70
Dass sie vor neun Jahren, als sie einander kennenlernten, behauptete, eine moderne Frau zu sein, und dass sie zum Argwohn seines Vaters das Haar schon damals kurz trug … Ob sie wohl manchmal ihrem Studium nachtrauert?
Sie selber hat die verpassten Möglichkeiten durch den Abbruch ihres Studiums nicht vergessen:
S. 358f
Richards Hand, seine Fingernägel, vor allem die Fingernägel - sie sehen aus wie von den Leichenhänden im „Handkurs“ zu Beginn des Studiums. Das Studium. Das sie nie beendet hat.
Die Angehörigen der jüngeren Generation wollten prinzipiell anti-bürgerlich sein, für sie war die Zeit der bürgerlichen Prosperität beendet. Die bündische Jugend und auch die äußersten Rechten lehnten das Bürgertum ab, wohingegen in der bürgerlichen Weimarer Führungselite noch die Werthaltung der wilhelminischen Gesellschaft zum Ausdruck kam.
Als Gegenkultur zur bürgerlichen Gesellschaft entwickelte sich eine heroisch-militärische Kultur. Der Verein als eine für das Bürgertum typische kulturelle Organisationsform trat in den Hintergrund, verschiedene Bünde (Dürerbund, Reichshammerbund) bzw. die Ring-Bewegung/Zirkelbildung mit den ritualisierten Einbindungen der Mitglieder nahmen ihre Stelle ein.[cccxxxv]All dies waren Verbände der bürgerlichen Reformbewegung, zielten auf eine anti-modernistische Subkultur, denunzierten die Herrschaft des Kapitals als jüdisch und waren gegen die Urbanisierung und Vermassung, gegen die Verrohung der Sitten und für den Beibehalt der nationalen kulturellen Tradition. [cccxxxvi]
Durch die Demokratisierung des Kommunalrechts kamen die Interessen der breiten Mehrheit der städtischen Bevölkerung zum Tragen. Und so kam es, dass bei den Kommunalwahlen 1919 viele stadtbürgerliche Honoratioren nicht wiedergewählt wurden, auch wenn Bürgerlisten unter den bürgerlichen Parteien das Bestreben zeigten, parteiübergreifend bei Sachfragen zusammenzuarbeiten und politische Gegensätze der Parteien dem nicht mehr im Wege stehen sollten.
Von nun an gab es für den Bürger in der Stadtverwaltung die Möglichkeit, seinen Bürgersinn unter Beweis zu stellen,und nicht wie bisher in Vereinen, Verbänden und in der Kirche, denn grundsätzlich fühlte er sich grundsätzlich dem Gemeinwohl verpflichtet.
Bei der sich nun anschließenden Darstellung der Ursachen für den Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform beziehe ich mich in erster Linie auf die Arbeit P. Kondylis „Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform“.
Das Bürgertum war unter der Prämisse der individuellen Meinungsfreiheit und Toleranz aufgetreten und wollte mit Pragmatismus und Rationalismus dem Wohle und Fortschritt der Gesellschaft dienen. [cccxxxvii] Arbeitsethos und Berufsethik sahen den Beruf als bedeutsam für die Verwirklichung des Menschen an, Regelmäßigkeit im Tagesablauf, feste Gewohnheiten und Prinzipien galten als die Kernstücke bürgerlicher Normen. Die Arbeit in der Industrie jedoch zerlegte sich in Arbeitsteilung und in Arbeitsschritte und war eine ganz andere als die bürgerliche Arbeitsvorstellung vom handwerklichen Ideal des einheitlichen Produkts. Statt Familienunternehmen entstanden Konzerne, für die das Fachspezialistentum wichtig waren.
Der Verfall der bürgerlichen Lebensform gründete sich auf der Industrialisierung, der Entfaltung der Massendemokratie und der Verdrängung des bürgerlichen Liberalismus. Im politischen Bereich fand eine Umstrukturierung der Parteien zur Herausbildung politischer Massenorganisationen statt. Dadurch verloren die gehobenen bürgerlichen Elemente an Gewicht und der Honoratiorenverband wurde abgelöst von einer politischen Laufbahn der Parteimitglieder.
Im Bürgertum herrschte eine konservative Angst vor der Einebnung der sozialen Unterschiede und dem Untergang des Individuums in der Masse.
Das liberale Denken sah den Einzelnen als öffentliche Person mit Rechten und Chancen, die industrielle Massenproduktion machte den Menschen jedoch zum Konsumenten, das schlug sich in den Kulturformen nieder:
Merkmale der Massendemokratie gingen mit Massenproduktion in der Industrie, Massenkonsum und einer eigenen Lebensform und Mentalität einher, aus ihren Augen wurde von nun an die Welt betrachtet: Die Überwindung der Güterknappheit und der Überfluss bestimmten das Leben der Menschen und kurzfristige spontane Bestrebungen lösten langfristige Ziele ab. Es entstand ein anderer Menschentyp als der des Bürgers mit seinem puritanischen Habitus, und die bürgerlichen Werte verloren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr an politisch-moralischer Glaubwürdigkeit.
Eine mediale und urbane Massenkultur, wie die Entstehung des Kinos, auf Zerstreuung und Unterhaltung ausgerichtet, markierte vor dem 1. Weltkrieg das Ende der bürgerlichen Kultur.[cccxxxviii]Der Kinofilm bezog alle Schichten ein, war massendemokratisch, und hatte somit kein spezielles bürgerliches Publikum mehr wie das bürgerliche Theater.
Filme verbreiteten antibürgerliche und nichtbürgerliche Werte, die die Dominanz der bürgerlichen Kultur aushöhlten und „eine Grundlage der klassenübergreifenden Kulturformen des 20. Jahrhunderts“ bildeten. [cccxxxix] Das Lesen als privilegierte Praxis bürgerlicher Eliten wurde in den Hintergrund gedrängt. [cccxl]
Das Bildungsbürgertum kritisierte diese „Unkultur“ der Massen, insbesondere die Entstehung des Kinopublikums, erkannte aber schon bald, dass aufgrund der wirtschaftlichen, technischen und naturwissenschaftlichen Entwicklung die klassische Kultur und die neuhumanistische Bildung keine Relevanz mehr haben konnten. Der Vorbildcharakter der klassischen, bildungsbürgerlichen Kultur zerfiel, statt Bildung gab es Unterhaltung und Zerstreuung ohne geistigen Wert - und das entsprach ganz und gar nicht der bisherigen bildungsbürgerlichen Vorstellung von Kultur, die die gesellschaftliche Pflicht und die Vernunft in den Mittelpunkt gestellt hatte. [cccxli]
Stets propagierte das Bürgertum die freie Entfaltung der Kultur von Künstlern und Literaten und schuf so eine Kultur der Vielfalt und Autonomie. In dieser Vielfalt gab es aber auch durchaus Künstler, die die bürgerliche Auffassung von Harmonie und Geschmack und Stil ablehnten. Durch sie kam es zu einer Ablösung der bürgerlich synthetisch-harmonisierenden Denkfigur, die das Schöne an das Wahre und Gute band und Kunst eingebettet sah in die Gesellschaft und ihren Normen. Stattdessen entwickelte sich eine analytisch-kombinatorische Denkfigur im Bereich der geistigen Produktion mit dem Kult der modernen Technik, der Betonung des Urtümlichen im Gegensatz zur Macht des Geldes und mit einer Moral, die ganz und gar nicht der bürgerlichen entsprach.
Kunst hatte keine soziale oder didaktische Aufgabe mehr, sondern war ein freies Spiel.
Künstler stellten die Rationalitätsansprüche der bürgerlichen Wissenschaft ebenso in Frage wie das bürgerliche Menschenbild, angesagt waren das Dämonische, Irrationale, Triebhafte und Morbide, (Surrealismus, Dadaismus, Futuristen, Dekadenz…) das Schockierende wurde als wertvoll angesehen. Der Bürger war in den Augen dieser Künstler ein macht- und geldbesessener Bourgeois, den bürgerlichen Werten setzten sie Hedonismus und Muße, Zynismus und Spontanität, dem bürgerlichen Realismus die transzendente Ebene entgegen.
Die literarisch-künstlerische Moderne und Avantgarde mit ihren antibürgerlichen Grundeinstellungen und Leitideen stellte das bürgerliche Menschenbild in Frage. Statt Harmonie und Geschmack stand Schockierendes, Irrationales und Triebhaftes nun im Mittelpunkt der Kultur von Kunst und Künstlern (Surrealismus, Dekadenz, Futuristen). In der Dichtung wurde das Triviale und Hässliche zum Thema, Triebe und Leidenschaften, z.B. in der naturalistischen Schilderung, man negierte das bürgerliche Menschenbild und die bürgerlichen Konventionen und stellte die Institution der Familie in Frage.
In den Künsten ging der bürgerliche Ernst verloren, ja: Kunst im bürgerlichen Sinne wurde abgeschafft.
Die Sprachwissenschaft betrachtete Sprache als System von phonetischen Elementen und löste mit dem analytisch-kombinatorischen Denkstil das bürgerliche Verständnis ab, das Sprache mit ihrem geschichtlichen und psychologischen Inhalt verbunden hatte.
In der Dichtung zeigte sich dies durch die Zertrümmerung der Syntax, der Montagetechnik und des Bewusstseinsstroms, der die äußere durch die innere Zeit ersetzte. Die Automatisierung des einzelnen Wortes, Montagetechnik, Assoziatives und Spontanes zertrümmerten die Syntax.
(AG)
Diese Kunst des Schreibens zeigt sich bei Philipp:
Er experimentiert mit der Organisation des Textes, mit Fiktion und Wirklichkeit; Erfindung und Spiel liegen im Text für ihn eng beieinander. „Die Personen werden in vagen Umrissen skizziert, es handelt sich also dabei eher um das, was man die subjektiven Faktoren nennen darf, denn um feste Individualitäten mit gleich erkennbaren Zügen.“ [cccxlii] Philipp experimentiert mit der Bedeutung des Assoziativen und Spontanen ohne handwerkliche Selbstzucht.
S. 54f
Kaiser:
So hat man sich ein Gewitter über einem meiner Kronländer vorzustellen?
Stanislaus Baptist::
Über Austerlitz, wo kaiserliche Hoheit von Gottes Gnaden König von Böhmen sind.
Kaiser:
Was allseits bekannt ist.
Stanislaus Baptist:
Verzeihung, Majestät. Dort beliebte am 22. Juli dieses Jahres ein heftigs Gewitter niederzugehen. …
Obwohl er Freude an diesen Entwürfen hat, ist Philipp unsicher, ob sie ihm weiterhelfen.
Vielleicht sind es ja doch nur Spinnereien, die sich auf nichts gründen, eine Art von bizarrem Wassertreten, nicht gänzlich passiv, aber auch nicht sonderlich produktiv. Oder destruktiv.
In der Malerei erfolgte die Verdrängung der harmonisierten und idealisierten Darstellung des Menschen durch antibürgerliche Menschentypen: Im Naturalismus mit der Darstellung des industriellen Lebens und im Impressionismus mit der des exotischen, edlen Wilden ohne Bindung an sittliche Konventionen. Die Expressionisten räumten dem Gefühl durch die Farbe Priorität ein, die Kubisten zergliederten mit analytischer Absicht die Form in ihre geometrischen Bestandteile. Man stellte den Menschen nicht mehr in der Harmonie von Vernunft, sondern mit seinen Trieben jenseits von Gut und Böse in extremen Situationen dar, mit all seinen Leidenschaften - ganz und gar nicht das, was das Bürgertum ursprünglich für seine Kunstauffassung reklamierte.
Gegenstand und Bedeutung, wie sie im Bürgertum in engem Zusammenhang standen, wurden in der abstrakten Malerei entkoppelt, Kunst sollte keine Nachahmung der Natur sein, stattdessen machte man Gegenstände der Konsumwelt zu Kunstgegenständen.
Die Musik löste sich vom romantisch-sentimentalen Geist des Bürgertums, nicht Schönheit sondern die Form standen im Mittelpunkt, Kompositionen waren analytisch-kombinatorisch ohne symmetrisches Rhythmusempfinden.
In der Architektur gab es von nun an die Verbindung mit der Industrie und Technik, dem Schönheitsideal der Bürger setzte man die Funktion entgegen. Das bürgerliche Haus hatte mit seiner ästhetischen Form und Eleganz, der prunkhaften Einrichtung und den dekorativen Ornamenten der Repräsentation gedient und bürgerlichen Individualismus widergespiegelt. Dies musste dem Serienbau weichen, der die Funktion in den Mittelpunkt stellte - und damit war die Idee des Hauses als Träger und als Verankerung von Familientradition zerstört.
Die Soziologie als junge Wissenschaft verdrängte die Geschichtswissenschaft und leugnete mit ihrem Relativismus der Werte eine absolut gültige Moral und die Wahrheit als Reinform, soziale Interessen mit Machtansprüchen, Weltbilder und Werte als Ideologeme waren der Kern ihrer Untersuchungen.
Die bürgerliche Vernunftanthropologie mit einer festen Werteskala undideologisch-ethischer Orientierung musste einem Wertepluralismus Platz machen, statt der Kardinaltugenden des Bürgers waren von nun an Selbstverwirklichung, die Beschäftigung mit sich selbst und der Wunsch nach Selbstbestätigung und Anerkennung anzutreffen - ein massendemokratischer Individualismus.
(AG)
Philipps Hauptbeschäftigung ist es, sich sinnierend und fantasievoll mit sich, seiner Umgebung und seinen Träumen auseinanderzusetzen:
S. 50f
Den ganzen Vormittag bringt Philipp nichts zustande….
Nachmittags lungert er eine Weile mit einem belegtem Brot in der Diele herum. … Nicht, dass seine Moral sonderlich gut oder seine Lust sonderlich groß wäre. Er kommt über die erste Stufe nicht hinaus. Lange steht er am unteren Treppenabsatz und versucht, sich weniger miserabel zu fühlen.
Statt des humanistischen Bildungsideals mit seinem Allgemeinwissen, das im Zusammenhang mit der Vervollkommnung der Persönlichkeit stand, entwickelten sich technisch-naturwissenschaftliche Schul- und Studiengänge mit dem Schwerpunkt auf Spezialisierung - das Bürgertum beklagte all dies und kritisierte es vergebens als „Verflachung“ .
Die soziale Rolle der Familie erfuhr ebenfalls im Zuge der Atomisierung der Gesellschaft und der Individualisierung eine Abschwächung, denn eine fortschreitende Arbeitsteilung forderte Mobilität und ließ nur ein Minimum an menschlichen Bindungen bestehen. Der Status der Jugend dominierte den Vorteil von Erfahrung und Alter, Energie und schnelle Anpassungsfähigkeit im Arbeitsprozess wurden verlangt. Die allgemeinen Umgangsformen veränderten sich.
11.2 Das Bürgertum im Nationalsozialismus
Eine komplette Abkehr von den bürgerlichen Wertideen und der politischen Bürgerlichkeit erfolgte nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik. Die nationalsozialistische Herrschaft und die Verbrechen dieser Zeit waren Folge „der Zerstörung der Weimarer Republik und der sie tragenden bürgerlichen Wertideen“. [cccxliii] Der Erfolg der NSDAP, die sich als Protestpartei profilierte, hatte unterschiedliche Ursachen, u.a. war er die Folge einer Auflösung der bürgerlichen Parteien und der Rechtswendung der bürgerlichen Wähler. Diese hatten das aufgezwungene „System“ Weimar abgelehnt und sahen den Parteienstaat als Ursache für die Unregierbarkeit von Land und Kommunen und, ganz wichtig, für ihren eigenen drohenden sozialen Abstieg.
Weil alle sozialen Grundlagen von Bürgerlichkeit bzgl. deren Lebensform und Wertvorstellungen verschwanden, brachte man dem Nationalsozialismus weniger Vorbehalte entgegen.
Hitler verstärkte den Zerfall der Bürgerlichkeit durch die Zerstörung der Familie als Sozialisationsraum.
(AG)
Peter sucht eine Ersatz-Familie in den Jugendorganisationen der NSDAP.
Die NSDAP wurde für das Bürgertum attraktiv, denn sie stand für etwas, was für den Bürger von Bedeutung war: das Privateigentum.
Unternehmer, Ärzte oder sonstige Bildungs- und Wirtschaftsbürger fanden sich bereit zur Kooperation und Mitarbeit. [cccxliv] Ihnen kam Hitler mit der Schaffung des Berufsbeamtentums entgegen.Bürger versuchten nun, in diesem Bereich Einfluss zu gewinnen: Das Bildungsbürgertum erlebte in der nationalsozialistischen Zeit im öffentlichen Dienst und in den staatlichen Militär- und Zivilverwaltungen zahlreiche Chancen des Aufstiegs, der Arztstand genoss eine Aufwertung. Größere und kleinere Gewerbetreibende profitierten vom Konjunkturaufschwung, Unternehmer und Kaufleute von der „Arisierung“ jüdischer Firmen und Geschäfte - insofern war die Zeit der NS-Herrschaft für Wirtschafts- und Bildungsbürgertum eine Zeit der Prosperität.
(AG)
Richard Sterk ist das Beispiel eines Bürgers, der zwar offen Vorbehalte gegenüber der NSDAP zeigt, aber nicht den Bruch mit dem Regime um jeden Preis herausfordert, er bleibt vorsichtig und damit unbehelligt.
S. 26
Richard musste nie für die Jahre vor 1945 Rechenschaft ablegen, als es um seine Karriere ging.
Die Idee des Kollektivs bzw. einer Volksgemeinschaft löste als neue Orientierung die Idee der bürgerlichen Freiheit ab. Der totalitäre Nationalsozialismus sah das Volk nicht als eine Summe der Individuen sondern als Volksgemeinschaft, dies war aber für den Bürger, der sich als Teil eines Ganzen sah, durchaus akzeptabel und attraktiv. Befehl und Gehorsam statt des rationalen Arguments und das Führerprinzip, das keine Bindung an ein Gesetz vorsah, ließen bürgerlichen Individualismus und das, was die bürgerliche Bewegung im 19. Jahrhundert errungen hatte, zur Makulatur werden. [cccxlv] In den Städten herrschte das „Führerprinzip“: Parteigänger der Nationalsozialisten wurden 1933 von Gauleitern als neue Bürgermeister eingesetzt, und während die ehrenamtlichen Gemeinderäte beratende Funktion hatten, besaß der Bürgermeister die alleinige Verantwortung. Die Zahl der Studierenden sank durch den Ausschluss der Juden und die Reduzierung des Frauenanteils.
Von den Idealen der „Bürgerliche Gesellschaft“ blieb nichts, die liberalen Freiheitsrechte wurden verraten und die demokratischen Gleichheitsrechte durch Parteiloyalität ersetzt. Und damit war der bürgerliche Gesellschaftsentwurf einer von den Bürgern selbst verwalteten Stadt verschwunden.
Eine kritische Abneigung gegenüber der NSDAP war aber lediglich bei den Bildungsbürgern der älteren Generation vorhanden, die akademische Jugend hatte die bürgerliche „Normalität“ und Solidität bereits nicht mehr erfahren.[cccxlvi]. Im Gegenteil, eine antibürgerliche Jugendbewegung äußerte Kritik am Bürgertum, ähnlich der NSDAP: Der Bürger galt ihnen als dekadenter, nur an das eigene Wohl denkende Moralist mit antiquierten Umgangsformen, sie kritisierte das Standesdenken und den Materialismus und begeisterten sich stattdessen für das Einfache und Gesunde, für die Natur.
11.3 Das Bürgertum nach 1945 in Westdeutschland und in Österreich
Nach der NS-Zeit und der Vertreibung und Ermordung jüdischer Bürger/innen war dem Bürgertum mit der Vernichtung ihrer Kultur die Seele genommen, eine bürgerliche Lebensführung war mangels materieller Basis zunächst niemandem möglich. [cccxlvii] Eine „Entbürgerlichung“ vollzog sich insbesondere bei den Wirtschafts- und Bildungsbürgern und bei mittelständischen Existenzen, die als Flüchtlinge in den Westen flohen. Sie hatten ihren Besitz in der Heimat zurücklassen müssen und trotz Lastenausgleich fristeten sie nun ein wenig bürgerliches Leben. Erst in den 50er Jahren konnten sie durch die gute konjunkturelle Lage wieder in einem bürgerlichen Beruf Fuß fassen.
Es existierte zwar nach 1945 und existiert bis heute k e i n e erkennbare Sozialformation Bürgertum mehr, das eine gesellschaftliche und politische Führungsrolle übernehmen will, jedoch waren bürgerliche Kräfte bereits nach 1945 bestrebt, die politische Neuordnung als Restituierung der eigenen Stellung im Bildungswesen, im ökonomischen Bereich und auf dem Gebiet des Beamtenrechts zu übernehmen. [cccxlviii] Sie propagierten das Leitbild politischer Bürgerlichkeit und passten es der neuen Zeit an: Das politische Engagement im demokratisch-parlamentarischen Rechtsstaat wurde die Norm. „…das zeitgemäß revidierte Projekt der ‚Bürgerlichen Gesellschaft‘ [übte], ohne dass immer explizit von ihm die Rede war, ebenfalls eine neue Attraktionskraft aus.“ [cccxlix]
Zur Erinnerung: Die Utopie der „Bürgerlichen Gesellschaft“, im späten 18. Jahrhundert entworfen, sollte eine Vereinigung von Individuen sein, die sich durch Besitz und Bildung auszeichneten, politisch und wirtschaftlich handlungsfähig und von staatlichen Übergriffen befreit waren und sich für das Gemeinwohl einsetzten. Ein Rechtsstaat hatte die Bürger zu schützen und die Menschenrechte zu garantieren.
Das obere Wirtschaftsbürgertum konsolidierte sich nach 1945 und schon bald tauchten auch bildungsbürgerliche Formationen auf, die sich berufsbezogen formierten und ihre Interessen vertraten. Sie etablieren sich im marktwirtschaftlich-kapitalistischen System mit seinen sozialpartnerschaftlichen Strukturen; anders als in der DDR, wo Bürgern der Weg zur Universität versperrt wurde und die Entnazifizierung den Verwaltungs- und Justizapparat gründlich säuberte.
11.3.1 Restauration in den 50er Jahren
In der Zeit des Wirtschaftswunders und der konsumorientierten Wohlstandsgesellschaft fand in den 50er Jahren eine Ausbreitung einer habituellen Bürgerlichkeit statt, verbunden mit dem Wunsch, endlich Normalität nach der Zeit der NS-Kriegsverbrechen zu erleben: Der Einzelne zeigte zupackende Tüchtigkeit, das Wirtschaftswunder und Erfolg verdrängten die Erinnerung.
Damalige positive Wertungen sahen den Bürger als einen „anständigen Menschen, der sein Auskommen hat, sparsam und solide lebt“. [cccl]
Traditionelle Normen und Praktiken, Leitbilder bürgerlicher Lebensführung erlebten in den 50er Jahren in Westdeutschland und in Österreich eine Renaissance, bürgerliche Normalität und traditionelle bürgerliche Wertevermittlung fanden ihre Verbreitung.
Typisch dafür war die Rückbesinnung auf die Bedeutung der Familie mit der bürgerliche Vorstellung. Für sie war die Tradierung der familientragenden Frauenrolle essentiell.
In einer Radiosendung „Das Diakonische Jahr“ im Bayerischen Rundfunk hieß es 1954: „Haben unsere jungen Frauen die rechten Berufe, also solche, die es ihnen ermöglichen, die von Gott in sie gelegten mütterlichen reichen Gaben zu entfalten? Der Ehemann braucht […] mehr als nur eine ausgezeichnete Sekretärin oder eine perfekte Köchin, auch mehr als eine weltgewandte Akademikerin. Er verlangt nach einem mütterlichen Menschen, der auch dann nicht verzagt, wenn Leid, Krankheit und Siechtum ins Haus kommen.“ [cccli] Die Aufgaben als Mutter und Hausfrau waren die vorrangigen Aufgaben einer Frau, diese Vorstellungen wurden vom Staat geteilt. Berufsfrauen galten dagegen als familienentfemdet, wurden verantwortlich gemacht für den Verlust der Beziehungen innerhalb der Familie.
Mütter wollten und sollten sich um ihr Kind kümmern und es nicht in fremde Hände geben.
Zur gleichen Zeit vermittelte die Kirche die ihr eigene strenge Sexualmoral. [ccclii]
Eine Veränderung des Denkens begann in den späten 50er Jahren, als bürgerliche Liberalität statt Konservativismus und Autorität nach Meinung einer neuen Generation aus dem akademisch gebildetem Bürgertum die Gesellschaft prägen sollten.
11.3.2 Das Bürgertum in den 60er und 70er Jahren - Kritik und Protest
Mit dem Wirtschaftswachstum entwickelte sich eine Wohlstandsgesellschaft bzw. Mittelstandsgesellschaft, in der die Klassenunterschiede gedämpft und Trennlinien, die einst das Bürgertum von unten abschirmten, durchlässiger wurden.
Die Studentenbewegung verstand sich als antibürgerliche Protestbewegung und bekämpfte das Bürgerliche in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft. Habermas, ein philosophischer Vordenker der damaligen Bewegung, kritisierte die bürgerliche Ideologie wegen ihres Rückzugs ins Private und der fehlenden Möglichkeit, Solidarität zwischen Gruppen oder Individuen zu schaffen. [cccliii]
Diese Aufbruch- und Protestbewegung in den 60er Jahren gilt als „antibürgerliche“ Revolte: Studenten und Gymnasiasten provozierten durch Missachtung bürgerlicher Kleiderstandards und Benimmregeln, durch freie Sexualität und eine Ablehnung der tradierten Geschlechterordnung. Statt Erfolg und Leistung propagierte sie Selbstverwirklichung und antiautoritäre Erziehung. Ingrids Äußerungen im Gespräch mit ihrem Vater spiegeln dies wider:
S. 210
- Alt und gediegen: Für mich sind das Werte, sagte er.
Und Ingrid lapidar:
- Für mich nicht.
Er sieht das Etikett, das er gerade verpasst bekommen hat, als wäre es ihm mit Spucke auf die Stirn geklebt: Spießig - unflexibel - gestrig. Nicht alt, sondern veraltet. … Denn dass ihr sein Leben insgesamt gegen den Strich geht, hat sie ihm oft genug spüren lassen.
Es fand ein Wertewandel statt: die charakteristischen bürgerlichen Pflicht-Werte wurden abgelöst von den Erlebniswerten. Eine neue Generation von akademisch gebildeten Bürgern propagierte bürgerliche Liberalität statt Konservativismus, und eine neue Frauenbewegung seit Ende der 60er Jahre formulierte deutlich das Recht auf mütterliche Erwerbstätigkeit. In den 70er Jahren erhielten Frauen die rechtliche, ökonomische und soziale Gleichstellung. Für sie entschied von nun an die individuelle Leistung und ihr eigener berufliche Erfolg, welchen bürgerlichen Status sie einnahmen.
Heirat und Mutterschaft waren kein Grund zur Berufsaufgabe mehr, sondern sollten mit Berufstätigkeit vereinbart werden, z.B. bei Ingrid 1970.
(AG):
S. 237ff
Sie putzt gerade die Zähne, als das Telefon sein Klingeln gegen die Metallspinde wirft. Es ist Schwester Bärbel, die wissen will, ob es Ingrid gutgeht. Ingrid rennt rüber und hilft Blut abnehmen.
… die momentane Mann-Kinder-Berufstätigkeit ..
Also weiter zum Konsum, einkaufen, sehr kursorisch, Hauptsache viel …Dann die nächst eilige Angelegenheit: Die Weihnachtsfilme zum Entwickeln bringen …
Ingrid legt sich auf die Couch …
Mit einer Zigarette zwischen den Lippen wäscht Ingrid einen Teil des Geschirrs ab. …
Ingrid stürzt sich ins Kochen …
Durch die soziale Öffnung in der höheren Bildung kam es zu einer „verbürgerlichten“ Aufstiegsgesellschaft. Der materielle Lebensstandard und der damit einhergehende Wohlstand führte zu einer Verbürgerlichung der Arbeiter und einfachen Angestellten, die nun ihrerseits das Leistungsdenken und die Lebensformen, Verhaltensweisen, Eigentumsorientierung und ein bürgerliches Familienbild mit dem allein verdienenden Ehemann übernahmen. [cccliv] Wohlhabende bürgerliche Studenten sahen als geistige Vorreiter die Gründung einer Familie nicht mehr länger als unhinterfragtes Lebensziel bürgerlicher Existenz. [ccclv] Kinder- und Ehelosigkeit wurden zu einer Option der Lebensgestaltung, wie das Beispiel von Philipp zeigt:
S. 14
…(sie hält ihn für nett, aber harmlos und hat sich deswegen schon einmal für einen anderen entschieden).
S. 94
Bei der Gelegenheit fällt ihm auch wieder ein, dass er sich schon seit längerem wundert, wie selbstverständlich er sich vor einigen Jahren damit abgefunden hat, Nummer zwei zu sein, wie anstandslos er sich seit Johannas Heirat mit der stundenweisen Liebe begnügt und wie restlos er es für erwiesen hält, dass Johanna ihn mehr liebt als Franz …
S. 390
Er wird … über die Liebe nachdenken.
11.3.3 Bürgerliches Selbstverständnis seit den 80er Jahren und bürgerliche
Traditionen heute
Wie steht es mit der Existenz des Bürgertums Ende des 20. Jahrhunderts und Anfang des 21. Jahrhunderts?
Der Begriff „Bürger“ ist heute wieder, anders als in den Jahren der Weimarer Republik und in den 70er Jahren, populär und bindet bestimmte politische Erwartungen an sich. [ccclvi] Waren die Begriffe „bürgerlich“, „bürgerliche Gesellschaft“, „Bürgerlichkeit“ im 18. Jahrhundert Gegenentwürfe zum absolutistischen Staat und zum damaligen Status quo, gekoppelt an die Ideen der Fortschrittlichkeit und Vernunft, greift der heutige Staatsbürger auf den Begriff ‚Bürger‘ zurück, um die Zugehörigkeit zu einem Staatswesen deutlich zu machen.
Antibürgerlichkeit ist selten zu finden, der Begriff „Bürger“ ist heute politisch-ideologisch konnotiert und findet positive Verwendung: Sei es, wenn es um „Bürgerinitiativen“ geht, in denen mündige Bürger ihre freie Meinung äußern und sich politisch einsetzen, oder wenn die „bürgerliche Kultur“ von kritischen Intellektuellen z.B. in der Wohnkultur wieder entdeckt und gelebt wird.
Die heutige „Zivilgesellschaft“ beinhaltet ein aktives politisches Engagement der Bürger, Bürgerinitiativen und Vereine werden zu Orten der demokratischen Meinungs- und Willensbildung, damit verbunden sind von Bürgern frei getragene sozialkaritative und kulturelle Einrichtungen und Stiftungen.
Auch der Begriff „Bürgertum“ existiert noch, er ist ein Sammelbegriff für bestimmte Erwerbsklassen. Mit der Universalisierung des Bürgerbegriffs im Begriff des „Staatsbürgers“ ging das Bürgertum in die „Arbeitnehmergesellschaft“ ein. [ccclvii]
Die Auffassung, ob ein Bürgertum denn heute noch existiert, ist geteilt:
Die einen sprechen zwar vom Untergang des Bürgertums in der Entfaltung der industriellen Gesellschaft, dem damit einhergehenden Frauenwahlrecht und einer parlamentarischen Regierungsweise - gleichzeitig kann aber auch von einer bürgerlichen Gesellschaft oder Zivilgesellschaft gesprochen werden, „deren weibliche wie männliche Mitglieder unter einer bestimmten Verfassung leben, die die wirtschaftliche und politische Grundordnung regelt und einen kulturellen Standard definiert…“ [ccclviii] Eine Diffusion des Bürgerlichen ist im Zusammenhang zu sehen mit der zunehmenden Rolle der „Massen“ als Konsumenten. Der Konsumbürger als der neue Typus der modernen westlichen Gesellschaft unterscheidet sich vom Bildungs- und Wirtschaftsbürger, denn er stellt den Verbrauch und den Verzehr in den Mittelpunkt . [ccclix] Der Markt verheißt ihm Gleichheit und Freiheit, und ist es nicht die neue Einkaufsform mit der Freiheit der Wahl und dem Treffen der eigenständigen Entscheidung in der Fülle der Waren, die hier dem Selbstbild des mündigen Bürgers entspricht? Wer Geld besitzt, hat die freie Entscheidung es auszugeben. Durch diese Orientierung auf die individuelle Bereicherung veränderten sich Beziehungen zwischen Kindern und Eltern, Jungen und Alten, traditionelle Werte werden durch ökonomische Werte ersetzt und anders als der Bürger des 19. Jh. lässt der Konsumbürger oftmals gesellschaftliches Engagement und soziale Verantwortung vermissen .
Die Massenkultur mit ihrer Konsumorientierung, entstanden in der Zeit der Weimarer Republik, ist das neue gesellschaftliche Ideal und orientiert sich an der „Leistung des Einzelnen, am privaten Erfolgsstreben und an der Teilhabe am Massenkonsum.“ [ccclx]
Andererseits beobachtet man eine Expansion bürgerlicher Positionen: „.. von einer Abschwächung des bürgerlichen Selbstverständnisses hinsichtlich Leistung und Arbeitsethos [kann] in der Wirtschaftselite keine Rede sein.“ [ccclxi] „Bürgerlichkeit“ meint dabei Kulturpraktiken, Werthaltungen und Prinzipien, die aus dem Bürgertum des 19. Jahrhunderts stammen und die Zeit bis heute überdauert haben.
Auch wenn sich der deutsche „Bürger“ des 20. Jahrhunderts in seinem Lebensgefühl von seinen Vorfahren im 19. Jahrhundert unterscheidet - ein Fortbestehen von Einzelelementen derBürgerlichkeit ist seit 1945 zu verzeichnen - doch kann man nicht von einer bürgerlichen Gesellschaft im Sinne des 19. Jahrhunderts sprechen. [ccclxii]
Das politische Verständnis des Begriffs „Bürgerlichkeit“ umfasst als zentralen Wert zunächst das liberale Moment, d.h. die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen und dessen Individualität. Hinzu kommt das Moment der Bereitschaft, sich als Bürger aktiv zu betätigen und die soziale Komponente, eine höhere und kulturelle Lebensqualität als andere Bevölkerungsteile zu haben und sich als Bürger in Relation zu anderen zu erfahren. [ccclxiii] So zeigte sich Bürgerlichkeit in den 80er Jahren (Bürgerinitiativen/Friedensbewegung) als ein Protest sich verantwortlich fühlender Bürger in Protestbewegungen und gemeinsamen Aktionen. Sie beriefen sich auf das Element der politischen Partizipation und Mitverantwortung, indem sie an Menschlichkeit und die Verantwortung der Politiker für das Überleben der Menschheit appellierten. [ccclxiv]
„Das Bürgertum, durch Bildung geprägt, ist als Klasse untergegangen, ja als Lebensform aber in dem […] Leben mit der Kunst, haben wir seinen Lebensentwurf übernommen und verallgemeinert. Der moderne Umgang mit Kunst als Teil der Lebenserfüllung ist Erbe des Bürgertums, wir sind seine Erben.“ [ccclxv] Bürgerliche Kultur scheint heute weiterhin wirkungsmächtig und attraktiv und gibt Männern und Frauen Orientierung in den vielen existierenden Lebensstilen, für die Ausbildung individueller Anlagen und bei der Lösung von Sinnfragen. [ccclxvi]
Der genaue Blick auf die Familienromane wird zeigen, inwiefern Bürgerlichkeit heute in den Familien noch anzutreffen ist und ob man von einer partiellen Wiederbelebung bürgerlicher Traditionen sprechen kann.
12. Bürgertum in der DDR
Gab es die o.g. Arten des Bürgertums auch in der DDR? Die DDR definierte sich als ein Arbeiter- und Bauernstaat und damit als anti-bürgerlich und wollte wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Kreisen keinen Raum mehr gegeben. Durch die Enteignung von Konzernen und Junkern sollte, so war das Ziel, ein Friedensstaat entstehen und die Ursache für Kriege und Expansion beseitigt werden. [ccclxvii]
„Bürgerlich“ meinte im Sozialismus keine soziale Zugehörigkeit sondern eine politische Gesinnung, die sich gegen den sozialistischen Staat richtete; ‚bürgerlich‘ zu sein, hieß, eine individualistische, subjektzentrierte und fortschrittsfeindliche Einstellung zu haben. Das war nicht im Sinne des Sozialismus. Bürgerliche Verhaltensweisen galten als kritische/systemkritische Äußerungen und Verhaltensformen. Bürgerliche Symbolik im Äußeren hieß Andersartigkeit in der Kleidung und im Habitus und zeigte darin bereits ein Aufbegehren gegenüber dem Staatswesen der DDR.
(ER)
Sascha ist ein Beispiel hierfür:
S. 172f
Als er das Haus betrat, drang aus Saschas Zimmer laute Musik: Beatmusik, die er neuerdings hörte….
- Ist bloß Bio, teilte Sascha mit, währender mit einem kleinen silbernen Kreuz spielte, das er an einem Kettchen um den Hals trug.
- Nanu, sagte Kurt, bist du jetzt christlich?
- Nee, belehrte ihn Sascha. Ist ein Gammlerkreuz. Das Wort kannte Kurt aus dem Fernsehen - aus dem Westfernsehen. Dort war neuerdings öfter von Gammlern die Rede: langhaarige Gestalten, die Kurt irgendwie mit dieser neuen Musik in Verbindung brachte und die, so viel war klar, Arbeit grundsätzlich ablehnten.
Als Gegenentwurf dazu galt die sozialistische Persönlichkeit: Der pflichtbewusste und disziplinierte Werktätige, der Einsatz und Loyalität dem Staat gegenüber zeigt und durch Leistung und politisches Engagement aufsteigt.[ccclxviii]
Im Zuge der Konstituierung des Arbeiter- und Bauernstaates schaltete die SED die bürgerlichen Eliten aus und ersetzte sie durch neue. „Eine gewisse Elitenkontinuität hat es offenkundig nur anfangs gegeben, und einen adäquaten Ersatz für die alte bürgerliche Funktions- und Wertelite zu schaffen, ist der SED später nur partiell gelungen.“ [ccclxix]
12.1 Wirtschaftsbürgertum in der DDR
Innerhalb der DDR gab es einen synonymen Gebrauch der Begriffe Bürgertum/Bourgeoisie bzw. Bürger/Kapitalist/Imperialist. [ccclxx] Begründet liegt dies im Marxismus, der das Bürgertum in Abgrenzung zur Arbeiterklasse definiert: Der Besitz an Produktionsmitteln als Kriterium der Klasse des Wirtschafts- und Finanzbürgertums machte sie zur ausbeutenden „Bourgeoisie“, der herrschenden Klasse in der kapitalistischen Gesellschaft. [ccclxxi] Anders als das Bildungsbürgertum, das „weitestgehend aus dem Blick [geriet], da die marxistische Klassentheorie hierfür keine nähere Bestimmung vorsah.“ [ccclxxii]
Weitgehend positiv bewertete man in der DDR dagegen das Bürgertum des 18. Jahrhunderts, das sich vom Adel emanzipierte, innovativ wirkte und gesellschaftstreibend eine neue bürgerliche Gesellschaft zu etablieren gesucht hatte. Im Laufe der Geschichte verlor es jedoch seinen progressiven Charakter und seine humanistischen Ideale und wurde zur herrschenden Ausbeuterklasse und war damit, so glaubte man in der DDR, verantwortlich für das Heraufkommen des Dritten Reichs. [ccclxxiii]
Da auch das Besitzbürgertum, bestehend aus Handwerkern, Selbständigen und Kleinhändlern, in den Augen der DDR eine Stütze Hitlers war, veränderte man die Eigentumsordnung rigoros: Man zerstörte die Privatwirtschaft und baute mit Enteignungsaktionen ab 1946 den volkseigenen Sektor aus (VEB-Volkseigene Betriebe), verstaatlichte Betriebe und band diese mit Halb- bis Zweijahresplänen in die zentrale Planwirtschaft ein. „Auf diese Weise wurde auf lange Sicht der Traditionsstrang wirtschaftsbürgerlicher und selbständiger wirtschaftlicher Existenz abgeschnitten. [ccclxxiv]
Indem man die Landwirtschaft kollektivierte und das Bankwesen und größeren Privatbesitzes abschaffte, ließ man alte Hierarchien, ererbtes Prestige und privilegierte Klassen verschwinden und verwandelte das Besitz- und Bildungsbürgertum in die sog .„sozialistische Intelligenz“ um, die nun vom Staat abhängig war.
Ohne Mithilfe der alten Fachkräfte jedoch, meist bürgerlicher Herkunft, war der Staat aber nicht aufzubauen und die „Intelligenzpolitik“ zeigt, wie dieser ideologische Klassenfeind gleichzeitig ein notwendiger Bündnispartner für die SED wurde.
Doch es gab durchaus Gruppen in der DDR, die die Traditionen des Bürgertums fortsetzten und Äquivalente zum Bürgertum darstellten, wenn auch von einem Weiterbestehen wirtschaftsbürgerlicher Gruppen im rudimentär fortlebenden selbständigen Kleinbürgertum nicht die Rede sein kann. Handwerker und kleine Unternehmer, die begehrte Mangelwaren produzierten, entwickelten im Laufe der Jahre eine Art Mittelstand, der zwar steuerlich durch die SED hoch veranlagt wurde, aber trotzdem ein weitaus höheres Einkommen hatte als Arbeiter und Angestellte. Die Erzeugnisse dieser Betriebe fanden guten Absatz und warfen Gewinne ab, doch schon bald galten auch diese „Unternehmer“ als Kapitalisten, deren Lebensstil nicht zur sozialistischen Gesellschaft passte und die sich am wirtschaftlichen Aufschwung bereicherten. So beschloss man 1972 deren Verstaatlichung [ccclxxv] und ein weiterer florierender Sektor, der gut funktionierte, wurde vernichtet. [ccclxxvi]
Die ehemaligen Besitzer machte man als wirtschaftliche Führungsschicht zu Leitern der Kombinate und zum Teil einer herrschenden Elite, die mit Funktionären der FDGB und Vertretern des Staats zusammenarbeitete.
Diese Art der Politik lehnten Menschen aus der Oberschicht oder dem Bürgertum, aus freien Berufen und Christen moralisch und politisch ab, wohingegen Menschen aus dem Arbeiter- und Bauernmilieu Chancen für sich entdeckten und mit dem sozialistischen Staat sympathisierten. Das erstaunt nicht weiter: Körperliche Arbeit mit „Lohn“ wurde gegenüber geistiger und leitender Arbeit mit „Gehalt“ um einiges besser bezahlt, eine Reinigungskraft im Schichtdienst verdiente mehr als ein Abteilungsleiter mit Hochschulabschluss, ein Kellner mit seinem Trinkgeld mehr als das Doppelte des Direktors. [ccclxxvii]
Was folgte war die Diskriminierung der ideologischen und gesellschaftlichen „Klassenfeinde“, d.h. der Christen, der politischen Gegner und eben der Angehörigen der „Bourgeoisie“:.Man verdrängte Menschen aus dem großbürgerlichen Milieu aus ihren Berufspositionen, diskriminierte sie in der Schule, verwehrte ihnen eine höhere Schulausbildung und ein Studium, so dass wohlhabende akademische Eltern sich für die Flucht in den Westen entschieden, insgesamt 3 Mio. Ostdeutsche.
Durch all diese politischen Maßnahmen und den Exodus des Mittelstandes und der Oberschicht vollzog sich eine „Entbürgerlichung“ und eine Homogenisierung der Bevölkerung [ccclxxviii] Das Lebensgefühl der bürgerlichen Gesellschaft, das sich durch Maßstäbe wie Erfolg, gute Wohnadresse und Reichtum auszeichnete, gab es in der DDR nicht mehr. Ökonomische Selbständigkeit, Unternehmergeist und kommunale Selbstverwaltung waren nicht mehr präsent, ebenso wenig die bürgerlichen Strukturprinzipien wie der Markt, privates Eigentum und Individualrechte. Aufsteiger wurden belächelt und es hielt sich niemand für gescheitert, wenn er weder Wohlstand noch Exklusivität vorweisen konnte. Es gab keine Konkurrenz und keinen Kampf um Jobs und Stipendien.
In der DDR hatte, anders als in den westlichen Industriestaaten, die arbeitende Klasse ein höheres Ansehen als Akademiker. Personen aus der Arbeiterklasse besaßen große Berufschancen, auch ohne Bildungsqualifikationen und besonderem Fachwissen, und bis in die 80er Jahren waren Funktionärs- und Managerposten in einer großen Zahl von Personen aus dem Arbeitermilieu besetzt.
(ER)
Bei der (Vor)kriegs-Generation war ein besonders großes Identitätsgefühl der Arbeiter vorhanden, nicht selten kam es zwischen dem gebildeten Mittelstand und den weniger talentierten und weniger eloquenten Funktionären und den Massenorganisationen zu Spannungen.
Der Roman zeigt uns die Abneigung und die Vorbehalte der Arbeiter- und Bauernschicht Gebildeten gegenüber im Verhältnis von Wilhelm und Kurt:
S. 196
Natürlich konnte er den Ausziehtisch ausziehen. Schließlich hatte er Metallarbeiter gelernt. Was hatte Alexander gelernt? Was war der eigentlich? Nichts. Jedenfalls fiel Wilhelm nichts ein, was Alexander sein könnte. Außer unzuverlässig und arrogant. Noch nicht einmal in der Partei war der Kerl.
S. 204
Er ließ das Glas öffnen (von Mählich - Kurt kriegte es sowieso nicht auf mit seinen Intellektuellenfingern)…
Wilhelm als Arbeiter besitzt ein grenzenloses Selbstbewusstsein und stellt den Wert der geistigen Tätigkeit in Frage. Die führende Rolle der ökonomisch abgesicherten Arbeiter, die die SED ihm zubilligte, gibt ihm soziale Anerkennung
(ER)
S. 196
Natürlich konnte er den Ausziehtisch ausziehen. Schließlich hatte er Metallarbeiter gelernt. Was hatte Alexander gelernt? Was war der eigentlich? Nichts. Jedenfalls fiel Wilhelm nichts ein, was Alexander sein könnte. Außer unzuverlässig und arrogant. Noch nicht einmal in der Partei war der Kerl.
S. 204
Er ließ das Glas öffnen (von Mählich - Kurt kriegte es sowieso nicht auf mit seinen Intellektuellenfingern)…
Wilhelm gibt das Bild des selbstgerechten Funktionärs ab.
S. 202
Westemigrant! bis heute kränkte es ihn. Auch er wäre lieber in Moskau geblieben. Aber die Partei hatte ihn nach Deutschland geschickt und er hatte getan, was die Partei von ihm verlangte. Sein Leben lang hatte er getan, was die Partei von ihm verlangte, und dann: Westemigrant!
S. 203
Die Sondermanns. Deren Sohn im Gefängnis saß: wegen versuchter Republikflucht.
- Euch kenn ich nicht, sagte Wilhelm.
S. 207
Wilhelm öffnete kurz die Augen: Kurt, wer sonst! Du bist selbst so ein Tschow, dachte Wilhelm. Defätist. die ganze Familie! Irina mal ausgenommen, die war ja wenigstens im Krieg gewesen. Aber Kurt? Kurt hatte währenddessen im Lager gesessen.
12.2 Bildungsbürgertum in der DDR
Bereits nach dem Krieg im Jahre 1945 wurde der sog. „Kulturbund“ in Berlin gegründet, dessen Mitglied Johannes R. Becher ihn zu einem Forum der Emigranten und der Daheimgebliebenen machte. In ihm sollte die Intelligenz, die zumeist eine geistige Bindung zur bürgerlichen Welt hatte, für die kulturelle Erneuerung Deutschlands gewonnen werden.
Schon bald machten sich in ihm während des beginnenden Kalten Krieges politische Gegensätze bemerkbar. Die Stadt Berlin fiel auseinander und es kam 1947 zur Gründung der „Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion“. Sie ersetzte das Zusammenfinden der Deutschen, das der deutschbetonte Kulturbund noch angestrebt hatte, durch das Gebot der deutsch-sowjetischen Freundschaft. Der deutsche Intellektuelle musste sich nun entweder für die östliche oder für die westliche Seite entscheiden. [ccclxxix]
Als deutlich wurde, dass im Bereich der sowjetischen Besatzungszone eine sozialistische Wirtschaftsweise angestrebt wurde, mit einer Enteignung der Banken, Fabriken und Ländereien, setzte eine Wanderbewegung der Intelligenz Richtung Westen ein. In weit geringerem Maße kamen Intellektuelle aus der Bundesrepublik und dem Ausland in die neu entstehende DDR; diejenigen, die kamen, sympathisierten mit einer sozialistischen Gesellschaft und verbanden Hoffnungen mit dem sozialistischen System, manche sahen sich ihr gegenüber auch politisch verpflichtet.
Das Bildungsbürgertum mit seinem technischem Sachverstand war für das erfolgreiche Funktionieren der DDR als moderner Industriestaat sehr wichtig, und um diese „sozialistische Intelligenz“ für sich zu gewinnen, kam es 1949 zu einer Verordnung, die für sie Bevorzugung und Privilegien bereit hielt: Professoren, Ingenieure, Schriftsteller und Wissenschaftler sollten Sonderzuwendungen bekommen. Ihnen wurde Baumaterial bereitgestellt für die Instandsetzung ihrer zerstörten Wohnungen. Man unterstützte sie beim Bau von Eigenheimen, gewährte ihnen hohe Pensionen und eine niedrigere Einkommenssteuer. Damit eine Intelligenzfeindlichkeit der Arbeiterschaft gar nicht erst aufkam, begründete man diese Verordnungen ideologisch. [ccclxxx]
(ER)
Im Roman findet sich das bildungsbürgerliche Milieu in der sozialistischen Intelligenz der Familie Umnitzer wieder: Kurt ist ein Teil der Intelligenz, Wissenschaftler und Literat.
S. 177
Was für Kurt zählte, waren geschriebene Seiten, und in dieser Hinsicht - was die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen betraf - hielt er den unangefochtenen Rekord.
Für die Wirtschaft war ein Bildungsbürgertum, das über unternehmerischen und wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Sachverstand verfügte, unverzichtbar: Lehrer, Ärzte, Naturwissenschaftler und Ingenieure waren ebenso wie qualifizierte Arbeiter von Bedeutung, auch wenn sie sich in ihrem Ansehen, Lebensstil und ihrem Verhältnis zum Staat von dem der Arbeiterklasse unterschieden. Im Bildungsbürgertum konnte sich eine bürgerliche Lebenswelt durch pragmatische Zugeständnisse erhalten. [ccclxxxi] Günter Wirth schildert, wie sich in Potsdam das Bildungsbürgertums seine Kontinuitäten bewahrte und sich Formen einer Gegenöffentlichkeit innerhalb der DDR-Gesellschaft in Form von Debattierclubs und literarischen Salons in bürgerlichen Privathaushalten herausbildeten.
Schauen wir uns die Berufsgruppen des Bildungsbürgertums und in der DDR genauer an:
Für die Veränderung der Ideologie von einer bürgerlichen zur kommunistischen waren zunächst Lehrer und Juristen von besonders großer Bedeutung. Da viele Lehrer Mitglied in der NSDAP gewesen waren, folgte eine rasche Ausbildung junger Männer zur Entwicklung einer neuen politisch unbelasteten Lehrerschaft mit einem veränderten jungen Altersprofil. Sie beeinflussten in den folgenden Jahrzehnten die Schülergenerationen in deren Einstellungen und Überzeugungen .
Bei Richtern und Juristen, die vom NS-Regime indoktriniert worden waren, gab es keinerlei Kontinuität wie in der Bundesrepublik, sondern einen drastischen Personalwechsel. Das Rechtssystem erlebt einen politischen Missbrauch, die Juristen der DDR wurden zu loyalen Dienern ihres Staates.
Bildungsbürgerliche Traditionsmilieus waren auch bei Medizinern und Theologen anzutreffen undhielten sich hartnäckig. Dort war der Anteil ehemaliger Nationalsozialisten zwar hoch, aber da man auf das medizinische Wissen in der DDR angewiesen war, gestaltete man ihre Arbeitsbedingungen und ihr Gehalt großzügig. Ihre Kinder jedoch setzte man Diskrimierungen aus und hielt sie von der Universität fern. Aus diesem Grund siedelten viele Ärzte mit ihren Familien in den Westen über, wo die Arbeitsbedingungen besser waren, ihre Kinder keine Benachteiligung erfuhren und höhere Bildungschancen hatten. [ccclxxxii]
Studenten hatten in den 50er Jahren noch traditionell eine konservativ-bürgerliche Subkultur und die, die nun aus dem Arbeiter- und Bauernmilieu in diese peer-groups kamen, ließen sich leicht von den bürgerlichen Umgangsformen und Normen beeinflussen, so dass manches an bürgerlichen Distinktionen aufrecht erhalten blieb. Die Hochschullehrerschaft war erst Ende der 60er Jahre so weit verändert, dass es in diesem Bereich keine belastete politische Vergangenheit mehr gab.
Die DDR verfügte bis zu ihrem Ende ebenso wie die Bundesrepublik über unterschiedliche Sozialmilieus. Diese zeigten sich im kulturellen Lebensstil und der elterlichen Beeinflussung bzgl.der schulischen Laufbahn[ccclxxxiii], und damit gab es weiterhin ein Bildungsprivileg des Bürgertums. Obwohl die kapitalistische „Bourgeoisie“ verschwand und man eine Nivellierung der sozialen Unterschiede erreichte, [ccclxxxiv] blieb unter der sozialistischen Intelligenz, die als „soziale Schicht der berufsmäßig Geistesschaffenden“ definiert wurde[ccclxxxv], der Rest einer bürgerlichen Variante und eines bürgerlichen Milieus bestehen.
In der akademischen Elite der DDR waren Milieu und Lebensstil traditionell bürgerlich, ebenfalls bei politisch engagierten Mitgliedern. [ccclxxxvi] Die Staatsführung selbst rezeptierte bürgerliche Anstandsregeln und orientierte sich bei der Konzeption der sozialistischen Leitbilder an bürgerlichen Werten und Verhaltensnormen. [ccclxxxvii] Man wertete bürgerliche Normen und Praktiken positiv, im Sinne als einen Dienst für die Gesellschaft, und auch die protestantische Leistungs- und Arbeitsethik war weiterhin in der DDR vertreten.
(ER)
Als Sascha in einem verfallenen Abrissviertel wohnt und ein freibestimmtes Leben führen möchte, wünscht sich sein Vater, dass er vorgeprägte Lebensmuster im Sinne des Bürgertums lebt.
S. 293
- Melitta sagt, du willst dich scheiden lassen.
- Ihr wart bei Melitta?
- Melitta war bei uns…..
- Wir haben dir abgeraten, Hals über Kopf zu heiraten, eine Frau, die du kaum kennst. wir haben dir abgeraten, ein Kind in die Welt zu setzen mit zweiundzwanzig.
S. 296
- Und eins sage ich dir: Wenn das rauskommt, dass du dort eingebrochen bist … Das ist kriminell, ist dir das klar? Dann ist dein Studium beendet.
S. 299
- Hast du deine Diplomarbeit fertig?
- Ich schreibe meine Diplomarbeit nicht fertig.
- Sag mal, drehst du jetzt vollkommen durch? Sascha schwieg.
- Du kannst doch nicht hinschmeißen, so kurz vorm Schluss. Was willst du denn machen ohne Diplom? Auf’n Bau gehen oder was?.
Ein besonders illustres Beispiel für die Weiterführung und die Rezeption bürgerlicher Distinktionen ist die Jagd: Sie wurde von den sozial aufsteigenden DDR Politikern mit Begeisterung praktiziert, in Anlehnung an den Adel.
Eine Angleichung der Klassen erfolgte u.a. durch immaterielle Belohnungen, Ehrungen und Medaillen und durch die o.g. geringe Differenz im Gehalt zwischen Akademikern und Mitgliedern der Arbeiterklasse. Arbeiter- und Bauernkinder in der DDR erhielten alle erdenkliche Förderungen mit Stipendien, Wohnheimplätzen oder Büchern. Sie sollten nach bildungsbürgerlichen Maßstäben in den Hochschulen und Universitäten lernen und dabei ihrer Klasse verbunden bleiben. Dann aber, wenn sie aufstiegen, kam es nicht selten vor, dass man sie als Intellektuelle misstrauisch beobachtete und kontrollierte. [ccclxxxviii]
Doch es existierten weiterhin Klassenunterschiede, so dass unterschiedliche Ausgangspositionen und soziale Unterschiede die Entwicklung der Menschen beeinflussten.
Erst in den späteren Jahren nach der Realisierung des Wohnungsbauprogramms lebten Arbeiter und Akademiker in identischen Wohnblocks, vorher jedoch, auch wenn nur wenige Wohnungen in Privatbesitz waren, bewohnten, wie bereits erwähnt, Mitglieder der sozialistischen Intelligenz (Bürgertum), wie Familie Umnitzer, Villen oder Etagenwohnungen der Gründerzeit.
In der Person von Charlotte werden Aspekte von Bürgerlichkeit und bürgerliche Kultur und deren Integration in die Gesellschaft DDR thematisiert. Sie konstituiert bürgerliche Restbestände der DDR-Gesellschaft.
Charlotte, die lediglich vier Jahre die Haushaltsschule besucht hatte und Wilhelm, ein gelernter Schlosser, waren in Mexiko an Wohlstand und Annehmlichkeiten, z.B. Hauspersonal gewöhnt. Charlotte wird durch die Partei beruflich und intellektuell gefördert und Institutsdirektorin. Aus diesem Grunde steht sie dem Sozialismus aufgeschlossen gegenüber, weist aber im privaten Umfeld Aspekte einer bürgerlichen Lebensweise auf. Davon zeugen das große, offene Haus und die Selbstverständlichkeit, Dienstpersonal zu beschäftigen. Ein gewisser Dünkel ist bei ihr erkennbar.
S. 129
Um zehn kam Lisbeth. Wie immer pflegte Lisbeth alle Fragen, auch die geklärten, fünfmal zu stellen…Nein, Lisbeth, es wird nicht staubgesaugt, wenn ich im Haus bin…Ja, heute Wäsche…
S. 400
Niemals, dachte Charlotte, hätte sie dieser Frau das Du anbieten dürfen. Kein Respekt, kein gar nichts.
Kurt und Irina gehören in der DDR-Gesellschaft zu den Bessersituierten und sind mit Privilegien ausgestattet aufgrund von Kurts Tätigkeit als Geschichtswissenschaftler und Schriftsteller. Seine berufliche Position bedeutete in der DDR eine Besserstellung, und auch Sascha gehört zu dieser privilegierten Gesellschaftsschicht, dem Bildungsbürgertum. Niemand zeigt von ihnen aber Klassenbewusstsein oder definiert sich über diese Zugehörigkeit und seiner Herkunft.
S. 21
… einer der produktivsten Historiker der DDR“ hatte es geheißen… Für diesen Meter hatte Kurt Orden und Auszeichnungen, aber auch Rüffel und einmal sogar eine Rüge von der Partei erhalten…
S. 161f
Fünfunddreißig war er gewesen, als er zurückkam, und auch wenn er - als eine Art Wiedergutmachung - sofort eine Stelle an der Akademie der Wissenschaften bekam (also an der „richtigen“ Akademie, wie Kurt gern betonte, um den Unterschied zur Neuendorfer Akademie deutlich zu machen), war der Neubeginn alles andere als leicht gewesen.
…konnte er nicht leugnen, Genugtuung empfunden zu haben über die Hochachtung, die man ihm nun, nach zehn Jahren, plötzlich in diese Land entgegenbrachte: dem Exsträfling, dem „auf ewig Verdammten“.
Erwähnenswert als Gruppe im bürgerlichen Milieu sind die Christen. Obwohl sich ihre Zugehörigkeit verringerte und sie mit politischen Angriffen rechnen mussten, spielten sie stets eine Rolle in der DDR. Geistliche bildeten einen Rest von bürgerlicher Gesellschaft, und sowohl in der katholischen Minderheit als auch in der evangelischen Kirche blieb ein konfessionelles Milieu bestehen. Als es zumindest am Anfang noch eine große Zahl von Mitgliedern gab, blieben Struktur und Eigentum intakt. Das Bildungsbürgertum war mehrheitlich protestantisch geprägt und hatte mit Hauskreisen seine Form bürgerlicher Geselligkeit.
12.2.1 Der Marxismus im Denken der „sozialistischen Intelligenz“
Die „Intelligenz“ einer Gesellschaft hat die Aufgabe „kritische Einsicht“ zu zeigen und ihre Autonomie zu wahren und sich nicht mit der Politik zu verbinden, [ccclxxxix] sie soll gegen das Herdendenken angehen und eine kritische Stellung zur Macht haben. [cccxc] In der DDR jedoch hatte die sog. „sozialistische Intelligenz“ auf der weltanschaulichen Grundlage des Marxismus dem Arbeiter zu dienen und sich nach ihm auszurichten.
Anders als der offizielle Marxismus hatten sich Wissenschaftler und Intellektuelle in der DDR nach der Aufdeckung der Verbrechen Stalins zwar vom Stalinismus losgesagt, aber statt nun auch dem offiziellen Marxismus einer radikalen Kritik zu unterziehen, um so den Weg zum wahren Marxismus im gesellschaftlichen Raum zu ebnen, akzeptierte man eine Einheit von Politik und Wissenschaft und diffamierte jegliche Kritik an der Person von Karl Marx und seiner Lehre.
Die Eigentumsfrage als Kernpunkt des Marxismus brachte in der DDR eine Neuregelung des Eigentums bzw. eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Sie sollte nach Auffassung der Intellektuellen ein neues Bewusstsein schaffen, in der Realität aber betrachteten die Arbeiter Volkseigentum anders als Privateigentum und nahmen das Eigentum an den Produktionsmitteln nie richtig an.
Kurt spricht die Polarisierung von Reichtum auf der einen und Elend auf der anderen Seite in der Welt an und verurteilt das Gewinnstreben auf der Grundlage des Privateigentums. Er sieht den Sieg des Kapitalismus als Niederlage der Menschheit, die ein humanes Zusammenleben anstreben sollte. Die Überlegenheit ihrer, der kommunistisch-marxistischen Weltanschauung zeigt sich nach Ansicht der intellektuellen Marxisten (Kurt) darin, dass der Besitz als Wurzel allen Übels beseitigt wird.
S. 369
- Der Kapitalismus mordet, schrie Kurt. Der Kapitalismus vergiftet! Der Kapitalismus frisst diese Erde auf…
- Ja, die Kinder in Afrika, brüllte Kurt. Was ist daran komisch?
Eine Positionierung des Schriftstellers durch Affirmation, nicht durch Opposition, war bei DDR-Schriftstellern eine Voraussetzung ihrer Tätigkeit, und auch Kurt hat sich angesichts der Regulierung des Wissenschaftsbetriebs nach den Vorgaben der Partei zu richten und systemkonform zu leben.
Er gehört zur Intelligenz, die sich zum Sozialismus bekennt und führt das Leben eines freischaffenden Gelehrten mit festem Gehalt - gefordert wurde dafür vom Staat ideologische Unterwerfung und formale Disziplin. Rolle und Funktion des Schriftstellers war es, die gesellschaftlichen Verhältnisse abzubilden und zu gestalten und so einen Beitrag zur historischen Entwicklung zu leisten.
Die Suspendierung eines kritischen Mitarbeiters Kurts wird zur Sprache gebracht, bei der Kurt ein ungutes Gefühl hat:
S. 178f
Hier geschah das, was Kurt seit langem, genauer gesagt, seit der Ablösung Chruschtschows (aber eigentlich auch schon vor der Ablösung Chrutschows), befürchtet hatte, Anzeichen hatte es schließlich genug gegeben, nur dass diese Anzeichen keine Anzeichen gewesen waren, begriff Kurt jetzt, sondern die Sache selbst: Das Plenum, auf dem man kritische Schriftsteller niedergemacht hatte, die Absetzung des Kulturministers, der Bruch mit Havemann, das war es, es war da.
Wie groß die Bedeutung des persönlichen Eigentums in Wirklichkeit ist, zeigt die Niederlage des Sozialismus. Doch auch nach der Wende scheuten sich die Intellektuellen vor der Abrechnung mit dem Marxismus und seinen Vertretern, um nicht als „Wendehals“ zu gelten. [cccxci] Einige Anhänger des offiziellen Marxismus sahen ihre Ideologie aber bereits zu diesem Zeitpunkt als zu dogmatisch an, bei anderen war Selbstreflexion angesagt. Sie überprüften ihre theoretischen Grundlagen der Weltanschauung, und nicht selten führte es bei manchem zu Resignation und Ratlosigkeit, bis hin zum Nichtpublizieren und Nichtschreiben. [cccxcii]
Mit dem Einzug der „bürgerlichen Freiheit“ wurde der „real“ existierende Sozialismus, der ja eigentlich, so betonte man, noch nicht der eigentlichen Utopie entsprochen hatte, aufgegeben.
Die Aufbau-Generation, zu der Wilhelm gehört, fühlte sich dem Marxismus bis zum Ende der DDR verbunden, ihr Leben und ihr Lebenswerk waren von ihm geprägt,
S. 201
Das Problem sind die Tschows, verstehst du: Tschow-Tsschow. Mählich nickte sehr langsam. Wilhelm schlug zu.
- Emporkömmlinge, sagte er. Er schlug zu.
- Defätisten.Er hielt einen Augenblick inne und sagte:
- Früher wussten wir, was man mit denen tut.
Im Unterschied zu ihm und zur Generation seines eigenen Vaters ist Sascha ein Vertreter der neuen Generation:
S. 367
- Du hast vierzig Jahre lang geschwiegen, schrie Sascha. Vierzig Jahre lang hast du es nicht gewagt, über deine großartigen sowjetischen Erfahrungen zu berichten…
- Was hast du denn getan! Jetzt schrie auch Kurt: Wo waren denn deine Heldentaten!
- Scheiße, schrie Sascha zurück. Scheiß auf eine Gesellschaft, die Helden braucht!
- Scheiß auf eine Gesellschaft, in der zwei Milliarden Menschen hungern, schrie Kurt.
12.2.2 Geschichtswissenschaft(ler) in der DDR
Eine tragende Rolle innerhalb der Intelligenz bzw. des Bildungsbürgertums kam in der DDR den Geschichtswissenschaftlern, wie Kurt Umnitzer, zu.
Nach 1945 sah sich die Bundesrepublik als Nachfolgestaat des Deutschen Reichs und bekannte sich zu der gesamten deutschen Geschichte, anders die DDR: Sie verstand sich als Staat, der keinerlei Verantwortung für den Nationalsozialismus trug und der „auf den ‚besseren‘ Traditionen der deutschen Geschichte gegründet war.“ [cccxciii]
Bei diesem Verständnis kam der Geschichtswissenschaft eine enorme Bedeutung, ja, nach der Staatsgründung 1949 hatte sie d i e zentrale Rolle für den geistigen Aufbau des Staatswesens. Der „Kulturbund“ deklarierte als Richtlinie für die Geschichtswissenschaft die Befreiung von imperialistischen und reaktionären Einflüssen [cccxciv] und die sowjetische Geschichtswissenschaft als Vorbild. Wissenschaftliche Betätigung wurde mit sowjetmarxistischer Parteilichkeit betrieben und die Geschichte nach marxistisch-leninistischen Schema neu bewertet, d.h., man räumte den Arbeitern und nicht dem Bürgertum, den Adligen und Königen den wichtigsten Platz in der Geschichte ein.
In den westlichen Besatzungszonen dagegen gab es nach 1945 weiterhin die Wissenschaftstradition des Historismus, d.h. Geschichtswissenschaft auf der Grundlage von Positivismus und Historismus, die, nach Ansicht der Marxisten die Interessen der Ausbeuterklassen vertrat, und der sie deshalb die wissenschaftliche Bedeutung absprachen.
Nach Ansicht der Marxisten betrieben nur sie selber Wissenschaft im Sinne des Wissens, indem sie wichtige Epochen und Persönlichkeiten marxistisch-leninistisch interpretierten. Ausgangspunkt der Deutung war dabei stets der Klassenkampf mit der Fokussierung auf die ausgebeuteten Klassen. Der bildungsbürgerlichen Wertschätzung historischen Wissens, der Heimat-, Orts- und Familiengeschichte oder der Biographiefehlte es nach Meinung des dialektischen Materialismus an Ideologie.
Zunächst wurde noch die Fiktion eines Miteinanders beider Wissenschaften aufrecht gehalten, doch schon bald beseitigte man die bisherige ‚bürgerliche’ Wissenschaft an den Universitäten und ersetzte sie durch die ‚fortschrittliche Wissenschaft des Marxismus-Leninismus‘. [cccxcv] Die Politik verlangte offiziell eine Anpassung der Geschichtswissenschaft an den Historischen und Dialektischen Materialismus und kritisierte das bisherige Selbstverständnis der Fachdisziplin Geschichtswissenschaft als zu ‚bürgerlich’. Geschichte galt als eine Geschichte der Klassen. [cccxcvi] Historische Erkenntnis war mit den Mitteln des Dialektischen und Historischen Materialismus als der einzigen geltenden wissenschaftlichen Theorie zu begründen und die historische Forschung entsprechend methodologisch zu regeln. [cccxcvii]
Als es 1948 zur Abgrenzung der SBZ von den westlichen Besatzungszonen kam, flohen bürgerliche Geschichtswissenschaftler in den Westen. Von da an griffen personalpolitische Maßnahmen an den Universitäten, und die endgültige Durchsetzung des sowjetischen Geschichtsbildes konnte erfolgen. [cccxcviii]
Geschichtswissenschaft hatte von da an eine ideologisch-politische Konzeption und war parteilich bzw. legitimatorisch und nicht mehr der Objektivität verpflichtet wie im Westen.
Weil die DDR für die Wissenschaft den historischen Fortschritt verkörperte, traten Geschichte und Geschichtswissenschaft in den Dienst der DDR und ihrer Staatspartei. Die Parteiführung entschied über die Art und Weise der Geschichtsdarstellung. „Die Geschichtswissenschaft ist bedingungslos in den Dienst von Partei und Staat gestellt. Der Historiker ist in erster Linie Propagandist… Das Streben nach Wahrheit der Erkenntnis ist gebunden an die Doktrin der Partei…“ [cccxcix]
Weg von der Wissenschaftlichkeit, hin zum Dienst der Partei, hieß es von jetzt an, orientiert an der kommunistischen SED. Stets beteuerte die Wissenschaft ihre Solidarität mit der Partei [cd] und nicht selten betrieben Funktionäre, die im Dienste der Staatspartei standen, selbst Geschichtswissenschaft.
S. 297
Kurt musste plötzlich an das Parteilehrjahr heute Nachmittag denken, eine dämliche Pflichtveranstaltung, die, obwohl sie ‚Parteilehrjahr‘ hieß, einmal im Monat durchgeführt wurde. Thema heute: ‚Theorie und Praxis der weiteren Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft‘.
Es gab keine freie wissenschaftliche Betätigung. Geschichtswissenschaftler explizierten auf dem Fundament des Anti-Faschismus den Historischen Materialismus, hatten die Ideologie auszulegen und zu bestätigen, am Klassenkampf teilzunehmen, was bedeutete, sie hatten eine Kampffunktion inne. [cdi] Auf diese Art konnte man sozialistisches Geschichtsbewusstsein durch den Einfluss der marxistisch-leninistisch-ideologischen, sprich klassenbewussten Darlegung geschichtlicher Prozesse, verbreiten. Alexander durchschaut diese Form der Wissenschaft als verlogen und einseitig:
S. 21
Diese angebliche Forschung, dieses ganze halbwahren und halbherzige Zeug, das Kurt da über die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung zusammengehämmert hatte - das alles, so hatte Alexander geglaubt, würde mit der Wende hinweggespült, und nichts von Kurts sogenannten Werk würde bleiben.
Wissenschaftliche Arbeit sollte helfen, das neue Deutschland des „wirklichen Friedens, der ehrlichen Arbeit, der sozialen Ordnung und der echten, wahren Menschlichkeit“ zu errichten und damit [cdii] den bisherigen Höhepunkt deutscher Geschichte. [cdiii]
DDR-Historiker verwendeten geschichtliches Wissen praktisch-politisch. Sie gaben die Realität und die Geschichte ideologisch verzerrt, marxistisch-leninistisch interpretiert, wieder und nahmen die Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Klasseninteressen und des Klassenkampfes in den Dienst, ohne dass sich jemand gegen diese Verengung des Geschichtsbildes zur Wehr setzen konnte.
S. 299f
- Weiß ich nicht, sagte Sascha. Aber ich weiß, was ich nicht will. Ich will nicht ein Leben lang lügen müssen.
- So ein Quatsch, sagte Kurt. Willst du sagen, ich lüge mein Leben lang? Sascha schwieg.
- Du hast dir dein Studium selbst ausgesucht, sagte Kurt. Niemand hat dich gezwungen, Geschichte zu studieren, im Gegenteil…
- Du hast mir abgeraten, ich weiß…
- Du, schrie Sascha und zeigte mit dem Finger auf Kurt, du rätst mir ab, Geschichte zu studieren, und bist selber Historiker! Wer ist hier verrückt?
Die Geschichtsauffassung in sozialistischen Ländern war auf Zukunft hin entworfen, und die SED setzte zukünftige Perioden mit dem Anspruch fest, dass eine höhere Entwicklungsstufe zum Sozialismus/Kommunismus erreicht würde. „Die Politik der SED gab damit gleichsam das Ziel und den ‚Sinn der Geschichte‘ vor.“ [cdiv]
Die Konsolidierung der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft erfolgte bis 1960. Ab den 70er Jahren war sie durch den Dialog mit der Partei unter erweiterten Freiräumen geprägt und nutzte den Marxismus für ihr Fach, ohne ihn aber als ein starres System zu empfinden. [cdv] Erst in den 80er Jahren erfolgte ein Übergang von einer selektiven Interpretation zu einer integralen Darstellung der deutschen Geschichte.
Geschichtswissenschaftler wie Kurt helfen nicht, die aktuellen Ereignisse 1989 einzuordnen oder bewerten zu können. Die Entwicklungen im Land hätte er früher erkennen und beanstanden und auf eine Reformierung hinarbeiten müssen.
S. 358
Er kämpfte gegen die, wie es neuerdings hieß „Abwicklung“ seines Instituts.
S. 366
Ich verstehe das nicht, sagte Sascha, du hast doch selber ständig darüber geredet, dass der Sozialismus am Ende ist. Waren das bloß Worte.. Ich rede hier nicht von der DDR, sondern vom Sozialismus, von einem wahren, demokratischen Sozialismus!…Es gibt keinen demokratischen Sozialismus, hörte sie Sascha sagen. Darauf Kurts Stimme: Der Sozialismus ist seinem Wesen nach demokratisch, weil diejenigen, die produzieren, selber über die Produktion…
In seinem letzten Buch, nach der Wende geschrieben, offenbart Kurt seine Erlebnisse im Gulag, zu spät, um noch von großem Interesse für die Öffentlichkeit zu sein.
S. 22
Aber dann hatte sich Kurt noch einmal auf seinen katastrophalen Stuhl gesetzt, mit schon fast achtzig, und hatte klammheimlich sein letztes Buch zusammengehämmert. Und obwohl dieses Buch kein Welterfolg geworden war - ja, zwanzig Jahre früher wäre ein Buch, in dem ein deutscher Kommunist seine Jahre im Gulag beschrieb, möglicherweise ein Welterfolg geworden (nur war Kurt zu feige gewesen, es zu schreiben!) -, aber auch wenn es kein Welterfolg geworden war, so war es doch, ob man wollte oder nicht, ein wichtiges, ein einzigartiges, eine „bleibendes“ Buch…
13. Bürgerliche Normen und Kultur
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.
Johann Wolfgang von Goethe
In den bisherigen Ausführungen wurden bereits des Öfteren die für das bürgerliche Selbstverständnis entscheidenen Werte und Distinktionen angedeutet, Im folgenden Kapitel werden sie nun im Einzelnen genauer betrachtet und analysiert; letztendlich mit der Fragestellung, inwieweit sie heute nach zweihundert Jahren noch bestehen, sei es in ähnlicher oder anderer Form. Die Romane dienen als Grundlage der Untersuchung.
Das Bürgertum des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in einer Zeit, als der Adel und der Klerus an Einfluss verloren: Der Adel musste seinen exklusiven Anspruch aus der Ständeordnung und das damit verbundene Eigentum aufgeben und sich seinen gesellschaftlichen Platz und sein wirtschaftliches Auskommen suchen, die Religion wurde zu einem privaten Sinnangebot. [cdvi]
In Abgrenzung zum Adel und dessen Konzentration auf Äußerlichkeit und Konventionen entwickelte das Bürgertum den Kult der „inneren Werte“ als ihr Lebensideal: U.a. das Vermeiden von Verschwendung und das Halten einer „Mitte“, Intimität und Luxus hatten sich nur noch im „häuslichen Comforts“ zu spiegeln. [cdvii]
Seit dem Scheitern der Revolution 1848/49 definierte sich das Bildungs- und Besitzbürgertum als eine eigene soziale Schicht mit materiellen Ressourcen - und dies stellten gutes Essen und guter Wein ebenso unter Beweis wie repräsentative Räume, Dienstboten, Umgangsformen, Kleidung, Körperhaltung. Die Beherrschung bestimmter Geschmacksstandards wurde wichtig, um das soziale Ansehen nicht zu verlieren. Bürgerliche Tugenden und Umgangsformen festigten den sozialen Zusammenhalt ebenso wie bestimmte Normen und distanzierten die Bürger sozial von anderen Gruppen.
So heterogen das Bürgertum von seiner Bildung und wirtschaftlichen Bedeutung war, so bekam es seine Bedeutung und seinen Erfolg durch den Aufbau einer Wertegemeinschaft mit orientierenden Leitlinien und identitätsstiftenden Verhaltensmustern. Die Mittellinie der Mäßigkeit definierte sämtliche Wertbegriffe der Bürger, wie Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit, und ihre gleichzeitige materielle Sicherheit machte ein maßvolles komfortables Leben möglich.
(TM)
Wie wichtig frühe Kindheitserfahrungen bei der Übermittlung solch bürgerlicher Normen und Verhaltensweisen zwischen den Generationen waren, erlebt Tony in ihren Großeltern Kröger, ein Modell, das ihren Status und eine entsprechende Rolle illustriert.
S. 59
Zum Sommer, im Mai vielleicht schon, oder im Juni, zog Tony Buddenbrook immer zu den Großeltern vors Burgtor hinaus, und zwar mit heller Freude.
Es lebte sich gut dort draußen im Freien, in der luxuriös eingerichteten Villa mit weitläufigen Nebengebäuden, Dienerschaftswohnungen und Remisen und dem ungeheuren Obst-, Gemüse und Blumengarten, der sich schräg abfallend bis zur Trave hinunterzog. Die Krögers lebten auf großem Fuße, und obgleich ein Unterschied bestand zwischen diesem blitzblanken Reichtum und dem soliden, wenn auch ein wenig schwerfälligen Wohlstand in Tonys Elternhaus, so war es augenfällig, dass bei den Großeltern alles immer noch um zwei Grade prächtiger war als zu Hause; und das machte Eindruck auf die junge Demoiselle Buddenbrook.
Die soziale Kontrolle in der Bürgergesellschaft sanktionierte Regelverstöße mit einer Verringerung des Ansehens, gerade deshalb wurde großen Wert auf bürgerliche Regeln gelegt. Hatte jemand diese Regeln nicht internalisiert, galt er als ein Aufsteiger, als „ungebildet“ und „neureich“. Im Buddenbrooks-Roman fällt diese Rolle Hagenström zu: Man betrachtet ihn als kulturlosen Emporkömmling:
S. 60
… Herr Hagenström, dessen Familie noch nicht lange am Orte ansässig war, hatte eine junge Frankfurterin geheiratet, eine Dame mit außerordentlich dickem schwarzen Haar und den größten Brillanten der Stadt an den Ohren …
Herr Hagenström…. war, davon abgesehen, trotz seiner Rührigkeit als Mitglied von Ausschüssen, Kollegien, Verwaltungsräten und dergleichen nicht sonderlich beliebt…. Konsul Buddenbrook sagte von ihm: „Hinrich Hagenström ist aufdringlich mit seinen Schwierigkeiten… Er muss es geradezu auf mich persönlich abgesehen haben; wo er kann, behindert er mich…“
S. 409f
Kein Zweifel, Hermann Hageström hatte Anhänger und Bewunderer. Sein Eifer in öffentlichen Angelegenheiten, die frappierende Schnelligkeit, mit der die Firma Strunck&Hagenström emporgeblüht war und sich entfaltet hatte, des Konsuls luxuriöse Lebensführung, das Haus, das er führte, und die Gänseleberpastete, die er frühstückte, verfehlten nicht, ihren Eindruck zu machen. …Übrigens hatte er in dieses sein Haus noch vor kurzem, gelegentlich einer seiner größeren Abendgesellschaften eine ans Stadttheater engagierte Sängerin geladen, hatte sie nach Tische vor seinen Gästen… singen lassen, und die Dame aufs glänzendste honoriert.
S. 668
„Gegen einen Haufen Mist kann man nicht anstinken“, sagte Konsul Döhlmann mit einer so geflissentlich ordinären Aussprache,…“
Und damit meinte er Hagenström.
Die gesellschaftliche Wertschätzung formte das Selbstgefühl: Weil der Bürger vom Urteil der Leute abhängig war, orientierte er sich in seinem Sozialverhalten nach außen, d.h. der gute Ruf musste stets bewahrt werden, um den Verlust des Ansehens zu vermeiden. Vertretern des Bürgertums wuchs Repräsentativität zu, die für die Umwelt zu einer wichtigen Richtschnur wurde - man präsentierte hierbei stets den eigenen Erfolg und die eigene Stellung.
Im Laufe der Jahrzehnte nahm die Annäherung zwischen Adel und Bürgertum zu: Der Bürger strebte nach einem Titel, fuhr mit der Equipage; gleichzeitig eignete sich der Adel bürgerliche Leistungs- und Verhaltensnormen an. Insbesondere im Erwerb eines Adelsprädikats und Ordens konnte man die Feudalisierung des Bürgertums erkennen und wie sehr es den aristokratischen Habitus übernahm. [cdviii]
Zu Armgard von Schilling, der Tochter eines Landadligen, schaut Tony Buddenbrook voll Bewunderung empor:
S. 86
Diese Armgard hatte vom ersten Augenblick an den größten Eindruck auf Tony gemacht und zwar als das erste adelige Mädchen, mit dem sie in Berührung kam. Von Schilling zu heißen, welch ein Glück!
In Lübeck gab es relativ wenig Adlige, dafür eine kleine Schicht von Großbürgern und alteingesessenen bürgerlichen Familien mit großem Einfluss. Sie und die besser gestellten Kaufleute, zu denen die Buddenbrooks gehörten, bilden die Oberschicht. Morten Schwarzkopf betrachtet sie als eine Art Adel:
S. 138
„… Sie haben Sympathie für die Adligen…soll ich ihnen sagen, warum? Weil Sie selbst eine Adlige sind!… Ihr Vater ist ein großer Herr und Die sind eine Prinzess…“
Fam. Buddenbrook steht an der Spitze der Lübecker Hierarchie und fühlt sich privilegiert, Tonys Familienstolz ist Ausdruck eines fast aristokratischen Standesbewusstseins.
Gotthold Buddenbrook, der Sohn des Konsuls aus dessen erster Ehe, hat nur einen „Laden geheiratet“ und wird deshalb von der Familie enterbt.
S. 18f
„Er gibt nicht nach, der Junge. Er kapriziert sich auf diese Entschädigungssumme für den Anteil am Hause…“
„Es ist seine Schuld, dies traurige Verhältnis! Urteilen Sie selbst! Warum konnte er nicht vernünftig sein! Warum musste er diese Demoiselle Stüwing heiraten und den … Laden…“
Die Umgangsformen der vornehmen Welt des Adels, französischer Geschmack und frz. Bildung hatten für den deutschen Bürger Anziehungskraft: Buddenbrooks zeigen dieses aristokratische Bewusstsein in der frz. Konversation und in der Ausstattung ihrer Repräsentationsräume.
Insbesondere Thomas und Gerda Buddenbrook bevorzugen einen neuen und fremden Lebensstil mit Souper, Champagner und Hausbällen, man lebt nun anders als früher bei Johann Buddenbrook.
Das Bürgertum setzte im 19. Jahrhundert Verhaltensnormen und -maßstäbe, die schichtübergreifend akzeptiert und nachgeahmt wurden und bis in die heutige Zeit noch gelten.
Nach unten hin absorbierte derArbeiter die bürgerlichen Tugenden und erhielt eine Orientierungshilfe zur Verbürgerlichung, bei ihm koppelten sich Bildung und Sozialkarriere zum höheren Sozialstatus. Und ebenso spürte mancher Unternehmer die Kraft der bildungsbürgerlichen Tradition.
Romane geben ein „umfassende[s] Bild der Weltzustände“ schrieb 1857 F. Th. Vischer. [cdix] Dies spiegelt sich in den von mir untersuchten Romanen in Hinblick auf den Einfluss des Bürgertums und der bürgerlichen Merkmale, die in den Romanfamilien noch oder vielleicht auch nicht mehr vertreten sind, und in den Romanhelden als Vertreter des Klein- und Großbürgertums mit alten bzw. neuen aktuellen Normen, Einstellungen und Denkweisen.
Im Folgenden werden die Werte und Tugenden des Bürgertums, ihre Leitideen und Handlungsoptionen auf ihr Vorhandensein in den Romanen hin genauer untersucht und hinterfragt, ob und inwiefern Bürgerlichkeit mit ihren individualistischen Interessen und Zielen nicht ebenfalls in der DDR anzutreffen war, [cdx] Denn auch in der Roman-Familie von Eugen Ruge findet sich eine Hochschätzung der für das Bürgertum typischen Werte und Verhaltensweisen aus dem privaten Bereich.
13.1 Arbeit und Selbstständigkeitin der bürgerlichen Lebensführung - das Leistungsethos des Bürgertums
Zur Mentalität des Bürgertums gehörte es, Vertrauen in die eigene persönliche Entwicklung zu haben [cdxi] und entscheidend dafür war: Arbeit und Leistung.
Arbeit galt als eine Pflicht, die nicht in Frage gestellt wurde und basierte auf einer religiös orientierten Arbeitsethik in Anlehnung an die protestantische Leistungsethik von Max Weber. [cdxii]
Der Unterschied zwischen dem Norden und Süden Deutschlands, den nüchternen und fleißigen Protestanten und den vermeintlich trägen und ehrgeizlosen Katholiken im Süden spricht Tony bei ihrem Aufenthalt in München an:
(TM)
S. 387f
Akklimatisieren? Nein, bei Leuten ohne Würde, Moral, Ehrgeiz, Vornehmheit und Strenge…, bei Leuten , die zu gleicher Zeit träge und leichtsinnig, dickblütig und oberflächlich sind… bei solchen Leuten kann ich nicht akklimatisieren…
Ich bin von hier, aus diesem Hause, wo es etwas gilt, wo man sich regt und Ziele hat, dorthin gekommen, zu Permaneder, der sich mit meiner Mitgift zur Ruhe gesetzt hat…ha, es war echt, es war wahrhaftig kennzeichnend, aber das war auch das einzige Erfreuliche daran.
Dass das Bürgertum in Deutschland überhaupt eine solch immense Bedeutung gewann, liegt in seinem wirtschaftlichem Gewicht und seiner ‚gelassenen Selbstsicherheit‘ - die aber auch durch ökonomische und politische Veränderungen schwanken konnte. [cdxiii]
Leistungsfähigkeit schloss Sensibilität aus, denn: Empfindsame Menschen haben, so Campe in seinem damaligen Buch „Väterlichen Rath für meine Tochter“ einen Unwillen und eine Unfähigkeit zum Arbeiten, sind auf sich selbst bezogen und gehen keiner nützlichen Tätigkeit nach.
Zur bürgerlichen Lebensform gehörte die regelmäßige Arbeit. Sie bestimmte das Leben zum Nutzen von Familie und Gesellschaft, und durch sie strebte der Bürger als Individuum nach persönlicher Erfüllung. Arbeit war, in Abgrenzung zum unnützen Müßiggang, eine bewusste und schöpferische Tätigkeit und es galt die Maxime, wirtschaftliches Glück und beruflichen Erfolg durch persönliche Leistungs- und Einsatzbereitschaft zu erlangen: „Die bürgerlich verstandene Arbeit verleiht dem Leben Gleichmaß und Wiederholung, wie sie ihrerseits, um vonstatten zu gehen und Erfolg zu zeitigen, Regelmäßigkeit voraussetzt. Müßiggang wird verurteilt, das Leben ist geprägt durch äußere und innere Ordnung, die ebenfalls zu den Tugenden gehört, zu letzteren gehören Gedanken und Neigungen“. [cdxiv] Nur wer sich im Berufsleben bewährte, legte mit seiner wirtschaftlichen und intellektuellen Leistung die Basis für eine gehobene soziale Position. Die individuelle Leistung, verbunden mit regelmäßiger Arbeit, führte zu sozialem Ansehen und politischen Einfluss. Sie wurde dem an Geburtsprivilegien orientierten und als dekadent eingestuften Adel entgegengesetzt.
Wie im ursprünglichen Handwerk war berufliche Selbständigkeit ein ganz entscheidendes Prinzip im Bürgertum. Hinzu traten die eigene Qualifikation, die individuelle Leistung. [Lothar Gall weist an der Familie Bassermann aus dem Raum Mannheim, einer Familie mit vielen Parallelen zu den Buddenbrooks, die im 20. Jahrhundert sogar Kontakte zu Thomas Mann pflegte, nach, wie groß für diese Gewerbe Treibenden die Bedeutung der Beweglichkeit war: Jede Generation suchte Erfahrungen aufs neue in der Fremde, z.B. Amsterdam), in der ähnliche Ordnungen im wirtschaftlich-sozialen und politischen Bereich herrschten und wo Tüchtigkeit und das Sich- Einstellen auf Anforderungen gefragt waren, um sich gegen Konkurrenz durchzusetzen.[cdxv]]
Materielle Fundierung hatte für die Selbständigkeit eine große Bedeutung, ökonomische Selbständigkeit schloss materielle Unabhängigkeit ein. Man löste sich von ständischen und korporativen Bindungen und stellte sich auf eine eigene materielle Lebensgrundlage. Selbständigkeit in geistig-moralischer Hinsicht implizierte Persönlichkeitsbildung, d.h. die Entwicklung einen unabhängigen Geistes und geistige Unabhängigkeit vom Urteil anderer Personen. (Frauen und Dienstboten galten deshalb per se als nicht-selbständig.)
(TM)
Johann Buddenbrook ist bereits Großkaufmann mit internationalen Beziehungen, [cdxvi] nachzulesen in der ledern eingebundenen Familienchronik:
S. 36
Wiederum Einer, der schon Johann geheißen, als Kaufmann zu Rostock verblieben, und wie schließlich, am Ende und nach manchem Jahr, des Konsuls Großvater hierher gekommen sei und die Getreidefirma gegründet habe.
Der alte Buddenbrook vertritt eine traditionelle Berufsauffassung und zieht Zufriedenheit aus seiner gewissenhaften Erfüllung seiner Geschäfte,
S.46ff
„… Was seid ihr eigentlich für eine Kompanei, ihr jungen Leute, - wie? Den Kopf voll christlicher und phantastischer Flausen… und … Idealismus!…
Nun! als Geschäftsmann weiß ich, was faux-frais sind,…“
„… Eine Familie muss einig sein, muss zusammenhalten, Vater, sonst klopft das Übel an die Tür…“
„Flausen, Jean! Possen!….“
Eine Ausbildung des Sohnes erfolgte im Wirtschaftsbürgertum stets in Hinblick auf die Festigung der „Firma“, war der Vater Kaufmann, wurde es nach einer theoretischen Ausbildung in Hausunterricht bzw. Schule (Gelehrtenschule, Gymnasium) und der praktischen kaufmännischen Ausbildung auch der Sohn. „Ein fester Beruf, aktive Teilnahme am wirtschaftlichen, am geschäftlichen Leben, ein über bloße Hobbys hinausgehendes sachliches Lebensziel - das gehörte sich für einen Bürger einfach, auch wenn er es materiell nicht nötig hatte.“ [cdxvii]
Es herrschte im Gegensatz zu heute kein Selbstbestimmungsrecht der Jugendlichen, [cdxviii] die Übernahme des väterlichen Berufs war zwingend.
Thomas Buddenbrook erfüllt die Berufsarbeit mit einem rastlosen Getriebe, hierin unterscheidet er sich von seinen Vorfahren:
S. 470
Zeit seines Lebens hatte er sich den Leuten als tätiger Mann präsentiert; aber soweit er mit Recht dafür galt - war er es nicht, mit seinem gern citierten Goetheschen Wahl- und Wahrspruch - aus bewusster Überlegung gewesen? Er hatte ehemals Erfolge zu verzeichnen gehabt… aber waren sie nicht aus dem Enthusiasmus, der Schwungkraft hervorgegangen, die er der Reflexion verdankte? Und da er nun daniederlag…
ob sein Vater, sein Großvater, sein Urgroßvater die Pöppenrader Ernte auf dem Halm gekauft haben würden? Gleichviel!… Aber dass sie praktische Menschen gewesen, dass sie es voller, ganzer, stärker, unbefangener, natürlicher gewesen waren, als er, das war es, was feststand!…
Die Moralbegriffe der spätbürgerlichen Gesellschaft zeigen sich im Roman: Bürgertugend zielte auf Gelderwerb, Eigeninitiative und Verantwortung.
Der Wahlspruch der Buddenbrooks spiegelt die „Lust“ an der Arbeit wider, hier wird die Pflicht zur Neigung:
S. 482
„Mein Sohn, sey mit Lust bei den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, daß wir bey nacht ruhig schlafen können.“
S. 266f
Die Geschäfte hatten nach dem Tode des Konsuls ihren ununterbrochenen und soliden Gang genommen. Aber bald wurde bemerkbar, dass, seitdem Thomas Buddenbrook die Zügel in Händen hielt, ein genialerer, frischerer und unternehmenderer Geist den Betrieb beherrschte. Hie und da ward etwas gewagt…
Herrn Marcus’ Einfluss bildete das retardierende Moment im Gang der Geschäfte… „Die Beiden ergänzen sich“, sagten die Chefs der größeren Häuser zueinander…
Ähnliches dazu finden wir in den modernen Familienromanen:
(AG)
Für Richard Sterk ist die Erfüllung der Berufspflicht ein bedeutender Teil seines Lebens.
S.200
…bereut er nicht, soviel Kraft und Zeit in die Parteiarbeit gesteckt zu haben. Vielleicht ist irgendwohin ein Samen gefallen, vielleicht kommt seine Auffassung von der fundamentalen Verpflichtung eines öffentlichen Mandats in einigen Jahren wieder in Mode.
… entweder er bleib am Ball oder er kommt nicht wieder.
Zu einem bürgerlichen Auskommen gehörte stets ein überdurchschnittlich gutes Einkommen mit der Anstellung mindestens eines Dienstmädchens, somit blieb genügend Zeit für ein Familienleben in Muße.
(AG)
S.66
… wozu bin ich ein reicher Mann, notfalls ziehe ich mich in die Vorstadt zurück, um hier die Geborgenheit der Familie zu genießen.
Im geregelten Tagesablauf einer bürgerlichen Lebensform nahm die berufliche Arbeitszeit einen großen Teil des Tages.
(TM)
S. 304
Thomas Buddenbrook nahm das erste Frühstück in seinem hübschen Speisezimmer fast immer allein,… Der Konsul begab sich dann sofort in die Mengstraße, wo die Comptoirs der Firma verblieben waren, nahm das zweite Frühstück im Zwischengeschoss gemeinsam mit seiner Mutter, Christian und Ida Jungmann und traf mit Gerda erst wieder um 4 Uhr beim Mittagessen zusammen.
S. 357
Gleich morgens um acht Uhr, sobald er das Bett verlassen hatte, über die Wendeltreppe hinter der kleinen Pforte ins Souterrain hinabgestiegen war, ein Bad genommen und seinen Schlafrock wieder angelegt hatte, begann Konsul Buddenbrook sich mit öffentlichen Dingen zu beschäftigen…
(AG)
Richard Sterks Tätigkeit mit ihren auswärtigen Aufenthalten erfordert viel Zeit:
S. 76
Im ersten Moment, als ihm seine Dienstreise in den Sinn kommt, ist er drauf und dran zu behaupten, dass er sich das Nickerchen redlich verdient habe.
S. 193
- Schon zurück? Ich staune.
- Ausnahmsweise.
- So kenn ich dich gar nicht.
Es stimmt, eigentlich ist es undenkbar, dass er sieben Wochen vor einer Nationalratswahl, und sei’s am Samstag, nur kurz aus dem Haus geht.
Die Uhr ist für ihn ein Symbol der häuslichen Ordnung im Tagesablauf:
S. 212
Er schaut beiläufig auf die Pendeluhr und nimmt sich vor, sie am Abend aufzuziehen …
(ER)
Kurt Umnitzers Arbeitstag hat ebenfalls eine klare zeitliche Struktur:
S. 20
Sieben Seiten täglich, das war seine „Norm“, aber es kam auch vor, dass er zum Mittagessen verkündete: Zwölf Seiten heute! Oder: Fünfzehn! Eine komplette Spalte seiner schwedischen Wand hatte er auf diese Weise zusammengehämmert, ein Meter mal drei Meter fünfzig, alles voll mit dem Zeug.
In allen drei Romanen arbeiten Männer zu Hause ohne räumliche Abgrenzung:
(TM)
Bei den Buddenbrooks ist das Arbeitscontor zunächst im Haus, es gibt keine räumliche Trennung von Familie und Arbeit.
S. 37
Bei der Windfangtüre sowohl wie am anderen Ende lagen Comptoirräumlichkeiten…
(AG)
Peter trennt seine Berufswelt nicht vom Familienleben, er lässt im Keller Einblicke in seine Tätigkeit zu. (Ingrid ist zwar gedanklich bei der Arbeit, schottet sich aber davon ab, wenn sie bei der Familie ist.)
S.252
… als würde Peter im Keller etwas versäumen. ..Ingrid nimmt es ihm übel.
- Was baut er da unten? fragt sie scharf.
- Ein Modell der Opernkreuzung, sagt Philipp naiv
(ER)
Auch Kurt arbeitet quasi selbständig mit eigener Zeiteinteilung in seinem Arbeitszimmer:
S. 18f
…im Gegensatz zum totalrenovierten Wohnzimmer war in Kurts Zimmer noch alles, und zwar auf gespenstische Weise, beim Alten:
Der Schreibtisch stand schräg vor dem Fenster - vierzig Jahre lang war er nach jeder Renovierung wieder genau in die Druckstellen imTeppich gestellt worden. Ebenso die Sitzecke mit Kurts großem Sessel… Und auch die große schwedische Wand (wieso eigentlich schwedische Wand?) stand wie eh und je. Die Bretter bogen sich unter der Last der Bücher…das aufklappbare, ramponierte Schachbrett mit den Figuren, die irgendein namenloser Gulag-Häftling irgendwann einmal geschnitzt hatte.
S. 20
Seltsam, wie winzig Kurs Schreibtisch war. an diesem Tischlein hatte Kurt sein Werk verfasst. Hier hatte er gesessen, in einer medizinisch schwer bedenklichen Sitzhaltung, auf einem Stuhl, der eine ergonomische Katastrophe war, … und im Viereinhalb-Finger-System auf seiner Schreibmaschine herumgehämmert, tack-tack-tack-tack, Papa arbeitet! Sieben Seiten täglich, das war seine „Norm“, aber es kam auch vor, dass er zum Mittagessen verkündete: Zwölf Seiten heute! Oder: Fünfzehn! Eine komplette Spalte seiner schwedischen Wand hatte er auf diese Weise zusammengehämmert, ein Meter mal drei Meter fünfzig, alles voll mit dem zeug.
Dadurch, dass das Bürgertum die Herrschaft über die Schule und das Bildungssystem besaß, konnten seine Kulturnormen, in diesem Fall das Arbeitsethos in Verbindung mit Disziplin, Selbst-und Fremddisziplinierung und Willenskraft, an die nächste Generation vermittelt werden und zur Verbürgerlichung der Schichten beitragen.
Im Kaufmannsstand selber waren die Erziehungsmuster entsprechend: Es gab die Erziehung zu Selbständigkeit, Leistung und dynamischer Handlungsbereitschaft; Ehrbarkeit bzw. geschäftliche Solidität galten als die hervorstechenden Tugenden. [cdxix]
(TM)
Verinnerlicht haben dies alle Buddenbrooks, Thomas aber setzt sich beim Aufkauf der Pöppenrader Ernte auf dem Halme darüber hinweg und scheitert in Folge dessen.
S. 475
Er durchdachte das Ganze noch einmal, …sah die gelbreife Ernte von Pöppenrade im Winde schwanken, phantasierte von dem allgemeinen Aufschwung der Firma, der diesem Coup folgen würde, verwarf zornig alle Bedenken, schüttelte seine Hand und sagte: „Ich werde es tun!“
S. 494
… seine halb geschlossenen Augen verschleierten sich mit einem müden und fast gebrochenen Ausdruck, und mit schwerem Kopfnicken wandte er sich zur Seite.
Zeichen von Schwäche galten als leistungsfremd und durften von den Männern nicht gezeigt werden,Thomas Buddenbrooks reflektiert diesbezüglich über sich und sein Selbstbild:
S. 470
War er ein praktischer Mensch oder ein zärtlicher Träumer?
…Aber er war zu scharfsinnig und ehrlich, als dass er sich nicht schließlich die Wahrheit hätte gestehen müssen, dass er ein Gemisch von Beiden sei.
Thomas B. als Bürgervater ist bemüht, seinem Sohn die Leidenschaft und den Stolz für den Kaufmannsberuf (statt dessen Last!) vorzuleben. Er nimmt ihn mit auf seinen Kontrollgängen, um ihn teilhaben zu lassen an der väterlichen Berufswelt.
S. 625
Er fing an, ihn ein wenig in das Bereich seiner zukünftigen Tätigkeit einzuführen, er nahm ihn mit sich auf Geschäftsgänge zum Hafen hinunter und ließ ihn dabei stehen, wenn er am Quai mit den Lösch-Arbeitern in einem Gemisch von Dänisch und Plattdeutsch plauderte, …
Hanno unternimmt zwar Kraftanstrengungen, das Joch der Schule abzuschütteln und es seinem Vater recht zu machen, erkennt aber gleichzeitig, wie sehr der Umgang mit den Kunden diesen erschöpft.
S. 627
Aber der kleine Johann sah mehr, als er sehen sollte… Er sah nicht nur die sichere Liebenswürdigkeit, die sein Vater auf Alle wirken ließ, er sah auch - sah es mit einem seltsamen, quälenden Scharfblick - wie furchtbar schwer sie zu machen war, wie sein Vater nach jeder Visite wortkarger und bleicher, mit geschlossenen Augen, deren Lider sich gerötet hatten, in der Wagenecke lehnte…
Der Leistungsdruck vermindert Hannos Leistungsbereitschaft, wenn er versagt, folgen harte Sanktionen und Missachtung:
S. 510f
Während des Beisammenseins in den Pausen etwa, beim Wechseln des Geschirrs, war es seine Pflicht, sich ein wenig mit dem Jungen zu beschäftigen, ihn ein bisschen zu prüfen, seinen praktischen Sinn für Tatsachen herauszufordern… Wieviel Einwohner besaß die Stadt? Welche Straßen führten von der Trave zur oberen Stadt hinaus? Wie hießen die zum Geschäft gehörigen Speicher? Frisch und schlagfertig hergesagt! - Aber Hanno schwieg. Nicht aus Trotz gegen seinen Vater, nicht um ihn wehe zu tun. Aber die Einwohner, die Straßen und selbst die Speicher, die ihm unter gewöhnlichen Umstanden unendlich gleichgültig waren, flößten ihm, zum Gegenstand eines Examens erhoben, einen verzweifelten Widerwillen ein. …“Genug!“ rief der Senator zornig. „Schweig! Ich will gar nichts mehr hören!… Du darfst stumm und dumm vor dich hinbrüten dein Lebtag!“
Im 20. Jahrhundert erfuhren die Arbeit und der Beruf durch den Konkurrenzgedanken im Kapitalismus eine Aufwertung. Der Ort der Tätigkeit entfernte sich immer mehr von der Familie, wodurch das Arbeitsgebiet des Vaters eine Hochstilisierung erlebte.
(AG)
Ein Beispiel dafür ist Richad Sterk, dessen Beruf ihm innerhalb und außerhalb der Familie ein immenses Ansehen verschafft.
S. 166
Schatz, ich denke da an einen Spruch von Papa, dass man immer bestrebt sein soll, sich über den Durchschnitt zu halten, und das nicht nur in moralischer Hinsicht, er hat es, glaube ich, auch während des Krieges so gehalten, und wie weit man damit kommt, kann man an seiner jetzigen Position sehen.
S. 143
Papa omnipotens. Was aus seinem Mund kommt, ist Diktat.
S. 84
- Sie könnten sich auch dazu entschließen, Ihre Ansichten zu korrigieren. Sie sind ein talentierter Mann.
- Mit Hinblick auf Ihre Begabung hätten Sie guten Grund dazu.
Selbständigkeit erfuhr einen Wandel; es entstanden neue Formen der Selbständigkeit und des Erwerbs, die zwar nicht selbständig im alten Sinne waren, aber trotzdem eine leitende Tätigkeit umfassten, und es entwickelten sich die Angestelltenexistenzen, die einen großen Teil der Gesellschaft ausmachen. Bis heute ist Selbständigkeit aber stets verknüpft mit einer gewissen Freiheit und einem angesehenen sozialen Status. [cdxx]
(AG)
Das Familienstammhaus der Sterks weist die beschriebene bürgerliche Werthaltung in der nächsten Generation ebenfalls auf:
So hat die Vorstellung von Leistungsbereitschaft im Beruf und in der Familie von Ingrid eine starke Affinität zu den o.g. bürgerlich-liberalen Leistungsvorstellungen. Ihre in der Herkunftsfamilie gelernten Werte wurden internalisiert bzgl. Arbeitsmotivation, Leistung, Sauberkeit, Ordnung im Haus, Karrierestreben, Bereitschaft zur Eigeninitiative - all das beeinflusst ihr berufliches und privates Verhalten und Denken.
In ihrem Gespräch mit Peter zum Anfang ihrer Beziehung macht sie dies deutlich.
S. 167f
Aber bitte, bitte, geh im Wintersemester zurück über deine Bücher, wirst sehen, das kommt dich auch billiger … Vielleicht kannst du am Ende mit einer Prüfung abschließen, das wär das allerhöchste.
… wer soll das finanzieren, wo alles immer teurer wird? Soviel Nachhilfe kannst du gar nicht geben. Die Studiererei bringt dich ja nicht um, wirst sehen, und du bekommst am Ende als Belohnung mich.
S. 170
… aber du musst jetzt mit eiserner Energie arbeiten und wirklich versuchen, Papa einen Beweis deiner Tüchtigkeit zu liefern.
Sie selber realisiert das bürgerliche Leben, indem sie ihre akademische Ausbildung verfolgt und mit dem Studium der Medizin den sozialen Aufstieg anvisiert.
S. 245
- Wozu hätte ich dann so lange studiert, wenn ich die Ausbildung nicht nutzen würde. Du hast doch gewusst, dass du eine angehende Ärztin heiratest.
Peters Leistungsvorstellung dagegen entspricht anfangs nicht dem bürgerlichen Denken. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse sind ungeklärt, er studiert unregelmäßig, das Fotografieren im Tiergarten bringt nur einen geringen Nebenverdienst. Peter arbeitet insofern selbständig, dass er selbst kreierte Spiele verkauft, die aber keine Existenzgrundlage darstellen. Hinzu kommt noch eine Krankheit seinerseits, die verhindert, dass er wenigstens das Weihnachtsgeschäft als guten Verdienst hat. Später steht der Staatsvertrag bevor, der wiederum dazu führt, dass die Spielpläne von Peters Spiel mit den Grenzen aktualisiert werden müssen
S. 148
… wenn man sein Studium seit Jahren nicht weiterbringe und auch sonst nichts vorzuweisen habe außer Schulden.
S. 167
… und es darf einfach nicht sein, dass du noch so eine Verlegenheitsarbeit hast, bloß um Geld zu verjuxen.
Nach dem Tod Ingrids erlebt Peter einen beruflichen Aufstieg, ist ein erfolgreicher Entwickler einer Knotenlehre, die Kreuzungen analysiert und Sicherheit und Funktion einer Kreuzung erklärt. Diese Arbeit beherrscht er, er ist kompetent und hat sich damit internationale Reputation erworben.
S. 307
Als Entwickler einer allgemeinen Knotenlehre hat er sich internationale Reputation erworben durch den bloßen Hinweis auf Dinge, die eigentlich selbstverständlich sein müssten. Dass man Kreuzungen als aktive, katalysatorische Verteilersysteme zu verstehen hat. …
Seinen Kinderndemonstriert er dies auf dem Weg in den Urlaub, mit dem Wunsch nach Respekt und Achtung - beides bleibt aber aus.
S. 306
- Jetzt könnt ihr euren Vater mal zehn Minuten bei der Arbeit zusehen. bitte um gebührende Aufmerksamkeit. Er sagt es, als sei es als Scherz gemeint, und in der Tat hat er keine Hoffnung, dass die Blicke seiner Kinder voller Bewunderung auf ihm ruhen werden, vor allem bei Sissi macht er sich nichts vor. Er gesteht sich ein, wieviel ihm ihre Anerkennung bedeuten würde. Wieviel. Er gesteht es sich ein, ist aber vorsichtig genug, sich nichts anmerken zu lassen.
Sein Aufstieg ist nicht zuletzt damit zu erklären, dass sich in Westdeutschland und Österreich seit Kriegsende eine positive Haltung der Betriebe Vätern gegenüber etablierte, das Einkommen verheirateter Männer stieg nach der Familiengründung im Zuge der Vaterschaft.
Das gab es in der DDR nicht. [cdxxi]
Peters Sohn Philipp zeichnet sich dagegen durch Träumerei und Passivität aus,
S. 50
Den ganzen Vormittag bringt Philipp nichts zustande. …
Nachmittags lungert er eine Weile mit einem belegten Brot in der Diele herum. Er kann sich aber nicht dazu durchringen, nochmals in den Dachboden hinauszusteigen, um dort die Tauben zu vertreiben. Die Tauben, die ihn demoralisieren und ihm jede Lust an der Arbeit nehmen. nicht dass seine Moral sonderlich gut oder seine Lust sonderlich groß wäre.
S. 325
- Was soll ich denn jetzt deiner Meinung nach tun? fragt er die Katze. … ‚Auch Nichtstun kann die Dinge zum Eskalieren bringen.’
Dann wiederum überfällt ihn ein regelrechte Tätigkeitsdrang: Ein Baum für das Richtfest wird abgesägt, ein Fahrrad repariert:
S. 375
Er kämpft sich zur westlichen Mauer durch, dort versucht er, eine hüfthohe Fichte auszureißen, was ihm aber nicht gelingt, er schürft sich nur die Hände auf. Weil er Steinwald nicht um die Axt bitten will, holt er aus dem Keller einen stumpfen Fuchsschwanz, der beim Sägen ständig steckenbleibt, so dass Philipp sich mehrmals fast das Handgelenk bricht. Er sägt wie ein Verrückter und ist nahe an einem Muskelkrampf, da lässt sich der Stamm endlich brechen.
S. 333
Philipp repariert Johannas Fahrrad. Er stellt es auf den Kopf …repariert (er) die Schäden am Fahrrad sehr gewissenhaft. Er wechselt die Bremsklötze, die Glühbirne des Rücklichts, verbessert die Position des Dynamos, fixiert die Lenkstange, zieht ein paar Schrauben an und ölt alles, was zu ölen ist. Er arbeitet sehr konzentriert, so dass er bereits nach anderthalb Stunden fertig ist. Zu früh für sein Empfinden, weshalb er auch sein Fahrrad wäscht …
(ER)
In der DDR wurde die Arbeit ebenfalls hochgeschätzt. Wilhelm als Arbeiter hat ein grenzenloses Selbstbewusstsein. Die herausragende Bedeutung, die die SED ihm als Arbeiter zubilligt, gibt ihm soziale Anerkennung und eine ökonomische Absicherung.
S. 196
Natürlich konnte er den Ausziehtisch ausziehen. Schließlich hatte er Metallarbeiter gelernt. Was hatte Alexander gelernt? Was war der eigentlich? Nichts. Jedenfalls fiel Wilhelm nichts ein, was Alexander sein könnte. Außer unzuverlässig und arrogant. Noch nicht einmal in der Partei war der Kerl.
Was mit den Selbständigen aus dem Besitz- und Wirtschaftsbürgertum in der DDR geschah, ist bekannt: Die Beseitigung der Privatwirtschaft erfolgte durch die Enteignung oder Verstaatlichung der kleineren und größeren Betriebe, die noch in privater Hand waren. Für Selbständige war ab 1948 die wirtschaftliche Existenz unmöglich geworden. Falls sich die Bürger nicht für die Abwanderung in den Westen entschieden, wurden sie in die VEBs eingebunden.
Die Rolle der Erwerbsarbeit war für die Realität und das Selbstverständnis der DDR-Gesellschaft stets wichtig. Die Beschäftigten hatten eine starke Stellung, denn es gab chronischen Arbeitskräftemangels. Eine Kündigung war praktisch unmöglich und regionale Arbeitsmobilität gering. Man wies zentralistisch die Arbeitskräfte den Betrieben zu, wo sie im Arbeitskollektiv durch ein langfristiges Beschäftigungsverhältnis ein identitätsstiftendes Zugehörigkeitsgefühl entwickelten.
Häufige Lieferengpässe und Koordinationsmängel forderten von den Beschäftigten zwar Flexibilität, doch menschliche Wärme und Kollektiverfahrung glichen dies aus, und weil es keinerlei Leistungsdruck und Konkurrenz gab, verbanden sich Tauschbeziehungen im Arbeitskollektiv mit Hilfsbereitschaft. So entstanden im Betrieb soziale Beziehungen.
(ER)
In der Familie Umnitzer lesen wir von betriebssozialen Beziehungen zwischen den Arbeitskollegen und ihren Familien, die bis zu Hilfeleistungen und persönlicher Nähe jenseits der Arbeit reichten.
S. 167f
Beim Frühstück eröffnete ihm Irina, dass sie heute noch einmal losmüsse: Gojkovic komme, der jugoslawische Schauspieler, der in dem Indianerfilm, den die DEFA drehen wollte, die Hauptrolle spielte… Seit Irina - er wusste im Grunde gar nicht, als was - bei der DEFA arbeitete, kam es öfter vor, dass sie ihn in dieser Weise enttäuschte. angeblich war es eine Halbtagsstelle, aber in Wirklichkeit arbeitete sie oft bis in die Nacht oder am Wochenende…Ja, natürlich hatte auch Irina ein Recht zu arbeiten. Wenngleich es eine höchst seltsame Arbeit war, mit irgendwelchen Schauspielern im Gästehaus der DEFA zu sitzen und Wodka zu saufen. Oder mit dem Indianer durch die Gegen zu fahren.
S. 244f
.. drei bekam der Autoschlosser!; einen der Buchhändler; und zwei schließlich eine ehemalige Kollegin, aus deren väterlichen Kleingarten jene getrockneten Aprikosen stammten, außerdem Quitten und dickschalige Winterbirnen…
Im Sozialismus stand Planerfüllung vor Eigeninitiative und Kreativität. Da Letzteres unerwünscht war, kam es zum inneren Rückzug der Beschäftigten von der Arbeit, man schonte die eigenen Kräfte, wehrte Verantwortung ab, und häufig machte sich der Schlendrian breit. [cdxxii] Statt eigene Initiative zu entwickeln, hatte man hohe Erwartungen an den Staat. [cdxxiii]
Als es dann ab einem bestimmten Zeitpunkt einen Mangel an Arbeitskräften mit geringerer Qualifikation gab, entstanden Disproportionen bei der Bezahlung: Produktionsarbeiter verdienten irgendwann mehr als Mitarbeiter mit Hoch- und Fachschulabschluss. Die Folge waren fehlende Leistungsmotivation und Arbeitsdisziplin. [cdxxiv]
Mit Hilfe von hunderten verschiedenen Auszeichnungen, Orden, Ehrennadeln und Preisen, Medaillen und Urkunden versuchte man, die Arbeitskraft zu steigern, die Bevölkerung zu disziplinieren und die Identifikation mit dem Staats und der Ideologie zu festigen, man verteilte Sach- und Geldprämien, verschenkte Reisen und Kuraufenthalte und gestaltete zur Übergabe zahlreiche Festakte. [cdxxv]
Die Figuren im Roman zeigen, dass aber nicht nur die marxistisch-leninistische Theorie der Arbeit und die Arbeitsideologie mit der Ausrichtung der Arbeit als politisch-gesellschaftliche Aufgabe ohne die individuell-protestantischen Leistungsethik eine wichtige Rolle bei der Arbeit spielte, sondern auch immer noch die im Bürgertum gesetzten individuellen Glücksansprüche und der Individualismus. [cdxxvi]
Der Erwerb von Eigentum für das Haus und Irinas Verschönerungsaktionen mit Mitteln aus dem Westen sind hier ein Beispiel.
Mangelnde Beschäftigungsperspektiven in der Heimat lassen Sascha als Künstler und Intellektuellen nach Westdeutschland ziehen. Er besitzt Mobilität, ist jung und ungebunden.
S. 26
Klar, dass die zwölf Jahre vor der Wende ihm unverhältnismäßig länger erschienen als die zwölf Jahre danach. 1977 - das war eine Ewigkeit! 1989 dagegen - ein Rutsch, eine Straßenbahnfahrt. Dabei war doch einiges passiert, oder?
Er war abgehauen und wieder zurückgekehrt (wenn auch das Land, in das er zurückkehrte, verschwunden war). Er hatte einen ordentlich bezahlten Job bei einem Kampfkunst-Magazin angenommen (und wieder gekündigt). Hatte Schulden gemacht (und wieder zurückgezahlt). Hatte ein Filmprojekt angezettelt (vergiss es)….Er hatte zehn oder zwölf oder fünfzehn Theaterstücke inszeniert (an immer unbedeutenderen Theatern). War in Spanien, Italien, Holland, Amerika, Schweden, Ägypten gewesen (aber nicht in Mexico)….
Erwerbs- und Berufsverläufe änderten sich durch die Wende:
„Die Wiedervereinigung erzwang eine Umorientierung von einer hoch selektiven, politisch
privilegierten Karriere zum Überleben in einem offenen Arbeitsmarkt, der eine hohe Flexibilität im Hinblick auf Arbeitsorte und Arbeitszeiten erzwingt.“ [cdxxvii]
Während Sascha, seiner ehemalige Frau und ihrem Ehemann die Umorientierung gelingt, steht Markus vor Anpassungsproblemen.
S. 379
Es stellte sich heraus, dass wieder mal ein Brief von seiner Telekom gekommen war. Das Übliche: Fehltage, schlechte Noten, aber allmählich brannte die Sache…… und wie dankbar er ihm sein müsse, dass Klaus ihm die Lehrstelle besorgt hätte, blablabla. Er hatte Klaus niemals darum gebeten, ihm eine Lehrstelle als Kommunikationselektroniker zu besorgen (eigentlich wäre er gern Tierpfleger geworden, und wenn das nicht möglich war, weil es angeblich keine offenen Lehrstellen gab, wäre er am liebsten Koch geworden, da gab es offene Lehrstellen, aber nein: Kommunikationselektroniker)
Seine Mutter und ihr Partner beschreiten durch pragmatisches Zielbewusstsein und Anstrengung den erfolgreichen Karrierepfad und ergreifen die Chancen, die sich ihnen durch die Wiedervereinigung bieten.
13.2 Kleidung und Reinlichkeit
Arbeit und Beruf verlang(t)en einen Dresscode, der Kleidung zu einem sozialen Distinktionsmedium und zu einem Mittel der Selbstdarstellung und der Abgrenzung macht. Sie symbolisiert für den arbeitenden Bürger Status und Position und demonstriert, wie sehr Bürgerlichkeit ein Kulturmodell und einen sozial und kulturell geformten Habitus darstellt, der sich in mentalen Einstellungen zeigte: Die äußere Haltung sollte die innere Haltung des Bürgers widerspiegeln. Die „umgangsförmliche Erscheinung“ war an das „Sein“ zurückgebunden, so dass die beobachtbare Haltung und das äußere Erscheinungsbild zum Maßstab empfundener Werte oder gegebener Charaktermerkmale wurden. [cdxxviii]
Es gab Regeln angemessener bürgerlicher Kleidung. [cdxxix] Stets sollte das äußere Erscheinungsbild des Bürgers geprägt sein durch die Auswahl einer Kleidung, die Gediegenheit in Material und Verarbeitung zeigte. Unsauberkeit und Schlampigkeit in der Kleidung waren verpönt.
(TM)
So wird die Skepsis von Seiten des Kindermädchens bei der Begegnung Hannos mit dem jungen verarmten Grafen verständlich:
S. 516
… nur mit einem von ihnen verknüpfte ihn, und zwar seit den ersten Schultagen, ein festes Band, und das war ein Kind von vornehmer Herkunft, aber gänzlich verwahrlostem Äußeren, ein Graf Mölln mit dem Vornamen Kai.
Es war ein Junge von Hannos Statur, aber nicht wie dieser, mit einem dänischen Matrosenhabit, sondern mit einem ärmlichen Anzug von unbestimmter Farbe bekleidet, an dem hie und da ein Knopf fehlte, und der am Gesäß einen großen Flicken zeigte. Seine Hände, die aus den zu kurzen Ärmeln hervorsahen, erschienen imprägniert mit Staub und Erde und von unveränderlich hellgrauer Farbe… der Kopf, welcher vernachlässigt, ungekämmt und nicht sehr reinlich….war.
Mode war nach Auffassung des Bürgertums der Weiblichkeit verhaftet, und modische Eleganz beim Mann demonstrierte Unmännlichkeit und qualifizierte ihn ab, wohingegen Bürgerfrauen sich der wandelnden Mode unterwarfen und durch ihre Kleidung ihren Status repräsentierten: Nur sie trugen Korsetts, Männer schnürten sich nicht mehr, weil sie dadurch ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt hätten und des demonstrativen Müßiggangs verdächtigt worden wären.
(TM)
Die älteren Männer der Buddenbrook-Familie kleiden sich ihrem Geschmack entsprechend.
Der alte Konsul trägt noch die Mode seiner Jugend:
S. 8
Sein, rundes, rosig überhauchtes und wohlmeinendes Gesicht, wurde von schneeweiß gepuderten Haar eingerahmt, und etwas wie ein ganz leise angedeutetes Zöpflein fiel auf den breiten Kragen seines mausgrauen Rockes hinab. …nur auf den Tressenbesatz zwischen den Knöpfen und den großen Taschen hatte er verzichtet, aber niemals im Leben hatte er lange Beinkleider getragen. Sein Kinn ruhte breit, doppelt und mit einem Ausdruck von Behaglichkeit auf dem weißen Spitzen-Jabot.
Herr Lebrecht Kröger wird als ein a la mode-Kavalier beschrieben:
S. 17
Lebrecht Kröger…, eine große, distinguierte Erscheinung, trug noch leicht gepudertes Haar, war aber modisch gekleidet. An seiner Sammetweste blitzten zwei Reihen von Edelsteinknöpfen.
Ästhetische Grundregeln und Geschmack betonten in der Frauenmode Vielgestaltigkeit und Buntheit, so zu lesen bei Konsulin Elisabeth Buddenbrook:
S. 9
Ihr kurzes Mieder mit hochgepufften Ärmeln, an das sich ein enger Rock aus duftiger, hellgeblümter Seide schloss, ließ einen Hals von vollendeter Schönheit frei, geschmückt mit einem Atlasband, an dem eine Komposition von großen Brillanten flimmerte.
Aufgenähte Atlasstreifen stellten dabei Insignien bürgerlichen Lebens da. Derlei „Objekte“ dienten dazu, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu demonstrieren und spezielle Werte und Lebensorientierungen zum Ausdruck zu bringen. „Alle Objekte, die am Körper im weitesten Sinne befestigt werden können und so zusammen mit ihm erblickt werden, können als Identitätssymbole dienen“. [cdxxx]
Tony empfängt ihren Vater in einem der ernsthaften Situation angemessenen Outfit:
S. 210
Sie sah wohl, hübsch und ernsthaft aus und trug ein hellgraues, auf der Brust und an den Handgelenken mit Spitzen besetztes Kleid mit Glockenärmeln, stark geschweiftem Reifrock nach neuester Mode und einer kleinen Brillantspange am Halsverschluss.
Ein besonderes Kleidungsstück besitzt sie gleich mehrfach, den Schlafrock:
S. 197
Tony war im Schlafrock; sie schwärmte für Schlafröcke. Nichts erschien ihr vornehmer, als ein elegantes Negligé, … Sie besaß drei dieser schmiegsamen und zarten Kleidungsstücke, bei deren Herstellung mehr Geschmack, Raffinement und Phantasie entfaltet werden kann, als bei einer Balltoilette. Heute aber trug sie das dunkelrote Morgenkleid, dessen Farbe genau mit dem Tone der Tapete über der Holztäfelung übereinstimmte und dessen großgeblümter Stoff, weicher als Watte, überall mit einem Sprühregen ganz winziger Glasperlchen von der selben Färbung durchwirkt war… Eine gerade und dichte Reihe von roten Sammetschleifen lief vom Halsverschluss bis zum Saume hinunter.
Die ältere Mme. Antoinette Buddenbrook, geborene Duchamps, wählt ihrem Alter entsprechend, unauffällige, Einfachheit und Bescheidenheit ausdrückende Garderobe:
S. 8
Sie war eine korpulente Damen mit dicken weißen Locken über den Ohren, einem schwarz und hellgrau gestreiften Kleide ohne Schmuck.
Die Männermode dagegen war uniform, nüchtern und unauffällig, ja man kann behaupten, sie war durch uniformierte Farblosigkeit und Strenge geprägt, ganz anders als beim Adel. Für die Männer wandelte sich in der Kleidung die Farbe in die Richtung des unauffälligen Graus, es drückte Unempfindlichkeit und männliche Würde aus und stand im Gegensatz zur bunten unmännlichen Kleidung. Man favorisierte entsprechend der bürgerlichen Moral einfache, vernünftige und praktische Kleidung. [cdxxxi] Der dreiteilige Anzug mit Hose, Jackett und Weste, genannt Sakko, wegen des sackartigen Schnitts, prägte das Bild des Mannes. Der demonstrative Repräsentationsstil des Adels mit Perücken, Puder, Reifröcken, Schuhen mit hohen Absätzen entsprach ganz und gar nicht mehr dem bürgerlichen Männlichkeitsideal und verschwand. Nichts deutete mehr auf die Betonung der Geschlechtlichkeit hin. Eine sexuelle Schamgrenze tabuisierte den Körper des Mannes. Statt Kniehosen und sichtbare Strümpfe trugen die Männer Beinkleider, die durch eine geschlossene Jacke diskret den Hosenschlitz verdeckten, so wie Konsul Jean Buddenbrook
S. 9
Der Konsul beugte sich mit einer etwas nervösen Bewegung im Sessel vornüber. Er trug einen zimmetfarbenen Rock mit breiten Aufschlägen und keulenförmigen Ärmeln, die sich erst unterhalb des Gelenkes eng um die Hand schlossen. Seine anschließenden Beinkleider bestanden aus einem weißen, waschbaren Stoff waren an den Außenseiten mit schwarzen Streifen versehen. Um die steifen Vatermörder, in die sich sein Kinn schmiegte, war die seidene Krawatte gebunden, die dich und breit den ganzen Ausschnitt der buntfarbigen Weste ausfüllte…
Herr Grünlich kleidet sich stets überaus sorgfältig:
S. 219
Er trug einen ähnlichen schwarzen, faltigen, soliden Leibrock, ähnlich erbsenfarbene Beinkleider, wie diejenigen, in denen er einstmals in der Mengstraße seine ersten Visiten gemacht.
Auf dem Kopf betonte der Hut bzw. Zylinder die Eleganz und Geometrie des Aussehens. Er wurde zum bedeutsamen Kleidungsstück des Bürgers. Der gezogene Hut des Mannes galt als Geste der Ehrerbietung und hatte seinen Ursprung in der militärischen Grußsitte. Den Bürgern galt er als Ritual in der Begegnung prinzipiell Gleicher innerhalb des Standes: das Abnehmen dieser Kopfbedeckung galt als Höflichkeitsbezeugung. Zusammen mit dem Spazierstock gehörte er zum Habit des Bürgers und signalisierte Würde und eine männliche Macht:
S. 164
Thomas Buddenbrook ging die Mengstraße hinunter bis zum „Fünfhausen“. Er vermied es, oben herum durch die Breitestraße zu gehen, um nicht der vielen Bekannten wegen beständig den Hut in der Hand tragen zu müssen.
Die bayerische Variante trägt Herr Permaneder bei seinem Antrittsbesuch in Lübeck:
S. 325
In der einen seiner kurzen, weißen und fetten Hände hielt der Herr seinen Stock, in der anderen ein grünes Tyrolerhütchen, geschmückt mit einem Gemsbart.
D a s äußere Kennzeichen des Reinlichkeit liebenden Bürgers waren weiße Accessoires: Häubchen und Umhänge bei Frauen, Kragen und Halstücher beim Mann, ebenso wie weiße Hemden mit auswechselbaren Ärmeln, Manschetten. Die dominierende Farbe Weiß wurde zum Symbol des Guten und Reinlichen und galt als soziale Abgrenzung zu der körperlich arbeitenden Bevölkerung. Bei der Frau deutete dies auf Häuslichkeit hin und der Mann zeichnete sich mit dieser Farbe als beruflich erfolgreicher Geschäftsmann aus, der einer sauberen Büro- Schreibtischtätigkeit nachging. Der weiße Kragen des Mannes fand sich im sog. „Vatermörder“, (wie bei Konsul Jean Buddenbrook, s.o.), dessen Kragen die Männer, schmerzte, aber ein wichtiges Zeichen dafür war, dass man geistige und nicht körperliche Arbeit verrichtete!
(TM)
Thomas Buddenbrook neigt in seiner Kleidung zum Feinen und Aristokratischen:
S. 294
Man wusste, besonders der Tuchhändler Benthien wusste es, dass er nicht nur seine sämtlichen feinen und neumodischen Kleidungsstücke - und er besaß deren ungewöhnlich viele: Pardessus, Röcke, Hüte, Westen, Beinkleider und Cravatten - ja auch seine Wäsche aus Hamburg bezog.
Seine Reinlichkeit nimmt mit den Jahren pathologische Züge an:
S. 294
Man wusste sogar, dass er tagtäglich, manchmal sogar zweimal am Tage, das Hemd wechselte und sich das Taschentuch und den à la Napoléon III. ausgezogenen Schnurrbart parfümierte
Das Tragen von Unterkleidung (Unterhose, -hemden) und baumwollenen Schnupftüchern setzte sich durch[cdxxxii], als mit dem Aufschwung der Textilindustrie, bedingt durch die Aufhebung der Handelsbeschränkungen, Baumwollstoffe massenhaft Verbreitung fanden.
Die Alltagskleidung der Kinder (z.b. die Schulkleidung) unterschied sich von ihrer Kleidung am Sonn- und Festtag:
(TM)
S. 14
„… Diese beiden jungen Leute“, und er wies auf Tom und Christian, die in blauen Kitteln mit Ledergürteln bei ihm standen.
Hanno ist in der Schule mit einem „dänischen Matrosenhabit“ (S. 516) bekleidet, er…
S. 705
…zog die dicke, wollige Winterjacke an, setzte den Hut auf… und stürzte die Treppe hinunter…
Bei der Feier der Hauseinweihung und zu Weihnachten wurden Tony und die kleine Elisabeth fein gemacht:
S. 7
Und die kleine Antonie, achtjährig und zartgebaut, in einem Kleidchen aus ganz leichter, changierender Seide…
S. 532
Was die kleine Elisabeth betraf, so war es unmöglich, über ihren Gemütszustand zu urteilen. In einem Kleidchen, an dessen reichlicher Garnitur mit Atlasstreifen man Frau Permaneders Geschmack erkannte, saß das Kind auf dem Arm seiner Bonne…
(AG)
Reinlichkeit der Kleidung ist auch im 20. Jahrhundert ein Zeichen von innerer Ordnung und bei Geschäftsleuten, in diesem Fall bei Peter, ein Hinweis für Seriosität. Das macht Ingrid ihm klar, als sie ihm ihre Vorstellung von einer gemeinsamen Zukunft anschaulich darstellt:
S. 169
So verschwitzte Wäsche und Kleider, das ist wirklich etwas Hässliches und kann sehr abstoßend und geschäftsschädigend sein, ein schöner Schlamperdatsch, von dem ist keine ordentliche Arbeit zu erwarten…. Deine Fußsohlen sehen ja manchmal aus, als ob du durch den Schornstein gekommen wärst.
Peter vernachlässigt seine Kleidung aus zeitlichen und finanziellen Gründen, wechselt Berufskleidung mit unansehnlicher Alltagskleidung:
S. 159
Sie riecht das Öl an seinen Händen. Das kommt daher, dass er immer an der Tankstelle mit dem Öllumpen seine Schuhe putzt.
S. 162
… und Peter, mit weiterhin verrutschter Mine, steckt in Alltagskleidern, in durchhängenden Jeans … und in dem unansehnlichen Arbeitskittel, der er von seiner ältesten Schwester zum letzten Weihnachten geschenkt bekommen hat.
Der Hut bleibt für Richard im Jahre 1955, der Zeit der Restauration und der Verhandlung zum Staatsvertrag, ebenfalls noch ein bedeutsames bürgerliches Utensil:
S. 151
Richard holt sich seinen Hut, vergewissert sich vor dem Spiegel, dass der Hut gerade sitzt.
Alma kleidet sich im Stil ihrer Zeit 1938 weiblich-modisch:
S. 69
Alma räkelt sich bäuchlings auf ihrer Liege, in einem weißen Sommerkleid mit blauen Punkten und Puffärmeln.
In den letzten Jahrzehnten zeigen sich Identität und soziale Gruppenzugehörigkeit zwar weiterhin in der Kleidung und in Symbolen, aber mehr noch in der Gestaltung des eigenen Lebensstils, durch den gesamten Konsum bzw. der Wahl persönlicher Objekte und einer idealistischen bzw. materialistischen Lebensorientierung. [cdxxxiii]
(AG)
Ingrid richtet sich 1962 in ihrem Äußeren nach der aktuellen Mode - und die provozierte entsprechend der damaligen Zeit des Auf- und Umbruchs mit Lederjacken und kurzen Kleidern:
S. 207
Ingrid steigt aus, in kniehohen Lederstiefeln, einem kurzen, hellroten Kleid mit Plisseefalten und einer glatten schwarzen Lederjacke.
Von Philipp erfahren wir, dass er sich eine besondere Arbeitskleidung wünscht, um sich von den Arbeitern in seinem Status abzusetzen:
S. 132f
Auf die Frage, ob er ebenfalls Gummistiefel brauche, antwortet er:
- Gelbe, Größe 42.
…
die Arbeiter steigen aus, und Steinwald beklagt sich in vorwurfsvollen Ton, dass sie im ersten Baumarkt keine gelben Gummistiefeln erhalten und so über eine Stunde verloren hätten …
von Steinwald und Atamanov in ihren dunkelgrauen Stiefeln flankiert, würde er anhand der gelben Stiefel leicht als hochstehende Persönlichkeit erkennbar sein.
(ER)
In Ruges Roman sind es die Frauen, deren Kleidung ihre Identität widerspiegelt.
Charlotte stellt ihre Garderobe anlässlich der Rückkehr nach Deutschland wie folgt zusammen:
S. 44
…außerdem in reichlichem Umfang Kleidung, von der sie glaubten, dass sie sowohl dem Klima als auch ihrem neuen gesellschaftlichen Status entsprach. Statt heller, luftiger Sommersachen probierte Charlotte nun hochgeschlossene Blusen und dezente Kostüme in verschiednen Grautönen.
Sie geniert sich wegen eines bürgerlichen Requisits und beseitigt ihr damenhaftes Outfit:
S. 49, 50, 52
Allmählich dämmerte Charlotte, dass der Hut mit dem schwarzen Halbschleier, den sie extra für die Rückkehr gekauft hatte, eine Fehlentscheidung gewesen war.
Charlotte schämt sich. Für ihren Hutschleier.
Sie stand auf, nahm den Hut ab. Spülte den Mund aus. Betrachtete sich im Spiegel. Idiotin. Holte die Nagelschere aus ihrer Handtasche und trennte den Halbschleier von ihrem Hut ab.
Saschas ehemalige Frau Melitta verändert den Stil ihrer Kleidung im Laufe der Jahre und damit ihre Erscheinung, je nach Lebensorientierung/-stil:
S. 251ff
Allerdings waren die flachen, gurkenähnlichen Schuhe, die die Neue trug, ohnehin kaum von Hauspantoffeln zu unterscheiden….
…während Irina…über die Kleidung der Neuen nachdachte: über den langen braunen Cordrock, die braunen Wollstrumpfhosen - und was trug sie da obenherum? Irgendetwas Unförmiges, Unfarbenes. Und wieso, wenn sie schon kurze Beine hatte, trug sie nicht wenigstens hohe Schuhe?
S. 269
…normalerweise lief sie den ganzen Tag im karierten Hemd rum (am liebsten von Jürgen - solange es Jürgen noch gegeben hatte), und jetzt: Stöckelschuhe …
S. 337f
…wirklich knallkurzer Rock… sie trug gemusterte Stümpfe…
Irina:
S. 63
…sodass sie beschloss, nicht das lange Rückenfreie anzuziehen, wie im letzten Jahr, sondern, obschon weniger festlich, den ozeangrünen Rock, der eigentlich ein bisschen kurz war für ihr Alter.
Saschas Kleidung in der besetzten Wohnung während seiner beruflichen Krise drückt seine Protesthaltung aus:
S. 291
Er trug eine grässlichen, auffällig geflickten blauen Pullover.
Auf seiner Reise in Mexiko erwirbt er die typisch bürgerliche Kopfbedeckung:
S. 100
Alexander kauft einen Hut. Er hat, weiß er, schon immer einen Hut kaufen wollen…Er kauft den Hut, weil er sich mit Hut gefällt. Er kauft den Hut, um gegen die ihm anerzogenen Prinzipien zu verstoßen. Er kauft ihn, um gegen seinen Vater zu verstoßen. Er kauft ihn, um gegen sein ganzes Leben zu verstoßen, in dem er keinen Hut trug…Er lässt sich treiben. Jetzt erst gehört er wirklich dazu. Jetzt, mit dem Hut, ist er einer von ihnen.
S. 105
Setzt seinen neuen Hut auf. … Er sieht älter aus, als er ist. Er sieht gefährlicher aus, als er ist.
Über Wilhelms bürgerlichen Aufzug sagt Nadjeshda Iwanowna:
S. 143
Wilhelm, beinahe wie achtzig, und immer im Anzug, wie ein Minister sah er aus und sprach auch so, mit Bedeutung, merkte man gleich…
Saschas spätere Partnerin Catrin passt sich dem bürgerlichen Dresscode des Westens an. Die ‚ostige’ Kleidung der DDR sah man nach der Wende als unfein-billig und proletarisch an:
S. 360
Irina hatte Catrin zum letzten Mal im Sommer gesehen, und sie erinnerte sich jetzt, dass ihr schon damals eine Wandlung aufgefallen war: Aus der immer irgendwie sperrig aussehenden, billig zurechtgemachten Frau war auf einmal so etwas wie eine Erscheinung geworden. Ob es an den Westklamotten lag (sie trug ein klassisches dunkles Kostüm)… - Catrin sah plötzlich aus wie die Frauen in den Katalogen…
Neben der Kleidung war eine bestimmte Reinlichkeitsnorm das Erkennungszeichen des Bürgers: Die Ablehnung von Schmutz und die Vermeidung des Kontaktes mit dem Unreinen markierten die bürgerliche Existenz.
Als durch die medizinische Forschung Bakterien entdeckt und gleichzeitig der Schutz vor Gesundheitsgefahren bekannt gemacht wurde, gewannen Körperpflege und -hygiene in der Gesellschaft der Bürger eine große Bedeutung, und es kam zu einer Etablierung einer neuen Reinlichkeit. Sie bezog sich sowohl auf die Reinlichkeit im Haus als auch auf die Körperpflege. Ersteres oblag der Frau und stand im Zusammenhang mit ihrer sexuellen Attraktivität, denn eine unreinliche Ehefrau, die Unordnung und Schmutz im Haushalt duldete, so war die Auffassung, reduzierte auch die emotionale Bindung zu ihrem Partner. [cdxxxiv]
Im Bereich der Körperpflege entsprachen die Verhaltensmuster des Adels mit seiner bloß äußerlichen Sauberkeit nicht mehr dem Reinlichkeitsideal der Bürger. Die Reinigung der gesamten Körperoberfläche wurde für ihn zur wichtigsten Verhaltensnorm und ein Bestandteil der bürgerlichen Leistungsethik, denn Hygiene diente der Gesundheit, die wiederum war eine Voraussetzung für individuelle Leistung und Arbeitsfähigkeit. [cdxxxv]
(TM)
Johann Buddenbrook ist noch der Zeit und Mode des 18. Jahrhundert verhaftet, als ein entsprechender Geruch als ein Merkmal der Sauberkeit galt; man wählte Parfum zur Parfümierung des Körpers und Puder in der wasserlosen Pflege als Reinigungsmittel, z.B. bei der Trockenwäsche der Haare mit Puder und der anschließenden Parfümierung gegen Austrocknung und zur Entfettung des Haares. Im 19. Jahrhundert stellte es nur noch ein Relikt der früheren ständischen Ordnung dar, ebenso wie das Tragen von Perücken.
S. 8
Sein rundes, rosig überhauchtes und wohlmeinendes Gesicht, …, wurde von schneeweiß gepudertem Haar eingerahmt …
Reinlichkeit wurde zu einem Zeichen für Tugend und Ehrbarkeit, und die Verknüpfung von Gesundheit und Moral kam besonders in der Erziehung zur Reinlichkeit zum Ausdruck. Es gab den Begriff der„doppelten Reinlichkeit“: Sie umfasste den inneren und äußeren Menschen und sah die körperliche Verfassung des Menschen als ein Spiegelbild des Charakters. Für den Bürger galten ein reinlicher Körper und reinliche Kleidung als Zeichen bürgerlicher Lebenshaltung und Tugend. [cdxxxvi] „Der Schluss von dem Äußerlichen auf das Innerliche ist uns so natürlich“, schrieb Johann Heinrich Campe. [cdxxxvii]
In der Konsequenz hieß das: Reinlichkeit ist ein „Stück Selbstbeherrschung“, „ein Stück der Herrschaft, die der Geist über das seelische und leibliche Leben führt“. [cdxxxviii]
(TM)
Thomas Buddenbrook hat, so wie jeder Bürger, nur eine geringe Toleranz gegenüber schlechten Körpergerüchen und neigt dazu, seinen Körper durch Wasser und Seife oftmals am Tag zu deodorieren. Er intensiviert seine persönliche Hygiene durch häufigen Hemdwechsel.
Das von ihm in der Zeit des wirtschaftlichen ökonomischen Stillstands der Firma entwickelte krankhafte Bedürfnis nach Reinigung und Kleidungswechsel ist ein Versuch, „das Vergängliche zu konservieren und die Zeit stillzustellen.“ [cdxxxix]
S. 418f
Das, was man Thomas Buddenbrooks „Eitelkeit“ nannte, die Sorgfalt, die er seinem Äußeren zuwandte, der Luxus, den er mit seiner Toilette betrieb, war in Wirklichkeit etwas gründlich Anderes. Es war ursprünglich um nicht mehr, als das Bestreben eines Menschen der Aktion, sich vom Kopf bis zur Zehe stets jener Korrektheit und Intaktheit bewusst zu sein, die Haltung gibt. …
Wenn das Merkwürdige zu beobachten war, dass gleichzeitig seine „Eitelkeit“, das heißt dieses Bedürfnis, sich körperlich zu erquicken, zu erneuern, mehrere Male am Tag die Kleidung zu wechseln, sich wieder herzustellen und morgenfrisch zu machen, in auffälliger Weise zunahm, so bedeutete das, obgleich Thomas Buddenbrook kaum 37 Jahre zählte, ganz einfach ein Nachlassen seiner Spannkraft, eine raschere Abnützbarkeit…
Der Geruch galt als das essenzielles Kennzeichen für (fehlende) Sauberkeit. Schmutz besaß einen schlechten Geruch und musste als gesundheitsschädlich gelten, deshalb war für die Mediziner ihre „Nase ein wichtiges Instrument“, [cdxl]
Mitglieder sozialer Schichten grenzten sich durch einen gemeinsamen Geruch voneinander ab:
„Der Schmutz ist über den Zusammenhang von Krankheit und Hygiene hinaus eine Störung geordneter sozialer Beziehungen.“ [cdxli]
Wasser war früher ein angstbesetztes Element und bedeutete für die oberen Schichten eine Bedrohung des Lebens, nur Mitglieder der Unterschicht praktizierten vormals Ganzkörperbäder im Wasser. Nun aber wurde es von den bürgerlichen Ärzten als Mittel zur körperlichen Sauberkeit angesehen. Sie verordneten Schwimmen im kalten Wasser zur Förderung der Hautreinigung und kalte Bäder zur Abhärtung, was insbesondere der Jugend Kraft geben, der Minderung des Geschlechtstriebes und Weichlichkeit und Schwächlichkeit des Stadtbürgertums vorbeugen sollte. [cdxlii]
(TM)
Hanno bekommt dies wegen seiner schwachen gesundheitlichen Konstitution angeordnet:
S. 624
„Baden! Schwimmen!“ hatte Doktor Langhals gesagt. „Der Junge muss baden und schwimmen!“ Und der Senator war vollständig damit einverstanden gewesen.
Das Reinlichkeitsverhalten des Bürgertum ließ den Wasserbedarf eklatant ansteigen. Es verbreiteten sich „Wasserclosetts“, die wiederum ein Kanalisationsproblem entstehen ließen: Große Mengen an Abwasser wurden in die offenen Rinnsteine gepumpt und ergossen sich in die Straße. Dadurch wiederum waren die Städte gezwungen, den Ausbau der städtischer Wasserleitungen zu fördern. [cdxliii]
(TM)
So entleert der Barbier Benthien sein Schaumgefäß nach dem Rasieren des Senators schlichtweg auf das Pflaster. (S. 361)
Der Ort, an dem Thomas Budddenbrook den tödlichen Schlaganfall erlitt, steht im Widerspruch zur Reinlichkeitsethik und zum Reinlichkeitsverhalten der Bürger und stellt ein Ekel hervorrufendes Erlebnis dar, was Gerdas Reaktion bestätigt.
S. 681
„Wie er aussah“,… „als sie ihn brachten! Sein ganzes Leben lang hat man nicht ein Staubfäserchen an ihm sehen dürfen… Es ist ein Hohn und eine Niedertracht, dass das Letzte so kommen muss…!“
Auch die Seeluft galt als Mittel der Reinigung und der Pflege der Gesundheit. In den Kurbädern am Meer stand das Wasser als Heilmittel im Mittelpunkt. Mit Trinkkuren und Bädern förderte es Geselligkeit und gleichzeitig Gesundheitspflege, wie z.B. in Travemünde, dem Erholungsort der Familie Buddenbrook:
S. 662
Im Herbst sagte Doktor Langhals, indem er seine schönen Augen spielen ließ wie eine Frau:
„Die Nerven, Herr Senator… an Allem sind bloß die Nerven schuld. und hie und da lässt auch die Blutzirkulation ein wenig zu wünschen übrig. Darf ich mir einen Ratschlag erlauben? Sie sollten sich dieses Jahr noch ein bisschen ausspannen! Diese paar Seeluft-Sonntage im Sommer haben natürlich nicht viel vermocht… Wir haben Ende September, Travemünde ist noch in Betrieb, es ist noch nicht vollständig entvölkert. Fahren Sie hin, Herr Senator, und setzen Sie sich noch ein wenig an den Strand. Vierzehn Tage oder drei Wochen reparieren schon Manches…“
Bürgerliche Ärzte legten den Fokus in ihren Behandlungen auf den Zusammenhang von Haut und Arbeit und auf die Bedeutung des Schwitzens, das alles Unreinliche ausschwämmen sollte.
Der Wechsel der Kleidung und deren Beschaffenheit wurde zu einem wichtigen Thema, ebenso die Art der Kleidung, die idealerweise Beweglichkeit fördern und nicht mehr wie bei den Aristokraten zuschnüren sollte (s.o.). Mediziner rieten zum täglichen Wechsel des Hemdes bei anstrengender Tätigkeit. [cdxliv]
Thomas Mann beschreibt in seinem Roman Szenen der Körperhygiene und der individuellen Körperreinigung: Das Duschbad, das sich Mitte des 19. Jahrhunderts etablierte, findet Erwähnung:
S. 357
Gleichmorgens um acht Uhr, sobald er das Bett verlassen hatte, über die Wendeltreppe hinter der kleinen Pforte ins Souterrain hinabgestiegen war, ein Bad genommen und seinen Schlafrock wieder angelegt hatte, begann Konsul Buddenbrook sich mit öffentlichen Dingen zu beschäftigen.
Der Ort der Körperpflegeriten war das Schlafzimmer. In dessen Privatsphäre zog man sich zur verborgenen Reinigung zurück, ein Ort des Intimen, vor dem man Abstand wahrte.
Der hygienische Lebensstil des Bürgertums wurde durch Gesundheitsreformen von Sozialpolitikern, medizinische Volksaufklärung, Pastoralmedizin und mit Hilfe der technischen Wasserversorgung auf die gesamte Stadtbevölkerung ausgedehnt und verbindlich. Man übernahm die bürgerliche Tugend der Reinlichkeit und transportierte auf diese Art einen weiteren Wert des Bürgertums von oben nach unten. Hierbei ist die Rolle der Ärzte nicht zu unterschätzen, denn sie propagierten die Reinlichkeitsnormen und trugen zur „Befreiung von den Zwängen der ständischen Gesellschaft und Disziplinierung der Unterschichten bei.“ [cdxlv]
Reinlichkeit entwickelte sich im Wertesystem aller sozialen Gruppen in unserer Gesellschaft und wurde zu einer Grundnorm in Bezug auf Körper, Kleidung und Umgebung.
(AG)
Die Reinigung gehört zu Richards morgentlichem Ritual:
S. 142f
Er dreht den Wasserhahn auf und wäscht sich die Hände. …
Er wäscht sich prustend und stöhnend das Gesicht. … Anschließend hält er seinen Kamm unter Wasser und bringt die Haare in Ordnung.
Das Bad, von dem der Autor ausführlich erzählt, dient Richard zur Entspannung. Er geht dabei den Gedanken nach und sinniert über die Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren sind.
S. 193
- Entspann dich, fordert Alma mit unerschütterlicher Regelmäßigkeit. ..
Er geht nach oben ins Bad und öffnet die Wasserhähne. Er wartet, bis heißes Wasser in den Rohren ist, dann verschließt er den Abfluss, nimmt die Flasche mit dem Schaum aus dem Schrank und gießt mit der Verschlusskappe etwas von der tiefgrünen Flüssigkeit in die Wanne. Bis die Wanne vollgelaufen ist, hat er zehn Minuten Zeit.
S. 198ff
Mit schlaff am Körper liegenden Armen und geöffneten Beinen liegt Richard im heißen Wasser …
Mit auf- und zuklappenden Beinen erzeugt er Wellen, schaut diesen Wellen bei ihren Bewegungen zu und fragt sich dabei, ob die Zeit tatsächlich arbeitet …
Die Wellen laufen immer wieder in der Mitte der Wanne aufeinander zu, Bauch und Wannenrand, hin und zurück, Havarie. Richard gleitet mit dem Oberkörper tiefer ins Wasser, die Knie seiner abgewinkelten Bein stoßen jetzt als Inseln hervor, sein Kopf taucht unter, mit geschlossenen Augen, die Nasenflügel zwischen zwei Fingern. …
Richard steht in der Wanne auf und duscht sich ab, mit einer gewissen Genugtuung, das er gerade eine weitere Ungerechtigkeit in seinem Leben ausgemacht hat.
Ingrid ist als Mutter darauf bedacht, ihren Kindern - auch spielerisch - die Bedeutung der Sauberkeit für ihre Gesundheit anzuerziehen, so wie es die Mutter bei ihr und Otto wiederum praktiziert hat:
S. 263
Sie seift den Kindern die Köpfe und spült ihnen das feine, leichte Haar, wie es schon ihre eigene Mutter gemacht hat, als Ingrid und Otto gemeinsam in der Wanne saßen.
… überredet sie die beiden zu einem Wettbewerb, wer länger untertauchen kann. … Sie wiederholen das Spiel mehrmals. Einmal rufen die Kinder etwas unter Wasser, hinterher wollen sie wissen, ob Ingrid verstanden hat, was. … die Kinder müssen ihre Geschlechtsteile waschen…
Philipp dient das gemeinsame Baden mit Johanna dagegen weniger der Körperhygiene als der sexuellen Stimulierung:
S. 92ff
Bei Johannas nächstem Besuch ist immerhin das Badezimmer so weit entrümpelt, dass sie trotz der zahlreichen gebrochenen Fliesen und der darauf niederregnenden Dispersionsflocken zu Philipp in die Wanne steigt …Johanna lässt heißes Wasser nachrinnen. Es fließt über die gelblichen Kalkschlieren unterhalb des Hans, bis Philipp die Röte ins Gesicht steigt. …Sie schlägt mit den Händen auf die Wasseroberfläche und verspritzt das Badewasser hemmungslos in Philipps Gesicht und bis zur Tür. Dann lässt sie nochmals Wasser nachrinnen. Der Badeschaum ist größtenteils in sich zusammengefallen, die wenigen Reste bilden Ringe, um die aus dem Wasser ragenden Körperteile. …
Kurz darauf duschen sie sich ab.
(ER)
In Eugen Ruges Roman findet die Bedeutung der Körperhygiene beim dementen Vater Erwähnung. Der Pflegedienst und der Sohn unterstützen Kurt bei der Reinigung:
S. 15f
- Na, dann wechseln wir mal die Windel. Kurt tapste ins Bad…nachdem Alexander seinen Vater geduscht, ins Bett gebracht und den Badfußboden gewischt hatte, war sein Kaffee kalt.
13.3. Der Bürger in der politischen und sozialen Verantwortung als Amtsträger
Der Bürgerbegriff des 19. Jahrhunderts enthielt eine individuelle u n d eine gesellschaftliche Komponente, einerseits betont er die Entwicklung der eigenen Individualität, andererseits fordert er den Zusammenschluss gleichgesinnter Individuen zu Gruppen und freien Vereinen. Dies impliziert eine sozial bestimmte Rollenerwartung und ein sozial akzeptiertes Ausmaß an Individualität - Konformität und Persönlichkeit als Pole des bürgerlichen Lebens. [cdxlvi] Die „Polarität von persönlicher Freiheit und Verpflichtung auf das Gemeinwohl machte das bürgerliche Strukturprinzip von Individualität und Vergesellschaftung aus.“ [cdxlvii] „Gemeinschaft“ galt als eine Notwendigkeit, sie gab einerseits stützenden Halt. konnte aber gleichzeitig auch eine Einengung darstellen.
Es war ein wesentliches Element des bürgerlichen Wertekanons, im Zusammenhang mit eigenverantwortlichem Handeln und der freien Selbstbestimmung, auch am öffentlichen Gemeinwesen teilzuhaben. Diese Partizipation am bürgerlichen Gemeinwesen im Dienst am Staat war an zwei Bedingungen geknüpft:
1. geistige Unabhängigkeit
2. materielle Unabhängigkeit.
Beides war entscheidend, um als Bürger sich unabhängig vom Einfluss anderer eine eigene Meinung bilden zu können und öffentliches Handeln danach auszurichten. [cdxlviii] Viele der öffentlichen Ämter, gerade in den Reichs- und Handelsstädten wurden von Handel treibenden Bürger auf ehrenamtlicher Basis als Honoratioren übernommen, was das Beispiel von Johann Buddenbrook des Jüngeren und des Senators Thomas Buddenbrook zeigt. In den Bürgervertretungen saßen Kaufleute wie sie und wohlhabende Handwerksmeister. „Im Sozialprofil der kommunalen Mandatsträger kommt wiederum zum Vorschein, dass die Stadtverwaltung auch nach den Reformen vor allem Angelegenheit des gewerblichen Bürgertums war.“ [cdxlix]
Im Vordergrund stand das Ziel nach einer Ausweitung der politischen Mitwirkung. Politik hatte durch ein gutes Gemeinwesen zu verhindern, dass private Interessen oder Despotie, Korruption und Verschwörung im städtischen Gemeinwesen eine Gefahr darstellten. Dies sollte eine Partizipation der Bürger, ihre Wachsamkeit und Tugend verhindern. [cdl]
Männer der Amtsträgerschaft, so war die Auffassung, waren in der Lage, das Gemeinwohl der Stadt zu fördern, wenn sie in selbständigen Verhältnissen lebten und wirtschaftlich durch sicheres Vermögen und Einkommen unabhängig waren. Aufgrund ihrer Bildung konnten sie, so war die Auffassung, selbständig Urteile fassen. „Selbstverwaltung wurde gerade von den liberalen Parteien als überparteiliche, vernunftgeleitete Erörterung von Sachproblemen verstanden.“ [cdli] Um politische Glaubwürdigkeit bei Wahlen zu haben, reichte zunächst die Persönlichkeit des Kandidaten aus.
(TM)
Familie Buddenbrook gehört zur stadtbürgerlichen Elite durch ihren Wohlstand, ihre Selbständigkeit, ihre Heiratskreise und ihre Lebensform. Thomas B. versteht sich als gebildeter Bürger und geht in kulturell-sprachlicher Distanz zum Volk. Die habituellen Vorbilder des Konsuls liegen demnach zwar außerhalb des kleinstädtischen Wirkungskreises, gleichzeitig aber fand er eine zufriedene Genügsamkeit darin, in dieser Kleinstadt Lübeck Einfluss zu haben, darüber sinnt er nach in einer fiktiven Ansprache an seinen Onkel Gotthold:
S. 276
Aber Alles ist bloß ein Gleichnis auf Erden, Onkel Gotthold! Wusstest du nicht, dass man auch in einer kleinen Stadt ein großer Mann sein kann? Dass man ein Cäsar sein kann an einem mäßigen Handelsplatz an der Ostsee?
Zum bürgerlich-liberalen Prinzip gehörte bürgerliche Selbstverwaltung mit gleichzeitiger Gemeinwohlbindung. Ein Strukturmerkmal war die Selbstorganisation der Gesellschaft durch von Menschen gebildete und aufgelöste freiwillige Gemeinschaften zu politischen Zwecken. [cdlii] Der Bürger, durch die Gemeinde mit dem Staat verbunden, fühlte sich als Individuum dem Gemeinwohl insbesondere durch ein Ehrenamt in der städtischen Selbstverwaltung und eine politische Tätigkeit in Ämtern im Bereich der kommunalen Vertretungen verpflichtet. Das Ziel war die Gründung der bürgerlichen Gesellschaft, und diese besaß als Strukturprinzip die Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation zur Regulierung der städtischen Lokalpolitik.
Lösungen sozialer Probleme sah man im bürgerlichen Selbstverständnis individualistisch: Nicht staatliche Hilfen, sondern das im Mittelpunkt stehende Individuum mit seiner individuellen Verantwortung sollte sich durch Bildung bzw. Aus- und Weiterbildung und Selbsthilfe, beides zielte auf die Selbstständigkeit des Einzelnen, aus problematischen Situationen befreien.
Eine große Anzahl der Bürger engagierte sich in der Stadt für sozial-karitative Zwecke, um Armut und Not zu lindern. In den protestantischen Städten bildeten sich Lokalvereine der Inneren Mission, sie verbanden soziale Fürsorge mit religiöser Erziehung. Bürgerliche Frauen engagierten sich persönlich und finanziell, da die Fürsorge für die Armen per se dem weiblichen Geschlechtscharakter entsprach. Direkt kam der Bürger selten mit den Armen in Kontakt. Beamte und Stadtverordnete saßen in den Vorstädten der Wohltätigkeitsvereine und sorgten mit Hilfe höherer Geldsummen, gespendet von wohlhabenden Bürgern, für die Finanzquelle.
Viele der öffentlichen Ämter, gerade in den Reichs- und Handelsstädten, wurden von Handel treibenden Bürgern auf ehrenamtlicher Basis als Honoratioren übernommen, was das Beispiel von Johann Buddenbrook des Jüngeren und des Senators Thomas Buddenbrook zeigt.
In den Bürgervertretungen saßen Kaufleute wie sie und wohlhabende Handwerksmeister. „Im Sozialprofil der kommunalen Mandatsträger kommt wiederum zum Vorschein, dass die Stadtverwaltung auch nach den Reformen vor allem Angelegenheit des gewerblichen Bürgertums war.“ [cdliii]
Kinder und Ehefrauen nahmen keinen direkten Anteil am politischen Leben des Mannes, für sie lief der Alltag in den üblichen Bahnen, anderes stand im Vordergrund. Mann hatte die Tendenz, Politik von den Kindern und Frauen fern zu halten, Politik wurde aus deren Erfahrungsbereich gestrichen, Gespräche über das politische Tagesgeschehen mehr oder minder verbannt.
(TM)
S. 29
Die Damen waren dem Disput nicht lange gefolgt.
Bei Familie Buddenbrook funktioniert dies bis zum Tag der Revolution, als Frau Buddenbrook der aufmüpfigen revoltierenden Dienerschaft begegnet.
S. 175
Trina, die Köchin Trina, ein Mädchen, das bislang nur Treue und Biedersinn an den Tag gelegt hatte, war plötzlich zu unverhüllter Empörung übergegangen… dieser ewig blutige Mensch musste die Entwicklung ihrer politischen Ansichten in der nachteiligsten Weise beeinflusst haben. …
„Warten sie man bloß, Fru Konsulin, da duert nu nich mehr lang, denn kommt ne annere Ordnung in die Saak, denn sitt ick doar up’m Sofa in’ sieden Kleed, und Sei bedeinen mich, denn…“ Selbstverständlich war ihr sofort gekündigt worden.
Zunächst hatte die bürgerlich-liberale Bewegung im 19.Jahrhundert keine Partei mit festem Programm und fester Organisation, sondern war eine „Honoratiorengesellschaft“, d.h. Personen, männliche Bürger, waren in unbesoldeten Ehrenämtern politisch aktiv: „Wenn politische Meinungsbildungprozesse wenig formalisiert waren, Gruppenbildungen sich durch einen geringen Organisationsgrad auszeichneten, die Interaktion geprägt war durch face-to-face Beziehungen, dann kann man von einer Honoratiorenstruktur sprechen.“ [cdliv]
Bis in die 80er Jahr des 19. Jahrhunderts besaß diese liberale Honoratiorengesellschaft in den Gemeinden und Städten keine feste Organisation, stattdessen bildeten informelle Beziehungen und Vereine die Basis.
Die Blütezeit der Honoratiorenverwaltung war nach der Mitte des 19. Jh., eine liberale Phase mit den Prinzipien von Marktregulierung und freier genossenschaftlicher Selbsthilfe, privatwirtschaftlichen Initiativen und freien Zusammenschlüssen von Bürgern. [cdlv] Ein überschaubarer Kreis von Honoratioren, die aus Unternehmer- und bedeutenden Kaufmannsfamilien kamen, (Bildungsbürger hielten sich von der Kommunalpolitik fern) hatte die aktive Entscheidungs- und Gestaltungsmacht im Stadtparlament und konnte dank ihrer Position in der Bürgerschaftsvertretung ein entscheidendes Wort mitreden.
Im Liberalismus definierten sich bürgerliche Individuen mit den von ihnen postulierten politischen Werten, die stets bezogen waren auf die Freiheit des Einzelnen und den wirtschaftlich selbständigen Bürger. Die Ziele ihres bürgerlichen Handelns galten dem Gemeinwohl u n d dem Eigeninteresse. Als ansässige Gewerbetreibende und Hausbesitzer hatten sie großes Interesse daran, an der kommunalen Selbstverantwortung teilzunehmen und bei kommunalpolitischen Entscheidungen, wie z.B. den Haushaltsberatungen und der Festsetzung der Steuern und Abgaben mitzubestimmen. Stadtplanerische Entscheidungen, Infrastrukturprojekte, wie Verkehrsanbindungen für Transport, Strom- und Verkehrswesen, Handel und städtische Bauvorhaben, als auch die Eröffnung von kulturellen Gebäuden, konnten ebenso wie die Vergabe von Aufträgen von Wirtschaftsbürgern, wenn man im Rathaus präsent war, mitentschieden werden. Städtische /kommunale Selbstverwaltung geschah somit durch die Interessenpolitik bürgerlicher Honoratioren, wirtschaftlich unabhängigen selbständigen Bürgern, „Männer[n], die für die Politik leben konnten, ohne von ihr leben zu müssen.“ [cdlvi] Aktionen von Seiten der gewählten Honoratioren waren appellativ, nicht demonstrativ, und direkt an die Autorität gerichtet. Mobilisierung bedeutete für die liberal denkenden Bürger eine agitatorische Beeinflussung der Öffentlichkeit durch Reden, Versammlungen und Flugblätter.
„Aus der Teilhabe am Bürgerrecht ergab sich nur bedingt eine Beteiligung an der politischen Macht. In der Mehrzahl der Städte blieb die Politik im engeren Sinne die Domäne einiger weniger Familien, die ein effizientes Netzwerk aufgebaut hatten, gewoben aus Verwandtschaft und Freundschaft, gestützt von gemeinsamen Interessen.“ [cdlvii]
(TM)
Manchem Bürger bleibt dieses ehrwürdige Amt verwehrt:
S. 408
Der alte Kaufmann Kurz in der Beckergrube, der bei jeder Wahl drei oder vier Stimmen erhält, wird wiederum am Wahltage bebend in seiner Wohnung sitzen und des Rufes harren; aber er wird auch diesmal nicht gewählt werden, er wird fortfahren mit einer Miene voll Biedersinn und Selbstzufriedenheit, das Trottoir mit seinem Spazierstock zu stoßen, und er wird sich mit diesem heimlichen Grame ins Grab legen, nicht Senator geworden zu sein …
Th. Mann beschreibt Lübeck mit seiner patrizischen Verfassung als eine Hansestadt mit der verkrusteten Struktur einer oligarchischen Stadtherrschaft. [cdlviii] Die Kaufleute um Th. Buddenbrook treten in einer ständischen Sonderposition auf. Spezielle politische Aktivitäten und Tätigkeiten werden konkret nicht genannt, (anders bei Kellers „Grünen Heinrich“, d e m Bürger-Roman schlechthin, in dem ein Streitfall um den Bau einer Straße geschildert wird mitsamt der Diskussion und den Problemlösungsmöglichkeiten verschiedener interessierter Bürger.)
(TM)
Die Wahl Thomas Buddenbrooks in den Senat gibt uns ein Bild von der Stadtpolitik Lübecks:
S. 410f
Hie und da aber konnte Frau Permaneder sich trotzdem nicht entbrechen, ein wenig mit ihrer Kenntnis der Staatsverfassung zu prunken… Sie sprach dann von Wahlkammern, Wahlbürgern und Stimmzetteln, erwog alle denkbaren Eventualitäten, citierte wörtlich und ohne Anstoß den feierlichen Eid, der von den Wählern zu leisten ist, erzählte von der „freimütigen Besprechung“, die verfassungsmäßig von den einzelnen Wahlkammern über alle diejenigen vorgenommen wird, deren Namen auf der Kandidatenliste stehen…
S. 413
Jede im Senate erledigte Stelle muss binnen vier Wochen wiederbesetzt werden
In Lübeck kannte man bis in die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts in der Bürgerschaft keine eigentlichen politischen Parteien. Vertreter der Nationalliberalen, der Fortschrittspartei oder der Sozialdemokraten gab es erst nach der Reichsgründung.
Für das passive Wahlrecht galt eine höhere Vermögensforderung als für das aktive, Thomas B. war demnach wohlhabender als andere Wähler.
S. 409
Keine Zweifel, Hermann Hagenström hatte Anhänger und Bewunderer. …Das neuartige und damit Reizvolle seiner Persönlichkeit war das, was ihn auszeichnete und ihm in den Augen vieler eine führende Stellung gab, war der liberale und tolerante Grundzug seines Wesens. …
Er war nicht der Mann, in der Bürgerschaft die Bewilligung größerer Geldsummen zur Restaurierung und Erhaltung der mittelalterlichen Denkmäler zu befürworten. …
Das Prestige Thomas Buddenbrooks war anderer Art. Er war nicht nur er selbst, man ehrte in ihm noch die unvergessenen Persönlichkeiten seines Vaters, Großvaters und Urgroßvaters…… und abgesehen von seinen eigenen geschäftlichen und öffentlichen Erfolgen war er der Träger eines hundertjährigen Bürgerruhmes. … und was ihn auszeichnete, war ein selbst unter seinen gelehrten Mitbürgern ganz ungewöhnlicher Grad formaler Bildung…
Die geringe Größe Lübecks brachte es mit sich, dass die Bevölkerung mit regem Interesse an den Wahlen und Entscheidungen des Senats und der Bürgerschaft teilnahm. Dies spiegelt sich bei der Senatorenwahl wider, zu der das Volk vor das Rathaus geströmt war, um die Entscheidung zu vernehmen.
S. 413
In der Breitenstraße, vor dem Rathause … drängen sich mittags um 1 Uhr die Leute. Sie stehen unentwegt in dem schmutzig-wässerigen Schnee der Straße… Denn dort, hinter jenem Portale, im Ratssaale, mit seinen vierzehn im Halbkreise stehen Armsesseln, erwartet noch zu dieser Stunde die aus Mitgliedern des Senats und der Bürgschaft bestehende Wahlversammlung die Vorschläge der Wahlkammern. …
Gott gebe, dass nun wenigstens die allgemeine Wahl durch geheime Abstimmung mittelst Stimmzettel eine unbedingte Stimmenmehrheit ergibt. ..
Es sind Leute aus allen Volksklassen, die hier stehen und warten….
Zeitungen waren die geistige Nahrung und wurden für die Informationsbeschaffung genutzt. In Lübeck gab es bis Ende der 40er Jahre mit den „Lübeckischen Anzeigen“ ein Anzeigenblatt und die seit 1835 von der „Gesellschaft zur Beförderung gemeinnütziger Tätigkeit“ herausgegebenen „Neuen Lübeckischen Blätter“. [cdlix] In den Bürgerhäusern wählte man Hamburger und Bremer Zeitungen zur Information.
Auch Thomas B. begegnet uns als politisch belesener und informierter Bürger:
S. 450
Er hatte die Berliner Börsenzeitung vor sich ausgebreitet und las, ..
Anders als eine Partei boten Vereine als Art Basisdemokratiedem Bürger die Möglichkeit, durch spezielle Zwecksetzungen und für ein punktuell umgrenztes Ziel zeitlich begrenzt aktiv zu sein. Man engagierte sich in einer Vielzahl von Vereinen und knüpfte so Netzwerke einer liberal-bürgerlichen Bewegung. Die Netzwerke von Liberalen und Demokraten überlappten sich bisweilen, letztere waren eher im populären Vereinswesen bei den Sängern und Turnern vertreten.
Es gab Bezirksvereine, die lokale Interessen sammelten und gegenüber der Stadt vertraten, Unterstützungsvereine wie z.B. Konsumvereine, die kleinbürgerliche Handwerker an sich banden, weiterhin gesellige Vereine, in denen verschiedene politische und gesellschaftliche Kreise vereint waren.
Eine Partei benötigte stets Mitglieder für unterschiedliche Ziele und erwartete parteikonforme Meinungen. Anders im Verein: Dort erlebte der Bürger nicht die Strenge eines Parteiapparates, sondern fühlte seine individuelle Persönlichkeit in der Gemeinschaft eingebettet. Vereine, in denen das persönliche Gespräch entscheidend war, waren eine konkrete Ausprägung der als bürgerlich gedachten Eigenschaften wie der freien Selbstbestimmung, der individuellen Entfaltung und des eigenverantwortlichen Handelns. [cdlx]
Ein Beispiel für einen Verein mit einem punktuell umgrenzten Ziel ist der 1863 in Preußen gegründete „Verein zur Wahrung der verfassungsmäßigen Preßfreiheit in Preußen.“ Durch den Eintritt demonstrierte man den Protest gegen die Politik Bismarcks. Dauerhaftes Vereinsleben fand dort jedoch nur so lange statt, bis der Verein nach dem Erreichen seines Zieles aufgelöst wurde. [cdlxi]
Städtische Politik als Honoratiorenherrschaft galt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts für die führenden wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Schichten als erstrebenswert, [cdlxii] doch bereits seit den 1870er Jahren nahmen gut organisierte Wirtschaftsverbände Einfluss auf politische Entscheidungen in den Parlamenten und unterstützten ihnen nahestehende Politiker und Parteien durch Spenden.
„Die frühe Geschichte des Liberalismus lässt sich auch schreiben als ein Versuch, Prinzipien kommunaler Gesellschaftsordnung auf staatliche Anforderungen zu übertragen.“ [cdlxiii] Zwischen 1860 und 1880 formte sich die bürgerlich-liberale Bewegung zu einer politischen Bewegung mit dem zentralen gemeinsamen Wert von Staat und Nation und dem Ziel eines Nationalstaates ohne Änderung des politischen Systems und mit der Bindung an die Obrigkeit.
Politisches Denken basierte im Bürgertum auf dem „klassischen Republikanismus“, die konstitutionelle Monarchie galt als Inbegriff des modernen Staates. Die Beschränkung des Souveräns sollte diesen zur Achtung von Recht und politischer Freiheit zwingen. [cdlxiv]
Nach der Gründung des Nationalstaates 1871 war das große Ziel der Liberalen erreicht und das Bürgertum verlor seinen zentralen Wahlprogrammpunkt. Seine Grundprinzipien der Bürgerlichen Gesellschaft wurden mit der Reichsgründung verwirklicht, wie z.B. die Einräumung von Freiheitsrechten für den Einzelnen, formale Gleichheit vor dem Gesetz, Gewaltenteilung und Beschränkung der Macht des Monarchen und ein auf freiem Eigentum und Gewerbefreiheit basierendes Wirtschaftssystem.
In den 80er Jahren entstanden dauerhafte Parteivereine mit überlokalen festen Organisationsstrukturen. Sie wollten in den vorhandenen Institutionen und im Parlament die eigene Position stärken. [cdlxv]
Das Ende der liberalen Hegemonie hatte zwei Ursachen: Sie stand im Zusammenhang mit der Bildung der katholischen Partei, des „Zentrums“, die sich nach der Beschneidung der kirchlichen Befugnisse formierte. Weiterhin gab es nun eine in Arbeitervereinen organisierte Arbeiterschaft, die zur SPD wurde. Diese vergrößerte ihre Erfolge durch die Erweiterung des Wahlrechts, während sich der Einfluss des Bürgertums reduzierte, weil solch eine milieuhafte Geschlossenheit wie im politischen Katholizismus und in der Arbeiterbewegung im bürgerlich-protestantischen Liberalismus nicht vorhanden war.
Die Sozialpolitik Bismarcks ließ sich nicht mit den Prinzipien der Selbsthilfe und Eigenverantwortung der Liberalen verbinden, und seit der Jahrhundertwende setzte sich auch im „Freisinn“ die Erkenntnis durch, dass die sozialen Problemlagen der Industriegesellschaft [soziale Frage] nicht mit den Rezepten des Vormärz zu lösen waren. [cdlxvi] Der liberale Honoratiorenstil tat sich schwer mit der Anpassung an die Massenpolitik. Das gebildete und besitzende Bürgertum präsentierte sich im Auftreten und Redestil anders als die politischen Mandatsträger, die nun als „Berufspolitiker“ auftraten und nicht mehr geistig und materiell unabhängig waren.
Gemeinsam blieb den Liberalen als ideelle Gemeinsamkeit das „Nationalgefühl“; „bürgerlich“ und „national“ zu sein wurde nun zum Synonym für die liberalen und konservativen Parteien. Ihre soziale Basis bildeten die liberalen Wähler mit den idealtypischen Eigenschaften der Mandatsträger, der Freiberufler, der Beamten und der selbständig wirtschaftenden Bürger. Letzteres war für die Organisation und das Selbstverständnis des Liberalismus prägend. [cdlxvii]
(AG)
Richard Sterk ist das Beispiel eines Bürgers in politischer Verantwortung:
Nach dem Anschluss 1938 zieht er sich in die stille Opposition zurück, betätigte sich nach dem Krieg aktiv und wird ein politisch wichtiger Mann in den Verhandlungen mit den russischen Besatzern. (Alma kritisiert ihn später, dass er den jungen Menschen die Beteiligung am Aufbau verwehrte. S. 349:Für die Jungen war kein Platz…)
S. 142
Von den stockenden Verhandlungen um den Staatsvertrag, die sich ausgerechnet an Artikel 35 und den Schürfrechten auf den Erdölfeldern entlang der March sprießen, ist er hochgradig nervös.
Für ihn sind Verantwortungsgefühl und politisches Engagement eine identitätsstiftende Aufgabe. Er widmet sich ihr mit dem Ziel der individuellen demokratischen Freiheit.
In der Zusammenarbeit und der Auseinandersetzung mit den Siegermächten zeigt Richard das Zentralmotiv des Bürgerlichen im 19. Jahrhundert: die Selbstverantwortung. Das Bürgertum stellt sich den politischen Herausforderungen aufgrund ihres wichtigsten Guts, der Bildung. [cdlxviii] Richard sieht seinen bürgerlichen Auftrag darin, nach dem erlebten Zusammenbruch am politischen und gesellschaftlichen Neubau mitzuwirken. Er hat unmittelbare administrative Verantwortung und gilt als ein bürgerlicher Intellektueller, der sich nach 1945 bereit findet, die (demokratische) Erneuerung bürgernah in gesellschaftlicher Loyalität mitzugestalten.
S. 198
Von politischem Charme und der Höhe der Zeit faseln, aber nicht wahrhaben wollen, dass die wichtigsten Grundlagen im Leben Verantwortungsgefühl, Sorgfalt und Respekt sind.
Auch die junge Genration zeigt bürgerliches Engagement: Philipp wurde von Alma im Fernsehen gesehen, als er auf der Straße politischen Protest zeigte und sich bei einer lokalen Demonstration engagiert:
S. 100
Johanna will unbedingt am Aufmarsch teilnehmen und besteht darauf, dass sie beide die Räder nehmen, aus Protest gegen den Beschluss der Verkehrsbetriebe, neuerdings auch am 1. Mai normalen Betrieb zu fahren. Sie argumentiert, wenn schon kein Schwein mehr die Fasten einhalte, müsse man wenigstens bereit sein, sich an sozialistischen Feiertagen etwas Bewegung zu verschaffen. … und während des Aufmarsches präsentiert Philipp seine Nelke im Knopfloch … Unterdessen frischt er jene Lieder auf, die ihm sein Vater, der Angeber, beigebracht hat, damit Philipp auf Schulausflügen etwas beizusteuern habe (so sein Vater): Avanti Popolo! Vorwärts und nicht vergessen.
13.4 Politische Aktivität in der DDR
An dieser Stelle muss ein Blick auf den historischen Hintergrund von Eugen Ruges Roman geworfen werden.
Politisches Engagement, Mitbestimmung und Meinungsfreiheit gab es bei den Menschen der DDR in zweierlei Hinsicht:
1. In „Eingaben“: Die Bürger veröffentlichten Meinungen, Stimmen und Beschwerden und zeigten damit ihre aktiv Beteiligung an der Innenpolitik. Man wandte sich in Anliegen der Wohnsituation oder das Gesundheitswesen betreffend an die Volksvertretungen, diese bearbeiteten sie, fanden aber nur selten eine zufriedenstellende Lösung. [cdlxix]
2. Mit dem politischen Engagement durch die Mitgliedschaft in der Partei: Damit bekannte man sich eindeutig zur Ideologie und zur Praxis der SED-Herrschaft. [cdlxx] Es gab neben den höchsten Organen, wie z.B. dem Zentralkomitee (ZK), Parteigruppen wie Grundorganisationen (GO) mit Ressortsleitern für Betriebe und Brigaden und Wohnparteiorganisationen (WPO), die territorial strukturiert waren und in der sich auch nicht- berufstätige Parteimitglieder organisierten.
Während Funktionäre der Basis an der Ausübung von Macht beteiligt waren, hatten andere DDR-Bürger Ehrenämter in Organisationen inne.
Parteimitgliedschaft wurde wichtig für den sozialen und beruflichen Aufstieg, für Privilegien und für die Ausbildungs- und Berufschancen der eigenen Kinder. Es war von der „führenden Rolle der Partei“ die Rede und gab damit Mitgliedern das Gefühl, zu einem auserwählten Kreis zu gehören. Einer strengen Hierarchie der Parteiinstanzen unterstanden sowohl die Polizei, das Militär, die Massenorganisationen und sämtliche Gremien.
Im Leben von Wilhelm hat die Partei zu jeder Zeit eine bedeutende Rolle gespielt, bis ins hohe Alter ist er überzeugt von der Ideologie des Kommunismus (Parteilied S. 208: „Die Partei hat immer recht.“)
S. 198
Ich bin siebzig Jahre in der Partei.
S. 202
Aber die Partei hatte ihn nach Deutschland geschickt, und er hatte getan, was die Partei von ihm verlangte. Sein Leben lang hatte er getan, was die Partei von ihm verlangte…
Für jemanden aus dem Arbeiter- und Bauernmilieu war es leicht, in die Machtstruktur der Politik aufzusteigen, denn eben diese soziale Herkunft galt als wichtiges Kriterien, obgleich in den späteren Jahren in den Bezirken auch höher qualifizierte und ausgebildete Männer in Führungspositionen gelangten.
Wilhelm hat es ohne eine höhere Qualifikation zu einer angesehen Position in der DDR gebracht:
S. 122f
…wahrscheinlich wäre Wilhelm nach seinem Scheitern als Verwaltungsdirektor der Akademie for die Hunde gegangen, wenn sie nicht selbst zur Bezirksleitung gerannt und die Genossen angefleht hätte, Wilhelm irgendeine wenigstens ehrenamtliche Aufgabe zu übernehmen.
Sie selbst hatte ihn ermutigt, den Posten des Wohnbezirksparteisekretärs zu übernehmen, sie hatte ihm eingeredet, dass dies eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe sein - das Problem war nur, dass Wilhelm diese inzwischen selbst glaubte. Und, was noch schlimmer war: Die anderen glaubten es offenbar auch!…Aber was macht Wilhelm? Hielt irgendwelche geheimen Versammlungen ab, da unten in seiner Zentrale, plante irgendwelche „Operationen“. Zu den letzten Kommunalwahlen hatte er eine motorisierte Einsatzstaffel organisiert, um diejenigen, die am frühen Nachmittag noch nicht gewählt hatten, Agitatoren auf den Hals zu schicken… Seine neueste Idee: die Lokomotive für Kuba.
Charlotte dagegen gelingt nicht der erwünschte Aufstieg, auch wenn die Mitgliedschaft in der SED eine günstige Voraussetzung für die Verbesserung ihrer beruflichen Position ist.
S.115
Sie als Autodidakt solle sich nicht noch in fremde Fachgebiete einmischen - Harry Zenk auf der großen Leitungssitzung vor einem halben Jahr…
S. 121
Nein, sie war natürlich nicht Institutsdirektorin. Zu ihrem Bedauern hatte man die Institute in „Sektionen“ umgetauft, sodass sie sich nun, weniger klangvoll, nur noch „Sektionsleiterin“ nannte, aber das änderte nichts an der Sache: Sie war berufstätig, sie arbeitete wie ein Pferd, sie bekleidete einen wichtigen Posten an jener Akademie, an der die künftigen Diplomaten der DDR ausgebildet wurden…
Parteimitglieder hatten einen großen Zeitaufwand für die Parteiarbeit zu leisten. Sie waren verpflichtet, an Parteiversammlungen teilzunehmen und wenn es zu einer Amtsübernahme kam, bedeutete dies stets auch, dass ein späterer Rücktritt persönliche und berufliche Konsequenzen haben würde.
Es gab diejenigen, die Entscheidungen trafen, nicht selten in einem diktatorischen Stil, der Untergebene einschüchterte, und diejenigen, die für die Durchführung zuständig waren.
S. 171
Mit wachsenden Unbehagen hörte er sich an, wie Günther vom Fortgang der Sache berichtete, welcher, kurz gesagt, darin bestand, dass die Abteilung Wissenschaft des Zentralkomitees der SED eine harte Bestrafung des Genossen Rohde forderte, welche morgen, am Montag, auf der Parteiversammlung beschlossen werden sollte…
S. 178
Anders als Günther sprach der Genosse Ernst flüssig, beinahe eloquent, mit dünner, aber durchdringender Stimme, die sich, wenn er etwas hervorheben wollte, einschmeichelnd senkte…während er von den revisionistischen und opportunistischen Kräften sprach innerhalb derer, so der Genosse Ernst, der Hauptfeind zu suchen sei, und bei dem Wort ‚Hauptfeind‘ senkte sich seine Stimme, und Kurt entdeckte Paul Rohde, der offenbar schon die ganze Zeit in unmittelbarer Nähe des Präsidiumstisches gesessen hatte, grau, geschrumpft, den Blick ins Leere gerichtet, erledigt, dachte Kurt.
Das Arbeitspensum der Elite war immens und die Unterordnung unter der Parteidisziplin total, so dass ein normales Familienleben zu führen kaum möglich war. Als Dank für ihre Aktivität wohnten die Mitglieder der Machtelite bis 1960 in geräumigen alten Villen mit Gärten und besaßen Privilegien in jeglicher Form.
Auch Wilhelm und Charlotte ziehen, so wie die arrivierten Politiker später, in die gesicherte exklusive Waldsiedlung nördlich von Berlin mit Dienstpersonal und anderen Privilegien.
Die Mehrzahl der Familienmitglieder im Roman hatte (in den Anfangsjahren) ein ungebrochenes Verhältnis zur DDR, trat der SED bei oder sympathisierte mit ihr.
Die ältere Generation, als Verfolgte des Nazi-Regimes hatte besondere Privilegien, die Aktivität im öffentlich sozialistischen Leben und die sozialistische Gemeinschaft standen für sie im Mittelpunkt. Für die jüngere Generation gewannen Familie und Freundschaft, häusliche Geselligkeit und Bildungsinteressen an Bedeutung.
Kurt ist als ein Opfer des Krieges im Gulag interniert gewesen, wo man seinen Bruder ermordete, und wird dann in der DDR zu einem bedeutenden Historiker.
Alspromovierter Geschichtswissenschaftler sympathisiert er mit der Politik, trotz einer gewissen Kritik und Vorbehalte gegenüber dem Regime. Die spricht er zwar auch seiner Mutter gegenüber an, als sie ihm die Rezension zu einem Buch im ‚Neuen Deutschland‘ zu lesen empfiehlt, rebelliert jedoch nicht, hat sich aber auch nie als Parteisekretär verpflichten lassen:
S. 170
Auch Kurt hatte man angesprochen, aber er hatte - selbstverständlich - abgelehnt.
S. 136
Hier versuchen Leute, einen härteren Kurs durchzusetzen…
Es geht hier um Richtungskämpfe. Es geht hier um Reform oder Stillstand, Demokratisierung oder Rückkehr zum Stalinismus.
Beim letzten Geburtstag Wilhelms zeigt sich, wie historisch überholt Auftreten, Verhalten und die politischen Ansichten waren: Für Wilhelm wird ein Selbstbetrug inszeniert und eine DDR vorgegaukelt, die zwar in der Krise geraten ist, aber noch besteht, die Gäste werden hier zur Komparserie. „Wenn nichts klappte in der DDR, so doch die Inszenierung.“ [cdlxxi]
S.278
- Kein Wort! Ist das klar? Ihre Stimme klang wieder durchdringend und scharf.
- Kein Wort über Ungarn! Kein Wort über irgendwas! Das muss hundertprozentig klappen! Ist das klar?
- Alles klar, sagte Muddel. Die Urgroßmutter beugte sich vor, flüsterte jetzt beinahe:
- Er verträgt das nicht mehr.
S. 340ff
Wahrscheinlich, dachte Kurt, notgedrungen mitklatschend, war keinem der Klatschenden klar, was er da eigentlich beklatschte. Nichts in der Rede entsprach im Grunde der Wahrheit…Alles Lüge, dachte Kurt, immer weiter klatschend.
14. Die Bedeutung von Religion und Kirche im Bürgertum
„Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion; wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion. “
Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832)
Quelle: J.W.v. Goethe,Gedichte, Nachlese. Zahme Xenien,, Kap 914.1 Frömmigkeit und Religiosität im protestantischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts
14.1 Frömmigkeit und Religiosität im protestantischen Bürgertum des 19.
Jahrhunderts
Das lange 19. Jahrhundert war für die Kirche, die bisherin Schulen, Politik und Verwaltung allgegenwärtig gewesen war, ein Jahrhundert, in dem sie ihren Einfluss verlor und Entkirchlichung einen qualitativen Strukturwandel der Gesellschaftsordnung insgesamt darstellte.
Die Gründe dafür lagen in der wachsende Bedeutung der Naturwissenschaft, der Aufklärung und der damit einhergehende Kirchenkritik; aber auch der soziale Strukturwandel und die Entwicklung neuer Unterhaltungsformen leisteten dazu ihren Beitrag.
Das religiöse Leben änderte sich: Grundprinzipien des Lebens wurden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr säkular, sondern bürgerlich-zivil geregelt, z.b. bei der Einführung der Zivilehe.
In der Gesellschaft, insbesondere im Bürgertum, kam es zur Zurückdrängung religiöser Lebensmuster und zu einer zunehmenden Distanzierung vom kirchlichen Leben. Die Urbanisierung brachte Anonymität und einen geringeren Kontakt zum Pfarrer mit sich, so dass die Masse der Bevölkerung außerhalb des kirchlichen Lebens stand und lediglich ein kleiner Kreis von traditonsverbundenen Christen ein Engagement in der Kirchengemeinde zeigte. Viele fanden dort keine geistige und soziale Heimat mehr, sondern sahen in ihr lediglich einen Dienstleistungsbetrieb für kirchliche Riten.
Der Bürger entfremdete sich von der Religion und ihrem moralischen Gehalt. Während der materielle Wohlstand wuchs und Wissenschaftsgläubigkeit, Materialismus und Technik an Bedeutung gewannen, verringerte sich der Glaube an Wunder, an den persönlichen Gott und die biblische Schöpfungsidee. Gottes Allgegenwart wurde zurückgedrängt, man entdeckte für immer mehr Phänomene natürliche Gesetze, und für das Handeln der Menschen wurden eher soziale Bedingungen als ein Eingriff Gottes als Ursache angesehen. Als Beispiel hierfür wäre folgendes zu nennen: Deutete man im 18. Jahrhundert die Liebetheologisch als Gottesliebe, als Liebe von und zu Gott, wird um die Jahrhundertwende die Liebe zwischen Mann und Frau anthropologisch aus sich selbst erklärt, Gott ist im damaligen „Brockhaus“ von 1845 nicht mehr Ursprung der Liebe. [cdlxxii]
Die Aufgabe der Religiosität war es, den Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen zu überwinden, jedoch zeigte sich der Rückgang traditioneller kirchlicher Sitten insbesondere im Gottesdienstbesuch: Lediglich 23% der Bürgerfamilien praktizierten ihn regelmäßig [cdlxxiii] und Daten zum Abendmahlsbesuch weisen auch dessen Reduzierung nach, ausgehend von den Großstädten bis in die Kleinstädte.
Dahingegen wurden Taufe und Konfirmation bei den meisten Familien noch gefeiert, man stellte dabei aber die familiale Gastfreundschaft in den Mittelpunkt und weniger den religiösen Gehalt.
(TM)
S. 395
Taufe!… Taufe in der Breitenstraße!…
Denn dort im Saale, vor einem als Altar verkleideten, mit Blumen geschmückten Tischchen, hinter dem, in schwarzem Ornat und schneeweißer, gestärkter, mühlsteinartiger Halskrause, ein junger Geistlicher spricht, hält eine reich in Rot und Gold gekleidete, große, stämmige, sorgfältig genährte Person ein kleines, unter Spitzen und Atlasschleifen verschwindendes Etwas auf ihren schwellenden Armen… ein Erbe!
Die Geistlichkeit schloss sich der o.g. Entwicklung an: Sie bot selber in der Umbruchszeit des 19. Jh. religiöse sozial-politische Erklärungen und Deutungen der Wirklichkeit an und versuchte, rational zu analysieren und Perspektiven zu entwickeln. „Ihr Denken und Handeln war dabei von einer kulturellen Leitidee geprägt, die von der grundlegenden Kulturbedeutung des Christentums und namentlich des Protestantismus für die Gestaltung der modernen Welt ausging.“ [cdlxxiv]
Verschiedene Frömmigkeitstypen und die wachsende Indifferenz des Bürgertums zu Religion und Kirche zeigen sich im Roman der Buddenbrooks. Die Generation von Konsul Jean Buddenbrook und seiner Frau praktiziert noch säkularisierte und subjektivistische Frömmigkeit, gebunden an Konfession und Milieu. Sie neigt, wie generell das typische Stadtbürgertum, eher zur konservativen Frömmigkeit und traditionellen Kirchlichkeit. Diese kirchlich-religiösen Momente treten in der nachfolgenden Generation in den Hintergrund, private Glaubensüberzeugungen und eine Individualisierung des Glaubens, wie bei Thomas Buddenbrook, gewinnen im männlichen Großbürgertum an Bedeutung.[cdlxxv].
Im Konfirmandenunterricht übten sich die Jugendlichen noch in der Einübung kirchlicher Dogmen und Riten und deren Übersetzung in die eigenen Erfahrungswelt. [cdlxxvi] Doch galt es als ein Privileg insbesondere der männlichen Jugend, die durch ihre höhere Bildung religionskritisch erzogen wurde, sich mit der Religion auseinanderzusetzen, wohingegen die weibliche Religiosität und Frömmigkeit das Resultat einer fehlenden höheren Bildung darstellte und säkular-konfessionalistisch geprägt war.
Die Lebensform des Bürgertums richtete sich auf eine humane Sittlichkeit und nicht nur mehr auf kirchliche Frömmigkeit. Die religiöse Ausrichtung des Bürgertums erhöhte und sakralisierte die Werte von Bildung, Selbständigkeit und Liebe. Hilfsbereitschaft und Solidarität, beides gleichermaßen ethische und christliche Normen, sollten das alltägliche Handeln der Menschen steuern.
Das Religiöse ist bei den Buddenbrooks Ideologie und „kulturbestimmendes Element“. [cdlxxvii] Bei ihnen besteht ein Zusammenhang zwischen Religion und Lebensführung. Eine tiefe Religiosität, geleitet durch ein kirchlich-religiöses Ethos, prägt ihre Geschäftsauffassung und tägliche Lebensführung.
(TM)
S. 99
„Genug“, beschloss der Konsul, „er ist ein christlicher, tüchtiger, tätiger und feingebildeter Mann,…“
„Ein christlicher und achtbarer Mensch“,sagte die Konsulin über Herrn Grünlich d.h., dass er Ordnung und eine gute Buchhaltung hat, Hinweise auf Gott und das Transzendente fehlen jedoch.
Die Familienmitglieder sind, wie das Bürgertum insgesamt, den christlichen Traditionen im Sinne de Luthertums verpflichtet. Diese Form der Religiosität vertritt bürgerliche Werte im Einklang mit bestimmten Tugenden und einem Handeln, das gewissenhaft und von Selbstverantwortlichkeit geprägt war.
Eine tiefe Religiosität erfüllt Jean Buddenbrooks Geschäftsauffassung und Lebensführung, und obwohl eine Veräußerlichung im Glauben erkennbar ist, zeigt sich seine Eingebundenheit in die Religion, wenn er Fragen und Antworten im Katechismus sucht.
S. 51
Ach, wo ist doch ein solcher Gott, wie du bist, du Herr Zebaoth, der du hilft in allen Nöten und Gefahren und uns lehrst deinen Willen recht zu erkennen, damit wir dich fürchten und in deinem Willen und Geboten treu mögen erfunden werden!
S. 56
„Mein Sohn, sey mit Lust bey den Geschäften am Tage, aber mache nur solche, dass wir bey Nacht ruhig schlafen können.“
Einer religiösen familiären Tradition im Elternhaus kam größte Bedeutung zu: Religiöse Erziehung und eine christliche Lebensführung mit sonntäglichem Gottesdienst und Gebet waren ein wesentliches Orientierungsmuster.
(TM)
Sowohl zu Beginn des Romans als auch am Ende finden sich Bezüge zum Katechismus und zum Schöpfergott bzw. zum Glaubensbekenntnis mit Auferstehung und Tod. Dies belegt, „dass Mann von Anfang an die Absicht hatte, seine Romanhandlung zwischen der Schöpfung und den letzten Dingen verlaufen zu lassen…“ [cdlxxviii]
Das Familienoberhaupt, der Großvater Buddenbrook, mokiert sich in der ersten Szene des Romans mit einem gewissen selbstgefälligen Humor über den Katechismus, und den darin zu lesenden christlichen Unterweisungen, zu die er seine Enkelin Tony befragt, zum Missfallen seines Sohnes:
S. 8 ff
Er lachte vor Vergnügen, sich über den Katechismus moquieren zu können und hatte wahrscheinlich nur zu diesem zwecke das kleine Examen vorgenommen. Er erkundigte sich nach Tonys Acker und Vieh, fragte, wieviel sie für den Sack Weizen nähe…
„Aber Vater, Sie belustigen sich wieder einmal über das Heiligste!“…
Am Schluss des Romans stehen die Glaubenszweifel, die den Menschen befallen beim allzu frühen und unbegreiflichen Tod von nahe stehenden Personen und der Trost im Glauben:
S. 758
„Es gibt ein Wiedersehen“, sagte Friederike Buddenbrook, wobei sie die Hände fest im Schoß zusammenlegte, …
„Ja, so sagt man… Ach, es gibt Stunden, Friederike, wo es kein Trost ist, Gott strafe mich, wo man irre wird an der Gerechtigkeit, an der Güte… an Allem…
Die Heilige Schrift war ein Teil des bürgerlichen Bildungskanons und dessen Reflexionskultur, man las sie als Privatlektüre und empfing aus ihr Anstöße für sein Denken und Handeln.
(TM)
In der Familienchronik werden Riten aufgezählt, und es wird geschwelgt in der Rede zu Gott.
S. 52
Ich habe meiner jüngsten Tochter eine Police von 150 Courant-Talern ausgeschrieben. Führe du sie, ach Herr! auf deinen Wegen, und schenke du ihr ein reines Herz, auf dass sie einstmals eingehe in die Wohnung des ewigen Friedens. Denn wir wissen wohl, wie schwer es ist, von ganzer Seele zu glauben, …“ Nach drei Seiten schrieb der Konsul ein „Amen“, allein die Feder glitt weiter, … sie schrieb von der köstlichen Quelle, die den müden Wandersmann labt, von des Seligmachers heiligen, bluttriefenden Wunden, vom engen und vom breiten Wege und von Gottes Herrlichkeit.
Die Verpflichtung zur standesgemäßen Heirat Tonys mit Grünlich untermauert der Pfarrer in seiner Sonntagspredigt mit einem biblischen Zitat:
S. 113
Eines Sonntags, als sie mit den Eltern und Geschwistern in der Marienkirche saß, redete Pastor Kölling in starken Worten über den Text, der da besagt, dass das Weib Vater und Mutter verlassen und dem Manne nachfolgen soll.
Man kann diese Familie im konfessionellen Milieu der Kirchentreuen einordnen, das die Pfarrer gerne und oft aufsuchten, denn hier war noch traditionelle Frömmigkeit anzutreffen, dort hingen Erwerbsleben und christliche Sittenlehre zusammen.
Die Konfessionen selber grenzten sich voneinander ab: Der Protestantismus war bürgerlicher als der Katholizismus, orientierte sich mit seinem Wertekanon mehr an Bildung und Wissenschaft und sprach das liberale Bürgerideal an, während der Katholizismus das Bauern- und Kleinbürgertum als anzusprechende Sozialfigur hatte. [cdlxxix] Tony fallen die Unterschiede in den Konfessionen bei ihrem Aufenthalt in München ins Auge:
(TM)
S. 307
„… und dann dieser Katholicismus; ich hasse ihn, wie Ihr wisst, ich halte gar nichts davon…“
„… Oben auf dem Brunnen“, las sie weiter, „den ich von meinem Fenster aus sehen kann, steht eine Maria, und manchmal wird er bekränzt und dann knieen dort Leute aus dem Volke mit Rosenkränzen und beten, was ja recht hübsch aussieht, aber es steht geschrieben: Gehe in dein Kämmerlein…“
Im protestantisch geprägten Teil des deutschsprachigen Territoriums im Norden brachte man die Eigenschaften des Bürgers wie Selbstdisziplin, Mäßigkeit, Leistungsbereitschaft, Rationalität und Aufstiegsstreben mit der protestantischen Leistungsethik Max Webers in Verbindung. [cdlxxx] Mit ihrer sinnstiftenden Funktion und Orientierungsmacht hatte die protestantische Religion eine besondere Kulturbedeutung: „Die bürgerlichen Gemeinsamkeiten bestanden in der Akzeptanz von Bildung, Wissenschaft, bürgerlicher Selbständigkeit und Kulturfortschritt, die mit den positiven Grundlagen der Religion und vor allem der Akzeptanz der Kirche als der eigentlichen Trägerin der Kultur zur Vermittlung gebracht werden sollten.“ [cdlxxxi]
Der lutherische Arbeitsbegriff beinhaltete die Weisung, an den irdischen Besitz nicht sein Herz zu hängen. [cdlxxxii] Es wird als Gottes Fügung und Ordnung angesehen, in einen sozialen Stand hineingeboren zu werden. Eine Änderung, sprich ein Aufstieg, sollte nicht angestrebt werden, stattdessen hat der Einzelne zufrieden zu sein mit der bestehenden Ordnung und sich in Selbstbescheidung zu fügen.
(TM)
Die Zufriedenheit von Tony und ihrem Großvater beruht auf ihrem ständischen Selbstgefühl.
S. 64
… Das alles aber tat Tony Buddenbrook, und zwar, wie es schien, mit völlig gutem Gewissen. Denn wurde ihr von Seiten irgend eines Gequälten eine Drohung zuteil, so musste man sehen, wie sie… ein halb entrüstetes, halb moquantes „Pa“! hervorstieß, als wollte sie sagen: „Wage es nur, mit etwas anhaben zu wollen! Ich bin Konsul Buddenbrooks Tochter, wenn du es vielleicht nicht weißt…“ Sie ging in der Stadt wie eine kleine Königin umher, die sich das gute Recht vorbehält, freundlich oder grausam zu sein, je nach Geschmack und Laune.
Sind Weltanschauung und ethische Normen des Bürgers aber tatsächlich in den Bereich der Religion einzuordnen? So mancher erkennt mit dem Aufkommen des Bürgertums auch eine Formalisierung des Begriffs von Religion und eine ‚Entleerung‘, ja: eine ‚Zersetzung‘ der Religion und kritisiert, dass Religion für viele nur noch eine äußere Form und nicht mehr einen ernsthaften Glauben darstellte. [cdlxxxiii] Bürgerliche Religion habe zwischen Leben und Gott getrennt und so den Realitätsbezug der christlichen Religion zerstört. [cdlxxxiv] Das Bürgertum, das bereits als spätmittelalterliches Stadtbürgertum in der Warenproduktion und im Warenhandel tätig war, zeigte immer eine Mentalität des ruhelosen Schaffens- und Machtwillens - wie Thomas Buddenbrook in maßloser Aktivität und Unruhe lebt und weder in dem ständischen Selbstverständnis seiner Vorfahren noch in deren religiösen Glauben ruht. Eigentum und Arbeit galten stets als bürgerliche Prinzipien und dazu gehörten persönliche Bereicherung, Konkurrenzindividualismus und das Recht der Persönlichkeit, sind das aber Werte des Christentums?
Im Roman gibt es durchaus Belege für diese Sichtweise von Religion:
- In der Familienchronik wird mit Gott gesprochen, gebetet für die Lieben, meditiert. Der Hinweis auf die Police am Anfang und die Erleichterung zum Schluss beim „Amen“,(s.o.) zeigt, „dass der fromme Aufschwung zwar für subjektive Wahrhaftigkeit zeugt, aber gleichwohl fest integriert sei in dem Geschäft und den täglichen Dienst.“ [cdlxxxv]
- Bendix Grünlich zeigt durch seine vorgeschobenen Frömmigkeit und christlichen Redensarten, wie wenig seine scheinbare Frömmigkeit mit seiner Lebensart und Mentalität zu tun hat. Kein wahres Wort ist in der frommen Rede des Bankrotteurs, die religiöse Sprache soll die Familie Buddenbrook beeindrucken und für sich einnehmen.
S. 95
“…In der Tat, wenn in allen Familien ein Geist herrschte wie in dieser, so stünde es besser um die Welt. Hier findet man Gottesglaube, Mildherzigkeit, innige Frömmigkeit, kurz, die wahre Christlichkeit, die mein Ideal ist;…“
Thomas Mann, dem die Verbindung von Kirche und Politik, Macht und Geistlichkeit stets suspekt war, karikiert auf diese Art die frommen Bräuche unfrommer Bürger:
- Als Tony Budddenbrook den Lutherischen Katechismus memoriert, wird dem Hochpathetischen durch ihren Großvater die Feierlichkeit genommen. (s.o.)
- Der alte Buddenbrook, der es zu Erfolg und bürgerlicher Bonität gebracht hat, lässt nach dem Tischgebet Gott, Firma und gute Gesellschaft als eine lübische Trinität wohlleben. [cdlxxxvi]
Im liberalen gebildeten Bürgertum, dem Thomas Buddenbrook zuzuordnen ist, war eine „moralisch orientierte kirchenferne bis kirchenkritisch bürgerliche Form von Religiosität“ [cdlxxxvii] anzutreffen, man war religiös und zugleich religionskritisch, d.h.man schloss sich der Kirchen- und Religionskritik an, indem man den traditionellen Dogmen und dem Glauben an Wunder und der Schöpfungsgeschichte misstraute und sich gegen die Enge der christlichen Moralvorstellungen und die Unglaubwürdigkeit der kirchlichen Vertreter richtete. In dieser Schicht der Gebildeten und in breiteren Bevölkerungsschichten fand die o.g. Entfremdung von der Kirche statt, dort blieb man zwar religiös, übte jedoch die Religion weniger im regelmäßigen Kirchenbesuch als individuell aus, das meint die subjektive Seite der Religion: „Religiosität“ oder „Frömmigkeit“ [cdlxxxviii] , ein von Friedrich Schleiermacher definiertes subjektzentriertes „Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit“ von etwas Höherem, als subjektive Erfahrung des Göttlichen, unabhängig vom konkreten Inhalt. [cdlxxxix] Das Bedürfnis nach Einheit und Transzendenz war es, das den damaligen Bürger umtrieb und mit dem er sich beschäftigte. Alles, was den Menschen seine Göttlichkeit spüren ließ und Vervollkommnung verhieß, nahm für ihn Heilscharakter an und wurde sakralisiert, z.B. Kunst, Natur, Arbeit, Ehe.
(TM)
Für Thomas Buddenbrook sind Arbeit und der Erfolg zwar seine Lebensorientierung, gleichzeitig ist in ihm aber ein individuelle religiöse Sehnsucht vorhanden. Er sucht Antworten auf unirdische transzendentale Fragen, wie die nach seinem Verhältnis zum Tod, den letzten Dingen und nach Wegweiser für sein Leben. Dem Glauben seiner Vorfahren steht er fern:
S. 652
Der Buchstabenglaube, das schwärmerische Bibel-Christentum, das sein Vater mit einem sehr praktischen Geschäftssinn zu verbinden gewusst, und das später auch seine Mutter übernommen hatte, war ihm immer fremd gewesen.. Sein Lebtag vielmehr hatte er den ersten und letzten Dingen die weltmännische Skepsis seines Großvaters entgegengebracht…
Seine Religiosität ist gelöst von den theologischen Dogmen. Er empfindet Zuneigung zum Katholizismus, die seine Mutter ihm zum Vorwurf macht, und trägt sich mit dem Gedanken der Konversion. Dies bewegt ihn aber nicht zu einem verstärkten religiösen Studium und hilft ihm auch in keiner Form weiter.
S. 307
Ich weiß, dass du in Frankreich und Italien eine gewissen Sympathie für die Päpstliche Kirche gefasst hast, aber das ist nicht Religiosität bei dir, Tom, sondern etwas anderes, und ich verstehe auch, was; aber obgleich wir duldsam sein sollen, ist Spielerei und Liebhaberei in diesen Dingen in hohem Grade strafbar; und ich muss Gott bitten, dass er dir und deiner Gerda - denn ich weiß, sie gehört ebenfalls nicht gerade zu den Gefesteten, mit den Jahren den nötigen Ernst darin gibt….“
Ein Offenbarungserlebnis durch die Lektüre Schopenhauers sollte zum Religionsersatz werden, und ihn die Individualität als Hindernis und den Tod als Erlösung und Befreiung erkennen lassen. Die religiöse Frage bei Thomas Buddenbrook und bei dem Autoren Thomas Mann lässt sich formulieren: „Welche Macht ist stärker als der Tod und kann man der Herrschaft des Todes über die Gedanken Widerstand leisten? Welcher Sinn hält angesichts des Wissens des Menschen um seinen eigenen Tod stand?“ [cdxc] Thomas Mann glaubte an die Ewigkeit, an ein Weiterleben nach dem Irdischen, und auch der Buddenbrook-Roman endet mit diesem, fast als Sicherheit scheinenden Glauben:
S. 759
„Es ist so!“ sagte sie mit ihrer ganzen Kraft und blickte alle herausfordernd an.
Das Erschließungs-, Offenbarungserlebnis bietet Thomas Buddenbrook letztendlich keine Handlungsorientierung und bleibt folgenlos. Sein Geist kann dies theologisch-methaphysische Denken nur begrenzt nachvollziehen, und nach dem einmaligen spirituellen nächtlichen Erleben Gottes und der Ewigkeit, bricht er die religiöse Suche ab und greift auf die religiösen Begriffe und Bilder aus seinen Kindertagen zurück.
Die weltliche Bildung und die sich verbreitende bürgerliche Konzert- und Museumskultur wird den folgenden Generationen zu einem Ersatz für religiöses Leben. Die Aktivität in Vereinen, der Besuch von kulturellen Veranstaltungen, Ausflüge und Spaziergänge, Kunst, Kunstgenuss, Berufswelt und Politik nahmen die Zeit in Anspruch, die man früher dem kirchlichen Besuch gewidmet hatte. [cdxci]
Hannos Ersatzreligion und Lebenshilfe ist die Musik:
S. 747ff
Er setzte sich und begann eine seiner Phantasien. … Und nun begannen bewegte Gänge, ein rastloses Kommen und Gehen von Synkopen, suchend, irrend und von Aufschreien zerrissen, wie als sei eine Seele von Unruhe über das, was sie vernommen und was doch nicht verstummen wollte… Mit einer Art von Kirchenschluss endete er….
Es lag etwas Brutales und Stumpfsinniges und zugleich etwas asketisch Religiöses, etwas wie Glaube und Selbstaufgabe in dem fanatischen Kultus dieses Nichts, dieses Stücks Melodie…
„..dem Rückgang traditioneller kirchlicher Sitten wie dem regelmäßigen Kirchen- und Abendmahlsbesuch steht seither die Belebung neuer religiöser Riten und Gewohnheiten gegenüber: Etwa die feierliche Ausgestaltung des Weihnachtsfestes, die vermehrte Lektüre religiöser Schriften, die Mitarbeit in religiösen Vereinen…“ [cdxcii]
(TM)
Die Erzählung vom Heiligen Abend im Hause Buddenbrook, aus der Perspektive von Hanno, beschreibt das Empfinden von Glück und seligem Schmerz, das diese Feier in den Familienangehörigen auslöst. „Vierzig Seiten lang schwelgt Thomas Mann beim Zelebrieren der bürgerlichen Festlichkeit, die ihm von Kindheit an Spaß gemacht haben wird.“ [cdxciii]
S. 530
In der Tat, das weihevolle Programm, das der verstorbene Konsul für die Feierlichkeit festgesetzt hatte, musste aufrecht gehalten werden, und das Gefühl ihrer Verantwortung für den würdigen Verlauf des Abends, der von der Stimmung einer tiefen, ernsten und inbrünstigen Fröhlichkeit erfüllt sein musste, trieb sie (die Konsulin)rastlos hin und her - von der Säulenhalle, wo schon die Maien-Chorknaben sich versammelten, in den Esssaal, … hinaus auf den Korridor, … und wieder ins Landschaftszimmer, …
14.2 Glaubensrichtungen in der protestantischen Kirche des 19. Jh
Die unterschiedlichen Frömmigkeitstypen im Protestantismus der damaligen Zeit korrelierten mit verschiedenen Glaubensrichtungen. Der liberale Protestantismus war an den Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft orientiert und gab dem bürgerlichen Leben Impulse. Religiosität war geprägt von einer subjektiven Glaubenserkenntnis und der Individualisierung des religiösen Lebens.
Das liberalprotestantische Kulturideal implizierte ein protestantisches Geschichtsbild: Durch die Reformation habe eine neue Zeit mit modernen Werthaltungen wie Aufklärung, der Bildung und bürgerlicher Freiheit begonnen, auf der Grundlage von Toleranz, Humanität und geistiger Freiheit, die, so war man der Auffassung, der Unfreiheit, Unkultur und Intoleranz des Katholizismus gegenüber standen.
Liberale Pfarrer zeigten Offenheit gegenüber Bildung und Wissenschaft, akzeptierten den Wunsch nach religiöser Autonomie, nach Bildung, Emanzipation und einem subjektivem Glauben. Sie unterstützten Bibelkritik und Wissenschafts- und Gewissensfreiheit, weil sich erst darin sich die Freiheits- und Selbständigkeitserklärung des Bürgers dokumentierte. Der Geistliche sah sich als Lehrer von Religion und Bildung und nicht mehr als göttlich eingesetzt mit einem klerikalen Sonderethos. [cdxciv]
Die Allgemeinbildung des Pfarrers erhielt einen hohen Stellenwert: Als Repräsentant eines christlichen Lebens sollten bei ihm Beruf und Person deckungsgleich sein. Er hatte seine Aufgabe als Vermittler der biblischen Wahrheit, als Berater, Freund und Seelsorger der Gemeinde im kirchlichen, gemeindezentrierten und geistlichen Bereich zu sehen.
Die Kulturträgertheorie der Protestanten war zwar von einem liberalen bürgerlichen Selbstverständnis geprägt, enthielt aber auch „Elemente eines die Liberalität der bürgerlichen Gesellschaft von innen aushöhlenden Wertekanons: eine latente bis offene religiöse Intoleranz…“. [cdxcv]
So war das Verhältnis der verschiedenen Konfessionen nie ganz spannungsfrei, bürgerliche protestantische Frömmigkeit zeigte eine „fast aggressive Art der Diffamierung anderer Frömmigkeitsstile“. [cdxcvi] Man war dem Katholizismus gegenüber negativ eingestellt und sah als liberaler Protestant eine Überlegenheit des Protestantismus in kultureller und sozialer und ökonomischer Sicht. Der Katholizismus galt als eine Verdummung des Volkes, als unbürgerlich und rückschrittlich. Man warf ihm Wissenschafts- und Modernitätsfeindlichkeit vor, sah in ihm eine Ablehnung der Freiheit des Geistes und des Gewissens, denn Rom schrieb vor, was man glauben und lehren sollte. Der Katholizismus, so war die Auffassung, begreife das Christentum als „Kirche und Frömmigkeit“, der Protestantismus aber sehe das Christentum als „religiös beseelte Sittlichkeit“. [cdxcvii]
(TM)
Antikatholische Ressentiments vernimmt man bei der Konsulin, die es gut heißt, dass Tony „an dem Glauben ihrer Väter festhält und die unevangelischen Schnurrpfeiferein verabscheut.“ (S. 307))
Thomas B. dagegen empfindet Sympathie für den römischen Glauben, wie man im Gespräch mit seiner todkranken Mutter erkennt:
S. 560
„Thomas“, sagte die Konsulin jetzt mit behutsamer Stimme, um den Hustenreiz nicht wieder zu entfesseln, „glaube mir, du erregst Anstoß mit deiner beständigen Protektion der Katholischen gegenüber den schwarzen Protestantischen…“
„…Ich bin überzeugt, dass die Grauen Schwestern treuer, hingebender, aufopferungsfähiger sind, als die Schwarzen. Diese Protestantinnen, das ist nicht das Wahre. Das will sich Alles bei erster Gelegenheit verheiraten… Kurzum, sie sind irdisch, egoistisch, ordinär… Die Grauen sind dégagierter, ja, ganz sicher, sie stehen dem Himmel näher….“
Tony Buddenbrook erlebte eine Form des Katholizismus in München, der sie erzürnte:
S. 307
„Oben auf dem Brunnen… steht eine Maria, und manchmal wird er bekränzt, und dann knieen dort Leute aus dem Volk mit Rosenkränzen und beten…
Aber stell dir vor, Mama, gestern fuhr in der Theatinerstraße irgend ein höherer Kirchenmann in seiner Kutsche an mir vorüber, vielleicht war es er Erzbischof, ein älterer Herr - genug, und dieser Herr wirft mir aus dem Fenster ein paar Augen zu wie ein Gardeleutenant!…“
Recht gab den liberalen Protestanten in gewisser Weise das unübersehbare „katholische Bildungsdefizit“ im Bereich der höheren Bildung im 19. Jahrhundert, denn nur eine geringe Quote der Katholiken besuchte die höhere Schule. [cdxcviii]
Eine kulturelle Differenz zum Katholizismus zeigte sich im Verhältnis zur Nation. Der römische Katholizismus stand nach Meinung der protestantischen Geistlichkeit konträr zur deutschen Kultur, er war übernational und grenzte „sich gegen das bürgerliche Zeitalter und seine Repräsentation in Nationalstaat und Wissenschaft ab […], um als kirchliche Macht und als kirchlicher Geist sich selbst zu finden.“ [cdxcix]
Andererseits empfanden nicht wenige Protestanten dem Katholizismus gegenüber Bedrohungsängste, denn anders als bei ihnen wurde dort der Nachwuchs an Pfarrern und Kirchenbeamten durch Anstalten, wie z.B. Knabenkonvikte, gesichert.
Viele Dienstmädchen stammten aus dem ländlichen Milieu, waren Teil der katholischen Population, durch sie hörten die Kinder andere Formen der religiösen Praxis [d] und wundersame Geschichten.
(TM)
Letzteres trifft auch auf Ida Jungmann zu, Tochter eines Gasthofbesitzers in Westpreußen, das Kindermädchen der Buddenbrooks ist:
S.11
„Wenn es ein warmer Schlag ist“, sprach Tony und nickte bei jedem Wort mit dem Kopfe, „so schlägt der Blitz ein. Wenn es aber ein kalter Schlag ist, so schlägt der Donner ein!“…
Herr Buddenbrook aber war böse auf diese Weisheit, er verlangte durchaus zu wissen, wer dem Kinde diese Stupidität beigebracht habe…
In Lübeck selber genossen die reformierte Gemeinde und die Lutheraner gleiche bürgerliche Rechte. Die 200 Gläubige umfassende katholische Gemeinde feierte in einer kleiner Kapelle in dem alten Vikariatshaus Kapitelstr. 7 ihren Gottesdienst, spielte in der Stadt aber keine Rolle. Die Schwestern, die bei Buddenbrooks mit der Krankenpflege betraut werden, gab es erst seit 1874 in Lübeck.
Der Roman weist auf die Konkurrenz in der Gemeindeseelsorge und am Krankenbett zwischen den Konfessionen hin. Der Pastor hat Vorbehalte gegenüber der Ordensfrau:
S. 564
Auch Pastor Pringsheim erschien, streifte Schwester Leandra mit einem kalten Blick und betete mit modulierender Stimme am Bette der Konsulin.
Im Zuge neuer Klostergründungen im 19. Jahrhundert traten bürgerliche Frauen in weibliche Orden und Kongregationen ein.
(TM)
Klothilde war mit Einfluss des Senators in „Johanniskloster“ aufgenommen worden. Diese Institution bezweckte:
S. 541
,… die würdige Altersversorgung mittelloser Mädchen aus verdienter und alteingesessener Familie….“
Rente und Wohnung waren damit für sie gesichert.
Neben dem liberalen Protestantismus prägten das Neuluthertum, der Pietismus und Erweckungsbewegungen seit den 1840er Jahren das kirchliche und pastorale Milieu. In ihnen erfuhr das Pfarramt eine Resakralisierung. Diese Pastoren waren bekenntnistreu und hatten ihre Aufgabe in der Spendung der Sakramente und der Verkündigung des Wortes. Bildung und wissenschaftliche Kompetenz wertete man im Vergleich zur Weihe ab, [di] betonte dagegen die Amtswürde und pastorale Weihe, das äußerliche Auftreten und den Habitus, z.B. in der berufsständischen Kleiderordnung. Ihre wichtigsten Eigenschaften hatten Bescheidenheit, Demut und die Zurücknahme der eigenen Person zu sein. Als Botschafter Gottes war den Geistlichen die Vergnügungskultur verpönt, und anders als ihre liberalen Kollegen reduzierten sie ihre geselligen Kontakte zum Bürgertum. Einer Mitgliedschaft in Vereinen des gehobenen Bürgertums standen sie kritisch gegenüber, da sie die seelsorgerliche Distanz einhalten wollten. [dii] Insbesondere pietistische Geistliche sahen sich als herausgehobene Sondergruppe, vermieden soziale oder kulturelle Kontakte und verkehrten nur in Häusern von kirchentreuen Kaufmannsfamilien, wie den Buddenbrooks. [diii]
Das individualistische Religionsverständnis in der Familie Buddenbrook hat seine Wurzeln im Pietismus, eine auf Askese und Leistung zielende Lehre [div] laut der jeder Mensch durch sein persönliches Gefühl Gott erfahren kann. Zu einem pietistischen Leben gehörten regelmäßige Mittag- und Abendgebet und ein großes frommes Engagement wie es in der Familie Buddenbrook praktiziert wurde.
(TM)
Jean, der mit intensiver Herzensfrömmigkeit spricht und schreibt, lebt einen individuellen und expressiv pietistischen Glauben. Je älter der Konsul wird, desto intensiver entwickelt sich sein kirchliches Leben in neopietistisch geprägter Frömmigkeit. [dv]
Gründlich mahnt er mit einem Verweis auf eine Änderung dessen Verhaltens und Denkens:
S. 230
„…Beten Sie.“
S. 225
…Fassen Sie sich und suchen Sie Trost und Kraft bei Gott….“
In Anlehnung an die einfache Frömmigkeit des Frühchristentums entstanden private familiäre Andachtsgruppen, in die eine religiöse Lektüre eingebunden wurde.
Bei den Buddenbrooks findet sich die Sitte der Hausandacht mit der Lektüre biblischer und erbaulicher Texte und den religiösen Praktiken des Betens, Singens und des Vorlesens aus der Bibel und aus Andachtsbüchern.
S. 241
… denn des Konsuls fromme Neigungen traten in dem Grade, in welchem er betagt und kränklich wurde, immer stärker hervor, und seitdem die Konsulin alterte, begann auch sie an dieser Geistesrichtung Geschmack zu finden. Die Tischgebete waren stets im Buddenbrook’schen Hause üblich gewesen; jetzt aber bestand seit längerer Zeit das Gesetz, dass sich morgens und abends die Familie gemeinsam mit den Dienstboten im Frühstückszimmer versammelte, um aus dem Munde des Hausherrn einen Bibelabschnitt zu vernehmen. Außerdem mehrten die Besuche von Pastoren und Missionaren sich von Jahr zu Jahr… und aus allen Teilen des Vaterlandes kamen gelegentlich schwarzgekleidete und langhaarige Herren herbei, um ein paar Tage zu verweilen… gottgefällige Gespräche…
Religion wird zu einer Familienreligion; Gottesdienste, kirchliche Feste wie Taufen, Trauungen und Beerdigungen verlegte man in das eigene Haus und versammelte Familie und Personal zu einer kleinen Gemeinde, in der der Hausvater das göttliche Wort verkündet. Die so veränderte, gefühlvolle Stimmung im Haus brachte Trost und Erbauung und sollte die Kinder zu Moral und guten Umgangsformen erziehen.
Pietistisch geprägte Geistliche haben private Kontakte zum Haus der Familie Buddenbrook und praktizieren gemeinsam mit ihnen die Religion:
S. 280
Sie (Tony Buddenbrook) war nicht glücklich, sie empfand Langeweile und ärgerte sich über die Pastoren und Missionare, deren Besuche nach dem Tod des Konsuls sich vielleicht noch vermehrt hatten und die nach Tonys Meinung allzu sehr das Regiment führten und allzu viel Geld bekamen.
Gemeinnützigkeit zeigte sich bei pietistischen Gläubigen durch ihren Dienst am Armen, an Waisen und Kranken. Diese Hilfe durch milde Gaben an Hilfsbedürftige und Handarbeiten für die Mission waren im Bürgertum selbstverständlich und wurden als bürgerlich-menschlich und nicht als religiöse Tugend betrachtet.
S. 278f
Die Konsulin aber verlangte weit mehr noch von sich als von ihren Kindern. Sie richtete zum Beispiel eine Sonntagsschule ein. Am Sonntag Vormittag klingelten lauter kleine Volksschul-Mädchen in der Mengstraße…Auch begründete sie den „Jerusalemabend“… Einmal wöchentlich saßen an der langausgezogenen Tafel im Esssaale … Damen, lasen sich geistliche Lieder und Abhandlungen vor und fertigten Handarbeiten an, die am Ende des Jahres in einem Basare verkauft wurden, und deren Erlös zu Missionszwecken nach Jerusalem geschickt ward.
In Lübeck waren sowohl die pietistische Frömmigkeit der Familie Buddenbrook als auch die eher liberalprotestantische Haltung von Thomas Buddenbrook verbreitet, der …
S. 653
…ganz erfüllt war von dem ernsten, bis zur Selbstpeinigung strengen und unerbittlichen Verantwortungsgefühl des echten und leidenschaftlichen Protestanten. Nein, dem Höchsten und Letzten gegenüber gab es keinen Beistand von außen, keine Vermittlung, Absolution, Betäubung und Tröstung! Ganz einsam, selbständig und aus eigener Kraft musste man in heißer und emsiger Arbeit, ehe es zu spät war, das Rätsel entwirren und sich klare Bereitschaft erringen, oder in Verzweiflung dahinfahren…
Oberste kirchliche Behörde in Lübeck war der Senat. Der Gottesdienst bestand aus eine dreiviertelstündige Predigt. Das Niveau der Predigten soll höhere Schichten vom Kirchenbesuch ferngehalten haben. [dvi] Nach Beendigung der Predigt verließen oftmals viele Gläubige die Kirche, so dass, so erzählt man sich, der damalige Pastor Funk die Kirchentüren zu Beginn der Predigt kurzerhand abschließen ließ und erst während des Schlussliedes wieder öffnete.
14.3 Feminisierung der Religion - Die Religion wird weiblich
Bereits seit dem 18. Jahrhundert wurde Religion der weiblichen Sphäre zugerechnet, [dvii] da Frauen stärker als die Männer mit der Religion verbunden waren und als empfänglicher für Religiöses galten als die eher der Rationalität zugeneigten Männer. Religiosität, so die Meinung, war ein Teil des weiblichen Charakters [dviii] unddie „Uranlage des weiblichen Lebens und die Mutter aller weiblichen Tugenden“.[dix]
Religion an sich hatte einen geschlechtsspezifischen Einfluss auf die Sozialisation von Frauen, dies unterstreichen die moralischen Gebote der Nächstenliebe, Demut, Bescheidenheit und Duldsamkeit. Der Einfluss der kirchlichen Autoritäten wie die des Pfarrers war für sie prägend, verkörperte er doch zusammen mit dem männlichen Gottesbild die patriarchalische Ausrichtung der christlichen Kirchen.
Frauen trugen ihre Religiosität in den familiären Innenraum und waren für die Ausformung des bürgerlichen Familienlebens zuständig. Sie prägten mit religiösem Glauben die Moral und Sitte in der Familie und sozialisierten die junge Generation in religiöser Hinsicht.
Auch wenn Frauen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Mehrheit bildeten (und bilden) beim Kirchen- und Abendmahlsbesuch und religiöse Riten pflegten, waren protestantische Männer aus dem großbürgerlichen Milieu nicht unbedingt weniger religiös als die Frauen, hielten nur eher Abstand von den religiösen Pflichten wegen ihrer außenhäuslichen Beschäftigung. [dx]
(TM)
Bei Thomas Mann zeigt sich das Stereotyp der frommen Frau in der Konsulin, aber auch bei Jean wird ein tiefer Glaube sichtbar, wenn er z.B. die Glücksfälle in seinem Leben auf Gottes Wirken zurückführt und religiöse Feste in der Familie lebt:
S. 52f
… und sich wieder einmal dankbar der Erkenntnis zu freuen, wie immer und in aller Gefahr Gottes Hand ihn sichtbar gesegnet.
… Und nun höre: Gott der Allmächtige segnete die Mittel und half ihm wieder zur vollkommenen Gesundheit.
S. 89
… denn der Konsul hielt darauf, dass das heilige Christfest mit Weihe, Glanz und Stimmung begangen ward.
Regelmäßig nahmen Frauen mit ihren Familien an der Messe teil und vollzogen in der Gemeinschaft der Gläubigen eine Rückbesinnung und ein Nachdenken über sich selbst, eine Art Selbstprüfung. Die Predigt bot Trost, Erbauung, Möglichkeit zur Reflexion über Fragen der Moral, sie hinterfragte und bot Deutungen an, lud insbesondere Frauen, die ja eigentlich sonst auf das Fühlen und Tun beschränkt waren, zur intellektuellen Auseinandersetzung mit moralischen und zwischenmenschlichen Fragen ein.
Die Predigt findet in der Familie Buddenbrook große Beachtung, den Worten von der Kanzel wurde Aufmerksamkeit geschenkt:
(TM)
S. 113
Eines sonntags, als sie (Tony) mit den Eltern und Geschwistern in der Marienkirche saß, redete Pastor Kölling in starken Worten über den Text, der da besagt, dass das Weib Vater und Mutter verlasen und dem Manne nachfolgen soll, …
Den Geistlichen wurde nunmehr stärker bewusst, welch wichtige Trägergruppe die Frauen in der Kirche waren. Sie integrierten sie durch Partizipation und eröffneten ihnen neue Tätigkeiten, durch die sie sich selbst verwirklichen konnten und Anerkennung in der Gemeinschaft mit Gleichgesinnten fanden.
Frauenvereine widmeten sich der allgemein Wohlfahrtspflege, halfen Menschen, die in Folge des Krieges in Not geraten waren, versorgten verwundete oder kranke Soldaten.
Nicht selten inspirierten diese Angebote Frauen zur Sakralisierung des häuslichen Raums, so dass es zur „Familiarisierung der Religion“ kam, z.B. in der Feier des Weihnachtsfestes, in Gebetsstunden und häuslichen Abendmahlsfeiern. [dxi] Damit wurde die Frau zur Bewahrerin der christlichen Kultur, zur christlichen Kulturträgerin.
(TM)
Das religiöse Engagement der Konsulin verstärkt sich nach dem Tod des Ehemannes:
S. 277
Todesfälle pflegen eine dem Himmlischen zugewandte Stimmung hervorzubringen und Niemand wunderte sich, aus dem Munde der Konsulin Buddenbrook nach dem Dahinscheiden des Gatten diese oder jene hochreligiöse Wendung zu vernehmen, die man früher nicht an ihr gewohnt gewesen war.
Bald zeigte es sich, … dass sie schon in den letzten Jahren seines Lebens, und zwar seit sie alterte, mit seinen geistlichen Neigungen sympathisiert hatte.
Sie strebte danach, das weitläufige Haus mit dem Geiste des Heimgegangenen zu erfüllen, mit dem milden und christlichen Ernst, der eine vornehme Herzensheiterkeit nicht ausschloss. Die Morgen- und Abendandachten wurden in ausgedehnteren Umfange fortgesetzt. Die Familie versammelte sich im Eßsaale, während das Dienstpersonal in der Säulenhalle stand, und die Konsulin oder Clara verlasen aus der großen Familienbibel mit den ungeheuren Lettern einen Abschnitt, worauf man aus dem Gesangbuch ein paar Verse zum Harmonium sang … Auch trat oft an die Stelle der Bibel eines der Predigt- und Erbauungsbücher… Psalter, Weihestunden, Morgenklänge…
Jerusalem-Abende und häusliche Morgenandachten machten die Familie zu einer religiösen Gegenwelt. Der Sonntagsunterricht als Katechismus-Unterweisung beweist, welche Bedeutung der Pietismus den Frauen zusprach, und wie sehr er sie insbesondere durch ihre Empfänglichkeit für religiöses Empfinden aufwertete.
Im Katholizismus gründete man als Gegenbewegung zur allgemeinen Säkularisation Frauenkongregationen. Sie unterschieden sich von den Klöstern insofern, dass sie es unverheirateten Frauen erlaubten, in der Kranken- und Armenpflege und im Schulwesen aktiv zu werden. Bei der Aufnahme in solch eine Kongregation spielte das finanzielle Vermögen und die berufliche Qualifikation eine nicht geringe Rolle. War man erst einmal Mitglied, befreite solch ein Eintritt von materiellen Nöten und ermöglichte es, einen geregelten Alltag mit Arbeits- und Ruhezeiten und qualifizierten Tätigkeiten zu verleben.
14.4 Pfarrer im 19. Jahrhundert
In dem protestantischen landesherrlichen Kirchenregiment unterstanden die Pfarrer dem Landesherrn, dem Träger der obersten Kirchengewalt. Bis ins 18. Jahrhundert waren sog. Patronatsherren für die Berufung des Pfarrers und für die Finanzierung und rechtliche Ausgestaltung des Pfarramtes zuständig. [dxii]
Es bestand ein ‚Pfarrzwang’, d.h., dass Amtshandlungen, wie z.B. Trauungen, Taufen, Konfirmationen und Begräbnisse nur von dem Pfarrer der eigenen Pfarrei durchgeführt werden durften und die entfallenden Gebühren, deren Höhe das Landrecht festlegte, den Geistlichen als direkte Entlohnung einen Teil ihres Einkommens sicherten. Daneben traten zur Aufbesserung des Gehalts Zinserträge aus Pfarrkapitalien, Pfründesystem und verpachteter Grundbesitz, Religions- und Hebräisch-Unterricht an öffentlichen Lehranstalten - und dennoch stellte die Pfarrerschaft bzgl. Einkommen und Lebenshaltung die schlechteste materielle Lage im gehobenen Bürgertum.
Ein neues Besoldungssystem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte zur Neuordnung der Einkommensverhältnisse und veränderte die soziale Lage der Pfarrer. Es löste die Geistlichen aus lokalen und regionalen Abhängigkeiten. War ihr Verdienst zuvor an Pfarrpfründe gekoppelt und mit eigener Bewirtschaftung und Einnahme von Gebühren für Amtshandlungen verbunden gewesen, erfolgte nun eine materielle Besserstellung und die Pastoren zählten ökonomisch gesehen zu den privilegierten Schichten.
14.4.1 Herkunft und Verbürgerlichung
Galten Geistliche nun als eine exklusive Gruppe im 19. Jahrhundert? Gab es eine Vergesellschaftung mit anderen Schichten?
Das Denken und Handeln der Menschen werden vom Beruf und vom kulturellen Milieu bestimmt, in dem sie leben. Dies beweisen auch die Geistlichen in der Zeit des Bürgertums. Nachdem sie sich aus ständischen Strukturmustern und den feudalen Abhängigkeitsverhältnissen der Vergangenheit gelöst hatten, erfolgte ihre eigene Verbürgerlichung. [dxiii]
Die bisherige Selbstrekrutierung in der Pfarrerschaft nahm im 19. Jahrhundert ab. Die Herkunft eines Geistlichen erfolgte nicht mehr nur aus Pfarrfamilien, sondern aus anderen bürgerlichen/kleinbürgerlichen Berufen, z.B. dem der Handwerker, der Gastwirte und der kleinen Beamten oder aus dem staats- und kirchennahen Milieu, in dem die Väter im Staats- und Kirchendienst beschäftigt waren und deren politische Haltung von Staatsnähe geprägt war. Ein akademischer Bildungsanspruch bestimmte die Sozialmentalität der Pfarrer.
Der Beruf des Pfarrers galt als d i e Aufstiegsmöglichkeit in das gehobene Bürgertum. Geistliche stellten im frühen 19. Jahrhunderts dort einen selbstbewussten Teil mit sozialem Einfluss dar, sie akzeptierten bürgerliche Werte und Lebensformen, orientierten sich im Denken und Handeln an bürgerlichen Ordnungsvorstellungen und waren in den regionalen Traditionen verhaftet. Damit wurden sie sozial als auch kulturell zu einem wichtigen Teil des gebildeten Bürgertums, ja, umfassten zeitweise ein Drittel der akademisch Gebildeten. [dxiv]
Mit ihrer höheren Schulbildung verkörperten sie als Träger des idealistischen und neuhumanistischen Bildungsideals und mit ihrem akademischen Studium - einschließlich theoretischer und praktischer Ausbildung - mit ihrem vorbildlichen christlichen Lebenswandel den Typ des christlichen Bildungsbürgers. Man erwartete von ihnen, dass sie am kulturellen und gesellschaftlichen Leben des gehobenen Bürgertums teilnahmen und die gesellschaftlichen Umgangsformen beherrschten.
Verhalten und Lebenswandel mussten ihrem Amt entsprechend würdig sein. [dxv] Ihr Ziel war eine bürgerliche Lebensführung mit entsprechender Wohnungseinrichtung und Kleidung, mit großem Interesse an der Bildung der Kinder, insbesondere der Söhne. Auf keinen Fall sollten Geistliche ‚verbauern‘. [dxvi]
Pfarrer in Stadtpfarrstellen zählten sich gesellschaftlich und aufgrund ihrer Bildung und ihres Beamtenstatus per se zu der gebildeten lokalen Honoratiorenschaft und richteten ihr Geselligkeitsverhalten danach aus. Mit Gleichgesinnten und mit der gebildeten und besitzenden Oberschicht verkehrte man standesgemäß ohne pastorale Distanz, war wie sie wohlsituiert und ein Repräsentant des bürgerlich-mittelständischen Lebensstils. Das regionale Umfeld und die Tradition in der jeweiligen Landeskirche prägten die Lebenswelt der Pfarrer und ihr religiöses Milieu. Sie versammelten sich mit den Bürgern zu Konzerten und Familienfeiern, unterrichteten an den Volks- und höheren Schulen Religion und kamen in den bürgerlichen Geselligkeitsvereinen, im „Casino“ oder in den „Logen“, mit der städtischen Oberschicht zusammen. Ihr religiöses und vereinspolitisches Engagement ließ sie zu einem Teil der bürgerlichen Gesellschaft werden, und so konnte durchaus von einer Verbürgerlichung und Integration in bürgerliche Sozial- und Berufsstrukturen gesprochen werden.
(TM)
Konfessionell vereint mit bürgerlicher Kultur zeigten sich Pfarrer in Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft vor Ort und integrierten sich in die bürgerliche Lebenswelt.
Im Roman ist der hiesige Pastor zu Gast bei den Buddenbrooks:
S. 16
Mehrmals hatte die Glocke durchs ganze Haus gegellt. Pastor Wunderlich langte an, ein untersetzter alter Herr in langem, schwarzen Rock mit gepudertem Haar und einem weißen, behaglich lustigen Gesicht…
Der Stadtpfarrer zählte sich zur lokalen Honoratiorenschaft, übte kein pastorale Distanz und ist als Gesellschafter und auf Festen bei führenden Familien eingeladen. Kirchliche Bindung und kirchliches Milieu sind hier ein entscheidendes Kriterium geselliger Kontakte.
S. 16ff
Mehrmals hatte die Glocke durchs ganze Haus gegellt. Pastor Wunderlich langte an,..
… und suchte mit den Augen seine Mutter, die als eine der letzten, an der Seite Pastor Wunderlichs die Schwelle überschreiten wollte.
Eloquent weiß er die Tafel zu unterhalten:
S.23f
Es wurde der Fisch herumgereicht, und während Pastor Wunderlich sich mit Vorsicht bediente, sagte er:
„Diese fröhliche Gegenwart ist immerhin nicht so ganz selbstverständlich….“
Aber der Pastor, der wusste, dass sie es nicht liebte, von diesem für sie ein wenig peinlichen Vorfall selbst zu berichten, begann statt ihrer noch einmal mit der alten kleinen Geschichte, auf welche die Kinder gern zum hundertsten Male gehorcht hätten, …
Das spätrationalistische Amtsverständnis betonte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die wissenschaftliche Bildung und bürgerliche Kultur des Pfarrers. Er hatte sich in erster Linie durch Allgemeinbildung und theologische Schulung auszuzeichnen und nicht durch seine äußerliche Amtsweihe.
Nicht selten engagierten sich Pfarrer politisch und waren, weil sie sich nicht nur auf die Kirche beschränkt sahen und wie viele männlichen Bürger gesellschaftliche Verantwortung in der Gesellschaft übernehmen wollten, sowohl als staatstragende Kraft als auch in der Opposition zu finden. Sie arbeiteten in bürgerlichen Kulturvereinen und in Institutionen der kommunalen Selbstverwaltung mit und engagierten sich als Person im Amt des Vorsitzenden oder Schriftführers in kirchennahen Vereinen und Verbänden, auch jenseits der amtskirchlichen Strukturen. Damit bestimmten sie die kulturelle, soziale und politische Ausrichtung des protestantischen Vereinswesens. Als Beispiel sei der Verein der „Inneren Mission“, genannt, gegründet durch Johann Wichern: Er übernahm um die Jahrhundertmitte sozialkaritative Aufgaben in Vereinen und und Anstalten und half aus dem Geist des Evangeliums und im Sinne der bürgerlichen Ordnungsidee, eine Antwort auf Probleme der bürgerlichen Gesellschaft zu geben. [dxvii] Wicherns Ziel war es, dass christliche Vereine sich um kirchenferne Menschen der unteren sozialen Schichten kümmerten: eine Aufgabe zur „Rettung der bürgerlichen Welt“ und zur „Erhaltung des gesunden bürgerlichen Lebens“. Aus dem Geist des Christentums und mit Nächstenliebe versuchte man, soziale Probleme mit sozialer Mildtätigkeit und karitativer Fürsorge zu lösen. Von einem religiös-sittlichen Kulturkonzept durchdrungen fand durch diese gesellschaftlich organisierte innere Missionsarbeit von Bürgern und Pfarrern ein wichtiger Beitrag zur Bewältigung sozialer Not statt. [dxviii]
Im Heiratsverhalten zeigten Pfarrer zunächst eine starke Binnenverflechtung. Ein Großteil von ihnen heiratete Pfarrertöchter, wenn auch in manchen Pfarramtsratgebern aufgrund der schlechten Besoldung eine Geldheirat in das Besitzbürgertum empfohlen wurde, um zu Wohlstand zu gelangen. [dxix] Frauen mit Orts- und Heimatbindung, Engagement in Kirche und Gemeinde galten als besonders geeignet als Pfarrfrau.
Im Laufe des 19.Jahrhunderts schätzte man bald ebenfalls von Seiten des kirchlich gebundenen protestantischen Wirtschaftsbürgertums solch eine Verheiratung, weil man der Auffassung war, dass das Pfarrhaus den Töchtern soziale Sicherheit gab. Diese Verflechtungen mit gehobenen bürgerlichen Schichten führte zu einer Statussicherung und einer stärkeren Verbürgerlichung von Pfarrern[dxx], gleichzeitig aber auch zu einer einflussreichen Stellung der Religion in der modernen Gesellschaft der damaligen Zeit.
(TM)
Tony wird von Pastoren umworben:
S. 282
Tränen-Trieschke aus Berlin, der diesen Beinamen führte, weil er allsonntäglich einmal inmitten seiner Predigt an geeigneter Stelle zu weinen begann, … verliebte sich bei dieser Gelegenheit in Tony… nicht etwa in ihre unsterbliche Seele, o nein, sondern in ihre Oberlippe, ihr starkes Haar, ihre hübschen Augen und ihre blühende Gestalt!
Ihre Schwester Clara heiratet Pastor Tiburtius, wobei ihr Vermögen als Frau aus dem besitzenden Bürgertum dem Geistlichen zufließt und ein standesgemäßes Leben und die Deckung von Studienschulden ermöglicht. Clara erscheint als die ideale Pfarrfrau: Sie ist gottesfürchtig, stellt sich in den Dienst des Mannes, besitzt klassisch-mittelständische Tugenden (Ordnung, Sauberkeit) und tauscht sich geistig-religiös mit ihrem Mann aus. Die Konsulin gibt ihr Einverständnis zur Heirat:
S. 285
Keinen der skeptischen, rotspontrinkenden und jovialen Kaufherren ihrer Umgebung, wohl aber einen Geistlichen konnte sie sich an der Seite des ernsten und gottesfürchtigen Mädchens vorstellen.
Im Unterschied zu den beschriebenen bei den bürgerlichen Familien verkehrenden Geistlichen gab es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auch eine orthodoxe Position: Sie wies dem Geistlichen eine herausgehobene Stellung in der Gemeinde zu. Als ein Mittler des Heils erhielt er in seinem Amt das göttliche Mandat von Christus, und diese Amtsgabe, als besondere religiöse Qualität, trennte ihn von der Gemeinde. Das Amt des Pfarrers mit seinen sakramentalen und kultisch-liturgischen Elementen wurde aufgewertet, die persönliche Gläubigkeit der Pfarrer und ihr priesterliches Charisma traten in der Vordergrund. Diese Pfarrer sahen sich in ihrer klerikalen Sonderrolle in sozialer Distanz zu der bürgerlichen Gesellschaft und der bürgerlichen Berufswelt, hatten einen anderen Lebensstil, andere Kleidung und Sprache. In Folge ließen die geselligen Sozialkontakte zwischen Pfarrerschaft und Bürgertum nach. Diese Pfarrer bezogen sich auf ihre Berufsgruppe und vermieden Kontakt zu den bürgerlichen Geselligkeitsvereinen und Casino-Gesellschaften.
Bei orthodoxen Priestern überwog die Furcht vor der Relativierung des christlichen Glaubens und vor einem Werterelativismus, ihrer Meinung nach ein Grund für die Entkirchlichung der Gebildeten, für die wiederum, ihrer Auffassung nach, der religionskritische und entchristliche Geist der humanistischen Gymnasien verantwortlich war. Mit der Distanz zur Bildungstradition des Idealismus und Neuhumanismus und gleichsam mit einer Bildungs- und Wissenschaftsfeindlichkeit kam es zur Verstärkung des Subjektiven und des Gemüts. Es entwickelte sich die sog. Erweckungsbewegung, in deren Gebetsgruppen viele dieser Geistliche ihre Hilfe anboten. [dxxi]
14.4.2. Der Ausbildungsweg zum Pfarrer
Attraktiv war der Beruf eines Pfarrers allemal, denn er versprach eine beamtenähnliche Karriere mit guten Anstellungschancen und hohe soziale Sicherheit. In erster Linie entscheidend für die Berufswahl des Pfarrers sollte aber stets eine persönliche Glaubenserfahrung sein, für die neopietistische Theologen im frühen 19. Jahrhundert den Nachweis der Bekehrung verlangten. [dxxii]
Als Wortreligion beinhaltete der Protestantismus seit der Reformation eine Auseinandersetzung mit Gottes Wort in der Bibel, und um diese übersetzen und auslegen zu können, waren Kenntnisse der Geschichte, des NT und des AT und der alten Sprachen erforderlich. Aus diesem Grund erhöhte man die Ausbildungsstandards für Geistliche durch eine staatliche Normierung und machte den Zugang zum theologischen Berufsstand mit einer philologischen Bildung und der Reifeprüfung am Gymnasium verbindlich. Dadurch wurde die im (Bildungs)Bürgertum am humanistischen Gymnasium vermittelte philologische Bildung in der Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen und antiken Literatur (ohne dass sie einen instrumentellen Bezug für das Bildungsbürgertum hatte), nun auch bedeutsam für die Pfarrerschaft. Auf diese Art entstanden für sie bereits auf dem Gymnasium gesellschaftliche Bindungen mit anderen Gruppen des Bildungsbürgertums, die zu einem sozialen Kapital für das spätere Leben wurden.
Man setzte ein dreijähriges Theologiestudium fest und verschärfte die Prüfungen: Hebräischkenntnisse wurden ebenso zur Voraussetzung für das Bestehen der Prüfung wie die religionswissenschaftliche Erforschung der Bibel.
Studiumgebühren mussten zwar auch für ein Theologiestudium gezahlt werden, diese waren aber aufgrund der vielen Stipendien und Freitische niedriger als für andere akademische Ausbildungen, wie z.B. die des Arztes oder des Juristen.
Die universitäre Berufsausbildung mit reglementiertem Hochschulzugang, Studienverlauf und Abschlussprüfung definierte von nun an den sozialen Status und die soziale Distinktion der Pfarrer und integrierte sie ins Bildungsbürgertum. [dxxiii]
Das für die bürgerliche Gesellschaft entscheidende Leistungsprinzip setzte sich bei den Geistlichen mit ihrer Akademisierung und der Verwissenschaftlichung ihrer Ausbildung durch.
Stets entschied die Landeskirche über den Ort einer Anstellung als Pfarrer; meistens war dies wegen der Kenntnis der regionalen Traditionen, Sitten und Gebräuche und der besonderen Mundart in den Herkunftsprovinzen der Geistlichen. Die Pfarrer hatten sich den Entscheidungen der Landeskirche unterzuordnen. Die Eingebundenheit in die einheitliche Landeskirche mit bürokratischen Strukturen trug mit dazu bei, dass sie wie Staatsbeamte angesehen wurden, obrigkeitliche Aufgaben erfüllten und der Pfarrberuf als ein staatsnaher bürgerlicher Bildungsberuf galt.
Viele Pfarrer arbeiteten nach dem Abgang von der Universität zunächst als Hauslehrer in der bürgerlichen Oberschicht und lehrten in Abhängigkeit vom Arbeitgeber, oftmals mit einer sehr großen Arbeitsbelastung. Dort lernten sie dann die für gebildete und respektierte Pfarrer unerlässlichen guten Umgangsformen und ein sicheres Auftreten in der Gesellschaft: Pastor Wunderlich, zu Gast bei den Buddenbrooks, stellt einen Beweis für die Internalisierung bürgerlicher Normen dar, er parliert, ist geistreich und beherrscht die Regeln des guten Umgangs bei Tisch.
Andere Pfarrer wiederum wurden als Lehrer an Schulen angestellt:
(TM)
S. 713
Er hatte ehemals Prediger werden wollen, war dann jedoch durch seine Neigung zum Stottern wie durch seinen Hang zu weltlichem Wohlleben bestimmt worden, sich lieber der Pädagogik zuzuwenden.
Als Geistlicher im Pfarramt wurde vom Pastor stets eine Identität von Person und Beruf erwartet, war dies der Fall, zollte man ihm und seiner geistlichen Arbeit gegenüber in gläubigen Kreisen Anerkennung und Hochachtung,
(TM)
Die diskrete Zurückhaltung bei einer nicht ganz eindeutigen literarischen Darbietung anlässlich der Hauseinweihung der Buddenbrooks zeugt davon:
S. 41
Pastor Wunderlich aber war an ein Fenster getreten und kicherte, der Bewegung seine Schultern nach zu urteilen, still vor sich hin.
Die Stellung des Pastors in der Gemeinde war eine patriarchalische. Sie resultierte aus der persönlichen Kenntnis der Gemeindemitglieder, die im Verlauf ihres Lebens seine Betreuung erfahren haben, wie eben jener Pastor Wunderlich, der das Leben der Buddenbrook’schen Familienmitglieder begleitet.
14.4.3 Geistlichkeit im Familienroman „Buddenbrooks“
Im Roman von Thomas Mann rühren die distanziert-ironischen Schilderungen bürgerlicher Religiosität und insbesondere der Geistlichen aus den autobiographischen Erfahrungen von Thomas Mann in seiner Jugend im protestantischen Milieu in Lübeck.
Th. Mann verspottet die Verweltlichung und das Komplizentum zwischen Kirche und Bürgertum und zeichnet auch anhand der Geistlichen, die in steigendem Maße auf die Äußerlichkeiten der Religion konzentriert sind, letztendlich eine „Verfallsgeschichte“.
Pastoren im Roman waren, da keine Pensionierung von Geistlichen vorgesehen war, meist bejahrte Männer. Sie verweilen im Haus der Konsulin und dürfen dort „gottgefällige Gespräche…“ erwarten. Ihnen zur Seite stehende examinierte Kanditaten verdingen sich als (Haus)lehrer bis sie eine Anstellung (meist durch den Todesfall eines Geistlichen) bekamen.
Folgende Geistliche sind den Generationen der Buddenbrooks zur Seite gestellt:
- Pastor Wunderlich: Mit gepudertem Haar, rundem wohlmeinenden behaglich lustigen Gesicht ist er Teil der bürgerlichen Honoratiorengesellschaft. Er beherrscht den Plauderton und ist den Freuden des Lebens nicht abgeneigt.
Bereits in der Anfangsszene bei der Hauseinweihung zeigt sich die Kirche in Person des Pastors zwanglos eingebunden: Er spricht keinen Haussegen sondern einen Toast aus.
Er ist ebenso unpathetisch wie Johann Buddenbrook der Vernunftreligion zugewandt und lehnt Aberglaube, Dummheit und „fromme Geldgier“ ab, beide trennen Geschäft von religiöser Moral.
- Pastor Kölling: Ein Gefährte des jüngeren Johann Buddenbrook, er ist ein robuster Mann mit derber Redeweise, der von der Kanzel „poltern“ kann. Seine geistliche Macht weitet sich aus auf den weltlichen Bereich, zu hören in der Predigt im Gottesdienst von St. Marien, als er Tony „mit starken Worten“ beeinflusst, Grünlich zu heiraten und dabei seine „Vorliebe für rabiate Ausdrucksweisen missbraucht.“ [dxxiv] . Er unterstützt Jeans Bestreben nach der guten Partie für Tony, spricht von der Kanzel ein Machtwort und verhindert die individuelle Lebensgestaltung von Tony durch religiös-christliche Argumente.
In Pastor Kölling lässt Thomas Mann den seit 1829 an St. Marien wirkenden Pastor Johann Ägidius Ludwig Funk auferstehen. Dessen Predigten waren in Lübeck populär: Redegewaltig und unerschrocken wetterte er gegen den herrschenden Zeitgeist und trat für die Erneuerung des häuslichen familiären Lebens ein. Die Familie des Großvaters von Th. Mann im Haus Mengstraße war mit ihm befreundet.
- Pastor Pringsheim, der in Mimik, im Duktus der Rede und im Habitus zwischen Verklärung und Weltlichkeit wechselt, stellt eine Persiflage auf Paul Friedrich Ranke dar. Dieser hatte die Familie Mann in Lübeck als „verrottet“ bezeichnet, Thomas Mann überträgt diese Äußerung auf die Familie Buddenbrook.
- Pastor Mathias, Tränen-Tritschke, mit Pferdebacken und vielen Kindern, zeigt ein ganz und gar nicht vorbildhaftes Verhalten eines geistlichen Herren, stellt Tony nach und ist eine Verkörperung des Antiklerikalismus[dxxv]; ebenso wie
- Sievert Tiberius, der Erbschleicher.
- Oberlehrer Ballerstedt ist ein Beispiel für den Einfluss der Kirche in der Schule, sein Stottern und die Liebe zum Lebensgenuss ließen ihn den Beruf des Lehrers (statt des Predigers) ergreifen, wobei seine Pädagogik und Bewertung ebenso fragwürdig sind wie sein Unterricht: Die Benotung des Sohnes von Kaufmann Kaßbau erfolgt durch die unsinnige Frage, ob Jesus links oder rechts um den See Genezareth gepilgert ist.
14.5 Religion im Familienroman des 20. Jahrhunderts
In den neuen Familienromanen findet sich so gut wie kein Hinweis auf Religiosität. Eine Vakanz der Religion in den modernen (Familien)Romanen ist auffällig, aber erklärbar:
Kirchen als Glaubens- und Sozialsysteme verloren seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Bedeutung. Als Beispiel dafür sei die Zivilstandsgesetzgebung von 1874 genannt, die die kirchliche Trauung relativierte, aber auch der Gegensatz zwischen Kirche einerseits und Wirtschaft, Naturwissenschaft und Technik spielt eine wichtige Rolle. Der politische Liberalismus distanzierte die bürgerliche Oberschicht von der Kirche [dxxvi] und bewirkte, dass das Wirtschaftsbürgertum sich in Beruf und Geschäft immer weniger vom kirchlich-religiösen Ethos leiten ließ.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts verstärkte sich die Entkirchlichung und der Rückgang traditioneller kirchlicher Sitten. Wir leben in einer Zeit der modernen Religionslosigkeit, in der eine regelmäßige Teilnahme am kirchlichen Leben an Bedeutung verloren hat, auch wenn die formale Zugehörigkeit des überwiegenden Teils der Bevölkerung erhalten blieb. Eine weitere Herausforderung für die Kirche bedeutet die veränderte Form der kirchenpolitischen Mitsprache von Laien innerhalb der Milieus und deren neues Selbstverständnis.
Glaube und Kirche und die berufliche und gesellschaftliche Rolle der Pastoren haben keine Relevanz mehr im österreichischen Roman von Arno Geiger.
(AG)
Alma, die das gesamte 20. Jahrhundert repräsentiert, zeigt eine wie auch immer artikulierte Kirchenferne und repräsentiert die Mehrheit der österreichischen Frauen:
Religiöse Werte wie der Glaube an Gott sind für die Mehrheit der Österreicher von geringerer Bedeutung, nur noch 37% der Frauen sehen den Glauben als wichtig an. [dxxvii]
S. 369f
Sie fragt sich, warum man der abenteuerlichen Idee von Gott und dem ewigen Leben mehr Wahrscheinlichkeit zuspricht als der sehr viel einfacher, wenn auch nicht leichter zu denkenden Variante, dass es mit dem Tod aus und vorbei ist und dass (wir) nicht wieder auf die Füße zu fallen, und noch zum Tod hin das sich Klammern an die durch nichts bestärkte Hoffnung, dass es ewig so weitergehen wird.
Nicht einmal beim Tod ihrer Kinder ist Alma bereit, in der Religion Trost zu suchen:
S. 38
Vor allem ist Almas Bereitschaft, Dinge vor allem deshalb zu glauben, weil sich darin Trost finden lässt, eher gering. Wäre ja auch blödsinnig.
Die mehrmals im Roman erwähnte Schutzengelfigur im Garten geht auf Richards Mutter zurück und dient dekorativen Zwecken. Sie wird von Jugendlichen zerstört, ein Zeichen für die fehlende Religiosität under mangelnden Achtung vor religiösen Zeichen:
S.67
Gleich wird der Kinderwagen auf Höhe der Schutzengelfigur, die Richards Mutter während des Krieges dort aufstellen ließ, den Garten erreichen …
S. 359
… sie springt auf das Sandsteinpodest, das ihr Lieblingsplatz ist, seit vandalierende Jugendliche die Schutzengelskulptur heruntergestoßen und ihr zum Gaudium beide Flügel abgebrochen haben.
Postmaterialistische Werte, die Relativierung von Normen und die Liberalisierung- und Emanzipationsbewegung in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts machten eventuelle Vorschriften der Kirche immer unbedeutender: Es verschwand der prinzipielle Anspruch auf die Dauerhaftigkeit einer ehelichen Beziehung, wie sie die Kirche vorschrieb, die Sexualität wurde durch moderne Verhütungsmittel von der Familiengründung entkoppelt, der Wunsch nach Selbstverwirklichung in Beruf und Freizeit führte zu Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Frauen und einem neuen nicht mehr kirchlich-religiös geprägten Geschlechterverhältnis.
Lediglich die Rituale der in der Kindheit stattfindenden Sakramente finden noch Interesse:
S. 303f
Deutlich vor Augen steht Peter auf Philipps Erstkommunion. Das war seltsam. Wenn er nicht wüsste, dass es so war, würde er nicht glauben, dass er seinerzeit Sprüche klopfte wie:
- Mein Sohn trägt kein Mascherl.
Und Ingrid sagte:
- Wenn dir die Erstkommunion auf die Nerven geht, ist das deine Sache, und jetzt hältst du dich besser zurück.
„Heute… sind es in erster Linie ‚Liebe‘ und ‚Arbeit‘, die als säkulare oder Quasi-Religionen einen weltimmanenten Transzendenzbezug herstellen und den objektiven Sinnverlust wie auch die metaphysische Ungewissheit auszugleichen helfen.“ [dxxviii]
(AG)
Ingrid und Peter erleben zunächst ihre Liebe zueinander und zu den Kindern:
S. 262
… schwingt Peter sich zu dem Bekenntnis auf, dass er sich ein Leben ohne sie drei nicht vorstellen könne…
S. 259
Sie denkt: Das einzig Gute, was dabei herausgekommen ist, sind die Kinder.
und später ihre Arbeit als Sinn im Leben:
S. 272
Sie liebt ihren Beruf. Es ist der Beruf, den sie haben wollte.
Da generell kirchliches Leben für einen großen Teil der Bevölkerung mit der Industriealisierung und der Säkularisierung unwichtig wurde, erlebte auch der Pfarrberuf einen immer stärkeren Bedeutungsverlust und veränderte das soziale Selbstverständnis des Pfarrers: Er wurde zum Verwaltungsbeamten, der aufgrund zeitlicher Belastung und des neuen beamtenähnlichen, neutralen Berufsverständnisses nur noch geringe soziale Kontakte zum gebildeten Bürgertum hatte. [dxxix] Seitdem verzeichnet man eine Entfremdung der gebildeten Bevölkerungsschicht von der Kirche.
„Der Beruf des Pfarrers erleidet einen Funktionsverlust…Je weiter…nun die Zeit fortschreitet und je vollkommener die Industriegesellschaft sich etabliert, desto deutlicher scheint zu werden, dass da für das Amt des Pfarrers kein rechter, jedenfalls kein selbstverständlicher Platz vorgesehen ist.“ [dxxx] In unserer leistungsorientierten Gesellschaft wirkt ein Berufsstand ohne messbare Leistung, wie der des Pfarrers, fremdartig.
Und dennoch - es gelten weiterhin die Prinzipien der Christlichkeit. Religiöse Erziehung findet statt, zwar nicht mehr in form von kirchlichen Ritualen, aber im Rahmen einer christlichen Tradition, in der die Inhalte der 10 Gebote vom Respekt vor den Eltern, von Wahrhaftigkeit und Nächstenliebe weitergegeben werden, nicht zuletzt davon erzählt der DDR-Familienroman.
14.5.1 Religion und religiöses Leben in der DDR
In der DDR existierte nach dem Vorbild der UDSSR die religionskritische Utopie. Diese besagte, dass durch die Aufhebung der Entfremdung in einem kommunistischen Reich die Religion untergehen wird. In dieser Utopie galt der Sozialismus als das „Reich der Freiheit“, bezogen auf das Freisein von ökonomischen Zwängen. Mit dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln war die Basis für soziale Gleichheit und Gerechtigkeit geschaffen, verbunden mit der staatsbürgerlichen Freiheit und Gleichheit. Diese Ideologie basierte auf der Grundlage des dialektischen Materialismus und war atheistisch - doch „allein durch ihre Existenz untergruben die Kirchen das ideologische Wahrheitsmonopol“. [dxxxi]
Bereits 1952 beschloss die SED, „dass der Aufbau des Sozialismus eine Intensivierung des Klassenkampfes verlange, weshalb man gegenüber der Kirche nicht mehr neutral sein könne. Insbesondere die Jugendarbeit in der evangelischen jungen Gemeinde stand wegen Westkontakten im Verdacht, staatsfeindlich gesinnt und aktiv zu sein.“ [dxxxii]
Durch diverse Maßnahmen, z.B. Verhöre von Seiten der Schuldirektoren oder dem Verweis von christlichen Jugendlichen von den Oberschulen, versuchte die SED junge Christen zum Austritt aus der Gemeinde und zum Eintritt in die FDJ zu bewegen, eine Mitgliedschaft in beiden Organisationen war nicht möglich.
Laut Verfassung bestand zwar das Recht der Freiheit einer Religionsausübung, aber im Laufe der Zeit gelang es, christlich-religiöse Werte und Traditionen auf ein Minimum zu reduzieren, weil sich die Säkularisierung unter dem Einfluss der sozialistischen Politik immer mehr verstärkte. Ein entscheidender Schritt war die Einführung der atheistischen Jugendweihe und des Fachs Bürgerkunde, das von nun an den Religionsunterricht ersetzte, und eine Militarisierung der Gesellschaft. 1962 kam es zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Für die wenigen „Verweigerer“ gab es als Ersatzdienst den Einsatz bei den „Bausoldaten“, doch wer sich diesen zuteilen ließ, musste mit Schikanen während der Dienstzeit rechnen und damit, später eine Außenseiterrolle einzunehmen. „Auf ein Studium brauchte er nicht mehr zu hoffen und überall, wo es sich anzustellen galt, hatte er sich ganz hinten einzureihen.“ [dxxxiii]
Der Wehrdienst wurde von den Jugendlichen (Sascha) hingenommen, auch wenn oftmals die politische oder ideologische Lebenshaltung dazu fehlte. Bei den jungen Männern waren eher negative Erwartungen und Einstellung zum Wehrdienst verbreitet, sie hatten Ängste, an die Grenze zu müssen und Furcht vor der körperlichen Anstrengung, der Schikane und der Unterdrückung.
(ER)
S. 218
… Alexander zusammen mit Kalle Schmidt, dem die Hände zitterten, und Behringer, der schon mehrmals auf der Stube hatte verlauten lassen.
- Wenn die Arschlöcher mir wirklich an die Grenze lassen, hau ick ab!…
Alexander war es ein Rätsel, wie er das durchhalten sollte, er wusste nicht einmal, wie er bis Weihnachten durchhalten sollte…
Andererseits gab es bei diesen jungen Menschen die Hoffnung auf den leichteren Erhalt eines Studienplatz nach dem Wehrdienst. So passten sich die meisten an, leisteten ihren Wehrdienst und lebten danach das normale Leben eines Zivilisten.
Kirchen und Pfarrer hatten bis zur Wende eine besondere Stellung und Bedeutung in der DDR. Der Pfarrer galt bis in die 60er Jahre als Repräsentant der kultivierten christlichen Lebensführung und wurde als Persönlichkeit und Seelsorger geachtet. Die Kirche drängte man zwar in den Bereich des Privaten, da der Staat allein auf die Lebensbereiche des Menschen Anspruch nehmen sollte, aber dies gelang nur begrenzt. Sie vermittelte in Gottesdiensten, Gesprächskreisen und der „Christenlehre“ weiterhin Sinndeutungen und Wertorientierungen, und diese ordneten sich nicht der Staatsideologie unter, z.B. der Glauben an eine höhere Macht.
Konfessionszugehörigkeit und Religiosität/Glaube an Gott korrelierten in der DDR: Nur 13,1% der evangelischen Christen glaubten n i c h t an eine höhere Macht. [dxxxiv]
Traditionell war Ostdeutschland protestantischen Glaubens, die katholische Kirche hatte lediglich einen Anteil von 6,1% der Bevölkerung und stellte keinen Gegner für die sozialistische Partei dar, anders als in Polen. In der evangelischen Kirche gab es unterschiedliche Haltungen, die von der Loyalität mit dem SED-System bis zur Unterstützung von Oppositionsgruppen reichten. Man zeichnete sich durch eine Mittelstandsorientierung aus, d.h. kleinbürgerliche, kleinbäuerliche Handwerker, Angestellte, deren Kollektivierung erzwungen war und protestantische Flüchtlinge aus den Ostgebieten machten ein Gros der Kirche aus. [dxxxv] In der Tradition der lutherischen Gewissensentscheidung lebte so manche protestantischen Familie in der geistigen Unabhängigkeit weiter, und hatte daran Anteil, dass sich in den 80er Jahren eine Opposition zum Staat im Freiraum der Kirche entwickeln konnte.
Bereits bevor 1969 der BE (der Bund der Evangelischen Kirche in der DDR) gegründet wurde, bildete die evangelische Kirche eine wichtige Integrationsklammer zwischen den beiden deutschen Gesellschaften. Westliche Landeskirchen hatten Partnerkirchen im Osten, es gab regelmäßige Besuche bei den Synoden oder sonstigen wichtigen kirchlichen Veranstaltungen und eine Anzahl von Partnerschaftsbeziehungen auf verschiedenen Ebenen. Ökonomische Unterstützungen von westlicher Seite bestanden aus dem Transfer von Warenlieferungen, Hilfen beim Aufbau zerstörter Kirchen und bei der Errichtung neuer kirchlicher Gebäude und Gemeindezentren, in der Jugendarbeit und bei der Besoldung kirchlicher Mitarbeiter - all das akzeptierte der DDR-Staat aufgrund seiner eigenen finanziellen Zwänge.
Eine Ähnlichkeit mit dem protestantischen Deutschland zeigte sich darin, dass auch in der DDR Frauen eine stärkere Kirchenbindung hatten als Männer, jedoch in den kirchlichen Repräsentationsorganen und in der Pfarrerschaft unterrepräsentiert waren.
Kirchen waren und sind als religiöse Institutionen moralische Anstalten, die Werte vermitteln.
BEK-Theologen neigten dazu, politische Probleme in einer moralisierenden Perspektive zu thematisieren, äußerten Kritik am Individualismus, an Konkurrenz, Leistungsdenken, Konsumismus, an der Sinnleere des Lebens in der kapitalistischen Massengesellschaft und bekannten sich zum Fortschritt der kirchlichen Vergesellschaftung in der DDR und deren Gemeinschaftlichkeit. „Die bürgerliche Privatisierung des Religiösen sei abgelöst worden durch eine weltoffene, sozial verantwortliche Kirchlichkeit… in der ‚Zeugnis- und Dienstgemeinschaft‘…“[dxxxvi]. Man unterstützte den real existierenden Sozialismus und sah die sozialen Menschenrechte in der DDR, anders als in Westdeutschland, trotz der Beseitigung der individuellen Freiheitsrechte verwirklicht. Viele der ostdeutschen Religionswissenschaftler waren der Auffassung, der gemeinsame sozialistische Aufbau habe Vorrang vor den individuellen Rechten.
In der Realität kam es dennoch seit den 50er Jahren zur Konfrontation zwischen Staat und Kirche, explizit als kommunistische Bildungsprinzipien in der politischen Machtausübung durchgesetzt wurden und man in der Jungen Gemeinde propagandistische Mittel und im Erziehungsbereich antikirchliche Sanktionen aufbot und 1958 die Jugendweihe einführte. Dies hatte zur Folge, dass der Mitgliederbestand der evangelischen Kirche auf 25%, der der katholischen auf 4-5% zurückging. Es begann eine Erosion der kirchlichen Gemeinden.
Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde aus der protestantischen Volkskirche durch den drastischen Mitgliederschwund eine Minderheitskirche. Die von der SED erwartete Entfremdung der Jugend von der Kirche spiegelte sich dann mit den Jahren im zahlenmäßigen Rückgang der Gottesdienstbesucher, der Taufen und der kirchlichen Eheschließungen und im Anstieg der Zahl der Kirchenaustritte wider. Dieser drastische Schwund der Gläubigen ist sowohl der Benachteiligung der Christen in Schule und Beruf geschuldet als auch der ideologischen Stigmatisierung von Religion als überflüssiges und schädliches Relikt der Klassengesellschaft - nicht zu vergessen, spielte aber ebenso die Modernisierung der Gesellschaft mit ihrem wissenschaftlich-technischen Fortschritt eine Rolle. In der Kirche verbliebene Familien sprachen sich mit anderen kirchlichen Familien ab, bildeten Gemeinschaften und meldeten ihre Kinder an derselben Schule an, damit sie einander beistehen konnten, wenn Lehrer beginnen würden, sie aufgrund ihrer Religion auszugrenzen. [dxxxvii]
Insbesondere in der Intelligenz vollzog sich die Abkehr von Religion und Kirche konsequenter als in anderen gesellschaftlichen Schichten, denn sie war per se kirchenkritischer. [dxxxviii]
(ER)
Kurt ist hierfür ein Beispiel:
S. 303
Einen Augenblick überlegte Kurt, ob er das Thema „Gott“ ansprechen sollte - aber wozu? Und wie? Sollte er Sascha allen Ernstes fragen, ob er an Gott glaube? Schon das Wort klang, wenn man tatsächlich Gott meinte, nach Irrsinn.
Mitgliedschaft in der Kirche wurde zu einer bewussten persönlichen Entscheidung und Kirchenzugehörigkeit damit immer unwahrscheinlicher, denn wenn die Teilnahme am kirchlichen Leben allein zum Gegenstand der individuellen Entscheidung wird, verschlechtern sich generell die Tradierungmöglichkeiten christlicher Lebensformen. Glaube ist stets das Ergebnis eines Bildungs- und Sozialisationsprozesses, bei dem Eltern, Kirche und Freunde eine wichtige Bedeutung spielen. In der DDR vermittelte aber niemand christliche Werte und auch eine religiöse Sozialisationsfunktion durch die Familie wurde nicht gesellschaftlich gestützt.
(ER)
Die Roman-Familie Umnitzer ist konfessionslos. Es gab in ihr durch die sozialistische Gesellschaftsstruktur kein christliches familiales Leben, und Sascha wird ebensowenig wie sein Sohn religiös sozialisiert, der sich in der Wende-Zeit abfällig über die Gebetsriten der Eltern äußert.
S. 85 (Sascha)
- Omi, aber in Wirklichkeit gibt’s keinen Gott.
- In Wirklichkeit gibt’s keinen Gott, sagte Omi und erzählte, wie die Götter die fünfte Welt gründeten…
S. 276 (Markus)
…aber er fand die Friedensandachten einfach grausam, dieses Alle-an-den-Händen-fassen-und zusammen-Singen, das ganze Getue…
S. 373
…und Muddel fand sowieso alles richtig, am liebsten hätte sie ihn, Markus, auch gezwungen, sonntags zur Kirche zu gehen, was sich jedoch mit Hinweis auf die im Grundgesetz garantierte Glaubensfreiheit vermeiden ließ…
Allein die Großmutter praktiziert den russischen Glauben:
S. 150f
Dass sie Kirchen abgerissen haben, das war eine Schande…
Vielleicht, dass sie doch noch einmal zur Kirche ging, also zur orthodoxen, ein Stück konnte man mit der Straßenbahn fahren, und eine Kerze stiften für Sascha, auch wenn er nicht daran glaubte, vielleicht half es ja trotzdem, dass er endlich zur Ruhe kam, der Junge, oder sie gab mal was für die Kollekte, wenn’s daran lag. Geld hatte sie schließlich.
Man thematisierte Religiosität in anderer Weise: Religiöse Erziehung fand indirekt im Rahmen einer christlichen Tradition statt, indem man die Prinzipien der Christlichkeit mit den Inhalten der 10 Gebote weitergab und Werte wie der Respekt vor den Eltern, Wahrhaftigkeit, Nächstenliebe, Für-das-Gute-Dasein, Ehrlichkeit, Pflichterfüllung vorlebte und in subjektiver Entscheidung übernahm. Eine christliche Lebensführung mit der entsprechenden Traditionswahrung verlor zwar an Bedeutung, wurde aber abgelöst von einer subjektiven Innerlichkeit und einer Lebensführung nach den christlichen Werten.
Der Sinn des Lebens, so war es in den Büchern für die Jugend der DDR zu lesen, bestand darin, „für Fortschritt, Wahrheit, Gerechtigkeit zu kämpfen, gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Lüge.“ [dxxxix]
(ER)
In der Trauerrede zu Irinas Beerdigung hören wir davon.
S. 384
Dir waren die Menschen willkommen, an deine Tür klopften wir…Nausikaa nannte ich dich, sagte die Frau am Rednerpult…die Frau, aus antiker Zeit zu uns herübergekommen…von Kriegszügen, Verbannung, Völkerwanderung, diese Frau, die unlebbares Leben lebbar macht..dazu gehörtest du Irina. Das konntest du…Dein Tisch war ein Kunstwerk…Dein Tisch, die Gäste auffordernd, sich zu setzen, zu reden.
Die in der Kirche verbleibenden Mitglieder empfanden ein Verbundenheitsgefühl zu ihrer Kirche, ihre Bereitschaft zur Mitarbeit war aber dennoch nur etwa so groß bzw. gering wie im Westen. [dxl] Die Kirchen bildeten kleine private Zirkel zur geistigen Auseinandersetzung, und repräsentierten das intellektuelle Sprachrohr bildungsbürgerlicher Kräfte. [dxli]
Die Gemeinde war für viele ein Ort des freien Geistes, eine Öffnung in der geschlossenen Gesellschaft des Sozialismus. Hier konnten Fragen und Themen diskutiert werden, die sonst tabu waren. Jugendlichen, die nicht politikkonform waren, hier stellte man kirchliche Räume zur Verfügung, ohne dass es einen staatlichen Einfluss gab. Der Bau der Mauer ließ die Parole „Wir schießen nicht auf Brüder“ laut werden. Sie fand viel Beifall bei den Christen, doch ließ der Staat allgemein, so auch hier, wenig Spielraum für Proteste, diskriminierte sie öffentlich. So konnten lsie nur noch im oben beschriebenen kirchlichen Milieu Zuflucht finden.
Die Observation der Kirche und der nicht staatlich gelenkten Gruppen machte aus Pfarrhäusern eine Alternativkultur, die zum Ausgangspunkt eines Dissidentenmilieus wurde, das mit den Jahren an Attraktivität gewann und für den Umbruch 1989 wesentliche Bedeutung hatte. [dxlii] Seit den späten 70er Jahren wanderten Gruppen von neuen sozialen Bewegungen mit Themen wie Ökologie und Frieden in die Kirche ein, wuchsen zu Umwelt- und Friedensgruppen an, verstärkten damit die Pluralisierung des DDR-Protestantismus und bewirkten eine politische Mobilisierung und Modernisierung der Kirche.
Bildungsstand und Kirchennähe korrelierten: So gehörten vor allem sozial-engagierte, politisch-motivierte und gebildete Jugendliche dazu, die den DDR-Verhältnissen kritisch gegenüber standen und sie verbessern wollten. [dxliii] Die Mehrheit der Bevölkerung war ihnen gegenüber negativ eingestellt. Intellektuelle vermissten den theoretischen dialektischen Anspruch, andere sahen in ihnen Wichtigtuer, die in den Westen wollten. [dxliv]
In den 80er Jahren entspannte sich im Zuge der Liberalisierung des gesellschaftlichen Klimas das Verhältnis von Kirche und Staat. Die Evangelische Kirche bewegte sich jetzt, um eine Ausgrenzung zu vermeiden, in der Zone zwischen Anpassung, Kooperation und Widerstand. In ihr fanden oppositionelle Gruppen und regimekritische Künstler ihren Platz, gleichermaßen stellte sie für politisch motivierte, junge Menschen mit Interesse an Religion und Kirche eine politisch-ideologische Alternative dar. Nicht zuletzt wuchs in diesem Jahrzehnt so wie in Westdeutschland das Interesse an Gebet und Spiritualität bzw. an einem individuellen Frömmigkeitsstil.
(ER)
Diese Zeit hat auch in Saschas Leben ihre Wirkung gezeigt:
Auf seiner Reise ergibt sich mit zwei Schweizerinnen ein Gespräch über die aztekische Religion, und die Frage einer religiösen Erkenntnis bzw. Erlösung. Die beiden jungen Frauen sind in dieser Thematik von einer unbestimmten Toleranz geprägt:
Alles, was den beiden Schweizer Frauen so leicht und gleich (un)bedeutend erscheint, ist für Alexander bedeutungsgefüllt, aber er spricht es nicht aus. Sein spirituelles Erlebnis, in dem ihm Gott nahe schien, ist dem religiösen Erweckungserlebnis von Thomas Buddenbrook nicht unähnlich, erstreckt sich aber anders als im Buddenbrooks-Roman über mehrere Tage. Es kommt ihm auf seiner Reise in den Sinn:
S. 237f
Erstaunlich, wie leicht ihnen das alles über die Lippen ging, wie mühelos uns selbstverständlich sie das alles zusammenbrachten, wie luftig, wie schwerelos diese neue Weltreligion war…
Er erinnert sich an eine religiöse Erfahrung oder Transzendenzerfahrung im Winter 1979, als er sich mit seinem Vater traf. Er erinnert sich jedoch an seine Erfahrung des Unaussprechlichen:
„... an seine eigene, schwierige, verrückte, gewaltsame Begegnung mit ebenjenem, damals, in diesem Winter, dem Jahrhundertwinter … Er versuchte sich zu erinnern: an den Moment, als es - ja, was eigentlich? - ihn berührte oder sich ihm zuwandte oder sich zu erkennen gab? Er weiß es nicht mehr…und er erinnert sich an das Danach, an ein Gefühl der Erlösung, der Einsicht…K örperchemie? Heller Wahnsinn? Oder der Moment der Erleuchtung? Tagelang war er danach mit dem Lächeln eines Verzückten durch die Straßen gegangen, jede rostige Laterne war ihm wie ein Wunderwerk erschienen…hatte Glücksgefühle ausgelöst, und in den Augen der Kinder, die ihm, dem Lächelnden, ungehemmt ins Gesicht schauten, hatte er es mehr als einmal gesehen: das, wofür ihm, dem atheistisch Erzogenen, kein Wort zur Verfügung stand… Soll er lernen, die Botschaft endlich anzuerkennen? Den Namen zu nennen, der den beiden Schweizerinnen so leicht über die Lippen geht?
Man darf aber in diesem Zusammenhang eins nicht vergessen: Stieg auch die Zahl der Getauften insbesondere bei jungen Erwachsenen an, gab es andererseits viele Jugendliche, die nicht politisch-kirchlich aktiv waren, sich aus der Gesellschaft zurückzogen und lediglich ihre materielle Situation zu verbessern suchten. Kirchlichkeit dagegen war stets verbunden mit unkonventionellen Lebensstilen und Einstellungen, wie z.B. an einer geringeren Orientierung am Konsum und der Bedeutung von Gleichaltrigengruppen bei der Vermittlung religiöser Inhalte.
In den 80er Jahren existierte in der Kirche bekanntermaßen ein bedeutender Raum für regimekritische Debatten, die letztendlich 1989 zur „Protestantischen Revolution“ führten. [dxlv] Aus der Diskussion um die Erhaltung des Friedens entwickelte sich eine Bürgerbewegung als eigenständige politische Kraft, keine Bewegung der Jugend, sondern der 30-40Jährigen, die aus den o.g. kirchlichen Friedens- und Umweltgruppen kamen und christlich geprägt waren. Die Kirche engagierte sich bereits aus ihrer christlichen Mission heraus für die Erhaltung des Friedens [dxlvi] und ihre Aktion ‚Schwerter zu Pflugscharen‘ von 1981/82 löste eine auch in der Öffentlichkeit zwar wahrgenommene aber von der Mehrheit der DDR Bürger nicht ernst genommene Oppositionsbewegung aus.
Unterschiedliche Gruppen trafen in dieser Zeit in Kirchenräumen aufeinander: Manche wollten die DDR in eine gerechte und humane Gesellschaft mit sozialistischer Prägung verwandeln, hatten reformsozialistische Gedanken eines demokratischen Kommunismus, andere waren illusionslos und glaubten an keine Veränderung im Sozialismus, sie wollten die Konsumgesellschaft des Westens, um sich die eigenen Wünsche zu erfüllen. Zunächst bildete sich eine kleine Opposition, der es noch an prominenten Künstlern, Schriftstellern oder Wissenschaftlern fehlte, denn es war so: Wer dort aktiv war, zahlte einen hohen Preis, indem er auf bürgerliche Normalität, auf berufliche Karriere und familiäre Unbeschwertheit verzichtete. [dxlvii] Trotzdem entwickelte sich diese mehr Demokratie fordernde Bewegung als politische Kraft, von der aus sich die Bürger immer weniger vom Staat bevormunden und drangsalieren ließen. Die Machtübernahme von Michail Gorbatschow vermehrte die Mitglieder dieses politischen Milieus, das nun Glasnost und Perestroika für die DDR forderte. Auch wenn niemand die Forderung nach Abschaffung der DDR stellte, man wünschte sich eine Änderung der SED-Diktatur mit sozialistischen Idealen.
Die friedliche Revolution von 1989 war dann vermehrt getragen von protestantischen Pfarrhäusern, die sich eine Distanz zum Regime und eine Eigenständigkeit bewahrt hatten. Ihnen schlossen sich mehrere Alterskohorten von in der DDR Geborenen an, keine Bürger im politischen Sinn, aber alle mit dem Gefühl, eingesperrt und zu kurz gekommen zu sein. Es war im Sinne des Projekts der bürgerlichen Gesellschaft eine Demonstrationsbewegung für bürgerliche Werte wie Individualität, Partizipation, Freiheit. [dxlviii] Diese Menschen hatten die politische Vision einer bürgerlichen Gesellschaft, wenn ihnen auch das Ideal bürgerlicher Existenz und deren Kultur- und Gesellschaftsformen fremd war.
Zu ihnen gehört Klaus, ein Pfarrer, der Friedensandachten organisiert:
(ER)
S. 276
- Klaus ist nicht gegen die DDR, sagte Muddel. Klaus ist für eine bessere DDR, mit mehr Demokratie.
- Und warum ist er dann Pfarrer?
- Warum denn nicht, sagte Muddel. Jeder kann sich einsetzen für mehr Demokratie. Als Pfarrer kann er zum Beispiel Friedensandachten organisieren. Markus hatte keine Lust, das Thema fortzusetzen, er spürte schon, wie Muddel ihn wieder überzeugen wollte, aber er fand die Friedensandachten einfach grausam, dieses Alle-an-den-Händen-fassen-und zusammen-Singen, das ganze Getue, und hinterher pennten alle bei ihnen auf dem Grundstück, soffen sich einen an und pissten in die Tomaten: für eine bessere DDR. Wie das gehen sollte, blieb sowieso ein Rätsel.
Als sich die DDR-Führung einer Änderung verschloss, kam es zu Unmut in der Bevölkerung. Gleichzeitig brachte dies den alternativen Gruppierungen noch mehr Zulauf, denn es war allein die Kirche, die in dieser Zeit Freiräume bot, um eigene Wünsche und Ziele zu diskutieren.
(ER)
Ein Beispiel dafür ist Melitta, Saschas frühere Partnerin, die Mutter seines Sohnes: Bereits früher gehört sie, ihrer Kleidung nach, einer alternativen Bewegung an:
S.251
Allerdings waren die flachen, gurkenähnlichen Schuhe, die die Neue trug, ohnehin kaum von Hauspantoffeln zu unterscheiden.
S. 253
…über den langen braunen Cordrock, die braunen Wollstrumpfhosen - und was trug sie da eigentlich obenherum? Etwas Unförmiges, Unfarbenes. Und wieso, wenn sie schon kurze Beine hatte, trug sie nicht wenigstens hohe Schuhe?
Später besucht sie dann die Treffen in der kirchlichen Gemeinde und begegnet ihrem späteren Ehemann. Er ist Teil der protestantischen Revolution in der DDR, in der Pfarrer, Gebete und Kerzen eine tragende Rolle spielten (auch wenn zu dieser Zeit nur 19% der Ostdeutschen evangelisch, 9% katholisch und die Mehrheit konfessionslos war [dxlix] ).
S. 273
Schon von weitem hörte er das Probengeklimper, das aus der Kirche kam, er brauchte nicht aufzuschauen, um zu wissen, wen Muddel grüßte.
- Nanu, rief Klaus. Wohin soll es denn gehen?
Klaus war der Pfarrer….
- Aber ihr kommt doch heute Abend zur Friedensandacht, sagte Klaus…
Melitte verkörpert den Teil ostdeutscher Frauen, für die das Engagement in der christlichen Kirche mit einer höheren Stabilität in der Partnerschaft verbunden ist, wohingegen konfessionslose Frauen ein größeres Trennungsrisiko haben. [dl] Nach der Heirat mit Klaus, dem evangelischen Pfarrer, ist der Bezug zur Kirche und die Besonderheit des Sonntags als Familientag existentiell:
S. 376
… wo er am Sonntagmittag in seinem Zimmer aufwachte, genauer gesagt, geweckt wurde, nämlich von Muddel, die gerade vom Gottesdienst kam. …
Kaum vermeiden ließ sich dagegen der anschließende „Familientag“, mal schön zusammen kochen, solche Sachen, oder, ganz übel, Ausstellung zusammen besuchen….
14.5.2 Der Kommunismus und die Partei als Erlösungsorgan
und Religionsersatz
„Da in der DDR der Kommunismus und mit ihm auch der Sozialismus zur neuen Religion erhoben worden war, brauchte es auch Rituale. Deshalb versuchte man verschiedene Lebensabschnitte festlich voneinander zu trennen.“ [dli] Das erste Bekenntnis zum Sozialismus wurde von den Eltern bei der Namensweihe geleistet, die dabei versprachen, ihr Kind zur sozialistischen Persönlichkeit zu erziehen. Diese Namenseihe, die nie wirklich etabliert war und auch zum Ende der DDR hin kaum noch praktiziert wurde, hatten die Betriebe auszurichten, „die hatten darauf wenig Lust. Es kostete Geld und band Arbeitskraft. Manchmal mussten die Betriebe von höherer Instanz zu ihrem sozialistischen Glück gezwungen werden“. [dlii] Dagegen kam das zweite Bekenntnis, die Jugendweihe, einer Notwendigkeit gleich: Das Kind legte es selber mit 14 Jahren, in der 8. Klasse ab und wurde damit in die Welt der Erwachsenen aufgenommen. Sie gelobten, sich „mit ganzer Kraft für die große und edle Sache des Sozialismus einzusetzen“. Wer die Jugendweihe nicht empfing, musste mit Demütigungen und Sanktionen rechnen und durfte kein Abitur machen. Weiterhin gab es die sozialistische Heirat und eine im Namen der neuen Staatsreligion abgehaltene Totenfeier.
Statt einer kirchlich-religiösen Glaubensform anzugehören, stellte für überzeugte Sozialisten/Kommunisten die Partei eine Erlösungsreligion mit Glaubenssätzen, Geboten, Kirchenvätern, Häretikern und einer allmächtigen Inquisition dar. Sie war für viele Menschen Familie, Heimat und Gemeinschaft und betonte die Wichtigkeit des Einzelnen. Besonders für die ältere Generation galt sie als der Körper einer transzendentalen Erlösungsidee. [dliii]
Wilhelm singt die Partei-Hymne, in der dies zum Ausdruck kommt:
„Die Partei, die Partei, die hat immer Recht.
Sie hat uns alles gegeben, Sonne und Wind, und sie geizte nie,
und wo sie war, war das Leben,
und was wir sind, sind wir durch sie.
Sie hat uns niemals verlassen,
und wenn die Welt fast erfror, war uns warm.
Uns führte die Mutter der Massen,
es trug uns ihr mächtiger Arm…
Sank uns im Kampf einmal der Mut,
so hat sie uns leis nur gestreichelt:
Zagt nicht! - und gleich war uns gut.“
Diese Partei war in der DDR die SED. Parteimitgliedschaft führte zum Erfolg, denn allein sie entschied über Stellenbesetzungen und eine höhere Position in der Wirtschaft, in Wissenschaft und Kultur.
(ER)
Kurt dagegen zweifelt diese parteiliche Wahrheit an:
S. 343
Die Wahrheit ist nicht etwas, das die Partei besitzt und an die Bevölkerung als eine Art Almosen austeilt….Im Grunde, dacht er, war es die kürzeste Formel für das gesamte Elend. Im Grunde genommen, dachte er, war es die Rechtfertigung allen Unrechts, das im Namen der „Sache“ begangen worden war, die Verhöhnung von Millionen Unschuldigen, auf deren Knochen dieser Sozialismus errichtet worden war: die berühmte Parteihymne, die irgendein Waschlappen von Dichter (war es Becher oder war es Fürnberg?) sich zu dichten nicht entblödet hatte…
Ein Eintritt in diese Partei begann mit einem Antrag, der von einer übergeordneten Leitung geprüft wurde. Entschied diese positiv über die Aufnahme, begann im Anschluss die Kandidatenzeit, in der sich der Kandidat in der gesellschaftlichen und beruflichen Arbeit bewähren musste. Die Herkunft spielte insofern eine Rolle, da 75% der Mitglieder aus der Arbeiter- und Bauernschicht kommen sollten.
Der feierliche Akt der endgültigen Aufnahme war ein Verhör über Familienangelegenheiten und ideologische Abweichungen. Man durfte vor der Partei keine Geheimnisse haben, ideologische Sünden mussten bei Befragungen vor der höheren Leitung der Partei ‚gebeichtet‘ werden. Genossen hatten einen unbescholtenen Lebenswandel zu führen, und nicht selten verhandelte man Vorfälle aus dem Privatleben vor der Parteiversammlung. Es galt der Grundsatz, dass ein Genosse stets Rechenschaft ablegen musste[dliv], und so war es nicht verwunderlich, dass es zu regelrechten Tribunalen und Hexenprozessen in Anwesenheit von Mitgliedern übergeordneter Leitungsgremien kommen konnte.
Ein Netz von Überwachungsorganen übte in verschiedenen Formen Kontrolle aus. Kollegen, Nachbarn und Freunde halfen als Schnüffler und Zuträger mit bei der Kontrolle und Denunziation von Bürgern, die sich Übertretungen oder Abirrungen zu schulde kommen ließen, und trugen so zur Zerstörung von Leben bei.
Als Folge davon versuchte jeder im Alltag, nicht negativ aufzufallen.
Im Buch von Ruge lesen wir von einem Vorfall, in dem der Genosse Rohde aus der Partei ausgeschlossen, fristlos entlassen wird und damit erledigt ist. (S. 171/179)
Um unehrliche Elemente auszuschließen, fanden Parteisäuberungen dieser Art des öfteren statt, und kam es dann letztendlich zum Parteiausschluss, bedeutete das eine schwere Stigmatisierung für die betreffende Person: Sie wurde aus der Gemeinschaft ausgestoßen, verlor den Arbeitsplatz und wurde dienstlich degradiert und ins soziale Abseits abgeschoben.
In der Gesellschaft der DDR spielte in diesem Zusammenhang die Staatssicherheit eine besondere Rolle, 1975 gab es 180 000 aktive IM, sie lieferten als Spitzel Informationen über das Sozialverhalten und die politische Meinung der Bürger an die Obrigkeit. [dlv]
Die Führung der SED war rein patriarchalisch strukturiert, ohne Besetzung durch eine Frau - eine Parallele zur religiösen kirchlichen Gemeinschaft. Bei insgesamt elf Parteitagen und drei Parteikonferenzen in den 40 Jahren der DDR trafen sich die Mitglieder mit viel Pomp, Aufwand und Ritualen im Palast der Republik.
Die Macht lag im Zentralkomitee (ZK) als dem höchstem Organ der SED, das sich aus Mitgliedern mit vollem Stimmrecht und Kandidaten mit Beraterstatus zusammensetzte, darunter die Vorsitzenden der Massenorganisationen und hohe Offiziere; alle mussten mindestens sechs Jahre Mitglied in der Partei sein.
Das ZK wiederum wählte das mächtige Politbüro, das alle wichtigen Fragen entschied. Dies ernannte wiederum die Zentrale Parteikommission (ZPKK), die für die Untersuchung und Bestrafung von Parteifeinden und Parteimitgliedern zuständig war und Fälle von Korruption untersuchte
Eine Transparenz ihrer Handlungen war bei der SED Führung nicht zu finden, stattdessen gab es eine Geheimhaltung in allen parteilichen Organisationen. Wer Wissen haben sollte, das wurde streng hierarchisch geregelt, Funktionäre auf mittleren Ebenen bekamen nur gefiltertes Material zugeteilt.
Wie liefen die „Wahlen“ ab? In Wählerversammlungen stellten sich die Kandidaten vor, Wahlbenachrichtigungskarten wurden von im Ort bekannten Mitgliedern der Wahlkommission ausgeteilt. Bei der Gelegenheit konnten Bürger auf örtliche Probleme aufmerksam machen. Im Wahllokal ging man zur Urne und warf den Zettel hinein. Dies ereignete sich sogar noch im Mai 1989. „Die Mischung aus Angst, Gleichgültigkeit und politischer Indoktrination erklärt das Verhalten nur teilweise. Es bleibt ein irrationaler Rest, ein im Menschen offenbar tiefverwurzeltes Streben nach Einklang mit den Herrschenden, eine Freude an der Unterwerfung und der kollektiven Demütigung von Außenseitern.“ [dlvi]
(ER)
Im Buch drängt Wilhelm seine Mitbürger mit Drohungen zur Wahl:
S. 122
Zu den letzten Kommunalwahlen hatte er eine mobilisierte Einsatzstaffel organisiert, um denjenigen, die am frühen Nachmittag immer noch nicht gewählt hatten, Agitatoren auf den Hals zu schicken: Den ganzen Rasen hatten diese Trottel zerfahren.
S. 93
- Aber Achim Schliepner ist dumm. Der sagt, dass Amerika das größte Land der Welt ist.
- Aha, sagte Wilhelm, interessant.
Und zu Omi sagte er:
- Und gewählt haben die auch wieder nicht, die Schliepners. Aber die kriegen wir auch noch dran.
Neben der SED existierten zwar noch die sog. Blockparteien, wie die CDU, die sich der Kirchenfeindlichkeit und dem Atheismus der SED widersetzte, sich aber dennoch stets zur DDR bekannte. 1990 stand sie dann an der Seite Helmut Kohls, und das honorierten die Wähler.
Die ‚Bibel‘ für die Parteimitglieder war das ‚Neue Deutschland‘, das Zentralorgan der SED und dessen Stimme; ein trockenes Staatsblatt, das auf die Exil-Zeitung in Mexiko zurückging und bereits damals von Charlotte als eine Vereinigung von Partei und Presse erkannt wird:
(ER)
S. 36
Aber auch Charlotte fühlte sich zur Teilnahme verpflichtet. Die Redaktionssitzung war einmal die Woche, und man wusste nicht recht, ob sie nicht gleichzeitig auch Parteiversammlung war. Je kleiner die Gruppe wurde, desto mehr vermischte sich alles: Parteizelle, Redaktionskomitee, Geschäftsführung.
Für Wilhelm als treuen und langjährigen Kommunisten stellte das ‚Neue Deutschland‘ bis zu seinem Tod die einzige Lektüre dar, aus ihr bezieht er sein politisches Wissen und seine politische Meinung, gelesenen Artikel werden von ihm ausgestrichen:
S. 38
Am Wochenende las Wilhelm, wie stets, das ‚Neue Deutschland‘, das immer im Packen und mit vierzehntägiger Verspätung aus Deutschland kam. Da er weder Spanisch noch Englisch konnte, war das ND sein einziger Lesestoff. Er las jede Zeile …
Zu Ehren seiner 70jährigen Parteimitgliedschaft und seines 90. Geburtstag findet sich im ND ein Zeitungsartikel:
S. 189
Es war Sonntag. Am Sonntag gab es keine ND. Früher hatte es auch am Sonntag ND gegeben, aber das hatten sie abgeschafft. Schlamassel.
…
‚Ein Leben für die Arbeiterklasse!‘. … Darunter ein Bild, auf dem ein Mann mit kahlem Schädel und großen Ohren zuversichtlich in die Zukunft blickte.
Auch Kurt hat als kommunistischer Schriftsteller und Historiker in der DDR im ND Artikel veröffentlicht:
S. 302
… und die Tatsache, dass dort hin und wider Gedanken von ihm durch eine Druckerpresse gingen, erfreute ihn irgendwie, auch wenn seine Artikel im ND, um die er meist anlässlich irgendwelcher historischer Jubiläen gebeten wurde, bestimmt nicht zu seinen wissenschaftlichen Glanzstücken gehörten.
Allerorts herrschte Zensur: in den Artikeln der Zeitung wie bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die von den Instanzen der Kultur und Wissenschaft genehmigt werden mussten. Entscheidungsträger verhielten sich oft eher vorsichtig, wenn es um die Genehmigung von ideologisch nicht ganz einwandfreien Texten ging.
In der Klasseneinteilung der Autoren und Bücher standen die proletarisch-revolutionären, historisch-progressiven Bücher an erster Stelle. Sie wurden verbreitet, wohingegen man Bücher und Autoren mit „bürgerlicher Ideologie“ nicht förderte (wie z.B. Gustav Freytag) und mit dem Verdikt „Bürgerlichkeit“ abwertete.
Es galt als ein Kriminaldelikt, „staatsfeindliche“ Literatur zu veröffentlichen, und erst in den 80er Jahren sollte es Lockerungen innerhalb der Zensur geben. [dlvii]
(ER)
Charlottes Buchrezension ist ein Beispiel dafür, wie literarische und wissenschaftliche Neuerscheinungen in der DDR der ideologischen Prüfung unterlagen: Werke der (Welt)Literatur enthielten pädagogisch und ideologisch gefärbte Vor- und Nachworte und lieferten damit politisch-ideologische Einschätzungen, nicht politikkonforme Literatur und Autoren wurden politisch und moralisch abgewertet.
S. 126f
Ihr Haupteinwand war jedoch politischer Art. Das Buch war negativ. Defätistisch. Es zog den Leser in dunkle Sphären hinunter, machte ihn passiv und klein….dieses Buch eignet sich nicht, um die Jugend zu einer weltzugewandten, humanistischen Haltung zu erziehen…Es eignet sich nicht, um den Glauben an den Fortschritt der Menschheit und den Sieg des Sozialismus zu fördern und deswegen gehört es nicht in die Regale der Buchläden unserer Republik.
Die „allmächtige“ Partei zeigte bereits mehrere Jahre vor der Wende eine schleichende politische Ohnmacht. Das Volk machte sie für die offensichtlich fehlende Planerfüllung, den wirtschaftlichen Niedergang, die schlechte Versorgung und die verfallenen Innenstädte allein verantwortlich und verlangte Partizipation.
Der Artikel 27 der Verfassung der DDR billigte dem Bürger zwar das Recht zu, „den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern“, doch kritisches Denken wurde geahndet und so blieb als Möglichkeit der Meinungsäußerung allein der politische Witz. Er signalisierte eine Distanz zum System und war ein Gradmesser für die politische Stimmung im Land. In ihm konnte man Fehler im System aufspießen und man konnte sicher sein, dass Anspielungen von der Öffentlichkeit zumeist erkannt wurden.
Im Roman wird die aztekische Kultur mit ihrem Machtanspruch des Staates und einer Religion, die das Gesellschaftsideal repräsentiert, in Bezug gesetzt zum Sozialismus.
Beide Kulturen zerbrechen trotz ihrer totalen Verfügungsgewalt über den Menschen.
Auf S. 45 warnt Adrian Charlotte:
„Der Kommunismus, Charlotte, ist wie der Glaube der alten Azteken: er frisst Blut.“
Die religiöse Statue Coatlicue, die aztekische Totengöttin, steht für den Kommunismus: Sie wirkt auf den Menschen anziehend, verlangt aber Opfer.
S. 39f
Schon lange hatte Adrian ihr die Kolossalstatue der Coatlecue zeigen wollen. Er hatte ihr oft von der aztekischen Erdgöttin erzählt und sie kannte bereits ein Foto: eine grausige Figur: Ihr Gesicht war auf merkwürdige Weise aus zwei im Profil zu sehenden Schlangenköpfen zusammengesetzt, sodass ein Auge und zwei Zähne einer Schlange gehörten…Sie hatte eine mannshohe Statue erwartet. Vorsichtig wanderte ihr Blick hinaus in vier Meter Höhe. Sie schloss die Augen, wandte sich ab.
Charlotte spricht mit Alexander über die aztekische Religion:
S. 85f
Das letzte Mal hatte sie erzählt, wie die Azteken durch die Wüste gewandert waren. Heute fanden sie die verlassene Stadt, und weil niemand dort wohnte, glauben die Azteken, hier seien die Götter zu Hause, und nannten die Stadt: Teotihuacán - der Ort, wo man Gott wird.
Es findet sich eine rechtfertigende Aussage, die auf die Erlösungsfigur Jesus Christus anspielt.
S. 86
…und die Götter versammelten sich, um zu beraten, und sie kamen zu dem Schluss: Nur wenn einer von ihnen sich opferte, würde es eine neu Sonne geben.
Einer musste sich opfern, damit das Leben der anderen weitergeht. Vielleicht zeigt sich hierin ein Versuch der Verdrängung, eine Angst vor der Wahrheit oder ein Rechtfertigungsversuch.
Erst in der Nacht von Wilhelms Tod gibt Charlotte ihre Distanzhaltung auf und lässt die Statue in ihrer ganzen Wucht auf sich einwirken. Sie erinnert sich an Adrian und die aztekische Göttin, in deren Kette aus menschlichen Herzen sie in ihrer Vorstellung auch das Herz ihres ermordeten Sohnes Werner zu erkennen glaubt.
S. 406
Nun war Adrian wieder da, lächelte. Berührte sie sanft, drehte sie um - und Charlotte spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufrichteten: Coatlicue, Göttin des Lebens, des Todes. Coatlicue mit dem Zwei-Schlangen-Gesicht. Mit ihrer Kette aus ausgerissenen Herzen. Und eins davon, dieses dort, wusste sie, war Werners.
15. Bildung als bürgerlich-kulturelle Praxis
Der Mensch ist, was er als Mensch sein soll, erst durch Bildung.
(Georg Wilhelm Friedrich Hegel)
Die nachfolgenden Erläuterungen betreffen eine Kerntugend des Bürgertums: die Bildung.
Wirtschafts- und Bildungsbürgertum vereinte in ihrem Entwurf einer Bürgerlichen Gesellschaft ein Konzept der Bildung, in dem Wissen und Können, Leistung und Verdienst des Einzelnen die bisherige Privilegierung des Adels ersetzte.
Während Pestalozzis Bildungsprogramm Schul- und Volksbildung als Menschenbildung umfasste, reduzierte sich das Bildungsverständnis des Bürgertums nicht nur auf Erziehung, sondern wurde „zur Angelegenheit der weltlichen Vernunft“. [dlviii]
Bildung wurde als ein permanenten Prozess der Selbstverkommnung betrachtet. [dlix] Es galt die Grundannahme: Der Mensch entwickelt sich zur gebildeten Persönlichkeit, wenn er seine Potenziale und Talente ausschöpfte. Bildung meinte demnach nicht das Auswendiglernen von Wissen, sondern zielte auf eine immerwährende Entwicklung des Einzelnen, auf die Ausbildung individueller Fähigkeiten und die Ausformung der inneren Werte. So entsprach z.B. eine Reise, die dem Menschen neue Erfahrungen vermittelte, dem Bildungsziel, eine bürgerliche Persönlichkeit zu werden.
Bildung meinte die „Zivilisierung“ des Selbst und hieß, eine „bürgerliche“ Balance zu entwickeln in der Freisetzung von Emotionen und ihrer inneren und äußeren Kontrolle und Beherrschung.[dlx]. Der Bürger lehnte sich an die Aufklärung an und war im Bund mit der Ratio, sie bestimmte die bürgerliche Mentalität und das hieß: die Affekte waren zu beherrschen.
(TM)
Thomas B. wird als ein Mensch wahrgenommen, für den die affektive Beherrschung von großer Wichtigkeit ist, seiner Schwester gegenüber verliert er kurzzeitig die Contenance wegen des Ernteaufkaufs von Herrn von Maiboom:
S. 477
Seiner Schwester, Frau Permaneder, aber verriet sich Thomas an einem Donnerstag Abend auf der Straße, als sie sich mit einer Anspielung auf die Ernte von ihm verabschiedete, durch einen einzigen kurzen Händedruck, dem er hastig und leise die Worte hinzufügte: „Ach, Tony, ich wollte, ich hätte schon wieder verkauft!“ Dann wandte er sich, jäh abbrechend zum Gehen…Dieser plötzliche Händedruck hatte etwas von ausbrechender Verzweiflung, dieses geflüsterte Wort so viel von lange verhaltener Angst gehabt..
Als aber Tony bei der nächsten Gelegenheit versucht habe, auf die Sache zurückzukommen, hatte er sich in desto ablehnenderes Schweigen gehüllt, voll Scham über die Schwäche, mit der er sich einen Augenblick hatte gehen lassen, voll Erbitterung über seine Untauglichkeit, dies Unternehmen vor sich selbst zu verantworten…
Man kann durchaus sagen, dass für den Bürger eine Bildungspflicht bestand. Langeweile und Müßiggang lehnte er ab, als Kerntugenden der Bildung galten Arbeitsfleiß, Leistungsorientierung und Pflichtbewusstsein - eine Affinität zu den protestantischen Werten, die Thomas Buddenbrook lebt:
S. 418
Die Anforderungen aber wuchsen, die er selbst und die Leute an seine Begabung und seine Kräfte stellten. Er war mit privaten und öffentlichen Pflichten überhäuft. Bei der „Ratssetzung“, der Verteilung der Ämter an die Mitglieder des Senates, war ihm als Hauptressort das Steuerwesen zugefallen. Aber auch Eisenbahn-,Zoll- und andere staatliche Geschäfte nahmen ihn in Anspruch, und in tausend Sitzungen von Verwaltungs- und Aufsichtsräten, in denen ihm seit seiner Wahl das Präsidium zufiel, bedurfte es seiner Umsicht…
Funktionale und ästhetische Bildung sollten als ein elitäres Qualifkations- und Unterscheidungsmerkmal den Einzelnen zu einem nützlichen Glied der bürgerlichen Gesellschaft machen, Gemeinnützigkeit hatte das Verhalten zu prägen und als Kaufmann hieß dies, die Tugenden des Fleißes und der Redlichkeit, aber auch der Sparsamkeit vorzuleben.
(TM)
Jean Buddenbrook rechnet seiner Frau die Ausgaben und Einnahmen der Firma vor, um sie über die Verhältnisse aufzuklären:
S. 78f
Jedoch… wir dürfen damit nicht allzu unvorsichtig rechnen. Ich weiß, dass dein Vater ziemlich peinliche Verluste gehabt hat … ich meinerseits verlasse mich in der Hauptsache darauf, dass der Herr mir meine Arbeitskraft erhalten wird…
15.1 Geschlechtscharaktere
In Bildung u n d Erziehung bzw. in der Sozialisation gab es in der bürgerlichen Zeit eine weibliche und männliche Variante. Sie unterschieden sich extrem von einander und hatten ihre Grundlage in der damaligen Auffassung vom Geschlechtscharakter, in dessen Folge sich die Entwicklung von Jungen und Mädchen spaltete: Erstere gingen frühzeitig aus dem Haus, Letztere blieben dem Haus verhaftet, um ihre Rolle als Hausfrau und Mutter einzuüben.
In der Bildung galt der „Geschlechtscharakter“ von Mann und Frau als die „Entfaltung der Menschlichkeit schlechthin“. [dlxi]
Aufgrund der biologischen Unterschiede im Zeugungsprozess und den körperlichen Differenzen sah man die dichotomischen „Geschlechtscharaktere“ als von der Natur gegeben und polar. [dlxii]
Dem Mann schrieb man Eigenschaften der Aktivität, Kraft, Energie, Mut und Tapferkeit, d.h. kriegerisch-aktive Eigenschaften und Vernunftorientiertheit zu, demgegenüber galten als weibliche Merkmale die Sanftheit, Emotionalität, Passivität, Schönheit, Bescheidenheit, Hingebung und Fürsorglichkeit. [dlxiii] Für ihn ergaben sich Geschlechtsspezifika:im Bereich des Tuns(Selbständigkeit, Zielgerichtetheit, Durchsetzungsvermögen) und der Rationalität(Geist, Verstand, Denken, Vernunft), für die Frau: im Bereich des Seins (Abhängigkeit, Liebe, Güte) und der Emotionalität (Gefühl, Religiosität, Verstehen) mit denTugendender Schamhaftigkeit, Liebenswürdigkeit, des Taktgefühls, der Anmut und Schönheit. [dlxiv]
(TM)
Tony ist das Beispiel einer sehr emotionalen Frau, die ihre Gefühle freimütig äußert:
S. 609
… ,und hie und da führte ihr Weg sie notwendig an den rasch aufs Vorteilhafteste vermieteten Läden und Schaufenstern des Rückgebäudes oder der ehrwürdigen Giebelfassade andererseits vorüber, … dann aber begann Frau Permaneder-Buddenbrook auf offener Straße und angesichts noch so vieler Menschen einfach laut zu weinen.
Lediglich als es um ihre Gefühle und ihre Liebe zu Morten geht, ordnet sie sich der Familienehre und dem Willen ihrer Eltern unter:
S. 158
Gerade als Glied in der Kette war sie von hoher und verantwortungsvoller Bedeutung., - berufen, mit Tat und Entschluss an der Geschichte ihrer Familie mitzuarbeiten!
Rousseau als der meist gelesene Pädagoge des bürgerlichen Zeitalters war der Auffassung, dass biologische Unterschiede sich auf die Geistesanlagen auswirken, d.h. dass z.B. die Werke des Geistes das Fassungsvermögen der Frauen übersteigen und man ihnen deshalb eher praktische Pflichten zuordnen sollte. [dlxv] In seinem Roman „Emile“ bekommt die Romanfigur eine Gefährtin mit Komplementärfunktion zur Hauptperson: Sophie. Sie ist der Entwurf der Weiblichkeit, wobei die Wesensdefinition zur Bestimmung wurde und mit dem Bild der Frau im bürgerlichen Haushalt konform ging. [dlxvi]
Die Geschlechtscharaktere sind für Rousseau eine Entwicklung zur Vollkommenheit, Mann und Frau streben nach den ihnen von der Natur vorgegeben Zielen. [dlxvii] Auch für Rousseau war es zentral, dass die Frau Mutter wurde und Mutterliebe praktizierte, wie seine Romanheldin Julie, deren Handeln von „mütterlicher Zärtlichkeit“ und „wachsamster Aufmerksamkeit“ und Sanftmut geprägt ist. [dlxviii]
Eine andere Form der weiblichen Macht erkennt Rousseau in den Reizen und der Attraktivität der Frau. Sie führen den Mann einerseits zu Aktivität und Stärke; andererseits kann die Frau durch Verführung, als eine indirekte Aktion, ihren Willen erreichen. [dlxix]
Das Temperament der Frau sei ausschweifend und exzessiv und folglich sei es wichtig, sie zu Scham und Schamhaftigkeit zu erziehen, mit dem Zweck, das Begehren des Mannes zu steigern und gleichzeitig das eigene Begehren zu verhüllen. [dlxx] Das Frauenbild in der zeitgenössischen Gesellschaft war dazu ein Gegenbild: Frauen zeigten durchaus Koketterie und Geziertheit. [dlxxi]
(TM)
Zwischen den Brüdern und ihrer Schwester Tony hat es bei den gemeinsamen Spielen keinen geschlechtsspezifischen Unterschied gegeben, eine Trennung der Kinder aufgrund des Geschlechtscharakters ist zunächst in jungen Jahren nicht zu erkennen.
S. 63
Sie war ein ziemlich keckes Geschöpf, das mit seiner Ausgelassenheit seinen Eltern, in Besonderen dem Konsul, manche Sorge bereitete …
Sie kletterte, gemeinsam mit Thomas, in den Speichern an der Trave zwischen den Mengen von Hafer und Weizen umher, die auf den Böden ausgebreitet waren, …
Als typisch weibliche Eigenschaft galt die Konzentrationsunfähigkeit und das Bedürfnis nach Anschaulichkeit, was nach damaliger Sicht den intellektuellen Mangel der Mädchen deutlich machte. [dlxxii]
(TM)
Tony aber besitzt als Kind:
S. 63
… ein intelligentes Köpfchen […], das flink in der Schule erlern