Lessings Dramaturgie des Mitleids - Eine exemplarische Untersuchung zur Figur Emilia Galotti


Diplomarbeit, 2007

85 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Rousseaus Anthropologie als Grundlage fur Lessings Mitleidsbegriff
2.1 Rousseaus Abhandlung uber den Ursprung unddie Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen
2.2 Der Mensch im Naturzustand
2.3 Der Mensch im Gesellschaftszustand
2.4. Rousseaus Kritik am Theater

3 Lessings Mitleidsethik im Briefwechsel uber das Trauerspiel
3.1 Die Affektlehre der Aufklarung
3.2 Bewunderung und Schrecken als Stutzen des Mitleidsaffekts
3.3 Das Mitleid als zentrale Wirkung der Tragodie

4 Die aristotelische Tragodienkonzeption als Ausgangspunkt der Tragodientheorie Lessings
4.1 Die Poetik von Aristoteles
4.2 Der Tragodiensatz
4.3 Der wirkungsasthetische Ansatz bei Aristoteles
4.4 Zentrale Elemente der Tragodie
4.4.1 Der „Mythos“ der Tragodie
4.4.2 Der mittlere Held und die „Hamartia“

5 Auf den Spuren von Aristoteles: Die Mitleidsdramaturgie von Lessing
5.1 Lessings Hamburgische Dramaturgie
5.2 Die Ubersetzung der Wirkungsbegriffe „Eleos“ und „Phobos“
5.3 Mitleid als Affekt und die zentrale Bedeutung der Furcht
5.4 Konstruktionsmerkmale der Tragodie nach Lessing
5.4.1 Der gemischte Charakter des Helden und sein Fehler
5.4.2 Die tragische Handlung
5.4.3 Die kathartische Reinigung

6 Die Umsetzung von Mitleidsdramaturgie am Beispiel der Figur Emilia Galotti
6.1 Emilia Galotti - eine mittlere Heldin?
6.2 Emilias Schuld - die Suche nach Emilias Fehler
6.3 Emilias Tod

7 Schlussbetrachtung

8 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

„Das Trauerspiel soil bessern.“[1] Uber diese Formulierung der Absicht der Tragodie herrschte in der Epoche der Aufklarung ein uneingeschrankter Konsens. Die Tragodie gait den Dichtern als wichtigste erziehende und bildende Gattung. In ihr formulierte sich das sittliche Wirkungsziel am deutlichsten. Mit Hilfe des Dramas sollte der Zuschauer zu einem rational und emotional aufgeklarten und damit mundigen Menschen erzogen werden. So einstimmig die Meinung hinsichtlich der Wirkungsabsicht der Tragodie auch war, so sehr unterschieden sich die Ansichten daruber, wie und wodurch in der Tragodie die sittliche Lauterung erfolgen sollte. Wahrend zunachst eine Besserung des Zuschauers durch eine auf der Vernunft basierenden Erkenntnis angestrebt wurde, wandelte sich diese Vorstellung jedoch bei Gotthold Ephraim Lessing grundlegend: Er forderte nicht mehr die Besserung durch die rationale Erkenntnis, sondern mittels eines Affekts. Es herrschte jedoch Uneinigkeit daruber, welche Empfindung fur eine sittliche Lauterung am besten geeignet ware. Lessing hielt einzig das Mitleid als den fur die Tragodie und ihrem erklarten Wirkungsziel angemessenen Affekt. Folglich ging Lessing davon aus, dass die Tragodie ein „Gedicht ist welches Mitleid erreget“[2] und den Menschen dadurch von seinen Leidenschaften reinigt. Im Rahmen dieser Arbeit soll Lessings Mitleidsdramaturgie dargestellt und deren Umsetzung in seinem burgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti anhand der Titelheldin Emilia Galotti untersucht werden.

Die Erlauterung der Mitleidsdramaturgie, die Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgic und im Briefwechsel uber das Trauerspiel dargelegt hat, erfolgt auf der Grundlage ihrer wichtigsten Intertexte: Jean-Jacques Rousseaus Abhandlung uber den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen und die Poetik von Aristoteles. Im ersten Teil der Arbeit werden diese Theorien dargestellt und der jeweilige Bezug zu Lessing aufgezeigt, um herauszufinden, warum Lessing einzig das Mitleid zum zentralen tragischen Affekt erklart. Im Zentrum steht dabei die Frage, welche besondere Eigenschaft und Wirkung Lessing dem Mitleidsaffekt zuschreibt und wie eine Tragodie beschaffen sein muss, damit sie Mitleid erregt und eine sittliche Besserung des Zuschauers erzielt werden kann.

Im Anschluss an den theoretischen Teil soll untersucht werden, inwiefern Lessing in seinem Werk Emilia Galotti am Beispiel der Emilia-Figur die zuvor erlauterten Kriterien seiner Mitleidsdramaturgie erfullt. Der Fokus liegt hierbei auf der Forderung Lessings nach einem mittleren Helden, der durch ein Fehlverhalten die Katastrophe auslost.

Zunachst wird die Figur Emilia Galotti kurz charakterisiert unter der Fragestellung, ob sie als eine mittlere Heldin bezeichnet werden kann. Im Rahmen dessen soll auch ein kurzer Blick auf die sich um Emilia herum befindenden Personen, insbesondere auf die Vaterfigur Odoardo geworfen werden, da deren Ideale Emilia entscheidend gepragt haben.

Daran anschlieBend soll untersucht werden, ob Emilia ein Fehlverhalten vorzuwerfen ist und damit die Forderung Lessings nach einem Fehler des Helden („Hamartia“) als erfullt angesehen werden kann. Lasst sich objektiv eine Schuld Emilias feststellen? Erklart sich Emilia selbst fur schuldig?

SchlieBlich erfolgt die Auseinandersetzung mit der Bedeutung ihres Freitods und der Frage dessen Begrundung. Am Ende der Analyse steht die Beantwortung der Frage, inwieweit Lessing seine in der Hamburgischen Dramaturgic aufgestellten Bedingungen am Beispiel der Figur Emilia erfullt und ob in dieser Hinsicht Emilia Galotti ein Werk ist, welches Mitleid erregt und den Menschen sittlich bessert.

2 Rousseaus Anthropologie als Grundlage fur Lessings Mitleidsbegriff

2.1 Rousseaus Abhandlung uber den IIrsprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen

In der im Jahr 1755 erschienenen Abhandlung uber den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen[3] von Jean-Jacques Rousseau begibt sich dieser auf die Suche nach dem naturlichen Menschen und wagt die Rekonstruktion eines Naturzustandes. Denn nach Rousseau ermoglicht allein die Betrachtung des Naturmenschen („homme naturel“) und dessen gesellschaftliche Entwicklung eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der moralisch politischen Ungleichheit[4] in der Gesellschaft:

„Ja, alle Schwierigkeiten, die wir haufenweise antreffen, wenn wir den Ursprung der moralischen Ungleichheit, die wahren Stutzen des politischen Korpers und die gegenseitigen Rechte seiner Glieder erwagen oder wenn wir tausend andere Fragen beantworten wollen, die ebenso wichtig und bisher so schlecht ins Licht gesetzt worden sind, alle diese Schwierigkeiten, sage ich, konnen durch keinen anderen Weg besser gehoben werden, als wenn wir, nach unserer Art, dem ursprunglichen Menschen, seinen wahren Bedurfnissen, und den Urquellen seiner Pflichten nachspuren.“[5]

Hierbei geht Rousseau von einem freien, im Einklang mit sich selbst und der Natur lebenden naturlich guten Menschen aus, der im Zuge der Vergesellschaftung und der damit einhergehenden Erweiterung des Verstandes und der Entstehung der kunstlichen Leidenschaften abhangig und unsittlich geworden ist. Im Zentrum seiner Betrachtung des sittlichen Verfalls des Menschen stehen die seiner Meinung nach „allerersten und einfachsten Wirkungen der menschlichen Seele“[6]: die Selbstliebe („amour de soi meme“) beziehungsweise der Selbsterhaltungstrieb und das Mitleid („pitie“, „commiseration“) beziehungsweise der Mitleidstrieb des Naturmenschen. In diesen zwei naturgegebenen Trieben meint Rousseau die ursprungliche Quelle samtlicher Regeln des Zusammenlebens gefunden zu haben.[7]

Diese einander ausgleichenden Naturtriebe verandern sich jedoch im Zuge der Vergesellschaftung: Die kalkulierende Vernunft und die kunstlichen Leidenschaften schwachen den naturlichen Trieb des Mitleids und steigern die Selbstliebe zur Eigenliebe („amour propre“). Am Ende der gesellschaftlichen Entwicklung entsteht nach Dieter Sturma eine naturferne und egoistische „Welt gekunstelter Menschen mit kunstlichen Leidenschaften“[8], in der Sein und Schein nicht mehr miteinander ubereinstimmen. Durch seine Darstellung des Naturmenschen und dessen kultureller Entwicklung zum Gesellschaftsmenschen („homme artificiel“), das heiBt durch die Gegenuberstellung der verschiedenen Entwicklungsstufen des Menschen versucht Rousseau nach Matthias Bruppacher „[...] zwischen jenen Zugen, die dem Menschen aus sich selbst, d.h. von der Natur zukommen, und der groBen Zahl von anderen Merkmalen, die er den auBeren Umstanden und den Fortschritten seiner Gattung verdankt und die jene ursprunglichen Zuge im Laufe der Zeit stetig und unbemerkt verandert haben [...]“[9] zu unterscheiden und damit die Ungleichheit zwischen den Menschen zu ergrunden. Er strebt nach einer Ruckbesinnung auf die Natur und auf dieser Grundlage nach einer Demaskierung der Gegenwart. Diesen funktionalen Ansatz der Naturrekonstruktion unterstreicht auch Sturma:

„Dem Begriff des Naturzustands wird die konstruktive Rolle zugewiesen, den eingeubten gesellschaftlichen Routinen den Schein des Selbstverstandlichen, Unvermeidlichen und moralisch Unverfanglichen zu nehmen.“[10]

Die Wiederherstellung des Naturmenschen gestaltet sich nach Rousseau jedoch schwierig, weil sich der Mensch im Zuge der Vergesellschaftung weit von seinem Naturzustand entfernt hat:

„Und wie kann es der Mensch jemals dahin bringen, dass er sich in der Gestalt betrachte, die ihm die Natur gegeben hat, nachdem die Folge der Zeiten und der Dinge so vieles an seiner ursprunglichen Beschaffenheit geandert hat? Und wie vermag er zu unterscheiden, was er aus seinem eigenen Grunde hat und was die Umstande und seine Fortschritte seinem ursprunglichen Zustand hinzugefugt oder an ihm verandert haben?“[11]

Das unterstreicht auch Sturma in Anlehnung an Rousseaus Gleichnis[12]: „Wie jeder Tag das Abbild des Glaukos mehr und mehr verunstaltet, lasst der Mensch mit jedem neuen zivilisatorischen Schritt seinen naturlichen Zustand weiter hinter sich zuruck.“[13] Es ist fur den Menschen sehr kompliziert, sich selbst mit einem distanzierten Blick zu betrachten und so Schlusse auf seine vergangene Natur zu ziehen. Denn je mehr sich der Mensch entwickelt, umso mehr entfernt er sich vom Naturzustand, und je mehr Einsichten der Mensch erlangt, umso mehr versperrt er sich vor der wahren und notwendigen Erkenntnis: „Je fleiBiger wir den Menschen studieren, desto weniger konnen wir ihn erkennen.“[14] Daher ist fur Rousseau die ErschlieBung einer ursprunglichen Beschaffenheit des Menschen ein schwieriges Experiment, aber kein unmogliches Unterfangen, da sich die Seele des Menschen zwar verandert hat, aber die ursprunglichen Triebe und damit die ursprungliche Tugendhaftigkeit noch rudimentar erhalten sind. Rousseaus Rekonstruktion des naturlichen Zustandes grundet sich also nicht auf historische und naturwissenschaftliche Belege. Es handelt sich nicht um eine empirische Untersuchung, sondern vielmehr um eine Ansammlung von Hypothesen, die einer personlichen Erkenntnis[15] entspringen und die Illustration eines denkbaren Zustandes in Abgrenzung zum heutigen ermoglichen.[16]

In den folgenden zwei Teilen dieser Arbeit erfolgt nun eine Betrachtung des Menschen im Natur- und Gesellschaftszustand sowie seiner Entwicklung vom einen zum anderen. Im Mittelpunkt dieser Ausfuhrung steht die Untersuchung der von Rousseau im Wesen des Naturmenschen festgemachten ursprunglichen Triebe und deren deutliche Veranderung im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung. Diese Betrachtungen sind grundlegend fur Lessings Gestaltung einer Tragodientheorie: Lessing ubernimmt die hohe Bedeutung des Mitleids von Rousseau und konzipiert ein Trauerspiel, das an dem im Gesellschaftszustand rudimentar erhaltenen Mitleidstrieb ansetzt, um eine sittliche Lauterung der Menschen herbeizufuhren.

2.2 Der Mensch im Naturzustand

Rousseau zeichnet in seiner Abhandlung das Bild eines starken, unabhangigen Wilden, der einsam durch die Lander streift, keinerlei sozialer Kontakte bedarf und im Einklang mit der Natur lebt. Er erscheint als ein tierhaftes Wesen, ohne besondere korperliche und geistige Begabungen, das lediglich uber naturliche, leicht zu stillende Bedurfnisse wie Hunger, Ruhe und den Paarungsdrang verfugt. Zu keinem Zeitpunkt strebt er nach mehr als dem, was er unbedingt fur sein Uberleben benotigt.[17] Rousseau fuhrt hiermit die Vorstellung vom besitzlosen solitaren Naturmenschen ein, der nur darauf bedacht ist, dass es ihm gut geht, ohne dass er anderen unnotigerweise Schaden zufugt. Hierbei verlasst er sich ausschlieBlich auf seine Sinne und seinen Instinkt. Die Vernunft[18] benotigt der Mensch erst in der Gesellschaft, wahrend im Naturzustand der Instinkt genugt, um das Uberleben zu sichern: „Der Instinkt ist alles, was man im Stande der Natur braucht, und eine ausgebildete Vernunft wird nicht eher erfordert, als wenn man in der Gesellschaft leben will.“[19] Der Verstand des Naturmenschen ist also noch nicht vollstandig entwickelt, er unterstutzt ihn lediglich in seinen Trieben. Er hat keinerlei vernunftgeleitete Gefuhle oder Begriffe, die uber seinen Naturzustand hinausgehen, existiert zufrieden und frei von jedweden Leidenschaften und ist damit von Natur aus gut. Die Nichtausubung der Vernunft bewahrt den Wilden davor, seine Befahigungen zu missbrauchen:

„Dergestalt kann man sagen, der Wilde sei eben deswegen nicht boshaft, weil er nicht wisse, was gut sein heiBt. Denn ihn kann weder die Entwicklung seiner Einsichten, noch der Zaum der Gesetze abhalten, Boses zu tun, sondern er tut nichts Boses, weil er von Leidenschaften befreit ist und von keinem Laster etwas weiB: tanto plus in illis proficit vitiorum ignoratio quam in his cognito virtutis.“[20]

Laut Rousseau kann der Naturmensch also gar nicht bose sein, da er nicht weiB, was gut sein bedeutet. Denn um beurteilen zu konnen, ob etwas gut oder schlecht, also moralisch oder verwerflich, ist, braucht es Vernunft. Damit steht der Naturmensch jenseits einer moralischen Beurteilung. Der Naturmensch ist weder gut noch bose im moralischen Sinne: der Wilde ist amoralisch[[21]. Er verfugt aber uber eine naturliche Gute („bonte naturelle"). Diese Deutung der „bonte naturelle" findet sich bei Bruppacher bestatigt:

„Rousseaus Vorstellung der bonte naturelle hat zunachst keinerlei moralische Bedeutung. Insofern moralisches Verhalten eine wache Vernunft [...] voraussetzt, kann davon beim Naturmenschen nicht die Rede sein. Er ist zwar gut, aber die Gute ist nicht sein Verdienst."[22]

Im Weiteren geht Rousseau davon aus, dass aus dieser naturlichen Gute die Urtriebe des Naturmenschen hervorgehen. Diese zwei Triebe, die aller Vernunft vorausgehen, sind die Selbstliebe im Sinne der Selbsterhaltung und das Mitleid gegenuber Artgenossen, die den Naturmenschen durch sein Dasein fuhren.

Die Selbstliebe beschreibt die Sorge des Naturmenschen um sein personliches Wohlergehen. Nach Bruppacher ist der Selbsterhaltungstrieb gekennzeichnet durch eine „vollig einseitige Ausrichtung auf das Wohl und Gedeihen des Individuums."[23] Die Selbstliebe bezieht sich also ausschlieBlich auf die personliche Erhaltung ohne besondere Rucksicht auf die Um- und Mitwelt. Der Mensch wahlt immer den direkten Weg, seinen Trieb zu betatigen. Seine Umwelt spielt nur dann eine Rolle, wenn jemand oder etwas die Erfullung seines Ziels behindert. In diesem Fall versucht er das Hindernis aus dem Weg zu raumen, aber auch nur dann, wenn es keine andere Losung gibt.[24] Dadurch, dass es sich also ausschlieBlich um eine fur das Uberleben notwendige Trieberfullung handelt, sind alle Triebhandlungen stets gerechtfertigt.[25] Der Mensch im Naturzustand wurde niemals grundlos, das heiBt, wenn sein Uberleben nicht davon abhangt, nur um seiner personlichen Bereicherung willen einen Mitmenschen bedrohen.[26]

Das Mitleid des Naturmenschen ist eine naturliche und unmittelbare Empfindung und entspringt der Abneigung, jemanden leiden zu sehen. Durch diese unwillkurliche Hemmung, eines anderen Leid zu betrachten oder ihm sogar solches zuzufugen, werden dem Selbsterhaltungstrieb, falls er drohen sollte Uberhand zunehmen, automatisch Grenzen gesetzt. Die mitleidige Empfindung unterstutzt folglich, durch die Beruhigung oder auch Unterdruckung des ubertriebenen Eigennutzes, die Erhaltung des Menschengeschlechts:

, ,Dem Menschen ist ein Trieb gegeben worden, in gewissen Fallen die Wildheit seiner Eigenliebe, oder ehe man diese Leidenschaft gekannt hat, die Sorge fur seine Erhaltung zu zahmen. Der ihm angeborene Widerwille, seinesgleichen leiden zu sehen, maBigt den Eifer fur sein eigenes Wohlsein. [...] Ich meine, das Mitleid, eine Neigung, die sich fur so schwache und so vielen Ubeln unterworfene Geschopfe, wie wir es sind, sehr wohl schickt. Sie ist eine allgemeine und dem Menschen ungemein nutzliche Tugend, weil sie bei ihm vor aller Uberlegung hereilt, [...]“

Rousseau beschreibt hier das Mitleid als eine naturliche, ursprungliche und daher allgemeingultige Tugend, die jeder Vernunft vorausgeht. Uber diesen Trieb des Mitleids verfugt jeder Mensch, auch der Schlechteste:

„So viel vermag das reine naturliche Gefuhl, das aller Uberlegung zuvorkommt, so viel Macht hat das naturliche Mitleiden, dass es dem Ruchlosesten noch schwer ankommt, es zu unterdrucken“[28]

Es handelt sich also um einen ursprunglichen Trieb, der jedem Menschen innewohnt und daher unmittelbar empfunden wird und keiner Erkenntnislei stung bedarf. Aufgrund dieser Tatsache raumt Rousseau dem Mitleidstrieb eine hohe moralische Bedeutung ein. Rousseau zufolge ist das Mitleid die ursprunglichste und wichtigste Tugend des Menschen, da aus ihm samtliche zentralen gesellschaftlichen Werte und Tugenden hervorgehen.

„Es ist also gewiss, daB das Mitleid ein naturliches Gefuhl und der wechselseitigen Erhaltung des ganzen Geschlechts zutraglich ist, indem es bei einer jeden einzelnen Person die Wirksamkeit der Eigenliebe maBigt. Diese Empfindung bringt uns dazu, daB wir einem jeden Leidenden ohne Uberlegung Hilfe leisten, sie vertritt in dem Stand der Natur die Stelle der Gesetze, der Sitten und der Tugend, und hat noch dieses voraus, daB niemand in Versuchung kommt, ihrer suBen Stimme den Gehorsam zu versagen.“ [29]

Das Mitleid soil aber nicht als eine Art ,Helfersyndrom’ verstanden werden. Das aktive Mitleid im Sinne des Mitfuhlens, das eine helfende Handlung nach sich zieht, entsteht erst im Laufe der Entwicklung. Denn dieses Nachfuhlen entspringt einer Identifikation auf der Basis der Einbildungskraft und vernunftgeleiteter Erkenntnisse, uber die der Naturmensch noch nicht verfugt.[30] Nach Rousseau lost das Mitleid im Naturzustand keine das Gegenuber unterstutzende Aktion aus. Der Naturmensch kann jemand anderen nicht leiden sehen. Entfernt er sich jedoch vom Mitleid erregenden Objekt, geht es ihm wieder gut. Der Mensch leidet nicht in sich, sondern im Gegenuber (Externalisierungserlebnis). Der Naturmensch fuhlt stark mit dem Leid des anderen mit, weil er uber keinerlei Distanz zum bedauernswerten Individuum verfugt, das heiBt, dass er nicht mehr zwischen sich selbst und dem Gegenuber unterscheiden kann. Dies schlieBt das im heutigen Sprachgebrauch bekannte „Bemitleiden“ aus: Der Naturmensch leidet mit, aber er bemitleidet nicht. Diese Form des Mitleids lasst sich mit Rousseaus These des Naturmenschen als solitarem Wesen vereinbaren, da es das Opfer nicht bemitleidet und ihm zu Hilfe eilt, sondern sich von ihm entfernt. Aus diesem starken Missempfinden des Naturmenschen bei dem Anblick des Leids eines anderen resultiert der Unwillen, einem anderen Wesen nutzlos Schaden zuzufugen. Einzig wenn die eigene Person bedroht wird, ist der Selbsterhaltungstrieb starker als das Mitleid.

Wie oben bereits angedeutet, stehen nach Rousseau der Mitleidstrieb und der Selbsterhaltungstrieb in einem Komplementarverhaltnis. In ihrer ursprunglichen Form konnen sie nur gemeinsam wirken und existieren. Aus der Kombination dieser beiden Triebe ergeben sich samtliche Regeln des Zusammenlebens. Bruppacher zufolge weist der Selbsterhaltungstrieb den Menschen auf seine Pflichten gegenuber sich selbst hin, und das Mitleid erinnert ihn an seine Verantwortung gegenuber der Um- und Mitwelt.[31] Durch die Verbindung der mitleidigen Empfindung mit der Selbstliebe entwickelt Rousseau den folgenden Leitsatz:

„Befordere dein Bestes, aber lass es anderen so wenig zum Nachteil gereichen, als moglich ist.“[32]

Nach Rousseau ist dies eine soviel bessere und einem harmonischen Zusammenleben dienlichere Richtlinie als die der Vernunft entlehnte Maxime: „Verhalte dich gegen andere wie du willst, dass man sich gegen dich verhalt.“[33] Rousseau halt seinen Leitsatz fur geeigneter, da dieser auf dem Mitleid beruht und demzufolge der Grund fur redliches Handeln „[...] eher in dieser naturlichen Empfindung als in subtilen Vernunftsschlussen“[34] zu verankern ist.[35] Rousseau ist sogar der Meinung, dass, wenn die Erhaltung der Menschheit auf der Vernunft anstatt auf dem Mitleid basierte, diese gar nicht mehr existieren wurde. SchlieBlich beschreibt Rousseau den Menschen im Naturzustand als „eine kunstvolle Maschine, welche die Natur mit Sinnen begabt hat, um sich selbst aufzuziehen und gewissermaBen vor allem bewahren zu konnen, was sie zu verderben oder in Unordnung zu bringen droht.“[36] Er kommt letztlich zu der Uberzeugung, dass der „Stand der Natur [...] unserer eigenen Erhaltung zutraglich“ sei, „ohne der eines anderen nachtraglich zu sein, und folglich ein Stand, der zum Frieden am meisten aufgelegt ist und sich am besten fur das menschliche Geschlecht schickt.“[37]

2.3 Der Mensch im Gesellschaftszustand

Im Folgenden sollen nun die Grunde fur die Entwicklung der Gesellschaft bei Rousseau und die Auswirkung der Vergesellschaftung auf die Urtriebe erlautert werden. Ziel ist es zu zeigen, wie sich die Selbstliebe durch Verstand und Leidenschaft - die sich im Zuge der Vergesellschaftung weiter entwickeln[38] - zur Eigenliebe steigert und der Mitleidstrieb verdrangt wird. Wie kommt es zu der Vergesellschaftung und der damit verbundenen Veranderung der Triebe? Lasst sich daran die nach Rousseau negative Entwicklung des Menschen zur moralischen Ungleichheit nachvollziehen?

Wesentliche Grunde fur die Vergesellschaftung liegen in der menschlichen Freiheit („liberte“) und der Fahigkeit sich zu vervollkommnen, der Perfektibilitat[39] („perfectibilite“). Der Mensch verfugt grundsatzlich uber die ihn eindeutig vom Tier unterscheidende Freiheit, sich bewusst gegen seinen Instinkt zu entscheiden[40] und damit auf den Verlauf seines Lebens Einfluss zu nehmen.[41] Daruber hinaus hat jeder Mensch die sich auf die Freiheit der bewussten Entscheidung grundende Fahigkeit der personlichen Vervollkommnung:

„ [...] so gibt es dennoch eine besondere Eigenschaft, [...] ich meine das Vermogen, sich vollkommener zu machen. Ein Vermogen, das, wenn ihm die Umstande zu Hilfe kommen, alle ubrigen Fahigkeiten nach und nach entwickelt und sowohl bei unserer Art im ganzen, als bei jedem insbesondere anzutreffen ist.“[42]

Die Perfektibilitat beschreibt das Vermogen des Menschen, fur verschiedene Umstande Mittel und Wege zu finden, um diese erfolgreich zu bewaltigen und dadurch seine Situation zu verbessern. Fur Bruppacher ist sie „ [...] der nie versagende Schatz von Fahigkeiten, mit dem die Vorsehung den Menschen fur seinen langen Weg ausgerustet hat.“[43] Die Freiheit der Entscheidung und die Perfektibilitat ermoglichen dem Menschen eine personliche Entwicklung und sind damit der Motor der Vergesellschaftung:[44] Der Mensch sieht sich im Rahmen der gesellschaftlichen Entfaltung immer wieder neuen Herausforderungen gegenuber, ausgelost zum Beispiel durch Naturkatastrophen, die ihn zwingen von seiner Freiheit und seiner Fahigkeit, sich zu vervollkommnen, Gebrauch zu machen. Der Mensch lebt nicht mehr allein, er ist sesshaft geworden und macht erste Erfahrungen mit den Grundzugen von Gemeinschaften. In diesen Gemeinschaften beginnen sich die Menschen nun zu vergleichen und entdecken hinsichtlich der korperlichen Beschaffenheit, aber auch des Besitzes oder des sozialen Status eindeutige Unterschiede untereinander. Die damit verbundene Erkenntnis von Verhaltnissen und Beziehungen zwischen Menschen und Dingen im Sinne von groBer oder kleiner, starker oder schwacher beschreibt den Ubergang vom Natur- zum Gesellschaftsmenschen. Der Mensch beginnt seine Umwelt mehr und mehr verstandesmaBig zu beurteilen[45] und zu sich selbst in Beziehung zu setzen. Anhand seiner daraus gewonnenen Erkenntnisse erklart der Mensch sein Dasein von diesem Zeitpunkt an nahezu ausschlieBlich uber seinen Status innerhalb der Gruppe, das heiBt, er definiert im Gegensatz zum Naturmenschen seine eigene Wertigkeit uber seine Position in der Gemeinschaft und uber die Meinung seiner Mitmenschen:

„Der wilde Mensch lebt in sich, der gesellige hingegen ist immer auBer sich und lebt nur in der Meinung, die andere von ihm haben. Selbst die Empfindung seines Daseins nimmt er nur aus ihrem Urteil.“[46]

Kennzeichnend fur den im Gesellschaftszustand lebenden Menschen ist die Vermehrung seiner kunstlichen Leidenschaften, seine Gier nach Macht, Ansehen, Annehmlichkeit und Wohlergehen.[47] Allzeit strebt er, getrieben von seinen Leidenschaften, nach der Anhaufung von materiellen und immateriellen Gutern. Das heiBt, er versucht sein Leben stets zu verbessern und sich uber andere zu erheben, andere zu beherrschen, zu unterwerfen:

„Der alle verschlingende Ehrgeiz und die Begierde, seine Glucksumstande im Vergleich mit anderen zu erheben und sich uber seinesgleichen hinwegzusetzen, floBte allen Menschen den schwarzen Trieb ein, einander schadlich und auf ihre vorzuglichen Guter insgeheim eifersuchtig zu sein, eine Leidenschaft, die desto gefahrlicher ist, da sie oft die Maske der Gewogenheit annimmt, um ihre Streiche sicherer austeilen zu konnen.“[48]

In gesellschaftlichen Systemen gehort es schon bald zur zweiten Natur des Menschen, zwischen dem Gluck und dem Leid eines anderen und den eventuell daraus fur sich entspringenden Vor- und Nachteilen abzuwagen.[49] Die Menschen orientieren sich nicht mehr an ihren ursprunglichen Trieben, sondern an einem klaren Kosten-Nutzen-Kalkul. Die Folgen beschreibt Rousseau:

„Es gibt keine aufrichtigen Freundschaften mehr, keine wirkliche Hochachtung, kein festes Zutrauen. Argwohn, Misstrauen, Furcht, Kalte, Zuruckhaltung, Hass und Verleumdung werden sich ewig unter diesem einformigen und betrugerischen Schleier der Hoflichkeit, dieser gepriesenen Feinheit der Sitten verstecken, welche wir die Aufklarung unseres Jahrhunderts zu danken haben.“[50]

Mit dieser im Gesellschaftszustand auf der Zunahme der Verstandestatigkeit beruhenden starken Orientierung an der auBeren Wahrnehmung und der Perfektionierung des eigenen Daseins, auch auf Kosten anderer, macht der Mensch nicht nur seine Umwelt von sich abhangig, sondern gerat auch selbst in eine unauflosbare physische und psychische Abhangigkeit, da die Gesellschaft seinen Status sichert. Seine ursprungliche Autarkie hat der Mensch unwiederbringlich verloren.[51] Er lebt nun fern der Natur in einer Welt des Egoismus und der Heuchelei[52] und versucht sich in allen Hinsichten so gut wie moglich zu prasentieren.[53] Rousseau zufolge kommt es dadurch zu einer fatalen Realitatsverschiebung:

„Sein und Scheinen wurden zwei ganz verschiedene Dinge, und aus diesem Unterschiede entsprang die tauschende Hoheitsmiene, die betrugerische List und ihr Gefolge, alle ubrigen Laster.“[54]

Rousseau zufolge ist die Gier nach Bereicherung und der Wettkampf um Anerkennung „[...] der erste Schritt zur Ungleichheit und zugleich der erste Schritt zum Laster.“[55] Gefuhle wie Ehre, Neid, Scham, Stolz oder auch Verachtung sind das Ergebnis dieser Entwicklung. Der Gesellschaftsmensch lernt einzuschatzen, wann er von seinen Mitmenschen Unterstutzung erwarten kann und wann er skeptisch sein muss. Daraus leitet er fur sich neue Handlungsgrundsatze ab.[56] Auf dieser Grundlage beschreibt Rousseau das Verhalten des Gesellschaftsmenschen nicht mehr als ein Handeln nach naturgegebenen „sicheren und bestandigen Grundsatzen“[57] und Werten. Er beobachtet vielmehr einen von aufgeklarter Vernunft und kunstlichen Leidenschaften gelenkten Menschen, der sich mit jeder Einsicht und Leidenschaft immer weiter von seinem ursprunglichen Zustand und damit von seinem naturlichen Gutsein entfernt. Das heiBt, die Urtriebe des Menschen, die Grundlage alien moralischen Handelns, werden im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung durch die wechselseitige Vermehrung der Erkenntnisse und Begierden sukzessive zerstort beziehungsweise in ihrer ursprunglichen Beschaffenheit und Wirkungskraft verandert: Die Selbstliebe steigert sich durch die Vernunft zur Eigenliebe, einer stark egoistischen Empfindung, „die in der Gesellschaft entsteht und jedem einzelnen Geschopf eingibt, mehr Wesens von sich als von allen anderen Dingen zu machen, und die Menschen zu allem Ubel verleitet, daB sie einander tun, und sie ist die wahre Quelle, aus der die Ehre entspringt.“[58] Im Gegensatz dazu wird das Mitleid durch die kalkulierende Vernunft verdrangt. Beim gesitteten Menschen ist also im Vergleich zum Urzustand das Mitleid nur noch rudimentar vorhanden und daher weitaus schwacher als beim naturlichen Menschen. Demnach kann es kein Gegengewicht mehr zur Eigenliebe bilden. Die Folgen sind gravierende moralische Defizite, denn dem egoistischen Treiben des Menschen werden nun keine Grenzen mehr gesetzt und er kann ungehindert und rucksichtslos seine Existenz immer weiter ausbauen. Im Zuge der Vergesellschaftung wird also die fur ein harmonisches Dasein notwendige Balance, das gleichwertige Wirken der zwei Ursprungstriebe, zerstort.[59] Durch diesen Verlust der ursprunglichen, ausgleichend wirkenden Triebe des Naturzustands und damit auch jeder Regel fur die naturliche Ordnung ist die naturgegebene moralische Gleichwertigkeit von Personen unwiderruflich zerstort. An ihre Stelle ist die sittliche und politische Ungleichheit getreten, die ihren Ursprung in der Entwicklung der Begriffe des Besitzes und der zwischenmenschlichen Beziehung findet.

Angesichts des als sittenlos bezeichneten Gesellschaftszustands stellt sich fur Rousseau die Frage, wie der Mensch wieder tugendhafter gemacht werden kann. Eine Erziehung[60] des Menschen ist moglich, da er, wie den Ausfuhrungen uber den Naturmenschen zu entnehmen ist, vom Ursprung her grundsatzlich gut und seine Entwicklung nicht festgelegt ist.[61] Es stellt sich die Frage, wie diese Erziehung erfolgen soil.

Eine Moglichkeit der sittlichen Lauterung des Menschen konnte das Theater darstellen. Diese Chance kann Rousseau im Schauspiel allerdings nicht entdecken. Im Folgenden soll nun kurz auf Rousseaus Theaterkritik unter besonderer Berucksichtigung der Tragodie und deren Wirkungsmoglichkeiten eingegangen werden, um in Abgrenzung dazu Lessings Mitleidsdramaturgie darzustellen, die sich auf den positiven Mitleidsbegriff stutzt, ohne der Tragodie ihre bessernde Wirkung abzusprechen.

2.4. Rousseaus Kritik am Theater

Ein Eindruck von Rousseaus Meinung uber das Wesen und die Wirkung des Theaters ist in seinem Brief an d’Alembert[62] zu erhalten. In diesem Schreiben nimmt Rousseau auf den Artikel Genf (Geneve 1758) im VII. Band der Enzyklopadie von d’Alembert Bezug, der unter anderem das Verbot eines Schauspielhauses in Genf thematisiert. In seinem Artikel vertritt d’Alembert Rousseau zufolge die Meinung, dass das Theater die Menschen in ihrer Moral ausbilden konne: „Die Theatervorstellungen wurden den Geschmack der Burger bilden und ihnen eine Feinheit des Takts, eine Zartheit des Empfindens verleihen, die ohne diese Hilfe sehr schwer zu erlangen sind.“[63] Rousseau ist jedoch ganz anderer Meinung als d’Alembert und warnt vor dem Vorhaben, in Genf ein Theater zu errichten und zu glauben, damit der Gesellschaft etwas Gutes zu tun.[64] Fur Rousseau ist das Theater ein sinnfreies, uberflussiges und damit zeitraubendes Unterhaltungsmedium, das dem Zuschauer grundsatzlich schadet, da dessen Ziel das Gefallen und nicht der Nutzen ist und daher das primare Wesensmerkmal des Theaters das Vergnugliche ist.[65] Fur Rousseau ergibt sich gerade aus diesem seichten, unterhaltenden Wesen des Theaters ein erstes groBes Problem. Denn damit ein Schauspiel gefallt, muss es stets dem Geschmack des Publikums entsprechen.[66] Die Buhne wird folglich der Ort, wo der Zuschauer all seine kunstlichen Begierden widergespiegelt findet.[67] Das Theater, als Spiegel der Gesellschaft, richtet sich Rousseau zufolge ausschlieBlich nach den Wunschen und Werten des Publikums.[68] Es bestatigt den Menschen in seinen Leidenschaften, verstarkt diese und lasst sogar neue aufkommen. Zwar konnen Tugenden bestarkt werden und es konnen auch neue hinzukommen, aber mit dem gleichen Schauspiel kann auch die Schlechtigkeit eine Unterstutzung erfahren. Fur vernunftgesteuerte Darstellungen, die eventuell noch einen positiven Nutzen hatten, ist der Zuschauer laut Rousseau nicht empfanglich. Die Zuschauer konnten sich nicht auf die Handlung und die Figuren einlassen, wenn sie ohne Leidenschaften waren:

„Auf der Buhne kann man alles, nur die gesunde Vernunft nicht brauchen. Ein Mensch ohne Leidenschaften oder ein Mensch, der bestandig Herr daruber ware, wurde niemanden fur sich einnehmen konnen, und man hat schon gesagt, dass ein Stoiker in der Tragodie eine unertragliche Figur ware; in der Komodie wurde er auBerdem noch zum Lachen bringen.“[69]

Die generelle Wirkung eines Theaterstucks besteht demnach fur Rousseau in der Manifestierung von Leidenschaften: „Seine Wirkung geht nur darauf, die bestehenden Sitten zu starken, nicht sie zu verandern.“[70] Nach Rousseau kann keine Besserung durch Erregung von Leidenschaften im Theater entstehen, da sich der Zuschauer mit den Leidenschafen identifiziert, die er ohnehin schon verinnerlicht hat. Da also durch das Theater bestehende Sitten nicht in Frage gestellt werden, ist das Theater ihm zufolge keine Einrichtung, welche den Menschen bessert. Es erzielt vielmehr uberhaupt keine oder eine negative Veranderung: „In diesem Sinne scheint das Theater gut fur die Guten und schlecht fur die Schlechten zu sein.“[71] Rousseau vertritt die Ansicht, dass Leidenschaften immer miteinander verbunden sind und dass in dem Moment, in dem versucht wird die eine Leidenschaft mit einer anderen zu bekampfen, der Mensch nur noch empfanglicher fur Leidenschaften wird.[72] Dementsprechend sieht er auch in der Erregung von Mitleid im Theater keine Moglichkeit der moralischen Lauterung des Menschen. Im Gegenteil: Rousseau befurchtet eine deutliche Verschlechterung der Sitten. Dies begrundet er, neben seiner allgemeinen geringschatzigen Meinung von den dargestellten Leidenschaften auf der Buhne, mit der Unterscheidung zwischen Alltags- und Theatermitleid. Rousseau ist der Meinung, dass es eine deutliche Differenz dahingehend gibt, wie im Theater und wie im Alltag auf den Trieb des Mitleids reagiert wird und welche Wirkung das Mitleiden in den verschiedenen Situationen hat. Das Alltagsmitleid wirkt sich direkt auf die Eigenliebe aus. Deshalb wagt der Mensch im Gesellschaftszustand die Vor- und Nachteile, die personlichen Konsequenzen eines Mitleidens ab und entscheidet erst auf dieser Grundlage, ob er einer mitleidigen Empfindung nachgibt. Das Theatermitleid aber ist frei von jeder Sorge um sich selbst. Im Theater leidet der Zuschauer gerne, da es ihn nicht direkt betrifft. Der Mensch kann aus sicherer Entfernung seinen Mitleidstrieb ausleben, ohne auf seine Vorteile zu verzichten, ohne etwas zu riskieren.[73] Dies hat nach Rousseau eine fatale Folge: Der Mensch kann seiner Natur treu bleiben und den Mitleidstrieb ausleben[74], ohne dass hieraus fur ihn physische oder psychische Konsequenzen entstehen:

„VergieBen wir fur diese Einbildungen Tranen, so haben wir alien Rechten der Menschlichkeit genugt, ohne von uns noch irgend etwas hinzutun zu mussen, und kein Unglucklicher verlangt personlich Sorge, Linderung und Trost von uns, also Anstrengungen, die uns in sein Leid hineinziehen und wenigstens unserer Tragheit etwas abverlangen wurden, wovon befreit zu sein wir durchaus erleichtert sind.“

Rousseau sieht demnach zwar ein, dass die Darstellung von Leid und Grauen auf der Buhne vielleicht zu Mitgefuhl anregt und ein mogliches Ubungsfeld fur Tugenden bietet[76], aber er hegt die groBe Befurchtung, dass wiederholtes tragisches Buhnengeschehen die Menschen abharten und sie mit einem abgenutzten Mitleidsempfinden in die Welt zuruckkehren lasst.[77]

Das Theater verschlechtert also die Sitten, weil es den Rest des Mitleids aufbraucht und damit der Eigenliebe der absolute Vorrang eingeraumt wird. Wenn also das Trauerspiel uberhaupt eine Wirkung hat, macht sie den Menschen schlechter, indem der Mensch erhartet.[78]

3 Lessings Mitleidsethik im Briefwechsel uber das Trauerspiel

Wie im vorangegangenen Teil erlautert, beschreibt Rousseau das Mitleid als einen uberaus positiven, naturlichen Trieb des Menschen, als die Urquelle aller Tugendhaftigkeit. Jedoch spricht er der mitleidigen Empfindung als zentralen tragischen Affekt jegliche nutzliche und bessernde Wirkung ab. Die nachfolgende Untersuchung wird zeigen, dass Lessing zwar den positiven Mitleidsbegriff Rousseaus ubernimmt, nicht aber seine negative Einschatzung des Mitleids als Hauptaffekt der Tragodie.

Es drangt sich nun die Frage auf, warum Lessing ausgerechnet das Mitleid wahlt und zum Beispiel die Bewunderung oder den Schrecken als Hauptwirkungen der Tragodie verwirft. Was ist fur Lessing das Besondere an der mitleidigen Empfindung? Was kann das Mitleid nach Lessing bewirken? Was hat die gute und forderliche Beurteilung der Wirkung des Mitleids fur Konsequenzen fur die Einschatzung des Theaters als Anstalt der sittlichen Besserung? Antworten auf diese Fragen sind im Briefwechsel uber das Trauerspiel[79] aus dem Jahr 1756/57 zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai zu finden. Im Mittelpunkt dieses Briefwechsels steht die kritische Auseinandersetzung mit Lessings Forderung, dass die Erregung von Mitleid das hochste Ziel, die oberste Wirkung der Tragodie sein soll.[80] Nicolai und Mendelssohn konnen Lessings Bestimmung der Tragodienwirkung nicht akzeptieren und reagieren auf diese Peter-Andre Alt zufolge mit einem „Pluralismus der Wirkungsbegriffe“[81]. Das heiBt, sie wenden sich gegen Lessings hierarchische Anordnung der Affekte, an deren Spitze das Mitleid steht, und beschranken sich nicht auf eine einzige zentrale Wirkung, sondern gestehen auch zum Beispiel dem Affekt der Bewunderung eine bessernde Wirkung zu.[82] Auf dieser Grundlage entbrennt zwischen den Freunden eine Debatte uber die der Tragodie angemessene Wirkung. Die Auseinadersetzung beginnt mit einem Schreiben von Nicolai vom 31. August 1756 an Lessing, in dem er im Widerspruch zum aristotelischen Tragodiensatz, nachdem es „der Zweck des Trauerspiels [sei] die Leidenschaften zu reinigen oder die Sitten zu bilden“[83], fordert, dass bei der Tragodie das Hauptaugenmerk auf der Erregung von Leidenschaften und nicht auf der Reinigung von Leidenschaften und somit auf der sittlichen Lauterung liegen soll.[84] Der in der Folge unter den Freunden im Briefwechsel detailliert gefuhrte Meinungsaustausch ermoglicht nach Alt einen tiefen Einblick in die zeitgenossische dramentheoretische Auseinandersetzung uber das Wesen und die Wirkung der Tragodie und damit uber die Rolle des Theaters fur die moralische Erziehung der Gesellschaft uberhaupt.[85]

3.1 Die Affektlehre der Aufklarung

Im Briefwechsel stimmt Lessing grundsatzlich mit seinen Kollegen Mendelssohn und Nicolai darin uberein, dass die Tragodie Leidenschaften erregt.[86] Diese Ubereinstimmung hinsichtlich einer hohen Wertschatzung des Affekts, so Alt, ist auf die in den funfziger Jahren des 18. Jahrhunderts, auf der Grundlage der sensualistischen Ethik[87], sich stets verbreiternde positive Beurteilung der sinnlichen Empfindung zuruckzufuhren. In Abkehr zum Beispiel von Johann Christoph Gottsched werden im Sensualismus der Aufklarung die Affekte nicht mehr als eine Bedrohung der Vernunft betrachtet. Die rationale Kontrolle der Sittlichkeit steht hier nicht mehr im Vordergrund, vielmehr soll eine neue Sinnlichkeit als Quelle der Moral eingeubt werden. Die Grundidee hierbei ist, dass der tugendhafte Mensch nicht ausschlieBlich von der Vernunft geleitet wird, sondern dass er uber eine naturliche sittliche Anlage verfugt, die in erster Linie mit dem Gefuhl verknupft ist und so auf die Handlungen des Menschen

[...]


[1] Lessing, Gotthold Ephraim: Briefwechsel uber das Trauerspiel. In: Gotthold Ephraim Lessing, Werke, 4. Band, Dramaturgische Schriften, herausgegeben von Karl Eibl, Munchen, 1973, S. 160. (Im Folgenden zitiert als Lessing, Briefwechsel).

[2] Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke, 4. Band, Dramaturgische Schriften, herausgegeben von Karl Eibl, Munchen, 1973, S. 588. (Im Folgenden zitiert als Lessing, Hamburgische Dramaturgie).

[3] Rousseau, Jean-Jacques: Discours sur l’origine et les fondements de l’inegalite parmi les hommes. (1755) Als Grundlage fur die vorliegende Arbeit dient mir die deutsche Ausgabe: Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung uber den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. In: Jean-Jacques Rousseau Schriften, Band 1, herausgegeben von Henning Ritter, Munchen, Wien, 1978. (Im Folgenden zitiert als Rousseau, zweite Abhandlung). Dieser Diskurs stellt eine Antwort dar auf die 1753 im Mercure de France erschienene Preisfrage der Akademie zu Dijon nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und inwiefern diese ihre Begrundung im Naturgesetz findet. („Quelle est la source de l’inegalite parmi les hommes et si elle autorisee par la loi naturelle?“, 1753).

[4] Rousseau unterscheidet die „naturliche [...] physische Ungleichheit“ und die „sittliche [...] politische Ungleichheit.“ (Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 191). Wahrend die naturliche Ungleichheit einen naturgegebenen Unterschied zwischen den Menschen, sich auBernd im Alter, der Gesundheit und der korperlichen und geistigen Krafte beschreibt, ist die sittliche Ungleichheit nicht naturgegeben, sondern entsteht erst im Zuge der Vergesellschaftung.

[5] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 186.

[6] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 185.

[7] Vgl. Rousseau, zweite Abhandlung, ebd.

[8] Sturma, Dieter: „Jean-Jacques Rousseau“ , Munchen, 2001, S. 28.

[9] Bruppacher, Matthias: „Selbstverlust und Selbstverwirklichung. Die geistige Entwicklung des Menschen bei J. J. Rousseau.“ Europaische Hochschulzeitschriften, Reihe XI, Padagogik, Band 7, Frankfurt am Main, 1972. S. 28.

[10] Sturma, a.a.O., S. 54.

[11] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 181.

[12] Um die Differenz zwischen dem Natur- und dem Gesellschaftsmenschen, das heiBt die problematischen Auswirkungen der Vergesellschaftung zu verdeutlichen, zieht er einen bildlichen Vergleich mit der Skulptur des Meeresgott Glaukos, die durch die Witterung immer weiter entstellt wurde (vgl. Rousseau, zweite Abhandlung, ebd.).

[13] Sturma, a.a.O., S. 56f .

[14] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 182.

[15] Schon zu Beginn der Abhandlung findet sich Rousseaus Hinweis auf Sokrates uber dem Eingang des Tempels zu Delphi festgehaltenen Ausruf: „Erkenne Dich selbst.“ Sich selbst zu erkennen ist fur Rousseau die Grundlage, um der Frage nach einem moglichen Naturzustand auf den Grund zugehen und so herauszufinden, wo die Quelle fur die Ungleichheit zwischen den Menschen liegt. Wenn also nach der Quelle der Ungleichheit gesucht wird, muss der Mensch zunachst sich selbst, seine Natur erforschen (vgl. Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 181).

[16] Bruppacher, a.a.O., S. 28: „Rousseau will frei von aller Verpflichtung zu historischer Exaktheit die ursprungliche apriorische Natur des Menschen erschlieBen.“

[17] Bruppacher, a.a.O., S. 51: „So verstandene Selbstgenugsamkeit ist fur Rousseau der Inbegriff menschlichen Glucks und menschlicher Wurde.“

[18] Rousseau geht hier davon aus, dass der Mensch auch im Naturzustand uber ein gewisses MaB von Vernunft verfugt, jedoch dient diese hier ausschlieBlich der Bedurfnisbefriedigung („Wie beschaffe ich mir Essen?“). Im Gesehschaftszustand aber uberwiegt die aufgeklarte grubelnde Vernunft.

[19] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 216f.

[20] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 218.

[21] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 216f.

[22] Bruppacher, a.a.O., S. 39.

[23] Bruppacher, a.a.O., S. 42.

[24] Vgl. Bruppacher, ebd.

[25] Bruppacher, a.a.O., S. 43: „Es ist weiterhin bemerkenswert, dass dem amour de soi wie den unverfalschten Regungen der Natur uberhaupt jeglicher Hang zum Exzess abgeht. Wohl drangt die Selbstliebe den Menschen, sein Leben unter allen Umstanden zu erhalten. Es erwachst aber hieraus keinerlei Antrieb zu Ausschweifung und unbeschranktem Lebensgenuss. Im Gegenteil, mit der Befriedigung der wenigen die unmittelbare Existenz sichernden Bedurfnisse ist der Anspruch der Natur erfullt.“

[26] Vgl. Bruppacher, ebd.

[27] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 218f.

[28] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 219.

[29] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 221.

[30] Vgl. Bruppacher, a.a.O., S. 44

[31] Bruppacher, ebd.

[32] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 221.

[33] Rousseau, zweite Abhandlung, ebd.

[34] Rousseau, zweite Abhandlung, ebd.

[35] In seiner Mitleidsdramaturgie ubernimmt Lessing diese Uberzeugung: Gutes Handeln aus einer Empfindung heraus und nicht auf der Grundlage von Erkenntnis, denn nicht jeder Mensch ist einer Erkenntnisleistung fahig, wohl aber einer mitleidigen Empfindung.

[36] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 203.

[37] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 217.

[38] Rousseau geht davon aus, dass die einem Bedurfnis entspringenden Leidenschaften durch die vernunftige Uberlegung vermehrt werden. Demnach stehen vernunftgeleitete Verstandesregungen und die Leidenschaften in einem engen Verhaltnis: „Unsere Vernunft wird durch die Wirksamkeit der Leidenschaften vollkommener gemacht. Wir suchen Einsicht, weil wir genieBen wollen. Unmoglich kann man sich vorstellen, dass sich einer die Muhe geben sollte, zu denken, der weder von Furcht noch von Begierden dazu angetrieben wurde. Die Leidenschaften hingegen entstehen aus unseren Bedurfnissen und werden durch unsere Einsichten vermehrt. Denn es verlangt uns nach etwas oder wir furchten es nicht anders als entweder nach den Begriffen, die wir davon gehort haben, oder durch ein bloBen Antrieb der Natur.“ (Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 205). Demzufolge hat die Vernunft ihren Ursprung in den Bedurfnissen, spater Leidenschaften und wird durch das Wirken dieser vervollstandigt. Im Gegenzug dazu erweitert die Vernunft durch ihre Diagnosen, die Leidenschaften und damit alle Lasterhaftigkeit. Dieser Blick auf den Begriff der Vernunft als Antriebsfeder des Sittenverfalls erscheint im absoluten Gegensatz zu der positiven Einordnung der Vernunft als hochstes Gut der der Aufklarung. Dem muss jedoch entgegengehalten werden, dass der Verstand und die ihm entspringende Vernunft von Rousseau als gemeinhin nicht schlecht beurteilt wird. Er kritisiert lediglich den egoistischen Gebrauch der Vernunft.

[39] Der Begriff der Vervollkommnung entspringt dem semantischen Instrumentarium der franzosischen Aufklarungsphilosophie. Rousseau ubernimmt diesen weitgehend, die positive Bedeutung des Begriffs jedoch nicht, sondern entschliebt sich zu einer zuruckhaltenden, kritischeren Position gegenuber dieser Fahigkeit: „Zwar sieht er auch er in der Vervollkommnungsfahigkeit formal eine Eigenschaft des Menschen, sich von seinen naturbestimmten Kontexten zu losen und eigenen Entwicklungslinien folgen zu konnen. Die Selbstentwicklung ist jedoch nicht zwangslaufig eine Vervollkommnung im Sinne von Fortschritt und Vollendung, wie in der Aufklarung meist unterstellt worden ist. Kulturgeschichtlich hat die perfectibilite namlich die Form einer Tendenz zur Etablierung kunstlicher Ordnungen angenommen, durch die Natur und Instinkt sukzessiv in Kultur und Bildung uberfuhrt werden.“ (Sturma, a.a.O., S. 82).

[40] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 203: „Jene wahlen und verwerfen aus einem bloben Instinkt, dieser aus Freiheit.“

[41] Der Mensch, gleichgultig ob er sich im Naturzustand oder Gesellschaftszustand befindet, ist ein Verstandeswesen und verfugt demnach generell uber das entsprechende Instrumentarien fur vernunftgeleitete Entscheidungen.

[42] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 204.

[43] Bruppacher, a.a.O., S. 54.

[44] Wie den folgende Ausfuhrungen zu entnehmen, sind die die Freiheit und die Perfektibilitat fur den Menschen sowohl Chance als auch Verhangnis: Sie ermoglichen dem Menschen zwar in seiner Entwicklung fortzuschreiten, sich zu perfektionieren, aber anderseits steht er durch die daraus entstehende Anhaufung von Begriffen und Gegenstanden und den daraus erwachsenden Begierden schon bald nicht mehr im Einklang mit der Natur. Er wandelt sich stetig zum „Tyrannen seiner selbst und der Natur“ (Rousseau, zweite Abhandlung, a. a. O., S. 205).

[45] Wahrend im Naturzustand der Verstand einzig der Trieberfullung diente, klart sich im Gesellschaftszustand der Verstand immer weiter auf und ubernimmt eine starke den Menschen fuhrende Funktion.

[46] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 264.

[47] Wahrend die physischen Bedurfnisse wie Hunger und Schlaf, die einzigen rechtmaBigen, der Natur zutraglichen Bedurfnisse sind, da sie der Selbsterhaltung dienen, nehmen die psychischen Bedurfnisse beziehungsweise kunstlichen Leidenschaften (Streben nach Bequemlichkeit, Autoritat und Ehre), die sich im Zuge der Vergesellschaftung zu weitaus starkeren drangenden Anliegen als die naturlichen physischen Anliegen wandeln, dem Menschen seine ursprungliche Freiheit.

[48] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 243.

[49] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 275f: „Wir finden immer unseren Vorteil in dem Verlust unserer Mitmenschen, und eines Ungluck macht allzeit des andern Gluck.“

[50] Rousseau, Jean-Jacques: Abhandlung uber die Wissenschaft undKunste. In: Jean-Jacques Rousseau Schriften, Band 1, herausgegeben von Henning Ritter, Munchen, Wien, 1978, S. 36. (Im Folgenden zitiert als Rousseau, erste Abhandlung). Hier verweist Rousseau noch einmal auf die im Rahmen der Aufklarung erfolgte Ausbildung des Verstandes. So treiben die vernunftigen Erkenntnisse und die daraus entspringenden Leidenschaften den Mensch in eine Scheinwelt, in der der Egoismus herrscht.

[51] Der Mensch im Gesellschaftszustand hat das selbstgenugsame, authentische, friedliche Leben des Naturzustands aufgegeben und fuhrt nun als Sklave seiner Begierden ein naturfernes Dasein (vgl. Bruppacher, a.a.O., S. 86f).

[52] Rousseau erste Abhandlung, a. a. O. S. 35f: „Heutzutage aber, da man durch spitzfindigere Untersuchungen und einen verfeinerten Geschmack die Kunst zu gefallen in Regeln gebracht hat, herrscht in unseren Sitten eine niedrige und betrugerische Einformigkeit, und alle Gemuter scheinen nach einem Muster gebildet zu sein: Immer fordert die Hoflichkeit und gebietet der Anstand, immer folgt man angenommenen Gebrauchen und niemals seinem eigenen Sinne. Man wagt sich nicht mehr zu zeigen, wie man ist, und unter diesem bestandigen Zwang handeln alle Menschen, welche diese Herde, die man Gesellschaft nennt, bilden und sich in einerlei Umstanden befinden, immer einformig, wenn nicht machtigere Beweggrunde sie davon abhalten.“

[53] Vgl. Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 242.

[54] Rousseau, zweite Abhandlung, ebd.

[55] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 237.

[56] Vgl. Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 233.

[57] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 181.

[58] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 297.

[59] Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 220: „Unstreitig muss das Mitleid umso heftiger sein, je fahiger das zuschauende Tier ist, sich an die Stelle des Leidenden zu setzen: nun ist gewiss, dass diese Gleichsetzung in dem Stande der Natur unendlich viel enger gewesen sein muss als im Stande der grubelnden Vernunft. Die Vernunft hat die Eigenliebe gezeugt, und die Uberlegung hat ihr Nahrung und Starke gegeben. Sie hat den Menschen in sich selbst eingehullt, sie hat ihn von allem entfernt, was ihm zwang antun oder ihn beleidigen kann. Die Philosophie hat ihn vereinzelt. Sie hat ihn gelehrt, bei dem Anblick eines Leidenden heimlich zu sagen: Stirb wenn du willst, ich bin in Sicherheit“

[60] Nach Rousseau ist Ruckentwicklung zum Naturzustand nicht denkbar, er ist fur die Menschen unwiderruflich verloren, aber eine Ruckbesinnung auf die ursprunglichen Tugenden des von Natur aus guten Menschen und auf dieser Grundlage die Schaffung einer neuen moralisch einwandfreien der Gesellschaft angepassten Ordnung ist moglich. weil jeder Mensch den Naturzustand in sich tragt. Die Ruckbesinnung auf die ursprungliche Tugend ist unumganglich, da laut Rousseau das naturliche Recht des Menschen nur dann definiert werden kann, wenn dieser Wissen uber die menschliche Natur hat: „Solange wir aber den naturlichen Menschen nicht kennen, bemuhen wir uns vergebens das Gesetz zu bestimmen, das er angenommen hat oder das sich am besten fur ihn schickt.“ (Rousseau, zweite Abhandlung, a.a.O., S. 185). Das heiBt die gesellschaftliche Entwicklung (Verdrangung beziehungsweise Veranderung der menschlichen Natur und ihrer ursprunglichen Tugenden) erfordert Berucksichtigung der naturlichen Tugend eine Umstrukturierung der naturlichen Ordnung: „Sobald aber die Vernunft durch ihre allmahlichen Entwicklungen in den Stand kommt, die Natur zu ersticken, so muss sie neue Stutzen suchen, um diese Regeln darauf zu grunden.“ (Rousseau, zweite Abhandlung, ebd.). An dieser Stelle sei zum Beispiel auf Rousseaus Werke Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts (Du contrat social ou principes du droit politique, 1762) und Emil uber die Erziehung (Emile 1762) verwiesen: „Wahrend die kulturkritischen Diskurse den faktischen Geschichtsverlauf als Siegeszug des kunstlichen Menschen zuruckweisen, ist die konstruktive Wendung in Emile und im Gesellschaftsvertrag darauf gerichtet, den Menschen auf einer neuen Stufe der Bildung und Vergesellschaftung seiner Natur naher zu bringen und einen Ausgleich zwischen Konnen und Wollen zu schaffen.“ (Sturma, a.a.O., S. 54f). In Anbetracht dessen ist der immer wieder aufs Neue an Rousseau heran getragenen Vorwurf, er ware darauf bedacht gewesen, die Gesellschaft zuruck in die Natur zu fuhren, nicht haltbar. Er will durch eine Kontrastierung zeitgenossische gesellschaftliche Zustande aufdecken und problematisieren, fordert aber zu keinem Zeitpunkt einen Blick auf die Natur im Sinne einer Ruckentwicklung, sondern lediglich die Besinnung auf die Natur und damit auf das Gute im Menschen.

[61] Die viel diskutierte Frage, wie frei der Mensch tatsachlich ist oder ob seine Evolution determiniert ist, berucksichtigt Rousseau in seiner Theorie nicht ein. Er geht einfach davon aus, dass eine ursprungliche Natur des Menschen existiert, die sich durch verschiedene auhere, zufallig auftretende Umstande unterschiedlich entwickelt. Vgl. hierzu Sturma, a.a.O., S. 61.

[62] Jean-Baptiste le Rond d’Alembert (1717-1783) war ein bedeutender Mathematiker, Philosoph und Literat des 8. Jahrhunderts. Gemeinsam mit Denis Diderot (1712-1784) gab er die ersten sieben Bande der franzosischen Enzyklopadie (Encyclopedie, ou Dictionnaire raisonne des sciences, des arts et des metiers 1751-1789) heraus. Die Enzyklopadie ein Werk der Aufklarung, es verstand sich als Sammlung samtlicher Wissenschaften jener Zeit, als eine Art Worterbuch.

[63] Rousseau, Jean-Jacques: Brief an d’Alembert uber die Schauspiele. In: Jean-Jacques Rousseau Schriften, Band 1, herausgegeben von Henning Ritter, Munchen, Wien, 1978, S. 336. (Im Folgenden zitiert als Rousseau, Brief an d’Alembert.)

[64] Vgl. Rousseau, Brief an d’Alembert, a.a.O., S. 337.

[65] Vgl. Rousseau, Brief an d’Alembert, a.a.O., S. 348 und S. 350.

[66] Vgl. Rousseau, Brief an d’Alembert, a.a.O., S. 351.

[67] Rousseau Brief, an d’Alembert, a.a.O., S. 350.

[68] Vgl. Rousseau, Brief an d’Alembert, ebd.

[69] Rousseau, Brief an d’Alembert, ebd.

[70] Vgl. Rousseau, Brief an d’Alembert, a. a. O., S. 352.

[71] Rousseau, Brief an d’Alembert, ebd.

[72] Vgl. Rousseau, Brief an d’Alembert, a. a. O., S. 353.

[73] Rousseau, Brief an d’Alembert, a.a.O., S. 357: „Wenn sich nach einer Bemerkung des Diogenes Laertius das Herz leichter von erdichteten als von wirklichen Leiden ruhren lasst, wenn die Nachahmungen des Theaters uns bisweilen mehr Tranen entlocken, als es sogar die Wirklichkeit der nachgeahmten Gegenstande konnte, dann liegt das weniger daran, wie der Abbe Dubos annimmt, dass diese Gefuhle schwacher sind und nicht bis zum Schmerz gehen, als daran, dass sie rein sind und keine Sorge um uns selbst ihnen beigemischt ist.“

[74] Rousseau geht davon aus, dass der Mitleidstrieb, Teil des menschlichen Wesens ist. Demzufolge drangt er, obwohl im Gesellschaftszustand nur noch rudimentar erhalten, zeitweise doch nach auBen und fordert seine Bestatigung.

[75] Rousseau, Brief an d’Alembert, a.a.O. S. 357f .

[76] Rousseau sagt, dass das Mitleid auf der Buhne den Menschen ruhrt und es ist praktisch, da jeder die Fahigkeit Mitleid zu empfinden hat. Das ubernimmt auch Lessing, er liest Rousseau fur sich positiv - wahrend Rousseau eigentlich von der Wirkung der mitleidigen Tragodie warnt.

[77] Rousseau, Brief an d’Alembert, a.a.O., S. 365: „Verfolgt die Mehrzahl der Stucke des Theatre Francais, ihr werdet fast in allen abscheuliche Ungeheuer und grassliche Begebenheiten finden, die geeignet sein mogen, den Stucken Anteilnahme und den Tugenden ein Ubungsfeld zu erschlieBen, die aber sicherlich insofern gefahrlich sind, als sie die Augen des Volkes an Abscheulichkeiten gewohnen, die es nicht kennen und an Schandtaten, die es nicht einmal fur moglich halten sollte.“

[78] Rousseau, Brief an d’Alembert, a.a.O., S. 391: „Indem es [Anmerkung der Verfasserin: Schauspiel] alle unsere Neigungen begunstigt, gibt es denen, die uns beherrschen, einen Vorrang. Die dauernden Gefuhlswallungen, denen man im Theater unterworfen ist, entnerven und schwachen uns und machen uns unfahiger unseren Leidenschaften zu widerstehen, und das unfruchtbare Interesse, das wir an der Tugend nehmen, dient nur dazu, unsere Eigenliebe zu befriedigen, statt uns zu zwingen , tugendhaft zu handeln. Diejenigen, die das Schauspiel nicht an sich missbilligen, haben also Unrecht.“

[79] Bei dem Briefverkehr handelt es sich um eine private Korrespondenz. Erst im Jahr 1794 wird der Schriftwechsel als geschlossener Text mit dem Titel Briefwechsel uber das Trauerspiel im 27. und 28. Teil der Samtlichen Schriften veroffentlicht.

[80] Grundlage des moralphilosophischen Streits ist Rousseaus zweite Abhandlung, in der Rousseau das Mitleid als den hochsten tugendhaften, weil unmittelbar empfundenen, Urtrieb beschreibt. Wahrend Lessing, wie die folgende Untersuchung darlegen wird, den positiven Mitleidsbegriff Rousseaus ubernimmt, verweigert sich Mendelssohn einer derartigen Sonderstellung des Mitleidsaffekts. Denn fur Mendelssohn ist das Mitleid eine gemischte Empfindung, die sowohl ein Lustgefuhl gegenuber dem geschatzten Gegenstand als auch ein Unwohlsein angesichts des uber den Lustgegenstand hereinbrechenden unverdienten Ubels bezeichnet. (vgl. Schings, Hans-Jurgen: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch. Poetik des Mitleids von Lessing bis Buchner“, Munchen,1980, S. 33f.)

[81] Alt, Peter-Andre: „Targodie der Aufklarung“ Metzler, Stuttgart u. a., 2001, S. 175.

[82] Vgl. Barner, Wilfried: Lessing: „Lessing: Epoche - Werk - Wirkung“, Munchen, 1987, S. 170.

[83] Lessing, Briefwechsel, a.a.O., S. 156.

[84] Lessing, Briefwechsel, ebd.: „Hauptsachlich habe ich den Satz zu widerlegen gesucht, den man Aristoteles so oft nachgesprochen hat, [...]. Er ist, wo nicht falsch, doch wenigstens nicht allgemein, und Schuld daran, daB viele deutsche Trauerspiele so schlecht sind. Ich setzte also den Zweck des Trauerspiels in die Erregung von Leidenschaften, und sage: das beste Trauerspiel ist das, welches die Leidenschaften am heftigsten erregt, nicht das, welches geschickt ist, die Leidenschaften zu reinigen.“

[85] Vgl. Alt, a.a.O, S. 175.

[86] Vgl. Lessing Briefwechsel, a.a.O., S. 161.

[87] Ethik des Sensualismus entspringt der moral-sense-Lehre von Anthony Ashley Cooper Shaftesbury und seinem Schuler Francis Hutcheson („A system of moral philosophy“, 1755, von Lessing 1756 ubersetzt) „Sie bauen auf die naturliche Gute des Menschen. Nicht die Vernunft, sondern das Gefuhl ist die Quelle der Tugend.“ (Fick, Monika: „Lessing-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung“, Stuttgart/ Weimar, 2004, S. 137)

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Lessings Dramaturgie des Mitleids - Eine exemplarische Untersuchung zur Figur Emilia Galotti
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
85
Katalognummer
V149349
ISBN (eBook)
9783640603862
Dateigröße
811 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lessings, Dramaturgie, Mitleids, Eine, Untersuchung, Figur, Emilia, Galotti, Thema Emilia Galotti
Arbeit zitieren
Simone von Oppeln (Autor:in), 2007, Lessings Dramaturgie des Mitleids - Eine exemplarische Untersuchung zur Figur Emilia Galotti, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149349

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