Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ entstand in den Jahren 1805/06 und erschien erstmals im Jahr 1807 unter dem Titel: „Jeromino und Josephe. Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647“. Historischer Bezugspunkt für Kleist ist das Erdbeben von Santiago de Chile. Zwischen historischem Bezugspunkt und Entstehungszeit der Erzählung liegt somit eine Zeitspanne von etwas mehr als hundertfünfzig Jahren. Die vorliegende Hausarbeit Das anthropologische Frauenbild in Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ untersucht Kleists Frauenbild in Bezug auf die Anthropologie um 1800. Im Zuge der Aufklärung rückte der Mensch in all seinen Facetten in den Blickwinkel der Wissenschaften und es formte sich die neue Wissenschaft, die Anthropologie. Kleist als Zeitzeuge und Schriftsteller seiner Zeit blieb davon nicht unberührt. So soll im Folgenden als erstes das Bild der Frau um 1800 nachgezeichnet werden. Ein medizinisch-juristischer Diskurs soll die Stellung der Frau und das Frauenbild bezüglich Sexualität und Geschlecht noch detaillierter nachzeichnen. In einem weiteren Schritt soll die weibliche Hauptfigur der Erzählung Donna Josephe in ihrer Darstellung als Frau, insbesondere in den Facetten: Tochter, Verführte, Mutter, Geliebte und Opfer aus dem Text der Erzählung herausgearbeitet werden, um eine Beschreibung der Figur in ihrer ganzen Ambivalenz zu erhalten. Die weiteren Frauenbilder der Erzählung, Donna Elvire, Donna Elisabeth und Donna Constanze werden in einem weiteren Schritt mit eingebunden werden. Abschließend soll gezeigt werden, inwiefern das allgemein gewonnene Bild der Frau um 1800 mit dem Frauenbild in Kleists Erzählung mit den anthropologischen und juristischen Diskursen seiner Zeit übereinstimmt.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Anthropologie um 1800
1. Das anthropologische Frauenbild
2. Die medizinisch-juristische Stellung der Frau
III. Das Erdbeben in Chili
1. Das Bild der Donna Josephe
1.1 als Tochter
1.2 als Verführte
1.3 als Mutter
1.4 als Geliebte
1.5 als Opfer
2. Donna Elvire, Donna Elisabeth und Donna Constanze
IV. Schluss
V. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ entstand in den Jahren 1805/06 und erschien erstmals im Jahr 1807 unter dem Titel: „Jeromino und Josephe. Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647“.[1] Historischer Bezugspunkt für Kleist ist das Erdbeben von Santiago de Chile.[2] Zwischen historischem Bezugspunkt und Entstehungszeit der Erzählung liegt somit eine Zeitspanne von etwas mehr als hundertfünfzig Jahren. Die vorliegende Hausarbeit Das anthropologische Frauenbild in Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ untersucht Kleists Frauenbild in Bezug auf die Anthropologie um 1800. Im Zuge der Aufklärung rückte der Mensch in all seinen Facetten in den Blickwinkel der Wissenschaften und es formte sich die neue Wissenschaft, die Anthropologie.[3] Kleist als Zeitzeuge und Schriftsteller seiner Zeit blieb davon nicht unberührt.
So soll im Folgenden als erstes das Bild der Frau um 1800 nachgezeichnet werden. Ein medizinisch-juristischer Diskurs soll die Stellung der Frau und das Frauenbild bezüglich Sexualität und Geschlecht noch detaillierter nachzeichnen. In einem weiteren Schritt soll die weibliche Hauptfigur der Erzählung Donna Josephe in ihrer Darstellung als Frau, insbesondere in den Facetten: Tochter, Verführte, Mutter, Geliebte und Opfer aus dem Text der Erzählung herausgearbeitet werden, um eine Beschreibung der Figur in ihrer ganzen Ambivalenz zu erhalten. Die weiteren Frauenbilder der Erzählung, Donna Elvire, Donna Elisabeth und Donna Constanze werden in einem weiteren Schritt mit eingebunden werden. Abschließend soll gezeigt werden, inwiefern das allgemein gewonnene Bild der Frau um 1800 mit dem Frauenbild in Kleists Erzählung mit den anthropologischen und juristischen Diskursen seiner Zeit übereinstimmt.
II. Anthropologie um 1800
1. Das anthropologische Frauenbild
Im Rahmen der gesellschaftlichen Neuordnung wird das Thema des zweiten Geschlechts, der Frau, in der Aufklärung verstärkt aufgenommen. Durch den Ausbau der Wissenschaften gerät die Frau zwangsläufig ins Blickfeld der gebildeten Männerwelt. Die Aufgabenstellung der Frau ist bereits durch die Zeit vor der Aufklärung klar herausgestellt; die Frau steht in engem Zusammenhang mit Ehe, Mutterschaft und Haushalt. Sie stellt das Innenleben der Familie dar, während der Mann für das Außenleben und für die Frau verantwortlich ist, denn auch innerhalb des klar definierten Aufgabenfeldes der Frau liegt die Herrschafts- und Entscheidungsgewalt stets beim Mann. Das weibliche Geschlecht wird definiert als Ehefrau, ledige Frauen sind schutzlos oder stehen unter der Herrschaft eines Mannes, u. U. auch der weiteren männlichen Familienangehörigen. Die Frau verfügt selbst weder über Vermögen oder Einkommen, sie kann dementsprechend nicht für ihren Lebensunterhalt sorgen und ist durch ihre psychischen Fähigkeiten nicht in der Lage Sachverhalte bzw. das Leben zu überschauen. Die Frau um 1800 braucht den Vormund in Form des Mannes an ihrer Seite. Dieses Bild bestimmt die Gesellschaft des 18. Jahrhunderts.
Vermögen und Einkünfte der Frau, sollte sie darüber verfügen, gehen mit der Heirat in den Besitz des Ehemannes über, ebenso wie die Frau selbst. Ihre Lebensaufgabe besteht darin, Ehefrau zu sein, Nachkommen zu gebären und in begrenztem Maße aufzuziehen und sich um den Haushalt zu kümmern. Auch in dieser Aufgabe steht der Ehemann der Familie als Oberhaupt vor. Die Frauen selbst hinterfragen ihre Rolle innerhalb von Ehe und Gesellschaft nicht. Sie haben gelernt demütig und sanftmütig ihre Rolle anzunehmen, in die sie bereits hineingeboren werden. Die Erziehung ist darauf ausgerichtet Eigensinn und übersteigerten Willen zu brechen. Die Frau ist ein untergeordnetes Wesen, das ihre Bestimmung in der ihr dargebotenen Form akzeptiert hat. So fiebern bereits junge Mädchen ihrem Schicksal als Ehefrau entgegen und auch Witwen definieren sich über das gewesene Leben als Ehefrau. Die Ehe wird von den Eltern vorgegeben und unterliegt im Wesentlichen dem Werben des jungen Bräutigams, sowie der Entscheidung des Vaters. So ist die Frau von Geburt an dem Mann untergeordnet und geprägt von Abhängigkeiten, die sich im Laufe ihres Lebens immer mehr vergrößern und verfestigen.[4]
Heinrich von Kleist schrieb im Mai 1799 einen Brief an seine kleine Schwester Ulrike, deren eigenwilliger Lebensplan zum damaligen Zeitpunkt keine Ehe, sondern das Reisen vorsah, sie könne sich ihrer höchsten Bestimmung und ihrer heiligen Pflicht zu heiraten und Kinder zu bekommen nicht entziehen. Im Weiteren verweist Kleist darauf, dass sie sich nicht dem allgemeinen Schicksal ihres Geschlechtes entziehen kann. Die Frau nimmt nun einmal die zweite Stelle in der Reihe der Wesen ein.[5] Kleist erinnert seine Schwester eindringlich an ihre gesellschaftlich vorgesehene Bestimmung, als einzige Möglichkeit der Lebensplanung einer Frau. Die Frau verläßt das Elternhaus um zu heiraten, nicht um sich selbst auf Reisen zu verschwenden.
Johann Gottlieb Fichte verfasste um 1780 einen Text vom Selbstdenken und Selbsturteilen, dass es Frauen nichts schade „einige Wißenschaften zu treiben“, um am Gespräch der Männer Anteil nehmen zu können, Menschenkenntnis zu erlangen um richtiger und liebevoller urteilen zu können.[6]
Während es als unnatürlich gilt nicht zu heiraten, leben unverheiratete Frauen im ständigen Zwiespalt zwischen Ausgrenzung und Selbständigkeit. So schrieb Jean Paul 1792 an Helene Köhler über das unerfüllte Alter der Ledigen, die Ledige habe weder Freunde noch Freundinnen, sie erziehe Kanarienvögel statt Kinder und anstatt eines Mannes bliebe ihr nichts weiter als die Schoßkatze. Sie verzehre sich in Langeweile und Hass sich selbst gegenüber.[7]
So klingt es nach Erlösung der Frau, wenn Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher 1798 ein Glaubensbekenntnis für Frauen schrieb:
1. „Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und der Weiblichkeit annahm.
2. Ich glaube, daß ich nicht lebe, um zu gehorchen oder um mich zu zerstreuen, sondern um zu seyn und zu werden; und ich glaube an die Macht des Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen wieder zu nähern, mich aus den Fesseln der Mißbildung zu erlösen, und mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen.
3. Ich glaube an Begeisterung und Tugend, an die Würde der Kunst und den Reiz der Wissenschaft, an Freundschaft der Männer und Liebe zum Vaterlande, an vergangene Größe und künftige Veredlung.“[8]
Einen Fluchtweg aus der weiblichen Bestimmung als zweites Geschlecht bietet sich vornehmlich den adligen Frauen und Patrizierinnen, ein Leben im Kloster. Dort erhalten die Frauen Bildung und verschreiben ihr Leben dem Glauben und der Gemeinschaft. Steht in adligen Familien keine standesgemäße Heirat für die Tochter in Aussicht oder es kann keine entsprechende Mitgift von den Eltern mitgegeben werden, ist das Kloster die Anlaufstelle für ein Leben außerhalb der gesellschaftlichen Normen. Klöster dienen ebenfalls als Ausbildungsstätten der adligen Töchter, meist im Alter von zehn bis zwölf Jahren, werden sie einem Kloster übergeben, um sie auf das Leben innerhalb der Ehe vorzubereiten. Kurz vor der arrangierten Heirat werden sie dann nach Hause geholt, um sie mit der Heirat ihrem Ehemann zuzuführen.[9]
Die Liebesehe gehört nicht zum Gesellschaftsbild der damaligen Zeit, ebenso wenig, wie die Entscheidung der Tochter gegen den Willen des Vaters, obwohl die Literatur erste Texte dazu anbietet, darunter auch Kleists, zur damaligen Zeit, skandalöse Novelle der Marquise von O.[10]
[...]
[1] Breuer, Ingo (Hrsg.): Kleist Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2009, S. 114
[2] Breuer, Kleist Handbuch, S. 114-115
[3] Kosenina, Alexander: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen, S. 8-9
[4] Dülmen van, Andrea: Frauenleben im 18. Jahrhundert. München: C. H. Beck 1992, S. 21-34
[5] Sembdner, Helmut: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke und Briefe. München: Deutscher Taschenbuchverlag 2001, 2. Bd., S. 492-493
[6] Dülmen van, Frauenleben im 18. Jahrhundert, S. 134-135
[7] Dülmen van, Frauenleben im 18. Jahrhundert, S. 314-315
[8] Dülmen van, Frauenleben im 18. Jahrhundert, S. 403
[9] Becker-Cantarino, Barbara: Der lange Weg zur Mündigkeit. Frau und Literatur (1500-1800). Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 1987, S. 67-147
[10] Kosenina: Literarische Anthropologie., S. 115-129
- Arbeit zitieren
- Silvia Schmitz-Görtler (Autor:in), 2009, Das anthropologische Frauenbild in Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/149414
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