"Kindesmisshandlung" im Spiegel der bürgerlichen Gesellschaft

Entwicklungslinien der Eltern-Kind-Beziehung


Zwischenprüfungsarbeit, 2009

37 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung

1) Voraussetzungen für die Entstehung der (früh-)bürgerlichen Familie

2) Der Begriff der Kindesmisshandlung
2.1) Eingrenzende Definitionen

3) Historische Entwicklungen
3.1) Vom „ganzen Haus“ zur bürgerlichen Kernfamilie
3.1.1) Familie: Produktions- und Lebensgemeinschaft
3.1.2) Die Rolle der Frau bei der Familienbildung

4) Erziehung im Bürgertum
4.1) Zentrale Merkmale (früh-)bürgerlicher Erziehung
4.2) Fallbeispiele (Kurzanalysen)
4.2.1) Fallbeispiel I: Kälte und Hunger - Elizabeth Grant, Memoirs of a Highland Lady
4.2.2) Fallbeispiel II: Seelenmord - Der Fall Schreber
4.2.3) Fallbeispiel III: Tödliche Korrektheit, unterdrückte Sexualität - Fritz Zorn, Mars

5) Von der bürgerlichen Kernfamilie zu alternativen Familienformen der Moderne
5.1) Erhöhte Trennungsbereitschaft
5.2) Der Vater als Alleinversorger stirbt aus
5.3) Die Vermischung von privatem und öffentlichem Lebensbereich
5.4) Die Stellung des Kindes innerhalb moderner Familienformen
5.4.1) Die Stellung des Kindes in der „stabilen“ bürgerlichen Kernfamilie
5.4.2) Die Stellung des Kindes innerhalb der Stieffamilie
5.4.3) Die Stellung des Kindes bei einem alleinerziehenden Elternteil (Ein-Eltern-Familie)

6) Zusammenhänge zwischen der Auflösung der bürgerlichen Familie und der Misshandlung von Kindern
6.1) Zur Häufigkeit von Misshandlung in der Bundesrepublik Deutschland
6.2) Allgemeine Gründe und Risikofaktoren für Misshandlung in modernen Familienformen
6.3) Kinderstimmen zu Gewalt in der Familie und ihre Erklärungen der Gründe und Folgen

Schlussbemerkung

Literaturverzeichnis

Internetquellen

Einleitung

Das 18. Jahrhundert wird gemeinhin auch als das 'pädagogische Jahrhundert' bezeichnet. Studiert man geschichtliche Texte und Quellen, werden die Gründe für diese Bezeichnung deutlich, von denen hier einige grob zusammengefasst werden sollen. Der Rationalismus, der bereits im Barock hervortritt, erreicht im Zeitalter der Aufklärung seinen vorläufigen Höhepunkt: der Mensch wird als Individuum wahrgenommen, wenn auch noch nicht als 'Individualität'. Die Gleichheit und Freiheit des Menschen rückt in den Vordergrund, durch das Vertrauen in die Ratio soll der Mensch befreit werden von Absolutismus und kirchlicher Autorität.1 „Der zentralistische Machtstaat des Barockzeitalters,(...) wird in der Aufklärungsepoche allmählich zum Wohlfahrts- und Rechtsstaat.“2 In Folge von politischen und wirtschaftlichen Wandlungen werden auch die Standesschranken gelockert, so dass eine weltbürgerliche Einstellung entstehen kann, das heißt, Hof und Adel verlieren an Bedeutung, das Bürgertum rückt an ihre Stelle im politischen wie sozialen Bereich. Das 18. Jahrhundert ist geprägt von Vernunftgläubigkeit und Autoritätsfeindlichkeit. Neue Freiheiten entstehen, auf dem Gebiet der Religion ebenso wie auf dem Gebiet des Denkens.

Durch eine solche Skizzierung entsteht leicht der Eindruck, das pädagogische Jahrhundert sei eine Epoche voll Freiheit und Glanz, als sei mit dem Licht der Aufklärung alles Übel der Unterdrückung von der Menschheit abgefallen. Doch dieses Bild wäre einseitig. Die Zeit der Aufklärung, die Zeit des Bürgertums als treibende Kraft, hat ebenso ihre Schattenseiten wie jedes andere Zeitalter auch. Die dunklen Flecken in der Erziehung der nachwachsenden Generation sind nicht plötzlich mit dem Beginn einer neuen Epoche ausradiert.

Um diese dunklen Flecken soll es in der vorliegenden Arbeit gehen, genauer um jenen einen, den wir in der heutigen Terminologie als Kindesmisshandlung bezeichnen. Hier soll es vor allem um die Misshandlung im Milieu der bürgerlichen Familie gehen. Dafür ist es zunächst notwendig, einen historischen Abriss über die Entwicklung des bürgerlichen Familienlebens zu geben, ebenso wie seine Merkmale sowie die typischen Merkmale der (früh-)bürgerlichen Erziehung zu nennen. Nur so kann vermieden werden, alle im vergangenen 18./19. Jahrhundert gängigen Erziehungspraktiken aus heutiger Sicht und mit heutigen Maßstäben zu messen und somit quasi von vornherein als Misshandlung zu kategorisieren.

1) Voraussetzungen für die Entstehung der (früh-)bürgerlichen Familie Praktische Grundlage zur Entwicklung der bürgerlichen Familie war die Entfaltung der bürgerlichen Stadtkultur überhaupt. Auf dem städtischen Markt entwickelt sich das Phänomen der Arbeitsteilung sowie eine soziale Distanzierung. Auf dem Markt begegnen sich die Menschen als Käufer und Verkäufer, die private Persönlichkeit tritt gegenüber der Erscheinung als Geschäftspartner in den Hintergrund.3 Das bedeutet einerseits Entlastung und Freiheit, denn was hinter der verschlossenen Haustür geschieht, ist zur reinen Privatsache geworden. Es wird nur noch das repräsentiert, was der Bürger selbst öffentlich zeigen möchte. Christian Graf VON KROCKOW beschreibt diesen Umstand folgendermaßen:

„Rings um den Markt oder an den Hauptstraßen, die in ihm münden, stehen die Häuser der führenden Bürger, der Handelsherren. Ihre kunstvoll aufwendigen Fassaden zeigen den Willen zur Repräsentation; sie kehren sich der Öffentlichkeit zu. Damit distanzieren und verbergen sie aber zugleich; es entsteht ein "Dahinter" der familiären und individuell gestalteten Privatheit.“4

Um das, was in diesem 'Dahinter', wie von Krockow es nennt, geschieht, soll es im Folgenden gehen. Denn die neu gewonnene Freiheit und Privatheit bedeutet auch Gefährdung und Zerbrechlichkeit. Der Einzelne weiß allmählich um sein Auf-sich-selbst- gestellt-Sein; er ist nicht mehr nur Teil eines größeren Ganzen, auf das er sich stützen und verlassen kann. Der Preis für Freiheit und beginnende Individualität ist die Entwicklung von Selbst-Bewusstsein und Eigenständigkeit.

Wie wurde nun in dieser sich neu ordnenden Gesellschaft, unter dieser neu geformten Selbstwahrnehmung und -darstellung erzogen? Wie schon erwähnt, soll hier besonderes Augenmerk auf die Schattenseiten der neu entstehenden bürgerlichen Erziehung geworfen werden. Sind Freiheit und Individualität als Erziehungsziele aus den zu Rate gezogenen Berichten und Texten herauszulesen? Oder ist die Unsicherheit, die als Beiwerk dieser ganzen Entwicklung auftritt, so groß, dass Eltern ihre Kinder weiterhin unterdrücken, misshandeln und missbrauchen; sei es nun gezielt oder unbeabsichtigt, weil sie es nicht besser wissen und können?

2) Der Begriff der Kindesmisshandlung

Um beurteilen zu können, ob die Handlungen und Vorkommnisse in den später folgenden Fallbeschreibungen auch aus der historisch kontextualen Perspektive als Kindesmisshandlung zu werten sind, ist es zunächst notwendig, einige Definitionen des Begriffes 'Kindesmisshandlung' anzuführen. Wieso einige , wieso nicht eine Definition?

Vom Begriff der Kindesmisshandlung gibt es keine einheitliche, absolut gültige Definition. Dies liegt zum einen daran, dass die begriffliche Fassung des Phänomens Kindesmisshandlung eine Historizität hat. Das heißt, dieser Begriff ist geschichtlichen Wandlungen unterworfen. Zum anderen hat der Begriff der Kindesmisshandlung auch immer eine Kontextualität. Das bedeutet, er ist stets vor dem Hintergrund geltender gesellschaftlicher Werte und Konventionen zu sehen. Außerdem ist der Bedeutungsinhalt, mit dem der Begriff der Kindesmisshandlung gefüllt wird, abhängig vom erkenntnistheoretischen Interesse des mit diesem Begriff Arbeitenden. Dies hat unter anderem SOMMER in seiner Habilitationsschrift Zum Bedeutungswandel von Gewalt gegen Kinder herausgearbeitet.5

2.1) Eingrenzende Definitionen

Darum ist es auch in der vorliegenden Arbeit von großer Wichtigkeit, zunächst einmal das Bedeutungsfeld abzustecken, in welches der Begriff der Kindesmisshandlung hier eingeordnet wird.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) definiert den Umstand der Misshandlung von Kindern wie folgt:

„Unter physischer (körperlicher) Kindesmisshandlung können alle Handlungen von Eltern oder anderen Bezugspersonen verstanden werden, die durch Anwendung von körperlichem Zwang bzw. Gewalt für einen einsichtigen Dritten vorhersehbar zu erheblichen physischen oder psychischen Beeinträchtigungen des Kindes und seiner Entwicklung führen oder vorhersehbar ein großes Risiko solcher Folgen bergen.“6

„Psychische Misshandlung kann beschrieben werden als wiederholte Verhaltensmuster der Betreuungsperson oder Muster extremer Vorfälle, die Kindern zu verstehen geben, sie seien wertlos, voller Fehler, ungeliebt, ungewollt, sehr in Gefahr oder nur dazu nütze, die Bedürfnisse eines anderen Menschen zu erfüllen.“7

AMELANG und KRÜGER geben in ihrem Buch Misshandlung von Kindern - Gewalt in einem sensiblen Bereich eingrenzende Definitionen von Kindesmisshandlung.8 Sie legen ihren Definitionen verschiedene Rahmentheorien zugrunde, unter anderem von Zimrin (1984), der zwischen Misshandlung und Vernachlässigung unterscheidet. Auch Amelang/Krüger sind sich darüber einig, dass es keine absolute Definition des Begriffes 'Kindesmisshandlung' gibt: „Welche Verhaltensweisen letztendlich in die genannten Kategorien fallen, sei abhängig von den in einer Gesellschaft vorherrschenden Werturteilen und Standards, ebenso wie von wissenschaftlichen Erkenntnissen in diesem Verhaltens- und Erlebensbereich.“9

Weiterhin sagen sie: „Aufgrund der (im 19. Jahrhundert, Anm. von mir) vorherrschenden Wertesysteme habe man viele Erziehungspraktiken eingesetzt, die wir heute als Misshandlung etikettieren.“10

Amelang/Krüger verwenden den Begriff Kindesmisshandlung als übergeordneten Begriff für körperliche Misshandlung, sexuellen Missbrauch, psychische Misshandlung und Vernachlässigung. Diese untergeordneten Begriffe sind zugleich als die 'Kategorien' zu sehen, von welchen im ersten Zitat die Rede war.

Aus sämtlichen für die hier vorliegende Arbeit verwendeten Schriften, die sich konkret mit der Definition bzw. Eingrenzung der Begrifflichkeit von Kindesmisshandlung befassen, lassen sich folgende zentralen Punkte zusammentragen:

(1) Der Begriff der Kindesmisshandlung ist weder statisch noch ahistorisch.
(2) Welche Handlungen als Miss-handlungen betrachtet werden, ist abhängig von politischen, sozialen und ökonomischen Kontexten sowie den darin verankerten (aber ebenfalls wandelbaren) Wertesystemen.
(3) Monokausale Erklärungsansätze werden der Komplexität des Problems nicht gerecht.
(4) Psychische und physische Misshandlung lassen sich zur Vereinfachung der theoretischen Arbeit auftrennen, sind in der lebensweltlichen Realität aber immer, zumindest in eine Richtung, miteinander verschränkt, das heißt, es gibt keine physische Gewalteinwirkung, die nicht auch psychische Folgen nach sich zieht. Die Schwierigkeit beim Erfassen der psychischen Misshandlung besteht allerdings darin, dass diese in bloßer Form, also ohne Verbindung mit physischer Misshandlung, keine sichtbaren und somit, wenn überhaupt, nur mittelbar diagnostizierbare 'Folgeschäden' aufweist. Es ist noch zu bemerken, dass in den Fallbeispielen der vorliegenden Arbeit einmalige, schwere Misshandlungen außen vor gelassen werden, ebenso wie häufiger auftretende, leichtere Formen der Misshandlung (z.B. ab und an ein Klaps auf den Po). Diese Arbeit konzentriert sich also auf kontinuierlich erfolgende, als schwerwiegend einzuordnende Misshandlungsfälle.

3) Historische Entwicklungen

Allein auf seine Existenz bezogen, ist das Phänomen der Kindesmisshandlung kein neuzeitliches. SOMMER führt in seiner Schrift aus, es sei eine 'grundlegende Erkenntnis' geworden, dass die Geschichte der Kindheit eng verbunden sei mit der Geschichte von Gewalt an Kindern.11 Überspitzt könnte man sagen, wo immer erzogen wurde und wird, wurde und wird auch immer in gewisser Form misshandelt.

3.1) Vom „ganzen Haus“ zur bürgerlichen Kernfamilie

Die Historizität von Kindesmisshandlung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der geschichtlichen Entwicklung der bürgerlichen Familie. Erich LANGENDORF hat in seiner Dissertation Zur Entstehung des bürgerlichen Familiengl ücks diese Entwicklung differenziert nachgezeichnet und anhand literarischer Beispieltexte zu belegen versucht.12 Einige der Punkte, die er herausgearbeitet hat, sollen hier zunächst nur angeschnitten werden und im Laufe der Darlegung dreier Fallbeispiele von Kindesmisshandlung in bürgerlichen Familienkonstellationen genauer erläutert werden. Langendorf erörtert zu Beginn seiner Arbeit den Begriff der Familie. Er selbst setzt das moderne Verständnis von 'Familie' zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert an.

3.1.1) Familie: Produktions- und Lebensgemeinschaft

Die 'ursprüngliche' Familie, wie sie zur Zeit des Mittelalters und vermutlich sogar davor angesetzt werden kann (ohne dass das Wort 'Familie' explizit Gebrauch fand) war eine Herrschafts- und Wirtschaftsform, die der Produktion ökonomischer Güter und der Reproduktion des eigenen Geschlechts dienlich war. Familie umfasste also mehr als die heutige Kernfamilie in der Konstellation Vater - Mutter - Kind(er), sie schloss das Hausgesinde mit ein. Die heutige Kernfamilie bildete also „nur eine Untergruppe mit der zusätzlichen Funktion der generativen Reproduktion.“13 Diese Familienform wird bei Langendorf auch das „ganze Haus“ genannt, da sie tatsächlich das ganze Haus miteinschloss.

Langendorf setzt die allmähliche Entstehung der heute als Familie bezeichneten Gruppierung zur Zeit des Patriziats an. Dies hat mehrere Gründe. Zunächst ist zu erwähnen, dass aufgrund der Akkumulation von Kapital innerhalb der Patrizierfamilien die Kluft zwischen Hausherren und Angestellten größer wird: wo zuvor noch gemeinsam gearbeitet wurde, um den Lebensunterhalt für das „ganze Haus“ zu verdienen, trennt sich die Seite der Kapitalinhaber von der Seite des Hausgesindes, das von den Hausherren für seine Arbeit entlohnt wird. Außerdem sind die Kaufleute, die das Patriziat in der Hauptsache ausmachen, häufig auf geschäftlichen Reisen und arbeiten eher nicht Zuhause, was bedeutet dass eine erste, zarte Trennung von Berufs- und Privatleben stattfindet.

3.1.2) Die Rolle der Frau bei der Familienbildung

Besonderes Augenmerk legt Langendorf in seinen Ausführungen auf die Patrizierfrau, die zu einem „Luxusgeschöpf“ avanciert, da sie keinen direkten wirtschaftlichen Beitrag zum Familienleben leisten muss (abgesehen vielleicht von ihrer Mitgift).

Negativ betrachtet ist die Patrizierfrau damit ihrem Mann offiziell bedingungslos unterworfen. Positiv gesehen allerdings entsteht ihr durch die Entbindung von ökonomischer Verantwortung ein Freiraum, den sie nun neu füllen darf und sogar muss: der Freiraum für die emotionale Entwicklung ihres Selbst und somit zur Entwicklung der Fähigkeit sozial-emotionaler Bindung an ihren Mann und später auch an ihre Kinder. Mit der, vor allem durch Luther stark beeinflussten, Wende von 'Familie' als reiner (Re-) Produktionsgemeinschaft, die zur Überlebenssicherung gegründet wurde hin zur Ehe als einer institutionalisierten Form der Erhaltung von Sittlichkeit, wird auch allmählich eine neue Moral verinnerlicht, die zuvor bloß von außen (vornehmlich von Kirche und Herrschaftsstaat) übergestülpt worden war.

Die vom Mittelalter her noch äußerst lose Sexualmoral wird dahingehend verschärft, dass die Ehe zum einzigen Ort legitimer Sexualhandlungen erhoben wird. Uneheliche Kinder werden dementsprechend von der umgebenden Gesellschaft geächtet. Gleichzeitig wird die Endogamieforderung aufgeweicht, so dass Heirat nun auch ständeübergreifend möglich wird. Dies bedeutet einerseits Freiheit und Individuierung in dem Sinne, dass die Partnerwahl selbst vollzogen werden darf statt wie bisher vom Familienoberhaupt festgelegt zu werden. Auf der anderen Seite bedeutet dieser Wandel, dass Jungfernschaft über ein bestimmtes Alter hinaus als persönliches Versagen gewertet wird. Außerdem bleibt den Frauen lediglich ein passives Partnerwahlrecht, das heißt, sie müssen sich nun den Männern stumm präsentieren und 'wählen' den Mann, indem sie sich so kleiden und benehmen, dass sie möglichst exakt seinen Wünschen und Vorstellungen von der perfekten Partnerin entsprechen.14

Die Frau hat also trotz bzw. gerade wegen der gewonnen Freiheiten eine eher passive Rolle in der Ehe und eine weiterhin zugeschriebene Rolle im Familienleben, indem sie, solange noch kinderlos, nur über ihren Mann definiert wird. Auf diesen Umstand hat auch BADINTER hingewiesen, indem sie die Frau in eine Dreieckskonstellation einbettet. In der Zeit des Bürgertums stand die Frau als Mutter als relative und dreidimensionale Persönlichkeit innerhalb der mittlerweile entstandenen, 'modernen' Kernfamilie. 'Mutter' wird hier definiert als eine verheiratete Frau, die eheliche Kinder hat.15 Dies bedeutet, die Frau ist einmal einfach Frau, zugleich aber viel mehr Ehefrau und Mutter. Badinter arbeitet in ihrem Buch die These aus, dass Mutterliebe kein Naturinstinkt sei, sondern ein durch kulturelle und gesellschaftliche Wandlungen entstandenes und sich potenziell veränderndes Gefühl: „Je nachdem, ob die Gesellschaft die Mutterschaft aufwertet oder abwertet, wird die Frau eine mehr oder weniger gute Mutter sein.“16

Diese von der Gesellschaft vollzogene Auf- bzw. Abwertung der Mutterrolle wirkt sich mittelbar auf die Kinder aus, indem eben die Mütter ihre Kinder mehr oder minder gut und mit mehr oder weniger Liebe behandeln und umsorgen, je nachdem ob sie sich als Mütter wertgeschätzt oder verachtet und ausgeschlossen fühlen. Fühlt die Frau sich als Mutter missachtet, wird sie alles dafür tun, um keine Mutter (mehr) zu sein und wird in der Regel ihr Kind weggeben, im schlimmsten Falle sogar töten; denn die bürgerliche Kernfamilie ist noch immer um den Vater als Haupternährer und Meinungsgeber organisiert und erst allmählich rückt das Kind in das Zentrum der familiären Bemühungen und Fürsorge.

Bisher wurden also in der Hauptsache zwei wesentliche Gründe für Verhaltensweisen gegenüber Kindern genannt, die wir aus heutiger Sicht als Misshandlung bezeichnen würden:

(1) rein affektiv-emotionale Handlungen gegenüber anderen Mitgliedern des „ganzen Hauses“, da in den meisten Häusern / 'Familien' keine arbeitsfreien (Zeit-)Räume vorhanden waren, die aber nötig sind, um eine differenzierte, reflektierte Emotionalität bzw. Empathie ausbilden zu können,

(2) keine Anerkennung des Mutterseins durch die Gesellschaft, daher keine Bemühungen um das eigene Kind.

Weitere Gründe für aus heutiger Perspektive als schädigende Akte gegenüber Kindern gesehene Handlungen lassen sich bei DE MAUSE herauslesen. De Mause führt an, dass bei den Eltern der damaligen Zeit keine Schuldgefühle existierten hätten, da ein Kind nicht als 'Mensch für sich' gesehen wurde, sondern die Eltern überwiegend ihre Ängste, Sorgen und Bedürfnisse auf das Kind projiziert hätten. Außerdem wurde jedes Kind als 'von Natur her' von Grund auf als schlecht betrachtet, mit der Erbsünde belastet, von der es sich erst mittels Entwicklung eines gesunden Geistes befreien könne. Aus diesem

Grund mussten die Eltern jegliche Sündhaftigkeit und Schlechtigkeit des Kindes unterbinden, bis das Kind in der Lage sein würde, sich seinen eigenen inneren Kontrollmechanismen zu unterwerfen.17

4) Erziehung im Bürgertum

4.1) Zentrale Merkmale (früh-)bürgerlicher Erziehung

18 Eine der wohl üblichsten Praktiken früherer Kindererziehung war das ständige Kontrollieren des Kindes durch Erwachsene und ältere Kinder (heute würde man sagen Jugendliche), da man davon ausging, das Kind habe noch keine eigenen inneren Kontrollmechanismen und müsse deswegen vollständig von außen kontrolliert werden.

Die Erwachsenen versuchten, durch diverse Mittel Körper und Geist des Kindes gleichermaßen zu beherrschen. Unter anderem geschah dies durch Aushorchen bzw.

'Prüfen' des Kindes, durch das Kontrollieren der körperlichen Vorgänge wie Essen, Ausscheiden, Schlafen, sowie durch das Angst einflößen mittels Gespenstergeschichten und Konfrontation mit dem Tod. Nach de Mause sind solche heute rüde oder gar manchmal brutal anmutenden Erziehungspraktiken Ergebnisse von elterlichen Projektionen bzw. Umkehrreaktionen auf ihre Kinder, die es schwer machen von Schuld zu sprechen: „Was den Eltern in der Vergangenheit fehlte, war nicht Liebe, sondern eher die emotionale Reife, die nötig ist, um das Kind als eine eigenständige Person anzuerkennen.“19

Weitere zeitgemäße Maßnahmen der Kindererziehung waren die Abhärtung des Kindes durch das Baden in kaltem Wasser, unzureichende Bekleidung und bewusste Mangelernährung.20 Außerdem war das Schlagen von Kindern eine übliche, weit verbreitete Praxis, deren Abbau sich über mehrere Zwischenstufen vollzog, während derer 'sanfter' geschlagen wurde. Dieser Punkt ist besonders wichtig im Hinblick auf die Feststellung von Misshandlungsdelikten. Denn wenn das Maß für die Normalität der Durchschnitt darstellt, der zu einer bestimmten Zeit und/oder in einem bestimmten Gebiet gegeben war, so ist das Prügeln mit dem Stock keine Misshandlung, wenn nahezu alle Kinder zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gegend mit Stöcken geprügelt werden; jedoch ist das Prügeln mit dem Stock als Misshandlung dann anzusehen, wenn der Großteil der Kinder 'nur noch' sanft mit der Rute geschlagen wird. Um dies zu verstehen und einsehen zu können, ist es zunächst notwendig, sich von der modernen Vorstellung frei zu machen, dass jede Art gewaltsamer körperlicher Übergriffe auf ein Kind oder einen anderen wehrlosen Menschen eine Straftat darstellt. Außerdem ist es wichtig zu erwähnen, dass innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder in den seltensten Fällen reiner Selbstzweck ist, also aus Freude an gewalttätigen Handlungen geschieht, sondern vielmehr eine Wirkung beabsichtigt wird, wenn die Motive vielleicht auch nicht unmittelbar einzusehen sind. Doch widerspricht eine Erziehungsabsicht hinter einem Gewaltakt nicht dem Misshandlungsbegriff? Nicht unbedingt, denn auch wenn dem Kind nicht bewusst Schaden zugefügt werden soll, ist es dennoch eine das Kind definitiv schädigende Fehlhandlung (also eine Miss-handlung). Der Umstand, dass manche, vermutlich sogar die meisten Gewalthandlungen der Erziehung des Kindes dienen soll(t)en21, macht es lediglich schwerer, von Schuld zu sprechen, ändert aber nichts an der Kategorisierung.

Da für das 18./19. Jahrhundert ein starker Rückgang des Schlagens von Kindern zu verzeichnen ist, wurden Ersatzhandlungen notwendig, um das Kind bei Ungehorsam bestrafen zu können. Die beiden meistverbreiteten Handlungen waren hier das Einsperren des Kindes im Dunkeln sowie der Entzug von Nahrung22

Diese beiden Bestrafungsformen gibt es heute noch in abgeschwächter Form: Stubenarrest bzw. Hausarrest und das Verweigern des Desserts nach dem Essen. Zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert setzte sich zwar allmählich die Vorstellung vom Kind als unschuldigem Wesen durch, was aber den bitteren Beigeschmack der extremen Tabuisierung von Sexualität mit sich brachte.23 Kinder wurden schwer bestraft, wenn sie sich selbst berührten oder es wurden ihnen die Hände festgebunden, um überhaupt eine Berührung von vornherein zu vermeiden. Ärzte begannen Mythen von körperlichen und psychischen Schädigungen als Folge von Masturbation zu verbreiten. Als schlimmste Bestrafungsmaßnahmen können jedoch die unterschiedlichen Beschneidungsformen

(Beschneidung, Infibulation, Klitoridektomie) gesehen werden, die vorbeugend oder nach Erkennen eines 'Masturbationsfalles' an vielen Kindern und Jugendlichen noch bis in das 20. Jahrhundert hinein vollzogen wurden.24

4.2) Fallbeispiele (Kurzanalysen)

Im Folgenden sollen drei Fallbeispiele aus dem bürgerlichen Milieu dargestellt werden, anhand derer nochmals grundlegende wie auch detailliertere Merkmale bürgerlicher Erziehung gezeigt werden sollen, wobei allerdings zu beachten ist, dass nicht jede der vorkommenden Erziehungspraktiken unbedingt als allgemeingültig bezeichnet werden kann. Weiterhin sollen aus den Beispielen diejenigen Praktiken herausgelöst werden, die heutzutage als Kindesmisshandlung etikettiert werden würden und es soll beurteilt werden, ob diese Handlungen aus historischer Sicht lediglich gängige Erziehungspraktiken oder tatsächliche Misshandlungsformen sind. In einem letzten Schritt soll versucht werden, eine Brücke zu schlagen in die Moderne bzw. in die Zukunft der bürgerlichen Familie, indem die vorliegende Arbeit sich in Anlehnung an GIESECKE die Frage stellt: Ist die bürgerliche Familie am Ende?25

4.2.1) Fallbeispiel I: Kälte und Hunger - Elizabeth Grant, Memoirs of a Highland Lady Begründung der Textwahl

Elizabeth Grant ist bekannt als Mitglied einer englischen Adelsfamilie. Dennoch schien es aus mehreren Gründen gerechtfertigt, ihre Biografie26 hier ansatzweise aufzunehmen.

[...]


1 vgl. v.a. Reble 1975

2 ebenda, S.130

3 vgl. hierzu Giesecke (Hrsg.) 1977

4 ebenda, S. 14

5 vgl. Sommer 1996

6 Kindler 2006, zitiert nach www.bmfsfj.de, aufgerufen am 09. Juli 2009, 10:55 Uhr

7 APSAC 1995, zitiert nach www.bmfsfj.de, aufgerufen am 09. Juli 2009, 10:55 Uhr

8 Amelang/Krüger 1995

9 ebenda, S. 8

10 ebenda, S. 14

11 Sommer 1996, S. 14

12 Langendorf 1986

13 ebenda, S. 13

14 vgl. Langendorf 1986, bes. Kapitel 2.2.4

15 vgl. Badinter 1980

16 ebenda, S. 13

17 vgl. de Mause 1974

18 Die hier beschriebenen Merkmale (früh-) bürgerlicher Erziehung sind hauptsächlich aus der Arbeit von de Mause (1974) entnommen, decken sich aber in vielen Punkten mit den Arbeiten von Langendorf (1986), Badinter (1980) und zum Teil auch mit Ausarbeitungen von Ariès. (1977)

19 de Mause 1974, S. 35

20 vgl. Robertson: Das Heim als Nest, in: de Mause 1974

21 sexueller Missbrauch wird hier ausgeklammert, da es hier um das Verhältnis Erziehungsmaßnahme - Misshandlung gehen soll

22 vgl. ebenfalls Robertson und de Mause 1974

23 vgl. Ariès 1977, besonders Kapitel 5 Von der Schamlosigkeit zur Unschuld

24 vgl. de Mause 1974

25 Dies ist eine Abwandlung der titelgebenden Frage von Gieseckes Buch Ist die bürgerliche Erziehung am Ende ?, 1977

26 Elizabeth Grant: Memoirs of a Highland Lady, London 1911

Ende der Leseprobe aus 37 Seiten

Details

Titel
"Kindesmisshandlung" im Spiegel der bürgerlichen Gesellschaft
Untertitel
Entwicklungslinien der Eltern-Kind-Beziehung
Hochschule
Technische Universität Darmstadt  (Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
37
Katalognummer
V152333
ISBN (eBook)
9783640641871
ISBN (Buch)
9783640642366
Dateigröße
592 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Bürgertum, Kernfamilie, Stieffamilie, Misshandlung, Erziehung, Zorn, Elizabeth Grant, Schreber, Gewalt, BKA-Statistik, Fallbeispiele, Kindermädchen
Arbeit zitieren
Jasmin Frank (Autor:in), 2009, "Kindesmisshandlung" im Spiegel der bürgerlichen Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/152333

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