Kormlenie oder Korruption

Die Reformen Peters des Großen im Lichte moderner Korruptionsforschung


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

16 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Reformen

3. Fiskale, Revisoren und Prokurore

4. Historische Korruptionsskandale

5. Abschließende Beurteilung und Definition von Korruption

Literaturliste

Monographien

Sammelbände

1. Einleitung

Die moderne Korruptionsforschung ist keine exakte Wissenschaft.[1] Bis dato gibt es auch keine allgemeingültige Definition des Phänomens Korruption. Im juristischen Sinne gilt sie als Ausnutzung einer Machtposition zum eigenen Vorteil, moralisch erscheint sie als Verletzung von übertragenen Pflichten, kommunikativ als soziale Interaktion zum gegenseitigen Vorteil, ökonomisch als Verhältnis von Klient, Agent und Prinzipal. Wegen dieser definitorischen Unschärfe ist es nicht erstaunlich, dass die historischen Wissenschaften nur rhapsodisch "Korruption" als Arbeitsbegriff mit Klärungspotential für historische Zusammenhänge verstanden und verwendet haben.[2] Dementsprechend erscheint es sinnvoll, eine spezifische Definition (als räumlich und zeitlich begrenzter Epochenbegriff) zu einem historischen Gegenstand zu formulieren, eine kontextgebundene Definition, die als Matrix ein Verständnis für die Zeit und die aus ihr hervorgehende fiskale Problematik leisten sollte.

Einhergehend mit diesem definitorischen Versuch soll die Frage nach der Bedeutung von "Korruption" für das Verhältnis von Herrschaft und Macht erörtert werden.

Die beiden Komplexe, Machtausübung und systematische Korruption, spielen für das Verständnis von historischer Wirklichkeit und wohl auch der Gegenwart eine gewisse Rolle. Wenn diese Überlegungen im Lichte moderner Korruptionsforschung gesehen werden, erscheinen Parallelen zwischen dem historischen Gegenstand und "Affären", die wir in unserer Gegenwart beobachten können. Ein Erkenntnisgewinn durch die Untersuchung historischer Zusammenhänge ist hier also nicht ausgeschlossen.

Die geografische Begrenzung des Untersuchungsgegenstandes ist für den Rahmen dieser Darstellung zwar eindeutig zu ausladend, erscheint aber insofern arbeitstauglich, als hier nur eine Tendenz aufgezeigt werden soll.[3]

Im Rahmen der Petrinischen Reform wurde vom Zaren und einem kleinen Stab von Mitarbeitern versucht, die direkte Machtausübung von der zaristischen Zentrale, i.e. Moskau bzw. St. Petersburg, in die russische Peripherie zu optimieren.

In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass Russland im frühen 18.Jhd. ein Land im Wandel ist. Von einer mittelalterlichen Gesellschaft mit ständeähnlichen Strukturen verändert es sich zu einem vormodernen Staat mit westlich/orientalischen Zügen.[4]

In dieser gesellschaftspolitischen Übergangsphase, in der die alten Strukturen obsolet geworden sind und neue Formen der Herrschaft sich noch nicht etabliert und gefestigt haben, in dieser Situation des "Nicht mehr" und zugleich des "Noch nicht" blüht die Korruption, die durch Kriege und den dadurch hervorgerufene Mangel verbreitert und intensiviert wird.

Zeitlich eingegrenzt zwischen "Poltava" und dem Tod Peters des Großen, manifestiert sich in besonderem Maße das Phänomen einer Redefinierung von Korruption. In dieser Zeit nach dem ersten „Großen Vaterländischen Krieg“ beginnt Peter seine Macht zu konsolidieren und seine Reformen mit Gewalt durchzusetzen. In dieser Phase stellt sich das Problem, ob die Herrschaftstechnik des alten Systems, nämlich, die von der Zentrale als ihre Repräsentanten eingesetzten, für den Hof aber untaugliche Bojaren, in die Provinz zu schicken, für die „modernen“ Ansprüche Peters an die Leistungsfähigkeit seiner „neuen Großmacht“ genügen konnte. Die systematische Korruption (Kormlenie)[5] galt bis zu den Reformen nicht als Korruption, sondern als selbstverständliches Mittel die Offiziellen des Staates zu besolden (pochesti).[6] Erst mit der Neustrukturierung der (gubernias) Provinzen und der Einsetzung „neuer“ Offizieller entsteht der Korruptionsvorwurf im modernen Sinne.

Zusammengefasst: Mangel, Systemwandel und Unterqualifikation, gepaart mit unzureichender Besoldung begünstigen Korruption. Kann man aber bei einer traditionellen, systematisch bedingten Bestechung überhaupt von Korruption reden? Oder ist die "systemrelevante" Vorteilsnahme erst durch die Reformen hervorgerufen und mithin eine simple Umettiketierung eines bestehenden Phänomens?

2. Reformen

Die Reformen Peters des Großen in ihrer Gesamtheit darzustellen, soll hier nicht das Ziel sein, denn sie reglementieren nicht nur das Verhältnis Staat und Bürger, sondern gehen so weit, dass auch Vorschriften zur Lebensweise - insbesondere Kleidungsvorschriften- zur Kirche, Ausbildung etc. erlassen wurden. Es soll nur grob auf die einzelnen Erlasse zur Umstrukturierung der Provinzen eingegangen und diese deskriptiv dargestellt werden.

Grundsätzlich lag eine Herrschaftsauffassung in Russland vor, die in ihrer Tradition stark von den Modellen Westeuropas abwich.

The first thing that strikes the observer of traditional Muscovite political culture is the fusion…of church and state…. The Byzantine formula of a “symphony” between church and state, the fundamentally religious basis of Muscovite civilization….[7]

Diese enge Verknüpfung zwischen Kirche und Staat, basierenden auf der Legitimierung durch eine juristisch zwar “fiktive”, tatsächlich jedoch faktische Übernahme der Zentrale der Orthodoxie durch die weltlichen Herrscher - seit dem Fall von Byzanz/Konstantinopel 1452 unter osmanische Herrschaft (drittes Rom)-, machte die Position des „guten Zaren“ unangreifbar und verlangte absoluten Gehorsam. Einen Investiturstreit wie im zentralen Europa des Mittelalters hat es nie gegeben, obwohl de facto eine ständige Verschiebung der Macht zwischen Herrscher, Bojaren und Kirche feststellbar ist. Als Hinweis sei es erlaubt, auf die notwendig erschienenen Reformen und damit die endgültige Beugung der orthodoxen Kirche unter die Knute der Synode, i.e. eine Zeit ohne bestallten Patriarchen, aufmerksam zu machen.[8] Der Konkretisierung von Herrschaft in der Macht scheint dagegen in diesem System, auch aufgrund der mongolischen Technik der Ausübung von Herrschaft und der daraus resultierenden, adaptierten Form im prä-petrinischen Russland, kaum bis gar nicht funktioniert zu haben.

They interfered very little at he lowest local levels…Similarly, the governor of provincial centers, the Voievoda, rarely interfered in the daily routine[9]

Man kann also davon ausgehen, dass es keinen Bedarf, nicht einmal ein Bewusstsein dafür gab, an dem System etwas zu ändern. Solange ein Mindestmaß an Geldern und Gütern aus den Provinzen floss und bei Heeresaufgeboten genügend Leibeigene als Milizionäre erschienen, wurde nicht der Anspruch auf Machtausübung erhoben. Hier setzen die Reformen nach Poltava an. Es erschien nämlich im Zusammenhang mit dem Krieg nicht mehr als ausreichend, auf die „ universal service obligation towards the tsar…[10] zu vertrauen, eine stillschweigende Verpflichtung, die durch den Verrat der ukrainischen Kosaken und die unzureichenden Versorgung der eigenen Truppen mit Viktualien und menschlichem Nachschub unterminiert war. Um eine Machtausübung bis in das sibirische Dorf, auch und insbesondere um den Nachschub der Truppen, sowie Arbeitskräfte für die Manufakturen und die Bauprojekte zu gewährleisten, musste ein Netz aus Substationen der Zentrale geschaffen werden. Die Annahme, Vorbilder aus westlichen Systemen, etwa schwedische, preußische oder dänischen Verwaltungstechniken hätten hier Pate gestanden, ist in der Forschung unumstritten.

Ab dem 30. Januar 1699 kann man bereits die ersten Versuche einer Umstrukturierung feststellen, die mit der Einrichtung einer „ Chamber of Burgomasters (burmisterkaia palata)[11] eingeleitet wurde. Die Reformen sahen den Aufbau von Rathäusern (ratusha) vor, die als lokale Drehpunkte der Machtausübung dienen sollten. Unzureichend blieb das System deshalb, weil es z.B. in Sibirien überhaupt nicht angewandt wurde und im Übrigen die Offiziellen auch weiterhin nicht aus dem Staatshaushalt eine substantielle Zuwendung erhielten, sondern weiterhin auf „Kormlenie“ angewiesen blieben. Als abschließender Faktor muss auch erwähnt werden, dass die Reformen allgemein unter dem fundamentalen Fehler litten, dass die eingesetzten Offiziellen zu keinem Zeitpunkt auf ihre Aufgaben vorbereitet waren. Das bedeutet, dass häufig Menschen eingesetzt wurden, die keinerlei sachgerechte Qualifikation mitbrachten. Nachweisbar -selbst nach der Einrichtung der Provinzverwaltungen (gubernii) 1708- blieben viele „voevody“ auch weiterhin im Amt.

The new „commandants“ at district (uezd) level were often the old voevody renamed[12]

Die inhärenten Probleme, Mangel an qualifizierten Alternativen zu dem traditionellen politischen Personal, das Unverständnis und auch Unvermögen zur Einsicht in die Notwendigkeit einer substantiellen Versorgung der Amtsträger, und auch der Widerstand der einheimischen Bevölkerung (ob nun wissentlich oder aus Verständnismangel) haben nur zu einer in Ansätzen erfolgten Umstrukturierung geführt und sind zu Peters Lebenszeit nicht wirkungsvoll umgesetzt worden. Im Übrigen ist es strittig, ob dies später im zaristischen Russland, während der Sowjetzeit oder gar erst in den letzten zwei Dekaden seit deren Ende je endgültig geschehen ist.

Zu einem ganz ähnlichen Schluss, freilich in der Tiefe viel detaillierter, kommt auch Geoffrey Hosking.[13] Sein Vorschlag, das Kormleniesystem als Patronage-Klientel Verhältnis auszudrücken, worin der Leibeigene kaum eine Möglichkeit hatte, ohne seinen Bojaren in irgend einer Weise eine eigenständige Existenz aufzubauen, erscheint nachvollziehbar.

Patronage is an ongoing hierarchical but to some extent mutual relationship under which a client offers goods, services or support to a patron in return for protection and perhaps promotion of the client's interests or other benefits. It is an informal relationship which contains no element of contract and is unrelated to law as officially understood.”[14]

Insbesondere seine Einschätzung der Gründe für die brutale aber ineffektive Umsetzung von systematischen Reformen unterstreicht die obige Einschätzung, dass der Transfer von Herrschaft in der Peripherie nur selten gelang.

There remained over the centuries an inbuilt tension between the ideology and the reality, which helps to explain the coercion and violence unleashed against their subordinates by autocrats otherwise as different as Ivan IV, Peter I, Paul I and Stalin.[15]

Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass auch nach dem Tod Peters eine Verbesserung der Herrschaftsstrukturen nicht eingetreten ist, sondern dass die Lage im Land, aufgrund der ungeklärten Nachfolge, sich zum Schlechteren wendete. Eine Effektivitätssteigerung durch administrative Entscheidungen, in Bezug auf die Leistungsfähigkeit der Peripherie für die Bedürfnisse der Zentrale, gemessen an westeuropäischen Verhältnissen, ist kaum eingetreten.

Little was done towards bettering the confused condition of the civil laws or their administration, although some modifications were adopted. The corruption encouraged, or at least made possible, by the municipal system introduced by Peter was so rampant….”[16]

3. Fiskale, Revisoren und Prokurore

Die Behandlung des Themas "Peter der Große" bleibt insgesamt gesehen in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft dürftig. Vor allem sind in den letzten Jahrzehnten kaum Publikationen erschienen, und dementsprechend ist auch der Ansatz der meisten Werke schon leicht veraltet. Um aber der ausschließlich angloamerikanischen Literatur wenigstens etwas entgegenzusetzen, werden hier die Begriffe "Fiskale", "Revisoren" und "Prokurore" genutzt, die Erich Donnert in seiner Monografie einsetzt.[17] Sein zwei Seiten Kapitel bietet aber für die Schwerpunktsetzung dieser Arbeit kaum weitere nützliche Erkenntnisse.

Sehr oft gewinnt man den Eindruck, wenn man das Russland des 18 Jahrhunderts im Spiegel der historischen Literatur betrachtet, dass die Reformen Peters in ihrer Wirkung den Staat vom Mittelalter in die Moderne katapultiert hätten.[18] Dennoch trügt dieser Eindruck, denn die Reform der Provinzverwaltung war de facto auch auf den Leitungs-und Kontrollebenen völlig unzureichend.

Es muss bedacht werden, dass bei der Besetzung dieser Stellen ausschließlich auf den überschaubaren Kreis von Vertrauten am Hof zurückgegriffen wurde, sie fungierten quasi als Agenten und Auge des Zaren. Sie konnten aber den realen Ablauf der alltäglichen Geschäfte kaum beeinflussen.

Im April 1722 wurde ein Edikt erlassen, welches die Aufgaben und Pflichten des General-Prokurators formulierte. Dieses Amt wurde hauptsächlich dazu eingerichtet, den 1711 eingesetzten Senat zu kontrollieren. Dieser Senat war nichts anderes als ein ausführendes Gremium[19] für die Erlasse des Zaren und die Aufgabe des General-Prokurators bestand darin,

[To] ensure that senators „on pain of death“got on with their work and refrained from quarrels and bad behaviour[20]

Diese Tätigkeit, die mit der eines obersten Polit-Kommissars zu vergleichen wäre, wurde 1724 um die Oberaufsicht über sämtliche neue Bildungsstätten erweitert. Eine praktische Auswirkung hatte sie allerdings kaum, da das Augenmerk des Zaren selten bis in die Provinz reichte und höchstens noch das direkte Umfeld der Hauptstädte umfasste. Dementsprechend wurden die Erlasse selten in ihrer intendierten Absicht auch umgesetzt, weil auch die Mittel zur modernen Herrschaftsausübung beschränkt waren. Die Versuche, die systembedingte Korruption als strafbares Vergehen zu stigmatisieren und entsprechend zu sanktionieren scheiterte meist in der Peripherie an der geographischen und kommunikativen Distanz zur Zentrale und zum großen Teil auch am Unwillen der lokalen Magistrate oder auch an deren Unverständnis oder ihrer mangelnden Qualifikation. Selbst mit der Einsetzung des bemühten und leidlich qualifizierten Aufsteigers “Pavel Ivanovich Iaguzhinsky“ änderte sich diese Praxis nicht. Es ist festzustellen, dass auch er den Aufgaben nicht gewachsen war im Angesicht von:

„… perfidious and cunning men who will not forsake their own particular interests for the sake of the sovereign’s “.[21]

Als Folge daraus begann auch er, ähnlich wie Menshikov, der Machtfülle und den Selbstbereicherungsmöglichkeiten der zaristischen Herrschaftsstruktur zu erliegen.

Like all newcomers, Iaguzhinsky had to feather his own nest as best as he cold and look to the future by making alliances at court.”[22]

Hierin erkennt man, dass bei genauerer Untersuchung eine breite Kluft zwischen Theorie und Praxis bestand. Bereits die Zentralmacht war nicht ohne persönliche Einfluss-und Vorteilsnahme zu beherrschen, wie sollte dann die korrekte Umsetzung öffentlicher Anliegen in der Peripherie besser gelingen?

Trotz des Gesetzespaketes, welches in der Theorie der Korruption, d.h. dem umdefinierten Kormlenie-Systems Einhalt gebieten sollte, im Sinne des check-and-balances Prinzips, kann man zu keinem Zeitpunkt von einer Erfolgsgeschichte ausgehen. Es blieb somit de facto alles beim Alten.

As long as they [Leibeigene] remained in their villages, there was no attempt to meddle in their dress, customs and lifestyle, or in agricultural practices. “[23]

Erst nachdem auf höchster Ebene Ämter geschaffen wurden, die zum großen Teil auch politisch waren, wurde an eine Ausweitung des Kontrollsystems gedacht. Die bereits oben erwähnte Verklärung der Reformen Peters wird auch durch dieses Beispiel weiter differenziert. Es scheint insgesamt eine Politik des Löcherstopfens gewesen zu sein, die Peter anwandte, um das marode russische Herrschaftssystem zu revolutionieren. Immer dann, wenn ein Erlass nicht umgesetzt wurde wie er beabsichtigt war, wurde nachkorrigiert. Eine ähnliche Politik des Scheiterns von Reformideen muss man aber auch, zugegebenermaßen, in vielen anderen Herrschaftssystemen feststellen und kann selten von einer stringenten Umsetzung von Ideen in die politischen Wirklichkeit ausgehen. Die Einrichtung der "Fiskale" und Einsetzung der "Revisoren" war ein solches Nachsteuern. Mit diesen Werkzeugen wurde in den 1720igern versucht, die bei der Kotrolle identifizierten Probleme im alltäglichen Geschehen zu minimieren.

The provinces were particularly impervious to Peter’s reforming efforts. In October 1723 The inspector of mines Wilhelm Henning sent a memorandum from Siberia:

I am heartily sorry that you have not been here in person and do not know the state of affairs in Siberia in any detail. It’s true, The governor here, Cherkassky, is a good man, but he lacks courage, and has few decent assistants, especially in the local courts and police department. As a result local affairs do not flourish and the people have to bear a heavy burden.[24]

Dieser Zustandsbericht zeigt die Lage auf verschiedenen Ebenen. Einerseits werden die Probleme, welche der Produktion schaden, häufig erfasst. Andererseits ist der von der Zentrale eingesetzte Magistrat, im optimalen Falle, zunächst motiviert, kann aber gegen den lokalen Verwaltungsapparat, der durch Inkompetenz, Unwillen, Unwissenheit und Habgier oder in vielen Fällen durch reine Lebensnotwendigkeiten gekennzeichnet ist, nicht ankommen. Dadurch wird wiederum der Magistrat in seiner Beweglichkeit, d.h. in seinem Willen, die Erlasse durchzusetzen, derart gehemmt, dass er sämtlichen Antrieb verliert. Das zentrale Probleme wird später in diesem Bericht erfasst, nämlich, dass die Besoldung der einzelnen Stellen ausbleibt, nicht vorgesehen ist oder die Zahlungen versickert sind und somit die systembedingte Korruption weiterhin „ alive and well[25] war.

Es ist abschließend festzustellen, dass in der kurzen Zeit, in der das Reformprogramm unter Peter vorwärtsgetrieben wurde, nur bescheidene Ergebnisse erreicht werden konnten. Die Herrschaftsinstrumente waren noch nicht ausgebildet, viele der experimentellen Erlasse scheiterten an der Umsetzung, und der Reform- bzw. Veränderungswille ließ sich auch mit den Mitteln brutaler Methoden nicht in die Köpfe der Menschen transferieren. Selbst wenn man von einem Zaren mit guten Absichten ausgeht, der den Untertanen ein besseres Leben bescheren wollte, mussten die Reformen an der allgemeinen zivilisatorischen Rückständigkeit des Landes scheitern.

4. Historische Korruptionsskandale

Wie auch in der heutigen Zeit stechen Korruptionsskandale, in die die Reichen und Mächtigen verstickt sind, sofort ins Auge. Die Grenzen der historischen Korruptionsforschung jedoch erscheinen dadurch in noch deutlicherem Lichte. Korruption im Detail, d.h. die alltägliche Korruption, ist sehr schwer zu erfassen, meist werden auch nur wenige Fälle ans Tageslicht befördert oder dringen in das historische Bewusstsein einer Gesellschaft ein. Demgegenüber sind bei Korruptionsfällen der ersten Kategorie häufig genug detaillierte Aufzeichnungen vorhanden, da sie meist gesamt-gesellschaftlichen Schaden hervorrufen, der in der Summe viel stärkere Auswirkungen hat als bei der zweiten Kategorie. Im Russland des 18 Jahrhunderts ist die Situation nicht anders. Es gibt einige relativ gut dokumentierte Korruptionsfälle auf höchster Ebene. Neben dem oben schon erwähnten, vergleichsweise korruptionsfreien General-Prokurator Iaguzhinsky, treten andere Proteges von Peter als leuchtende Fanale der Selbstbedienung in den Vordergrund. Alexander Menshikov ist einer derjenigen, die, wenn es um Korruption im imperialen Russland geht, als einer der ersten präsent ist. Sein sagenhafter Aufstieg aus der „Gosse“ hat seine grundpsychologische Neigung nie ändern können. Er war zeitlebens von der Furcht getrieben, dass, wenn die Gunst des Zaren ihm nicht mehr in unumschränktem Maße zuteil würde, er dahin zurückkehren würde, wo er herstammte. Seine seelische Disposition machte ihn somit extrem anfällig für Korruption jeder Art, da er immer versuchte, seine Position am Hof, auch ohne die Protegierung durch den Zaren, halten zu können.

„ In 1718 he [Menshikov] was brought before a tribunal on charges of embezzlement, involving estimated losses to the treasury (including insider dealing on grain contracts for the army) of more than 1.5 million roubles.[26]

Diese Anklage schien aber am Hof niemanden und am wenigsten Peter zu überraschen. „ Menshikov will always remain Menshikov.[27] war dementsprechend die vom Zaren ausgewiesene Leitlinie. Im Gegensatz zu anderen hatte er einen Sonderstatus, der ihm selbst solche Vergehen erlaubte. Der pädagogische Wille Peters, Menshikov zu einem Stellvertreter umzuerziehen, scheiterte allerdings. Nicht nur durch dieses Beispiel, sondern auch durch zur Anzeige gebrachte Korruptionsvorwürfe gegen andere Proteges Peters, beschloss der Herrscher seine Tage in tiefem Zweifel über die Redlichkeit selbst derer, denen er zu Macht, Ansehen und Geld verholfen hatte.

Das Verfahren gegen den Fürsten Matwei Petrowitsch Gagarin,[28] welches am 17 Juni 1721 mit dessen Tod durch den Strang endete, zeigt dagegen, dass auch Peter nicht zimperlich mit Strafen wegen Korruption war. Als erster Gouverneur Sibiriens hatte Gagarin eine ausgesprochene Vorzugsstellung inne, die er insofern missbraucht hatte, als dass er sich wie ein unabhängiger Herrscher gebärdet und ein riesiges Vermögen durch Hinterziehung von Steuern aneignete hatte. Der Vertrauensvorschuss, den er bei dem Korruptionsvorwurf von 1718 noch gehabt hatte, schien 1722 aufgebraucht zu sein.

Ein weiterer prominenter Fall von Korruption, d.h. aber auch Intrigen am Hof, ist der Sturz des Vizekanzlers Peter Pawlowitsch Schafirow.[29] Er war geschäftlich mit Alexander Menshikov verbunden, d.h. beide unterstützten sich in bei Bestechungen und Veruntreuung von öffentlichen Geldern. Beide zeichneten sich durch eine steile Karriere aus, die sie aber durch ihre „krummen“ Geschäfte im Endeffekt vernichteten. Schafirow, 1710 sogar zum Baron ernannt, kam im Gegensatz zu Gagarin mit einer Scheinhinrichtung, Einzug aller Güter und Exil davon. Nichtsdestotrotz kann man an seinem Beispiel, besser noch als bei Menshikov, erkennen, dass die Einschätzung des General-Prokurators Iaguzhinsky absolut zutreffend war:

…unless your majesty wishes to be left alone without servitors or subjects. We all steel, only some more visibly than others.”[30]

Anhand der hier umrissenen Korruptionsverfahren lassen sich drei Punkte festhalten. Erstens „ it seems unlikely that by 1723 he [Peter] had complete faith in anyone “.[31] Nicht unverständlich, da selbst die Getreuen, die er in die Schaltpositionen zur Überwachung der Korruption eingesetzt hatte, sich als korruptionsanfällig erwiesen. Zweitens: Durch das Vorbild der Bestechlichkeit selbst der höchsten Offiziellen ist es plausibel, dass auch die niederen Magistrate ähnlich korrumpierbar waren. Und schließlich scheint Sibirien als beherrschbarer Raum kaum fassbar gewesen zu sein. Aufgrund der nur eingeschränkten Auswahl an überhaupt tauglichen lokalen Offiziellen und unter Berücksichtigung von deren fehlender Bereitschaft, sich in den Dienst des Gemeinwesens zu stellen, muss festgestellt werden, dass sich die Korruption als Kormlenie- und Bestechunssystem im politischen Sinne höchstens in Ansätzen bekämpfen ließ.

5. Abschließende Beurteilung und Definition von Korruption

Eine umfassendere Studie zur Korruption scheint im Rahmen der in dieser Darstellung umrissenen Grenzen durchaus erhellende Ergebnisse zu versprechen. Insbesondere wenn man von der Annahme ausgeht, dass sich im imperialen Russland, auch in der Zeit des Sowjetregimes und schließlich in der heutigen Scheindemokratie wenig an der Anfälligkeit für Bestechung und Korruption geändert hat. Diese Einschätzung zu untermauern, würde den Rahmen dieser Arbeit jedoch sprengen.

Dessen ungeachtet kann man aber bereits im Reformwerk Peters die Ansätze zur Bekämpfung von Korruption erkennen. Es ist jedoch auch ersichtlich, dass aus der Geschichte in diesem Fall keine wirksamen Lehren gezogen wurden. Die Grundlagen der Korruption, zumindest in dem Bereich des Kontaktes zwischen Staatsdiener und Bürger, sind bis dato nicht erfolgreich bekämpft worden. Insgesamt mangelt es an qualifizierten Beamten, die gesellschaftlich, finanziell und juristisch derart anerkannt und materiell abgesichert wären, dass der Verlust ihrer Arbeitsstelle durch mögliche Gewinne aus Korruptionserlösen nicht kompensiert würde.[32]

Selbst die Versuche des Sowjetregimes,[33] mit drakonischen Strafen der Korruption Herr zu werden, hatte kaum Auswirkung auf die grundsätzliche Einstellung der Menschen in der Peripherie des Reiches. „Moskau und der Zar sind weit“ ist derart mit dem Lebensalltag der Menschen verwachsen, dass auf der Ebene des abstrakten Unrechtsbewusstseins kaum eine Veränderung zu erwarten ist.

Ein Gegenentwurf wird zurzeit mit gigantischen Subventionen auf Siziliens versucht, das in vergleichbarer Intensität von Korruption beherrscht ist. Es bleibt abzuwarten, ob innerhalb der nächsten Dekaden ein Umschwung in der Einstellung der Menschen eintritt. Festzustellen ist zumindest, dass sich das Bewusstsein in den letzten zwanzig Jahren bereits vielerorts gewandelt hat.

Im historischen Kontext des 18. Jahrhunderts nach derartigen Ansätzen der Korruptionbekämpfung zu suchen erscheint aber wenig viel versprechend. Die Methoden des Herrschaftstransfers waren kaum ausgebildet und die Menschen in ihrem Wissen um die Schädlichkeit eines wie auch immer gearteten Kormleniesystems noch nicht auf dem Stand von heute. Man bedenke allein, die Alphabetisierungsrate lag vermutlich weit unter fünf Prozent. Dementsprechend fällt die Beurteilung auch derart eindeutig aus, nämlich, dass Peters Russland ein auf Korruption basierendes Herrschaftsgebilde war, das, durch die aus der Retrospektive betrachtet untauglichen Reformen, in keiner Weise reform-bar oder revolutionierbar war.

Ein Definitionsversuch im Anschluss an eine Untersuchung bietet Vorteile, weil wesentliche Argumente formuliert und entfaltet wurden. Hier also mein Definitionsvorschlag für das Russland Peters:

"Korruption" meint demnach die Umettiketierung eines Versorgungssystems,

das seit den Ursprüngen von Herrschaft auf dem russischen Staatsgebiet ,

auch in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts funktionierte und gedieh.

Literaturliste

Fachartikel
- C. Black The Nature of Imperial Russian Society Slavic Review Vol.20, No.4 (Dec.1961) S.565-582
- J. Heinzen The Art of the Bribe: Corruption and Everyday Practice in the Late Stalinist USSR In: Slavic Review, Vol. 66, No. 3 (Fall, 2007), pp. 389-412
- G. Hosking Patronage and the Russian State the Slavonic and East European Review, Vol.78, No.2 (Apr.2000) S.301-320
- J. Keep The Decline of the Zemsky Sobor in: The Slavonic and East European Review, Vol. 36, No. 86 (Dec., 1957), pp. 100-122
- P. Perdue Military Mobilization in Seventeenth and Eighteenth-Century China, Russia, and Mongolia in: Modern Asian Studies, Vol. 30, No. 4, Special Issue: War in Modern China (Oct., 1996), pp. 757-793
- S. Schattenberg Die Ehre der Beamten oder: Warum die Staatsdiener nicht korrupt waren. Patronage in der russischen Provinzverwaltung im 19. Jahrhundert in: Fahrmeir/ Nützenadel/ Engels (Hg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. Beiheft zur Historischen Zeitschrift Nr. 48, München 2009, S. 203-227
- W. Schuller Probleme historischer Korruptionsforschung in: Der Staat 16/1977
- W. Smithers Russian Civil Law. The Period of the Tzarinas 1725-1796 Part IV the American Law Register (1898-1907) Vol.52, No.11 S.678-700

Monographien

- J. Cracraft The Church Reform of Peter the Great 1971
- E. Donnert Peter der Große [Leipzig] 1988
- L. Hughes Peter the Great; A Biography 2005
- M. Raeff The Well-Ordered Police State; Social and institutional Changes through Law in the Germanies and Russia 1600-1800, 1983, S.181

Sammelbände

- J. Engels, A. Fahrmeir, A. Nützenadel (Hrsg.) Geld, Geschenke, Politik - Korruption im neuzeitlichen Europa (Historische Zeitschrift, Beihefte, Band 48) 2009
- L. Hughes (Hrsg.) Russia in the Age of Peter the Great 2002

[...]


[1] W. Schuller, Probleme historischer Korruptionsforschung in: Der Staat 16/1977

[2] J. Engels, A. Fahrmeir, A. Nützenadel (Hrsg.), Geld, Geschenke, Politik - Korruption im neuzeitlichen Europa (Historische Zeitschrift, Beihefte, Band 48) 2009„ Die sozial, rechts- und politikwissenschaftliche sowie die ethnologische Forschung hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Thema Korruption befasst. …Demgegenüber hat sich die Geschichtswissenschaft nur sehr zögerlich mit diesem Themenfeld befasst.“ S.3

[3] Vgl. C. Black, The Nature of Imperial Russian Society Slavic Review Vol.20, No.4 (Dec.1961) S.565-582

[4] Vgl. P. Perdue, Military Mobilization in Seventeenth and Eighteenth-Century China, Russia, and Mongolia in: Modern Asian Studies, Vol. 30, No. 4, Special Issue: War in Modern China (Oct., 1996), pp. 757-793 Insbes. S.768-770

[5] „Old Russian term that describes a specific system of remunerating state officials. Loosely translated as "feeding,"Kormlenieu meant that princes awarded their servitors lands from which tribute could be extracted. Part of what was taken would be passed on to the prince, and the remainder would be kept http://www.answers.com/topic/kormlenie

[6] „Tokens of respect“ L. Hughes, Russia in the Age of Peter the Great 2002, S.114

[7] M. Raeff, The Well-Ordered Police State; Social and institutional Changes through Law in the Germanies and Russia 1600-1800, 1983, S.181

[8] Vgl. J. Cracraft, The Church Reform of Peter the Great 1971

[9] Raeff, S.186

[10] Ebd. S.186

[11] Hughes, Russia in the Age of Peter the Great S.114

[12] Hughes, Russia in the Age of Peter the Great S.115

[13] G. Hosking, Patronage and the Russian State The Slavonic and East European Review, Vol.78, No.2, (Apr.2000), S.301-320

[14] Ebd. S.301

[15] Ebd. S.305

[16] W. Smithers, Russian Civil Law. The Period of the Tzarinas 1725-1796 Part IV The American Law Register (1898-1907) Vol.52, No.11 S.678-700

[17] E. Donnert Peter der Große [Leipzig] 1988 S.124-126

[18] Insbesondere ist dabei gemeint: “The package of legislation issued in 1722 implemented Peter’s conception of interlocking parts of the state apparatus, in which institutions were supervised by a hierarchy of individuals…” L. Hughes Peter the Great; A Biography 2005 S. 172-173

[19] J. Keep The Decline of the Zemsky Sobor in: The Slavonic and East European Review, Vol. 36, No. 86 (Dec., 1957), pp. 100-122 “The new absolutism, based upon serfdom, that developed in Russia during the 17th century differed in many essential respects from the absolute monarchies of Western Europe. Similarly, the Zemsky Sobor was a much more primitive institution than its contemporaries in other countries. Yet in its way it represented a threat to the absolutist order.“ S.122

[20] L. Hughes, Peter the Great; A Biography 2005 S.171

[21] Ebd. S.172

[22] Hughes, Peter the Great; A Biography S.172

[23] Ebd. S.174

[24] Ebd. S.183-184 Hervorhebung durch den Autor

[25] Ebd. S.184

[26] Hughes, Peter the Great; A Biography S.183

[27] Ebd. S.183

[28] Vgl. zur Biographie Gagarins http://de.wikipedia.org/wiki/Matwei_Petrowitsch_Gagarin Ansonsten Hughes, Peter the Great; A Biography S.183

[29] Kurzbiographie http://de.wikipedia.org/wiki/Schafirow

[30] Hughes, Peter the Great; A Biography S.183

[31] Ebd. S.183

[32] S. Schattenberg, Die Ehre der Beamten oder: Warum die Staatsdiener nicht korrupt waren. Patronage in der russischen Provinzverwaltung im 19. Jahrhundert in: Fahrmeir/ Nützenadel/ Engels (Hg.): Geld – Geschenke – Politik. Korruption im neuzeitlichen Europa. Beiheft zur Historischen Zeitschrift Nr. 48, München 2009, S. 203-227

[33] J. Heinzen, The Art of the Bribe: Corruption and Everyday Practice in the Late Stalinist USSR In: Slavic Review, Vol. 66, No. 3 (Fall, 2007), pp. 389-412

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Kormlenie oder Korruption
Untertitel
Die Reformen Peters des Großen im Lichte moderner Korruptionsforschung
Hochschule
Universität zu Köln  (Abteilung für osteuropäische Geschichte/AOEG)
Veranstaltung
Im Rahmen des HS Korruption (SS 2009)
Note
1,7
Autor
Jahr
2009
Seiten
16
Katalognummer
V152425
ISBN (eBook)
9783640644582
ISBN (Buch)
9783640644742
Dateigröße
427 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kormlenie, Korruption, Reformen, Peters, Großen, Lichte, Korruptionsforschung
Arbeit zitieren
Felix Schulte (Autor:in), 2009, Kormlenie oder Korruption , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/152425

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