Die Bedeutung der Säuglingsforschung für die Psychoanalyse nach Dornes


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

30 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Martin Dornes

3. Die Debatte zwischen Säuglingsforschung und Psychoanalyse
3.1. Das rekonstruierte und das reale Kind
3.2. Autismus und Symbiose
3.2.1. Das Krankheitsbild der Symbiose
3.3. Borderline
3.4. Affekte
3.4.1. Affekte und Triebtheorie
3.5. Das präsymbolische Denken
3.6. Introjektion und projektive Identifizierung beim Säugling

4. Die Entstehung von Phantasie
4.1. Piaget und Lichtenberg über die Entstehung des inneren Bildes
4.2. Symbolisches Spiel
4.3. Freie und bedingte Evokation
4.4. Empirische und hypothetische Repräsentation
4.5. Unbewußte Phantasien

5. Postpiagetsche Befunde
5.1. Objektpermanenz und die Entstehung des inneren Bildes
5.2. Interaktion und ihre Repräsentierung
5.2.1. Sterns Theorie des Denkens
5.3. Interaktion und Anerkennung von Bedürfnissen
5.4 Interaktion und reziproke Anerkennung
5.5. Interaktion und primäre und sekundäre Intersubjektivität

6. Frühkindliche Entwicklung und ihre Bedeutung für die Neurosenpsychologie
6.1. Die Wahrnehmung des Säuglings
6.2. Die Gefühle des Säuglings
6.2.1. Symbolisierte und nicht-symbolisierte Gefühle
6.3. Phantasie als Grund für Neurosen und als Antriebskraft der Entwicklung
6.4. Averbale Kommunikation und Interaktion
6.5. Projektive Identifizierung als nicht-intentionale Kommunikation
6.6. Die averbale Kommunikation abgewehrter Affekte
6.7. Die Reaktion des Säuglings auf die Depressivität seiner Mutter

7. Kritik

8. Zusammenfassung

9. Reflexion

10. Quellenverzeichnis

1. Einleitung

Martin Dornes erläutert in "Die frühe Kindheit - Entwicklungspsychologie der ersten Lebensjahre" neue Befunde auf dem Gebiet der Bedeutung von Säuglingszeit für die Persönlichkeitsentwicklung, sowie deren Anwendungsmöglichkeiten in der Psychoanalyse.

Des Weiteren beschreibt er einige Klassiker der Entwicklungspsychologie und analysiert sie kritisch.

Dornes ist psychoanalytisch interessiert - hat auch Psychoanalyse an der Universität Frankfurt unterrichtet - dennoch ist er ein Gegner der Triebtheorie.

Seine Arbeit ist ein Plädoyer für die Annäherung der Psychoanalyse und ihrer Nachbardisziplinen.

Ich werde im Folgenden seine Haltung und den Inhalt seiner Arbeit deutlich machen in einer Darstellung der Kapitel über:

1. die Debatte zwischen Säuglingsforschung und Psychoanalyse
2. die frühkindliche Entwicklung und ihre Bedeutung für die Neurosenpsychologie
3. die Entstehung von Phantasie beim Kleinkind
4. postpiagetsche Befunde über Objektpermanenz und Interaktionsrepräsentierung beim Säugling

2. Martin Dornes

Dr. Martin Dornes wurde 1950 in Heidelberg geboren.

Er studierte Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Dort erhielt er 1978 das Diplom, 1992 die Promotion. Seine Habilitation erwarb Dornes 1996 an der Universität Kassel.

Er war tätig in Bereichen der Psychiatrie, Psychosomatik und Sexualmedizin.

Derzeit ist er stellvertretender Direktor des Instituts für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum in Frankfurt am Main und Mitglied des Kollegiums des Instituts für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität.

Er ist Mitglied in zahlreichen Berufsverbänden, wie zum Beispiel der Society for Research in Child Development (SRCD), dem Frankfurter Psychoanalytischen Institut (FPI) und dem Deutschen Arbeitskreis für Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik (DAGG). Außerdem ist er Mitglied in einigen Editorial Boards.

Die Forschungsschwerpunkte von Martin Dornes sind Psychoanalytische Entwicklungspsychologie, Sozialisationstheorie, Bindungstheorie, Aggressionsentwicklung und Eltern-Kleinkind-Beratung.

Das Forschungsprojekt an dem er momentan arbeitet, trägt den Titel "Neue Väter - andere Kinder? Vaterschaft, familiale Triade und Sozialisation".

Zu seinen Publikationen gehören außer "Die frühe Kindheit":

Der kompetente Säugling; Frankfurt/Main 1993 und

Die emotionale Welt des Kindes; Frankfurt/Main 2000.

3. Die Debatte zwischen Säuglingsforschung und Psychoanalyse

Die Erforschung der präsymbolischen Zeit geschieht in der Psychoanalyse durch verbale Assoziationen der Erwachsenenanalyse, die auf die ersten anderthalb Lebensjahre hinweisen und - da dies nur unsichere Ergebnisse bringt - auch durch Direktbeobachtung.

Trotz beeindruckender Forschung auf dem Gebiet wird der Säugling in der psychoanalytischen Theorie nicht gut genug verstanden. Er wird für passiv, hilflos, abhängig, undifferenziert, seinen Trieben ausgeliefert gehalten. - Diese Sichtweise gibt einen Teil der Säuglingserfahrung als ihr Ganzes aus.

Das Ergebnis eines neuen Blicks auf den Säugling ist, dass dieser ein "kompetenter Säugling" (Stone et al. 1973) ist, mit Fähigkeiten und Emotionen, die die Psychoanalyse nicht für möglich hielt. Deshalb haben Psychoanalytiker Anfang der 1980er Jahre mit einer systematischen textlichen Verarbeitung dieser Forschungsergebnisse begonnen.

3.1. Das rekonstruierte und das reale Kind

Das rekonstruierte Kind besteht aus der Erinnerung Erwachsener an ihre Kindheit. Das reale Kind beruht auf direkten Beobachtungen. Sie unterscheiden sich stark voneinander.

Einige Psychoanalytiker sind gegen die Annäherung beider Disziplinen. Sie halten es für ein wichtiges Merkmal der Psychoanalyse, dass sie Kindheitsentwicklung über das rekonstruierte Kind definiert wird.

Diese Meinung vertritt Martin Dornes nicht, da sie die Psychoanalyse weiter von Nachbardisziplinen isolieren würde.

Die psychoanalytische Entwicklungstheorie sei also eine "transformierte Entwicklungspsychologie" (Herzog 1986), sie suche nicht nach entwicklungspsychologisch richtigen Ergebnissen.

Dadurch werde die Erzählung eines Erwachsenen erst deutlich ernst genommen - als psychische Realität, die zu therapeutischem Erfolg führt, obwohl - oder gerade weil - sie nicht mit der Realität verglichen wird.

Das Problem an dieser Auffassung ist nach Dornes (1997), dass die psychoanalytische Entwicklungspsychologie nur nach klinischem Nutzen beurteilt wird. Es sei auch nicht bewiesen, dass Therapien erfolgreich sind, wenn ihr Gegenstand nicht der entwicklungspsychologischen Wahrheit entspricht.

Die Konsequenz sei, dass zwischen allen konkurrierenden psychoanalytischen Entwicklungspsychologien keine Auswahl mehr getroffen werden müsste, solange sie klinisch nützlich sind.

Auch Sigmund Freud war der Auffassung, die psychoanalytische Kindheitsforschung könne nicht nur aus Erinnerungen Erwachsener und deren Deutung bestehen (Dornes 1997).

3.2. Autismus und Symbiose

Theorien von Spitz und Mahler stammen aus der Zeit, bevor Säuglingsforschung wirklich begann. Ihre Beobachtungen hatten zum Ziel, bestehende psychoanalytische Modellvorstellungen zu bestätigen.

Mahlers Theorie über Autismus und Symbiose beruht wenig auf empirischen Beobachtungen.

Die Begriffe bezeichnen schwere Psychosen in der Kindheit und wurden dann auf die normale Entwicklung übertragen. In den ersten sechs Wochen sollen Kinder das Stadium des Autismus durchmachen, in dem sie ihre Außenwelt nicht wahrnehmen. Bis zum Alter von fünf Monaten sollen sie nur sehr wenig wahrnehmen, sich selbst als eine Zwei-Einheit mit der Mutter empfinden.

Die direkte Beobachtung von Säuglingen seit den 1960er Jahren widerlegt diese Theorie. Säuglinge haben eine erstaunliche Wahrnehmungsfähigkeit in allen Sinnesbereichen. Etwa ab zwei Monaten führen sie Handlungen willentlich durch, unterscheiden sehr genau zwischen Selbst und Objekt (Stern 1983). Säuglinge sind fähig zur Gestaltung von Beziehungen.

3.2.1. Das Krankheitsbild der Symbiose

Die Symbiose bei Erwachsenen tritt als Verschmelzungsphantasie auf, wenn getrenntes Funktionieren Angst hervorruft. Sie selbst ist jedoch auch ängstigend. Ursache ist, dass die Abhängigkeit als Säugling als traumatisch empfunden wurde, weil die Eltern selbständiges Handeln verhindert haben.

Der klinische Symbiosebegriff hat also seine Berechtigung auch wenn die Symbiosevorstellungen beim Säugling widerlegt sind.

3.3. Borderline

Der Borderline-Theorie zufolge befindet sich der Säugling nach der Symbiose in einer Phase multipler guter und böser Selbst- und Objektrepräsentanten, die er erst im Laufe der Zeit zu einem Ganzen zusammenfügt.

Auch diese Theorie ist widerlegt worden. Der Säugling verfügt über die Wahrnehmungsfähigkeit zwischen Selbst und Objekt zu unterscheiden und einheitliche Selbstempfindungen hervorzubringen (Dornes 1997).

Das bedeutet, verschiedene Äußerungen des Säuglings haben gemeinsame Strukturen in Ort, Zeit und Intensität.

3.4. Affekte

Die Theorie über undifferenzierte Basisaffekte geht davon aus, dass Säuglinge nur Lust oder Unlust empfinden. Erst mit der Entwicklung des Ich im zweiten Lebensjahr seien langsam umfassendere Differenzierungen von Gefühlen möglich.

Auch diese Theorie ist widerlegt. Säuglinge sind im ersten halben Jahr zu Empfindung und Ausdruck von zahlreichen Gefühlen im Stande, einige sind sogar angeboren (Izard et al. 1995).

Es gibt jedoch auch die Auffassung, dass z.B. ein Lächeln des Säuglings nicht Freude bedeutet, sondern lediglich motorische Übung (Sroufe 1997). Eindeutig zu widerlegen ist diese Theorie nicht.

Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass Mimik, Gestik und Vokalisierungen des Säuglings Ausdruck von Emotionen sind (Dornes 1997).

3.4.1. Affekte und Triebtheorie

Die Triebtheorie - grundlegende Motivationstheorie für die frühe Kindheit - besagt, libidinöse und aggressive Triebe seien die Grundantriebskräfte des Säuglings und führen zu Lust oder Unlust. Affekte seien Abkömmlinge von Trieben.

Durch die Widerlegung der Symbiose, des Autismus und der Affekte ist auch diese Theorie fragwürdig.

3.5. Das präsymbolische Denken

Die bisherige Theorie der Psychoanalyse hat den Säugling unterschätzt. In einer Sache hat sie ihn jedoch stark überschätzt. Sie hat ihm komplizierte psychische Operationen und Phantasien zugesprochen. Dies kann er jedoch nicht, weil er noch nicht symbolisch, sondern sensomotorisch denkt. Er verfügt also nicht über die Fähigkeit, sich ein Bild von einem abwesenden Objekt zu machen. Das Objekt existiert für ihn nur, solange er es wahrnimmt.

Der Säugling verfügt über ein Wiedererkennungsgedächtnis, aber nicht über ein evokatives Gedächtnis. Er kann das Abwesende vermissen, aber nicht wissen, was er vermisst und es nicht herbeihalluzinieren.

Dies ist erst nach dem Erwerb der Symbolfunktion - mit zwölf bis achtzehn Monaten - möglich (Dornes 1997).

Damit stimmt die psychoanalytische Theorie von frühen Abwehrmechanismen nicht. Projektion, Introjektion, Verleugnung gibt es nicht beim Säugling. Es gibt keine Abwehrmechanismen, nur Abwehrmaßnahmen (Fraiberg 1982; Lichtenberg 1983).

3.6. Introjektion und projektive Identifizierung beim Säugling

Dennoch sind die psychoanalytischen Theorien über frühe Abwehr- und Introjektionsprozesse nicht vollkommen falsch. Die Prozesse finden schon statt - nur nicht in der Form, die die Terminologie nahelegt.

Zum Beispiel die projektive Identifizierung: Ein unangenehmer Impuls, beispielsweise eine aggressive Regung, wird auf die Außenwelt projiziert. Im Unterschied zur Projektion gelingt dies bei der projektiven Identifizierung unzureichend. Die Außenwelt wird dadurch gefährlich und muss manipuliert/ kontrolliert werden. Die Kontrollversuche machen die Außenwelt aggressiv - sie verhält sich im Sinne der Projektion.

Der unangenehme Impuls des Subjekts fällt also auf das Objekt, kommt von da zurück und macht das Subjekt zum Opfer des eigenen Impulses.

Es gibt projektive Identifizierung zwischen Mutter und Säugling, jedoch in anderer Form als die Psychoanalyse bisher annimmt. Die beteiligten Affekte werden mittels präsymbolischer - nicht symbolischer - Kommunikation übertragen. Der Affekt wird lediglich im Verhalten ausgedrückt und dadurch zum Interaktionspartner transportiert.

Etwas Ähnliches gilt für Phantasien oder Gefühle Erwachsener. Auch sie werden dem Säugling auf dem Verhaltensweg mitgeteilt. Eine bewußte oder unbewußte Angst der Mutter z.B. kann der Säugling nicht verstehen, ihre Interaktion wird jedoch davon beeinflusst - der Säugling reagiert aversiv, er wird die Angst "introjizieren".

"Introjektion" beim Säugling ist kein absichtsvoller psychischer Prozess, sondern eine Reaktion auf Phantasien seiner Bezugsperson.

[...]

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Die Bedeutung der Säuglingsforschung für die Psychoanalyse nach Dornes
Hochschule
Alice-Salomon Hochschule Berlin  (Sozialpädagogik/ Sozialarbeit)
Veranstaltung
Grundkurs Sozialisation
Note
1
Autor
Jahr
2003
Seiten
30
Katalognummer
V15655
ISBN (eBook)
9783638207102
ISBN (Buch)
9783638728799
Dateigröße
535 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine Literaturrezeption, die die zentralen Aspekte der Einflussnahme bzw. der möglichen Einflussnahme von Säuglingsforschung auf die Psychoanalytische Theorie. Die Psychoanalyse sollte einige Theoreme dem aktuellen Forschungsstand der Entwicklungspsychologie anpassen. - Ein Plädoyer für die Annäherung der Nachbardisziplinen in der Psychologie.
Schlagworte
Bedeutung, Säuglingsforschung, Psychoanalyse, Dornes, Kindheit, Frankfurt/M, Grundkurs, Sozialisation
Arbeit zitieren
Svenja Schank (Autor:in), 2003, Die Bedeutung der Säuglingsforschung für die Psychoanalyse nach Dornes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/15655

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Bedeutung der Säuglingsforschung für die Psychoanalyse nach Dornes



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden