Tröstende Philosophie? Eine Auseinandersetzung mit Boethius Trostschrift "Der Trost der Philosophie"


Masterarbeit, 2010

65 Seiten, Note: 2,1


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Der Trostbegriff

3. Trost und Philosophie
3.1 Die Gattung der Trostliteratur
3.1.1 Die Sophistik
3.1.2 Der Kynismus
3.1.3 Die Stoa
3.1.4 Fazit

4. „Der Trost der Philosophie“ von Boethius
4.1 Das erste Buch: Trauer über die fehlende Harmonie in der Welt
4.2 Das zweite Buch: Glück und Schicksal
4.3 Das dritte Buch: Gott ist höchstes Glück und Gut
4.4 Das vierte Buch: Das Böse ist nur scheinbar mächtig
4.5 Das fünfte Buch: Die Vorhersehung schafft Ordnung
4.6 Wie tröstet sich Boethius?

5. Die Prüfung der Gültigkeit der inhaltlichen Tröstung des Boethius
5.1 Boethius´ Weltbild
5.2 Warum Philosophie heute nicht mehr auf Boethius Trostvorstellung zurückgreifen kann
5.2.1 Humes Kritik an einem vorhersehenden Gott
5.3 Verändertes Weltbild und veränderte Aufgabe der Philosophie

6. Sinn und Trost

7. Die methodische Trostmöglichkeit des Boethius in der heutigen Philosophie
7.1 Das ungemilderte Bewusstsein der Negativität
7.2 Die Möglichkeit des Bessern

8. Schluss

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Unser Bedürfnis nach Trost ist unersättlich“[1].

Der schwedische Autor Stig Dagermann schrieb diese Worte im Jahre 1952. Sie besitzen zeitlose Aktualität.

Jeder Mensch benötigt im Laufe seines Lebens Trost. Immer wieder erlebt man Verluste und muss mit Enttäuschungen und Schicksalsschlägen umgehen. Das Bedürfnis nach Trost haben Georg Simmel und Hans

Blumenberg anthropologisch begründet. Georg Simmel schreibt:

„Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen“[2].

Warum der Mensch ein trostbedürftiges Wesen ist, führt Hans Blumenberg weiter aus:

[…] ein Wesen, welches über einen so natürlichen Vorgang wie den des Todes anderer Organismen untröstlich sein kann, ist in ganz anderer Weise mit der Trostbedürftigkeit bis an den Grenzwert der Untröstlichkeit ausgestattet. Der Mensch ist zweifellos ein Wesen, welches aus seiner Vorgeschichte heraus nicht beliebig flüchten kann, auch nicht vor dem Schmerz. Dies muss in der Anthropogenese irgendwann eine entscheidende Rolle gespielt haben: nicht mehr flüchten zu können, andere Formen der Herausarbeitung aus der Sackgasse zu finden...“[3].

Der Mensch ist immer wieder mit Tod, Elend und Leid konfrontiert. Er kann vor alledem nicht fliehen, deshalb muss er Mittel und Wege finden, mit diesem Elend umzugehen. Darum hat er die Kategorie des Trostes entwickelt, die ihn - so Blumenberg - dazu befähigt, das, was er nicht ändern kann, zumindest partiell abzuwälzen, aufzuteilen, mit anderen zu teilen oder sogar institutionell zu delegieren.

Blumenberg erweitert den Ansatz von Simmel. Nicht nur aufgrund seiner Veranlagung, Leid auch psychisch empfinden zu können, brauche der Mensch Trost. Der Mensch brauche Trost, weil er an der Kontingenz seines Elends und seines Daseins leide[4]. Blumenberg erklärt dies auf folgende Weise:

Der Mensch sei als einziges Lebewesen dazu fähig, sich nach erschütternden, existenziell bedrohlichen Ereignissen die Fragen nach dem Sinn und nach dem Warum seines Leidens zu stellen, da er seinen Kummer in den meisten Fällen als unbegründet erfährt. So fragen sich Menschen während oder nach schwerem Leid, warum ausgerechnet ihnen so etwas widerfahren muss oder weshalb sie eine bestimmte Erfahrung nicht erleben dürfen. Die Fragen: „Warum gerade ich ?“, „Warum nicht auch ich ?“ bis hin zu „Warum überhaupt ich ?“ sind nicht zu beantworten, müssen aber in ihrer Schwere dennoch vom Menschen ausgehalten werden[5]. Insbesondere die Frage „Warum gerade ich ?“, die eine Antwort auf die Zufälligkeit von Leiderfahrungen haben möchte, kann Menschen in Verzweiflung stürzen. Ihm fehlt ein erkennbarer Grund für sein Leiden. In solchen Fällen steht die Welt auf der einen Seite, der Mensch, der an dieser Welt und wie sie sich ihm präsentiert leidet auf der anderen Seite. Er leidet entweder an realen Geschehnissen, die er nicht einordnen und akzeptieren kann oder an seiner Existenz, die nicht begründbar ist. Aufgrund dessen leidet er nicht nur an den Geschehnissen selbst, sondern auch an der Welt, die ihn durch Schmerz, Trauer und Nichtverstehen hilflos macht. Die Welt widerspricht in einem solchen Fall den Interessen und Wünschen des Menschen und wird somit different zu ihm. Der Mensch ist also auch deswegen ein trostbedürftiges Wesen, weil schmerzvolle Geschehnisse und das Leid, das damit verbunden ist, immer auch an Fragen gebunden sind, die dieses Leid begründen und einordnen wollen, letzen Endes aber nicht zu beantworten sind. Die daraus resultierende Differenz zwischen dem Menschen und der Welt ist dafür verantwortlich, dass Menschen Trost brauchen. Sie wollen sich nach Leiderfahrungen wieder mit der Welt verbunden fühlen.

Wenn das Bedürfnis nach Trost Bestandteil jedes menschlichen Lebens ist, lässt sich die Frage stellen, inwieweit Philosophie diesem Trostbedürfnis nachgekommen ist und nachkommen kann. Grundlage dieser Arbeit ist die spätantike Schrift „Der Trost der Philosophie“ von Boethius. Anhand einer Analyse des Werkes soll gezeigt werden, mit welchen Argumenten und wie Boethius sich tröstet. Der philosophische Trost, der in der Trostschrift des Boethius vorhanden ist, wird anschließend in einen inhaltlichen und einen methodischen Trost aufgeteilt. Beide sollen auf ihre heutige Gültigkeit untersucht werden, wobei auch die Legitimation der inhaltlichen Tröstung zur Zeit des Boethius erläutert werden soll.

Vorab soll zunächst der Begriff des Trostes definiert werden und ein Überblick über die Behandlung des Trostes in der Philosophie gegeben werden. Dabei wird auch die Gattung der Trostliteratur vorgestellt, der die Schrift des Boethius zuzuordnen ist.

2. Der Trostbegriff

Es stellt sich nun die Frage, was genau Trost eigentlich ist. Georg Simmel schreibt:

„Trost ist etwas anderes als Hilfe - sie sucht auch das Tier; aber der Trost ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leid bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele“[6].

Diese Trostdefinition macht deutlich, dass Trost nichts am Übel abändern kann, an dem Menschen leiden. Trost lässt das Übel bestehen, aber schafft es, dass Menschen an dem Übel nicht mehr leiden, auch, wenn dieses fortbesetht. Das bedeutet, dass Trost etwas schaffen muss, etwas vermitteln muss, dass Menschen befähigt, ihren Kummer zu ertragen und zu mildern. Trost muss also etwas vermitteln, was neben dem Leid Bestand hat. Er muss den trauernden und unglücklichen Menschen – sowohl bei einer kleinen Verletzung als auch bei schweren Verlusten und den großen Brüchen in der Biographie oder in der Geschichte - etwas entgegensetzen, damit Menschen nicht mehr am Übel leiden.

Das Wortfeld des Trostes zeigt, dass dieser seit dem Mittelalter mit den Begriffen „Zuversicht, Vertrauen, Hilfe und Ermutigung“[7] verbunden ist. Diese Begriffe stützen die Trostdefinition von Simmel gut. Trost impliziert immer ein Vertrauen und eine Zuversicht in etwas, was neben dem Leiden Bestand hat und den Menschen somit nicht mehr Leiden lässt. Dieses zu erfahren und zu erleben, ist für Menschen eine Hilfe und Ermutigung in ihrem Leid. Es bleibt zu fragen, wie Trost das Vertrauen und die Ermutigung in etwas, was neben dem Leid Bestand hat, schaffen kann, mit welchen Mitteln Menschen getröstet werden. Das Verb „trösten“ stellt somit die Handlung dar, die zum Ziel „Trost“ führt. Wer tröstet, der trägt dazu bei, dass Menschen in der Lage sind, einen Umgang mit ihrem Leid zu finden. Doch was ist unter „trösten“ zu verstehen? Der Begriff des Tröstens hat eine lange Geschichte.

Der lateinische Begriff „consolor = trösten“[8] macht deutlich, dass das aktive Trösten, Ermutigen, Helfen, Beruhigen, Lindern und Mildern beinhaltet. Schon im Alten Testament wird die consolatio (Tröstung, Ermutigung) immer als ein Akt der Teilnahme angesehen. Im Buch Hiob ist zu lesen:

„Als aber die drei Freunde Hiobs all das Unglück hörten, das über sie gekommen war, kamen sie, ein jeder aus seinem Ort: Elifas von Teman, Bildad von Schuach und Zofar von Naama. Denn sie waren eins geworden hinzugehen, um ihn zu beklagen und zu trösten. Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht und erhoben ihre Stimme und weinten, und ein jeder zerriss sein Kleid, und sie warfen Staub gen Himmel auf ihr Haupt und saßen mit ihm auf der Erden sieben Tage und sieben Nächte und redeten nichts mit ihm; denn sie sahen, dass sein Schmerz sehr groß war“[9].

Trösten wird hier als ein Akt der Mitklage, aber auch als anteilnehmendes Schweigen verstanden. Der Schmerz wird nicht weggeredet, er wird mit ausgehalten. Die Teilnahme am Schmerz des anderen ist die Grundlage dafür, um mit der Ermutigung zu beginnen. Hiobs Freunde schweigen und leiden mit ihm und erst danach versuchen sie, mit Hilfe ihrer Reden Hiob eine Ermutigung zu geben und sein Vertrauen in Gott wieder zu stärken[10]. In der Geschichte von Hiob finden sich demnach Trostelemente, die auch heute noch Geltungskraft haben: Anteilnahme und Mitgefühl. Die Worte, die trösten und das Vertrauen in die Welt wieder stärken sollen, werden in einem zweiten Schritt vollzogen.

Unter den Begriff des Tröstens fallen demnach Anteilnahme und Mitfühlen, sowie alle Handlungen des Menschen, die dem trauernden Menschen eine Hilfe bei der Bewältigung seines Leidens sind und sein können. Trost kann auch unabhängig von Menschen erfolgen. Dies betont auch Simmel:

„Trost[…], der ihm nicht nur aus den Worten kommt, wie Menschen zu diesem Zweck sprechen, sondern den er aus hunderterlei Gegebenheiten der Welt zieht“[11].

Trösten können auch ein Gedicht, Literatur oder ein bestimmtes Lied. Sie können durch ihren Inhalt oder ihre Aussage Menschen ermutigen, ihre Sympathie für den Trauernden und seinen Schmerz deutlich werden lassen und somit trösten.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Trost den Grund für das Leiden nicht aufheben kann. Doch Trost kann dem Leid etwas entgegensetzen, indem er zeigt, dass es noch etwas anderes gibt als das, was den Menschen leiden lässt. Dies kann durch alles geschehen, dass dem Unglücklichen zeigt, dass noch nicht alles ungültig geworden ist, was er für gültig hielt.

3. Trost und Philosophie

Die Thema Trost wird in der Philosophie hauptsächlich in der Antike und Spätantike behandelt[12].

Bereits Platon thematisiert im Dialog zwischen Menexenos und Sokrates, wie Väter und Mütter nach dem Tod ihrer im Krieg gefallenen Söhne zu trösten sind. Dies soll auf folgende Art geschehen:

„Unseren Vätern aber, wer noch einen hat, und Müttern muss man immer tröstlich zusprechen, recht leicht diesen Unfall zu tragen, wenn er ihnen begegnet, nicht aber mit ihnen wehklagen; denn sie können nicht noch eines bedürfen, der die Trauer vermehre, weil dieses schon der ihnen zugestoßene Unfall selbst hinlänglich zuwege bringt; sondern um sie auszuheilen und zu sänftigen, muss man sie erinnern, dass von dem, was sie gefleht, die Götter das Größte ihnen erhört haben. Denn nicht unsterbliche Kinder, baten sie, möchten ihnen geboren werden, sondern wackere und wohlberühmte […] Daher bitten wir auch Väter und Mütter, in demselben Sinn ihr übriges Leben zu verbringen und zu wissen, dass nicht durch Jammern und Wehklagen sie uns am meisten zu Gefallen leben; sondern wenn die Gestorbenen irgend etwas wissen um die Lebenden, werden sie uns so am meisten zuwider sein, wenn sie sich selbst Übles zufügen und schwer die Unfälle ertragen, wenn aber leicht und gemäßigt, dann werden sie uns Freude machen“[13].

Trost, so wie er hier von Sokrates aufgefasst wird, besteht nicht im Mitleiden und Anteilnehmen, sondern in der Ermahnung, die Berühmtheit und Tapferkeit der im Krieg gefallenen Söhne hervorzuheben. Dies sei nicht nur in ihrem Interesse, sondern auch im Interesse der verstorbenen Kinder selbst, die, falls sie nach ihrem Tode noch etwas über die Lebenden wissen, ihre Eltern nicht wehklagend und traurig sehen möchten, sondern mutig und tapfer. Diese recht hart anmutende Beschreibung von Trost lässt deutlich werden, dass Trost hier vor allem als ein „Wegreden“ von Leid zu verstehen ist. Dem Leid eine Berechtigung zusprechen, würde die Trauer verstärken, es käme darauf an, den Trauernden bewusst zu machen, dass sie den Verlust mutig und tapfer ertragen sollen, genauso, wie ihre Kinder mutig und tapfer gestorben seien.

Diese Beschreibung des Trostes steht im Gegensatz zu der im Buch Hiob vertretenen Trostvorstellung:

„Denn sie waren eins geworden hinzugehen um ihn zu beklagen und zu trösten“[14].

Sie macht deutlich, dass unter philosophischem Trost keine gefühlsmäßige Anteilnahme verstanden wird, sondern ein rationales Verstehen. Um den Verlust eines Kindes im Krieg ohne emotionale Tiefen zu ertragen und zu wissen, dass man so nach dem Wunsche der verstorbenen Kinder lebt, muss man rational agieren. Es geht um Wissen[15], nicht um Gefühl.

Etwas milder geht Aristoteles mit den Trauernden um. In der Nikomachischen Ethik schreibt er:

„Die Trauernden erleichtern sich, wenn die Freunde ihren Schmerz teilen. Darum kann auch fragen, ob sie sozusagen an der Last teilnehmen, oder ob dies zwar nicht der Fall ist, aber ihre Gegenwart, die angenehm ist, und das Bewusstsein ihres Mitleides den Schmerz leichter machen. Ob nun die Erleichterung durch dieses oder jenes erfolgen mag, lassen wir auf sich beruhen. […] Denn gerade das Sehen der Freunde ist angenehm, vor allem im Unglück, und ist eine Hilfe gegen den Schmerz (denn der Freund tröstet durch sein Anblick und durch sein Wort, wenn er gewandt ist; denn er kennt den Charakter des anderen und woran jener Freude und Schmerz empfindet). Anderseits ist es schmerzlich, jemanden zu sehen, der über das eigene Unglück trauert. Denn jeder meidet es, für die Freunde Ursache des Schmerzes zu sein. Darum scheuen sich die männlichen Naturen, den Freunden um ihretwillen Schmerz zu bereiten, und wenn der Schmerz nicht durch die Erleichterung überwogen wird, so ertragen sie es nicht, dass jene nun durch sie Schmerz erfahren; und überhaupt mögen sie Mitklagende nicht, weil sie selber keine klagenden Naturen sind. Weiber dagegen und dergleichen Männer freuen sich an den Mitseufzenden und lieben sie als Freunde und Mitleidende. Man muss aber offenbar in allen Dingen den Besseren nachahmen“[16].

Aristoteles gesteht den Trauernden zu, dass sie sich mit Hilfe ihrer Freunde in der Trauer trösten. Trost geschieht also durch ein Gegenüber, durch einen Freund. Freunde trösten allein schon durch ihren Anblick im Leid und auch durch ihre genauen Kenntnisse über den Anderen, die sie mit Geschick in tröstende Worte umwandeln können. Bis zu diesem Punkt wirkt die aristotelische Vorstellung des Tröstens im Gegensatz zu dem Vorschlag des Sokrates emotional und milde. Doch bereits in den darauffolgenden Sätzen beginnt Aristoteles, seine bisherigen Aussagen über den Trost und die Erleichterung durch tröstende Freunde zu hinterfragen. Freunde könnten durch das Miterleben von Leid selber Schmerzen empfinden. Dies sei jedoch etwas, was keiner seinen Freunden zumuten wollen würde. Ist jemand eine männliche Natur, so möchte er dies seinen Freunden ersparen. Frauen dagegen und Männer, die eine weiche und eher frauliche Natur haben, würden sich an dem Mitleiden erfreuen und ihre Freunde dafür lieben. Es wird offenbar, dass Aristoteles einer solchen Haltung ablehnend gegenüber steht, da er dazu auffordert, stets den Besseren nachzueifern. Zwar wird an dieser Stelle nicht explizit erwähnt, dass die Besseren die „männlichen Naturen“[17] sind, es wird aber durch den Gebrauch der Wörter „aber“ und „offenbar“ angedeutet. Dem Trost kommt auf diese Weise etwas Ambivalentes und stark Wertendes hinzu. Es ist erleichternd, sich von Freunden trösten zu lassen, doch genau dies ist nur Frauen und eher femininen Männern vorbehalten. Mannhafter ist es, sein Leid nicht mit den Freunden zu teilen, da man ihnen auf diese Weise den Schmerz des Mitleidens und den eigenen jämmerlichen Anblick erspart, was wünschenswert ist, da man Freunden keinen Kummer bereiten möchte.

Einen Schwerpunkt erfuhr die Thematik des philosophischen Trostes in der Epoche des Hellenismus. In dieser Epoche entwickelte sich auch die Gattung der Trostliteratur. Trost wurde nicht nur nebenbei erwähnt (s. Platon und Aristoteles), sondern wurde ein eigener und selbstständiger Programmpunkt der praktischen Philosophie zu dieser Zeit. Trost war in dieser Zeit - neben den Bestrebungen den Menschen zu heilen und zu bilden - ein zentrales Anliegen der Philosophie. Die Philosophie war somit Wissenschaft und Lebenshilfe zugleich. Sie sollte durch verschiedene Theorien und bestimmte rhetorische Verfahren die Menschen in ihrer Urteilsfähigkeit stärken und sie dazu befähigen, ein gutes Leben zu führen. Der Mensch sollte durch Philosophie mit seiner Existenz versöhnt werden[18]. Im Folgenden möchte ich auf die Gattung der Trostliteratur und auf die philosophischen Traditionen, die ihr zugrunde liegen, näher eingehen.

3.1 Die Gattung der Trostliteratur

Als „Trostliteratur“ bezeichnet man griechische und römische Schriften, in denen Trauer und Unglück philosophisch reflektiert werden. Trostschriften konnten in Prosaform abgefasst sein, aber auch poetisch[19].

Die Schriften, die in Prosaform niedergeschrieben wurden, lassen sich in zwei Gattungen unterteilen. Es gibt Trostschriften, die sich auf einen konkreten Todesfall beziehen und die Absicht haben, die Hinterbliebenen zu trösten. Diese Trostschrift ähnelt einem heutigen Kondolenzschreiben, obgleich sie länger ist und ein größeres Publikum ansprechen möchte. Andere epische Trostschriften wurden jedoch ohne besonderen Anlass verfasst und wollen Trost und Hilfe angesichts verschiedener Unglücksfälle geben. Einen besonderen Schwerpunkt dieser Schriften bilden die Ausführungen, die sich gegen die Todesfurcht richten. Sie beschreiben meist das Wesen des Todes und versuchen auf diese Weise, den Menschen die Angst vor dem Sterben und dem Tod zu nehmen, die hauptsächlich auf falschen Vorstellungen vom Tod gründe[20].

Die lyrisch abgefassten Trostschriften lassen stets ein festes Schema erkennen. In einer kurzen Einleitung wird auf die Trauer eingestimmt, darauf folgt die Laudatio des Toten, die in die Lamentatio (Klage über den Verlust) übergeht. Anschließend wird in der Descriptio eine genaue Schilderung der Krankheit, des Sterbens und der Bestattung vorgenommen und erst am Schluss kommt die Consolatio, die den Trauernden trösten soll.

Die epischen und lyrischen Trostschriften unterscheiden sich hauptsächlich dadurch, dass in den lyrischen Schriften die Mitklage im Vordergrund steht und der Dichter der Trauer gegenüber eine positive Haltung einnimmt. Trost entwickelt sich hier aus der Anteilnahme an der Trauer.[21]

In den epischen Trostschriften wird deutlich, dass Trost nicht durch Empathie, sondern nur durch rationale Argumente zu geben ist. Der Verfasser distanziert sich von den Trauernden und versucht, sie von der Trauer zu befreien. Auf keinen Fall darf sie durch Mittrauer verstärkt werden. Um das zu erreichen, bedient sich die epische Trostliteratur der Trostargumente verschiedener philosophischer Schulen, die teilweise auch kombiniert werden. Die Distanz und die Rationalität der epischen Trostschriften erschließen sich besser, wenn die philosophischen Traditionen und Schulen dargestellt werden, auf die sich die Trostliteratur des Hellenismus beziehen. Ein Verständnis dieser antiken philosophischen Trostvorstellungen ist auch für die spätere Auseinandersetzung mit der Trostschrift „Der Trost der Philosophie“ des Boethius wichtig. Deshalb sollen im Anschluss die philosophischen Trostpraxen näher erläutert werden, die auch im Werk des Boethius wieder zu erkennen sind.

3.1.1 Die Sophistik

Die Frage, wie sich schmerzliche menschliche Affekte wie Trauer und Schmerz bewältigen ließen, war schon vor dem Aufkommen der Sophistik zentral. Schon zu Beginn der griechischen Philosophie war diese Aufgabe z.B. ein wichtiger Bestandteil der Musiktheorie der Pythagoreer. Die Theorie dahinter besagte, dass Musik, die durch„affektive Erregungszustände der Seele[22] entstünde, auch in der Lage sei, auf Seelenzustände einzuwirken, sie zu ändern und Schmerzen zu beseitigen. Musik wurde also als Heilmittel verstanden, wobei das Heilverfahren mit der Homöopathie vergleichbar war. Musik sollte durch das Auslösen von Erregungszuständen ebendiese heilen[23].

Auch die Tröstungen der Sophisten lassen deutlich werden, dass sie Trost wie ein Heilmittel anwenden. Doch nehmen sie Abstand von dem homöopathischen Prinzip der Pythagoreer. Unerwünschte und schmerzliche Affekte werden bei den Sophisten nicht durch Ähnliches geheilt, sondern durch das, was diesen Affekten entgegensteht und was sie beherrschen kann. Deshalb erfolgt Trost bei den Sophisten durch Anwendung der Vernunft. Dies ist auch die Grundlage des Trostes der Philosophie, den Boethius sich im Kerker zuspricht. Es wird deutlich werden, dass auch er von der Philosophie dazu angehalten wird, sein Leiden nicht durch Klage zu verstärken, sondern ihm durch Vernunft etwas dagegenzusetzen. Die Sophisten weichen von einem Trostbegriff ab, der die Mitklage von Freunden als Trost versteht. Die einfühlsame Mitklage wird durch die psychagogische Rede des Sophisten ersetzt. In diesen Reden wird der Logos zum Herrn über sämtliche Affekte erhoben. Die Rede allein schafft es, Affekte zu erzeugen als auch, sie verschwinden zu lassen. Sie wirkt wie Medizin auf den Körper. So wurde die Theorie der Pythagoreer von den Sophisten umgestaltet und zu einem zentralen Punkt in ihrem rhetorischen Programm. Grundlage dieses Programms ist die Souveränität des Verstandes über alle Gefühle. Alle Affekte werden dem Verstand untergeordnet. Leid wird mit Vernunft und durch Vernunftgründe bekämpft. Diese Tröstung des Trauernden geschieht durch Ermahnungen und Vergleiche mit Schlimmerem und endet mit Appellen an die Vernunft. Gut erkenntlich wird dieses Trostprinzip in Stücken des Komikers Timokles. Diese Stücke rühmen die leidbeschwichtigende Macht der Tragödie. Doch anstatt einer Katastrophe, die immer mit einer Katharsis für den Zuschauer einhergehen soll, indem er erschütternde Geschehnisse vorgeführt bekommt, die ihm dazu verhelfen sollen, sich seiner eigenen belastenden Emotionen zu entledigen, werden dem Zuschauer in den Timokles-Stücken zu seinem Trost Leute vorgeführt, deren Leiden viel schlimmer als seine eigenen sind. Menschen, die ihre Kinder verloren haben, werden in diesen Tragödien mit dem Schicksal der Niobe konfrontiert. Menschen, die schlecht sehen können, werden mit dem Leiden der blinden Phineussöhne konfrontiert und die, die nicht mehr gut laufen können, müssen sich damit auseinandersetzen, dass Philoktet schmerzhafte Wunden durch einen Schlangenbiss erleiden musste. Die Botschaft dieser Darbietungen suggeriert den Zuschauern, dass ihre Trauer relativ gesehen harmlos ist und dass die Leiden der Helden viel schwerwiegender und schmerzvoller als die eigenen Kümmernisse sind[24].

Rudolf Kassel schreibt über diese Art der Tröstungen:

„Sie ist ein quasi Wegräsonieren des Schmerzes durch die distanzierte Stellung der Vernunft“[25].

3.1.2 Der Kynismus

Dass das sophistische Therapieprogramm wichtiger Bestandteil der Konsolationsliteratur wird, ist ihren kynistischen Einflüssen zu verdanken. Mit dem Aufkommen des Kynismus setzt eine Art der Popularisierung der praktischen Philosophie ein. Die Vertreter des Kynismus haben es sich zum Ziel gesetzt, die Autarkie im Menschen durch Tugend zu fördern und zu erhalten. Den Begriff der Tugend verstehen sie allerdings nicht wie Aristoteles als eine Verhaltensoption des Mittelmaßes zwischen zwei Extremen, sondern als Bedürfnislosigkeit. Ziel des Kynismus ist es, den Menschen dazu zu bringen, seine menschlichen Bedürfnisse, die über die Grundbedürfnisse der Nahrungsaufnahme, Fortpflanzung und des Schlafes hinausgingen, zu hinterfragen, zu modifizieren und im besten Fall ganz abzustellen[26].

Ein berühmt gewordenes Beispiel für die Denkweise eines Kynikers ist der Ausspruch des Diogenes, der, gefragt nach einem Gefallen, mit dem man ihm Gutes tun könne, antwortet, man möge ihm doch nur aus der Sonne gehen. Er will damit zum Ausdruck bringen: Ich habe wenig und doch alles, was man zum Leben braucht. Bei Boethius wird ersichtlich werden, dass er sich Elementen des Kynismus in gemäßigter Weise bedient, wenn er in seinen Ausführungen über das Glück deutlich macht, dass dieses immer nur jenseits von irdischen Gütern erreicht werden kann.

Mit der Forderung nach Autarkie durch Bedürfnislosigkeit geht auch eine Umwertung aller geltenden Maßstäbe und Werte des bürgerlichen Lebens einher. Weise lebt man nach Meinung der Kyniker nicht, wenn man Ehre, Ruhm, Macht und Reichtum besitzt. Auch die geltenden Staatsgesetze und die hellenistischen Götter werden von den Kynikern abgelehnt. Sie stellen die Lehre von der Einheit Gottes auf und postulieren eine Distanz zu der Gesellschaft.

Ähnlich wie die Sophisten waren auch die Kyniker psychagogisch tätig. Diese Tätigkeit wurde von ihnen durch Angriffe auf übliche Verhaltens- und Gefühlsweisen ausgeübt. Trauer und Schmerz werden von ihnen nicht gelten gelassen und streng geahndet. Der Schmerz wird von ihnen - ähnlich wie durch die Tröstungen der Sophisten - durch Wegdisputieren mittels eines Bündels von Fragen, die Verwirrung stiften sollten, durch absurde Beweisführungen und durch suggestive Fragen bekämpft. Da, wie schon erwähnt, die Kyniker ein Umwertungsprogramm bezüglich aller geltenden Werte und Maßstäbe vornehmen wollten, unterstellen sie dem Trauernden oftmals Dummheit, weil er wegen des Verlustes menschlicher Güter Kummer empfand.

[...]


[1] http://www.kat.ch/bm/s_dager0.htm, letzter Zugriff am 9.5.2010, 16:48 Uhr.

[2] vgl.Simmel, Georg: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlass, München 1923, S.17.

[3] vgl.Blumenberg, Hans: Beschreibungen des Menschen, Frankfurt a.M. 2006, S. 627.

[4] ebda.

[5] vgl. ebda, S. 635.

[6] Simmel, Georg: a.a.O.

[7] vgl. Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, Stuttgart 1987, S.231.

[8] ebda.

[9] Buch Hiob, 2, 11f.

[10] ebda, S. 2-31.

[11] Simmel, Georg: a.a.O.

[12] vgl.Prechtel, Peter u. Bankhert, Franz-Peter (Hrsg): Metzler-Lexikon Philosophie, Stuttgart 2008, S. 626.

[13] Platon: Menex. 247c5-e2.

[14] Buch Hiob, a.a.O.

[15] Daher bitten wir auch Väter und Mütter[…] zu wissen…..in: Platon: a.a.O.

[16] Aristoteles, Nikomachische Ethik (EN), 1171a35-b13.

[17] ebda.

[18] Prechtel: a.a.O.

[19] vgl. Weyhofen: Hans Theo: Trost- Modelle des religiösen und philosophischen Trostes und ihre Beurteilung durch die Religionskritik, Frankfurt a.M. , 1983, S. 64.

[20] vgl. ebda.

[21] vgl.ebda.

[22] vgl. Kassel, Rudolf: Untersuchungen zur griechischen und römischen Konsolationsliteratur, München 1983, S. 5.

[23] ebda.

[24] ebda, S. 9.

[25] ebda, S. 11.

[26] vgl. Weyhofen, Theo: a.a.O. S.68.

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Tröstende Philosophie? Eine Auseinandersetzung mit Boethius Trostschrift "Der Trost der Philosophie"
Hochschule
Universität Bielefeld  (Fakultät für Geschichtswissenschaft, Theologie und Philosophie- Abteilung Philosophie)
Note
2,1
Autor
Jahr
2010
Seiten
65
Katalognummer
V158210
ISBN (eBook)
9783640720316
ISBN (Buch)
9783640720767
Dateigröße
682 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Tröstende, Philosophie, Eine, Auseinandersetzung, Boethius, Trostschrift, Trost, Philosophie
Arbeit zitieren
Anne-Kathrin Mische (Autor:in), 2010, Tröstende Philosophie? Eine Auseinandersetzung mit Boethius Trostschrift "Der Trost der Philosophie", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/158210

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