Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Thiel zwischen Trieb und Seele
II.1 Lene vs. Minna
II.2 Projektion des Lene-Minna-Konflikts auf Thiels Umgebung
III. Die Zugeinfahrten und ihre symbolische Bedeutung
III.1 Erste Zugeinfahrt
III.2 Zweite Zugeinfahrt: Konflikt der Parallelexistenz Lene – Minna
III.3 Dritte bis fünfte Zugeinfahrt – Tobias' Tod
III.4 Letzte Zugeinfahrt – Umkehrung der Gewalt
IV. Schluss
V. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Gerhart Hauptmann behandelt in seiner 1887 entstandenen novellistischen Studie „Bahnwärter Thiel“ einen auf den ersten Blick typisch naturalistischen Stoff: Thiel, Bahnwärter aus „Schön-Schornstein, einer Kolonie an der Spree“ (3)[1], lebt ein eintöniges und deprimierendes Leben, im Laufe dessen er seine erste Frau verliert, später auch den gemeinsamen Sohn und daraufhin, weil er diesen Verlust nicht verkraften kann, seine zweite Frau und ihr gemeinsames Kind eigenhändig tötet. Grundvoraussetzungen, um das Werk der genannten Gattung zuzuordnen, sind somit gegeben: Arbeitermilieu, Verbrechen, der Mensch als Opfer seiner Umstände. Dennoch ist Hauptmann für dieses Werk mehrfach der Vorwurf der Stiluntreue hinsichtlich des Naturalismus gemacht worden, was sich primär aus dem Mangel an „Naturschilderung als Selbstzweck“[2] begründet. Auch Joseph Gregor „kann hier keinen Naturalismus finden. Alles wandelt durch das Medium der Seele, nicht der physischen Anschauung.“[3]
Payrhuber spricht der Novelle indes zu, der naturalistischen Programmatik „näher in ihrem Sujet“ zu sein,
„greift sie doch einige jener Themen auf, mit denen sich die junge Schriftstellergeneration als Reaktion auf die ökonomischen, gesellschaftlichen und geistigen Umbrüche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vordringlich beschäftigte: eine Hauptfigur, die dem proletarischen Kleinbürgermilieu entstammt; ihre Kontaktarmut und Sprachlosigkeit, Passivität und seelische Vereinsamung; Gleichförmigkeit und Stupidität der beruflichen Tätigkeit und die duch sie geförderte soziale Isolierung; ungezügelte Triebhaftigkeit, die sich zu sexueller Hörigkeit steigert; eine Krankheitsgeschichte, die im Wahnsinn endet; ein Verbrechen, das durch Abhängigkeiten von Milieu und Vererbung mitbedingt ist; nicht zuletzt: die durch den Schnellzug repräsentierte, den Menschen gefährlich bedrohende, ja vernichtende Macht der modernen Technik.”[4]
Ebenso spricht Martini dem Werk (früh)naturalistische Tendenzen nicht ab, wenn er schreibt, man könne den Text „nicht auf das Naturalistische eingrenzen; (...) Denn nichts ist hier als Stoff und Genre oder als Stimmungsreiz ein deskriptiver Selbstzweck; alle dargestellte Wirklichkeit wird transponiert in ein dichterisches Symbolgefüge, in einen verweisenden Bilderzusammenhang, aus dem ein rational nicht erschöpfbares Sinngefüge wächst.“[5]
Wie ist nun dieses „dichterische Symbolgefüge“, welches die eindeutige Kategorisierung des Textes verhindert, im Hinblick auf die gesamte „novellistische Studie“ zu lesen?
Die vorliegende Arbeit will anhand dieser Frage die Darstellung der Natur und der Eisenbahn untersuchen. Diese sollen speziell in den Szenen der Zugeinfahrten am von Thiel bewachten Bahnübergang gedeutet und in Bezug zum gesamten Text gesetzt werden.
Einleitend hierzu wird zunächst die Situation Thiels gegenüber seinen beiden Ehefrauen eingehender betrachtet, da sich die anschließend besprochenen Szenen der Zugeinfahrten auf dieses Dreiecksverhältnis beziehen.
II. Thiel zwischen Trieb und Seele
Die Sozialkritik muss nicht erst in die Novelle hineininterpretiert werden, und doch sind es nicht allein die allgemein menschenunwürdigen Lebensumstände der Arbeiterschicht, die Thiel in den Irrsinn treiben und ihn dazu bringen, einen Doppelmord zu begehen. Vielmehr ist die ausweglose Situation zwischen zwei gegensätzlichen Elementen der Grund für seinen psychischen Verfall, der ihn schließlich irrsinnig werden lässt. Diese gegensätzlichen Elemente sind zunächst die beiden Frauen in seinem Leben: zum einen die verstorbene Minna, seine erste Ehefrau, die durch regelmäßige Andacht weiterhin als ein Teil seines Lebens zu werten ist, zum anderen Lene, seine zweite Ehefrau, die er aus der Not heraus heiratet, damit für seinen Sohn aus erster Ehe gesorgt ist und die Thiel mit ihrer rohen Leidenschaft einnimmt und gefügig macht: „Drei Dinge jedoch hatte er, ohne es zu wissen, mit seiner Frau [Lene, Anm. d. Verf.] in Kauf genommen: eine harte, herrschsüchtige Gemütsart, Zanksucht und brutale Leidenschaftlichkeit. Nach Verlauf eines halben Jahres war es ortsbekannt, wer in dem Häuschen des Wärters das Regiment führte.“ (5).
Bei eingehender Betrachtung sind die beiden Frauen nur Ursache und bildhafte Darstellung des eigentlichen Konflikts, in dem sich Thiel befindet, nämlich dem zwischen Trieb und Seele: die körperliche bzw. sexuelle Macht, die Lene ihm gegenüber ausübt, steht im Gegensatz und in Konkurrenz zu seiner rein geistigen Verbundenheit mit der veflossenen Minna, aber auch zu seiner Liebe zu Tobias, seinem ersten Sohn. Bereits die Namensgebung der Frauen ist nicht arbiträr; so lässt sich der Name Minnas von der mittelalterlichen „Minne“[6], also der reinen, höfischen Liebe, ableiten. Lene weist auf die verhängnisvolle Figur Helena der griechischen Mythologie hin, deren Schönheit alle Männer in ihren Bann zog und deren Entführung durch Paris den Trojanischen Krieg verursachte.
Es handelt sich bei diesem Text also primär um eine genaue Beobachtung seelischen Innenlebens:
„Stofflich wie formell ist er [der Text, Anm. d. Verf.] noch keine rein soziale, auch keine rein naturalistische Schöpfung. Sein Problem ist mehr ein psychologisches, das als solches nicht notwendig an die Gesellschaftsklasse, in der es erlebt wird, gebunden erscheint. Es ist vielmehr abgeleitet aus dem zufälligen Zusammen der Charaktere, das mit Notwendigkeit zu einer Auflösung des Zusammenseins führen muß.“[7]
Im folgenden Kapitel soll nun dieses psychologische Problem anhand seiner Verursacher, Lene und Minna, näher untersucht werden, sowie die Auswirkungen des sich daraus ergebenden Konflikts auf Thiel.
II.1 Lene vs. Minna
Wie bereits erwähnt zeichnet sich Lene neben ihrer Zank- und Herrschsucht vor allem durch ihre „brutale Leidenschaftlichkeit“ (5) aus. Thiel gerät „durch die Macht roher Triebe in die Gewalt seiner zweiten Frau“ (6). Mit Minna hingegen hat ihn zeitlebens eine „mehr vergeistigte Liebe“ (ebd.) verbunden. Dies macht Hauptmann bildhaft auf S. 3: „... zwei Jahre blickte ihr hohlwangiges, feines Gesicht neben seinem vom Wetter gebräunten in das uralte Gesangbuch –;“; kein direkter Augenkontakt wird beschrieben, wie er später zwischen Thiel und Lene, ebenfalls in der Kirche, stattfindet: „Im Verlauf des Tages glaubte Lene mehrmals etwas Befremdliches an ihm wahrzunehmen; so im Kirchstuhl, als er, statt ins Buch zu schauen, sie selbst von der Seite betrachtete, ...“ (26). Thiels Beziehung zu Minna wird in dieser Szene bildhaft als ein Miteinander beschrieben, während sein Verhältnis mit Lene ein zunächst leidenschaftliches, später tödliches Gegeneinander darstellt.
Nach anfänglichem „leidendem Widerstand“ (6) gibt sich Thiel Lenes Leidenschaft hin, welche ihn nicht nur ihr anstrengendes Wesen ertragen lässt[8], sondern auch Einfluss auf seine alltäglichen Handlungen nimmt. So sehnt er das Ende seiner Schicht bei der Arbeit herbei, um zu Lene zu gelangen: „Nicht widerwillig, wie die erste Zeit, trat er den Heimweg an, sondern mit leidenschaftlicher Hast, nachdem er vorher oft Stunden und Minuten bis zur Zeit der Ablösung gezählt hatte.“ (6). Wie weit der (aktive und passive) Einflussbereich von Lenes Macht reicht, zeigt sich, wenn Thiel Lene dabei ertappt, wie sie seinen Sohn Tobias ausschimpft und schlägt, Thiel ihm aber nicht zur Hilfe kommt. Der in ihm aufsteigende Zorn Lene gegenüber legt sich beim Betrachten ihres Körpers:
„(...); dann legte sich über die gespannten Mienen plötzlich das alte Phlegma, von einem verstohlnen begehrlichen Aufblitzen der Augen seltsam belebt. Sekundenlang spielte sein Blick über den starken Gliedmaßen seines Weibes, das, mit abgewandten Gesicht herumhantierend, noch immer Fassung suchte. Ihre vollen, halbnackten Brüste blähten sich vor Erregung und drohten das Mieder zu sprengen, und ihre aufgerafften Röcke ließen die breiten Hüften noch breiter erscheinen. Eine Kraft schien von dem Weibe auszugehen, unbezwingbar, unentrinnbar, der Thiel sich nicht gewachsen fühlte.“ (17)
Es wird deutlich, dass Thiel bei diesem Anblick, zumal in „erregtem“ Zustand, die Situation nicht mehr im Zusammenhang wahrnimmt, sondern ganz auf Lene fixiert und ihr untergeordnet ist. Hauptmann beschreibt ihre Kraft als „Leicht gleich einem feinen Spinngewebe und doch fest wie ein Netz“[9] (ebd.), so dass Tobias nicht nur keine Hilfe zuteil wird, sondern er völlig unbeachtet zurückbleibt.
Da Lene in Thiels Gedanken Minna zu verdrängen droht – „Die stillen, hingebenden Gedanken an sein verstorbenes Weib wurden von denen an die Lebende durchkreuzt“ (7) – und Thiel sein Zustand bisweilen ekelt (6), muss er einen Weg finden, wie er seine Beziehungen sowohl zu Lene als auch zu Minna voneinander abgrenzen und beide fortführen kann. Er erreicht diese Abgrenzung durch räumliche Trennung, indem er sich zuhause ganz Lene widmet, während seiner Arbeit im Wärterhäuschen aber Minnas gedenkt.
Dadurch wird das Prinzip der oben erwähnten „vergeistigten Liebe“ fortgeführt; er hält seelisch die Beziehung mit Minna aufrecht, indem er sich während seines Dienstes tagsüber dem Gedenken ihrer widmet, was sich nachts in religiöse Anbetung steigert: „Eine verblichene Photographie der Verstorbenen vor sich auf dem Tisch, Gesangbuch und Bibel aufgeschlagen, las und sang er abwechselnd die lange Nacht hindurch, nur von den in Zwischenräumen vorbeitobenden Bahnzügen unterbrochen und geriet hierbei in eine Ekstase, die sich zu Gesichten steigerte, in denen er die Tote leibhaftig vor sich sah.“(7ff.). Durch diesen Versuch der Trennung zweier gegensätzlicher Einflüsse erhöht er aber den Druck auf sich selbst: „This elaborately developed defense mechanism allows Thiel temporary release from the constraints of his bonds, but also binds him further by its strict division of his life into distinct realms of time and space, a departmentalization which only makes his means of reacting to life much more rigid.“[10]
[...]
[1] Hier und im Folgenden beziehen sich die Seitenzahlenangaben auf die im Stuttgarter Reclamverlag erschienene Ausgabe von Gerhart Hauptmanns “Bahnwärter Thiel”, 2007.
[2] Ebd., 77
[3] Joseph Gregor: „Gerhart Hauptmann – das Werk und unsere Zeit“, Wien: Diana, 1951, S. 80
[4] Franz-Josef Payrhuber, „Literaturwissen – Gerhart Hauptmann”, Stuttgart: Reclam, 1998, S. 87ff.
[5] Fritz Martini: Nachwort zu „Bahnwärter Thiel“, Stuttgart: Reclam 2007, S. 48
[6] Der mittelhochdeutsche Begriff minne bezeichnet laut Lexer „liebe, allgem. u. zwar: religiöse liebe (...), elternliebe (...), freundschaft, liebe, zuneigung, wolwollen ...die geschlechtliche, sinnliche Liebe allgem., ... oft geradezu für beischlaf.“ (Lexer I, 2145ff.). Er umfasst in seinem Bedeutungsspektrum also alle Teilbereiche zwischenmenschlicher Zuneigungsgefühle, wohingegen Lexer den (im Mittelhochdeutschen durchaus existenten und gebräuchlichen) Begriff liebe wie folgt übersetzt: „das wolgefallen das man über oder durch etw. empfindet, das liebsein, das wolgefallen, die freude; das liebhaben, die freundlichkeit, gunst, liebe allgem.“, also ein eingeschränkteres Bedeutungsspektrum. (Lexer I, 1902)
[7] Ernst Lemke, “Gerhart Hauptmann – Ein Beitrag zur Charakteristik seiner Zeit und seiner Persönlichkeit”, Hannover: Ernst Letsch, 1922, S. 75
[8] „Die Außenwelt schien ihm wenig anhaben zu können: es war, als trüge er etwas in sich, wodurch er alles Böse, was sie ihm antat, reichlich mit Gutem aufgewogen erhielt“, S. 6
[9] An dieser Stelle sei auf die reimenden Silben im Wortanlaut hingewiesen, die lautmalerisch das Weben des Spinnennetzes, in welchem sich Thiel befindet, nachahmen: „ lei cht glei ch ei nem fei nen Spinngewebe”; ebenso „ fest wie ein Netz”, was den Eindruck des festgezogenen Netzes akustisch verstärkt.
[10] Carolyn Thomas Dussère: „The image of the primitive giant in the works of Gerhart Hauptmann“, Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik Nr. 49, hg. Ulrich Müller, Franz Hundsnurscher u. Cornelius Sommer. Stuttgart: Hans-Dieter Heinz, 1979, S. 25