Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Apollinische und das Dionysische
2.1 Der Einfluss Schopenhauers auf Nietzsches Philosophie
2.2 Das Zusammenwirken des Apollinischen und des Dionysischen in der Kunst
2.3 Die Entwicklung Aschenbachs
2.4 Die Künstlerproblematik
3. Dekadenz
3.1 Nietzsches Dekadenzbegriff
3.2 Aschenbach als ein décadent im Sinne Nietzsches
4. Mythos
4.1 Die Funktion des tragischen Mythos
4.2 Griechische Mythologie
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Wer Nietzsche ‚eigentlich’ nimmt, wörtlich nimmt, wer ihm glaubt, ist verloren.“ So äußerte sich Thomas Mann 1947 über Friedrich Nietzsche in seinem Vortrag „Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“. Seine Haltung Nietzsche gegenüber war neben Bewunderung schon immer von einer ironischen Distanz geprägt.[1] Nach den Verbrechen des Zweiten Weltkrieges, für die er Nietzsches Philosophie mit verantwortlich machte, schlug seine Bewunderung in ästhetische und ethische Kritik um. So war Zarathustra für ihn nun „dieser gesicht- und gestaltlose Unhold und Flügelmann“ mit einer „zweifelhaften Prophetie“.[2]
Thomas Manns 1912 erschienene Novelle „Der Tod in Venedig“ ist noch sehr von Nietzsches Philosophie beeinflusst, und im Besonderen von seinem ersten Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“. Im Folgenden wird mit Hilfe von Forschungsliteratur ein Vergleich zwischen den oben genannten Werken unternommen. Dabei wird sowohl auf inhaltliche, als auch auf stilistische Aspekte eingegangen.
Die Gliederung vollzieht sich in folgende Themen: das Gegensatzpaar apollinisch-dionysisch, die Dekadenz und den Mythos.
In der Argumentation habe ich mich weitgehend an textanalytische Aspekte gehalten.
2. Das Apollinische und das Dionysische
2.1 Der Einfluss Schopenhauers auf Nietzsches Philosophie
Nietzsche las schon während seiner Studienzeit Arthur Schopenhauers Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ und war davon sofort eingenommen. Schopenhauers pessimistische Philosophie und Richard Wagners Musik flossen gleichermaßen in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ ein. Nietzsche band Wagner sogar in die Entstehung des Werkes ein.[3]
Im Folgenden wird der für Nietzsches Verständnis wichtige Teil von Schopenhauers Philosophie kurz erläutert. Schopenhauer zufolge ist das Individuum vom Willen geleitet, der es „von Begierde zu Begierde jagt“. „Seine Wünsche sind grenzenlos“ und jeder erfüllte Wunsch ziehe einen neuen nach sich. Das Leben ist somit für Schopenhauer „ein fortgesetzter Betrug im Kleinen, wie im Großen“. Ein Mittel zur Verneinung des „Willens zum Leben“, der für Schopenhauer den einzigen Ausweg aus den fortgesetzten Begierden darstellt, ist die Kunst.[4]
Des Weiteren behauptet Schopenhauer, dass man durch die grenzenlosen Begierden gehindert werde, zu erkennen, dass alle Menschen eins seien in der Welt des Willens. Raum, Zeit, das p rincipium individuationis - die Tatsache, dass Menschen als Individuen existieren - und die Kausalität verbannt er in die Welt der Vorstellung. „Der Schleier der Maja“ verhülle diese Wahrheit vor den Menschen.[5] Die Kunst helfe den Schleier der Maja aufzuheben.[6]
2.2 Zusammenwirken des Apollinischen und des Dionysischen in der Kunst
Das Begriffspaar apollinisch-dionysisch ist die Grundlage von Nietzsches Theorie der Tragödie. „Das Apollinische und das Dionysische stellen zwei Kunsttriebe dar, die in der Natur herrschen und sich in den Werken der Kunst offenbaren“ (vgl. Schüle, 187). In der Unterscheidung zweier metaphysischer Kunsttriebe greift Nietzsche auf die Schopenhauersche Lehre von der Welt als Wille und der Welt als Vorstellung zurück. Ihre Äquivalente bei Nietzsche sind der dionysische „Rausch“ und der apollinische „Schein“.[7]
„Das Dionysische ist Symbol für das überschäumende Leben, für die Formlosigkeit […] Symbol unzerstörbarer Lebensfreude, trotz allen Leids im Dasein.“ (vgl. Schüle, 188) „Das Apollinische ist das Olympisch-Klare, die formale Disziplin, die Einfachheit.“ (vgl. Schüle, 187) Beide Kunsttriebe müssen nach Nietzsche in der Kunst in einem ausgewogenen Verhältnis stehen, um wahrhaft ästhetisch zu sein. Er bezeichnet dies als „Bruderbund von Apollo und Dionysos“.[8]
Nietzsche zufolge vollzieht sich im Zusammenspiel der beiden antagonistischen Kräfte die Aufhebung des principium individuationis, „die Vernichtung des Schleiers der Maja“ (Nietzsche, 33).
2.3 Die Entwicklung Aschenbachs
Thomas Mann greift in „Der Tod in Venedig“ Nietzsches Kunstverständnis auf. Am Beispiel des Schriftstellers Aschenbach zeigt er die Folgen eines Ungleichgewichts beider Kunsttriebe auf. Aschenbach, der es von früher Jugend an gewöhnt ist, durch apollinische Disziplin, Fleiß und Selbstentsagung künstlerisch tätig zu sein, wird von seinem dionysischen Verlangen nach Zügellosigkeit und Rausch eingeholt, das schon immer der Ursprung seiner Kunst war.
Das Bröckeln der geistigen Disziplin Aschenbachs ist schon am Anfang der Novelle diagnostizierbar.[9] Aschenbach erblickt die Wandererfigur, die offenbar eine Dionysosverkörperung darstellt und seinen nahenden Einzug in Aschenbachs Leben ankündigt.
Dem Abenteuernden war es, als tränke sein Auge dergleichen Üppigkeit, als würde sein Ohr von solchen Melodien umworben; er erinnerte sich auch, daß die Stadt krank sei und es aus Gewinnsucht verheimliche, und er spähte ungezügelter aus nach der voranschwebenden Gondel. (vgl. Mann, 62)
An dieser Stelle endet eine Entwicklung, die von „Selbstzucht“ und „gezügelte[m] Gefühl“ (vgl. Mann, 11f.) über die „Instinktverschmelzung von Zucht und Zügellosigkeit“ (vgl. Mann, 54) zum Ungezügelten führt. Die ehemals „geknechtete“ dionysische Empfindung beginnt sich zu „rächen“.[10] Die Erwähnung von „solchen Melodien“ deutet auf das Dionysische hin, das laut Nietzsche in der Musik am unmittelbarsten wirkt.
Bei Tadzios Anblick beginnt Aschenbachs apollinische Disziplin zu versagen: „Das war der Rausch; und unbedenklich, ja gierig hieß der alternde Künstler ihn willkommen“(vgl. Mann, 50). Nun gibt er sich zügellos dem dionysischen Rausch hin.
Aschenbach selbst jedoch wird das Dionysische erst im späten Traum vom „fremden Gott“ bewusst. Hier spürt er die „seltsame Ausweitung seines Innern“ (vgl. Mann, 10), die für das Erleben des Dionysischen exemplarisch ist.[11] An dieser Stelle greift Thomas Mann auf Nietzsches „Vernichtung des Schleiers der Maja“ zurück. Aschenbach fühlt sich eins mit dem Göttlichen durch das dionysische Erlebnis.
In den Arbeitsnotizen zu „Der Tod in Venedig“ notiert Thomas Mann „Nur durch Überspannung u. Ausweitung seines Wesens kann der Mensch in Verbindung und Berührung treten mit dem Gott u. seinem Geisterschwarm.“[12] Hier schildert er nochmals das dionysische Erlebnis als ein Aussichherausgehen und als Vereinigung mit dem Dionysischen.
Sein Tod kann somit als sein Aufgehen im Dionysischen interpretiert werden. Durch die Vernichtung des Apollinischen in ihm, steht seiner Rückkehr zum „Willen“ im Schopenhauerschen Sinne nichts mehr entgegen.
2.4 Die Künstlerproblematik
Für Aschenbach bedeutet Erkenntnis das Blicken in den Abgrund, mitunter das Erkennen der Nichtigkeit des Lebens. In seiner Konzeption der Künstlerproblematik knüpft Thomas Mann wieder an Nietzsches Philosophie an, der für sein Bild des „dionysischen Menschen“ einen Hamletvergleich heranzieht:
In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben e r k a n n t, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern […] (vgl. Nietzsche, 56 f.)
Deshalb wendet Aschenbach seine ganze künstlerische Disziplin, Formgebundenheit und Strenge dazu auf, zu verhindern, dass er in diesen Abgrund gesogen wird. Hierin stimmt Thomas Mann mit Nietzsche überein, der der Kunst eine Trost- und Retterfunktion für den dionysischen Menschen zuspricht: „Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnig und zum zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene […] Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben.“(vgl. Nietzsche, 56)
Paradoxerweise haben seine Anstrengungen den entgegengesetzten Effekt. Je mehr er versucht, durch apollinische Formgebundenheit und Strenge das Dionysische im Zaum zu halten, desto mehr Raum fordert die verdrängte Empfindung von ihm ein. Thomas Mann drückt dies in seinen Arbeitsnotizen folgendermaßen aus:
Liebe zur Schönheit führt zum Moralischen, d.h. zur Absage an die Sympathie mit dem Abgrund, an die […] Psychologie, die Analyse; führt zur Einfachheit, Größe u. schönen Strenge, zur wiedergeborenen Unbefangenheit, zur Form, aber eben damit auch wieder zum Abgrund. (vgl. Reed 1984, 90)
[...]
[1] Meyer 340
[2] Meyer 361
[3] Bollinger u.a., 33 ff.
[4] Reed 1995, 117 ff.
[5] Fleischer, 59 ff.
[6] Reed 1984, 120
[7] Schüle 187 f.
[8] Schüle 188
[9] Reed 1984, 157
[10] Reed 1984, 142
[11] Ebd. S. 153
[12] Ebd. S. 93