2019 war ein bedeutendes Jahr für Brasilien. Am 1. Januar hat eine neue Bundesregierung mit ehrgeizigen Versprechungen zur Bekämpfung der Kriminalität im Land ihr Amt angetreten. Am 24. Dezember 2019 erließ man in Brasilien eine breite Reform des brasilianischen Straf- und Strafprozessrechts. Durch das vom Justizminister Sérgio Moro verfasste Lei Anticrime (Verbrechensbekämpfungsgesetz – Gesetz Nr. 13.964/2019) wurden neue Vorschriften im Rahmen der Notwehr zum brasilianischen Strafrecht erlassen.
Das Gesetz drückt frei übersetzt folgendes aus: „Wenn die Voraussetzungen dieses Artikels erfüllt sind, gilt ein Beamter des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der einen Angriff oder die Gefahr eines Angriffs auf ein Opfer, das während der Begehung einer Straftat als Geisel gehalten wird, abwehrt, ebenfalls als in Notwehr befindlich.” Man diskutiert in Brasilien oft, ob so eine besondere Regelung für offizielle Sicherheitskräfte notwendig und wissenschaftlich berechtigt ist.
I. Einleitung
Einführung in das Problem
2019 war ein bedeutendes Jahr für Brasilien. Am 1. Januar hat eine neue Bundesregierung mit ehrgeizigen Versprechungen zur Bekämpfung der Kriminalität im Land ihr Amt angetreten. Am 24. Dezember 2019 erließ man in Brasilien eine breite Reform des brasilianischen Straf- und Strafprozessrechts. Durch das vom Justizminister Sergio Moro verfasste Lei Anticrime (Verbrechensbekämpfungsgesetz - Gesetz Nr. 13.964/2019) wurden neue Vorschriften im Rahmen der Notwehr zum brasilianischen Strafrecht erlassen.
Das Gesetz drückt frei übersetzt folgendes aus: „Wenn die Voraussetzungen dieses Artikels erfüllt sind, gilt ein Beamter des öffentlichen Sicherheitsdienstes, der einen Angriff oder die Gefahr eines Angriffs auf ein Opfer, das während der Begehung einer Straftat als Geisel gehalten wird, abwehrt, ebenfalls als in Notwehr befindlich.” Man diskutiert in Brasilien oft, ob so eine besondere Regelung für offizielle Sicherheitskräfte notwendig und wissenschaftlich berechtigt ist.
Fragestellung
Hat die Norm, die im brasilianischen Recht eingeführt wurde, eine entsprechende gesetzliche Regelung aus der Perspektive der Rechtsvergleichung, vorzugsweise im deutschen Recht? Inwieweit ist diese Norm aus der Sicht der Rechtsphilosophie begründet?
These
Auf den ersten Blick hat die neue brasilianische Regelung keine ähnlichen Weisungen aus der Perspektive der Rechtsvergleichung. Auch in der Strafrechtswissenschaft, insbesondere in Brasilien und Deutschland, ist die Notwendigkeit besonderer Vorschriften für die Polizei in diesem Fall selten oder sogar gar nicht zu finden. Die Unberechenbarkeit darüber, wie die Polizei die Norm in der täglichen Praxis interpretieren wird, und der Mangel an ernsthaften wissenschaftlichen Diskussionen, deuten auf eine Verletzung des Grundsatzes der Rechtssicherheit in dem besonders sensiblen Bereich des Strafrechts hin. Aus diesem Grund wird in Frage gestellt, ob diese Norm zur Ablehnung des Strafrechts und Annahme der Rules of Engagement (Einsatzregeln) in Brasilien eingeführt werden kann.
Vorgehensweise
Um die Fragestellung der Arbeit möglichst objektiv beantworten zu können, soll das folgende Vorgehen angewandt werden:
Zuerst soll das brasilianische Notwehrrecht analysiert werden. Und es sollen Überlegungen über die in Brasilien vor kurzem eingeführte Rechtsnorm angestellt werden.
Danach wird in der Arbeit über die Besonderheiten des Notwehrrechts im deutschen Recht reflektiert. Im Rahmen dieser Analyse werden etwaige besondere Vorschriften für Sicherheitskräfte beschrieben und erklärt.
Als letztes werden die Rechtsfolgen des Notwehrrechts insbesondere im Rahmen der Sicherheitstätigkeiten nach deutschem und brasilianischem Recht analysiert und verglichen. Dann soll auch gezeigt werden, inwieweit man in dem neuen brasilianischen Notwehrrecht die politische Ausnutzung des Strafrechts und eine gefährliche Anwendung der Rules of Engagement erkennen kann. Aus der durchgeführten Analyse werden letztendlich mögliche Konsequenzen gezogen.
Forschungsstand
Als Einführung in die Thematik empfehle ich das Werk der Autoren Puppe und Vormbaum.
Wer sich vertiefender mit der Thematik des Notwehrrechts nach brasilianischem Recht befassen möchte, sollte sich mit dem Werk von dos Santos befassen, der in Brasilien zu den Koryphäen im Bereich des Strafrechts gehört.
II. Hauptteil
1. Das brasilianische Notwehrrecht vor und nach dem Gesetz Nr. 13.964 vom 24. Dezember 2019 (Lei Anticrime „Verbrechensbekämpfungsgesetz “)
a. Das Notwehrrecht in der brasilianischen Strafrechtrechtstradition
Die Notwehr ist gemäß Artikel 23 II des brasilianischen Strafgesetzbuches ein Rechtfertigungsgrund, der dem Täter, der einen rechtswidrigen, gegenwärtigen oder bevorstehenden Angriff abgewendet hat, das Recht garantiert, angesichts des Ausschlusses der Rechtswidrigkeit nicht bestraft zu werden1.
Um die Bedeutung des brasilianischen Notwehrrechts verstehen zu können, muss man sich in erster Linie mit dessen Geschichte vertraut machen. Seit der Kolonialzeit, zum Beispiel durch die sogenannten „Ordnungen des portugiesischen Reiches“ (Ordenagöes do Reino Portugués), bis zur heutigen Zeit, wurde das Notwehrrecht gesetzlich reguliert.
Zuerst muss man erläutern, dass es von 1500 (Ordenagöes Afonsinas) bis zur Verabschiedung des Gesetzes Nr. 13.964 vom 24. Dezember 2019 keine besonderen Vorschriften im Rahmen des Notwehrrechts für Polizisten oder Sicherheitskräfte gab.
Während dieser Zeitspanne wurde das Notwehrrecht durch acht verschiedene Normen reguliert. Dazu gehören drei Ordnungen des portugiesischen Reiches (Ordenagöes Afonsinas, Manuelinas e Filipinas), das Strafgesetzbuch des brasilianischen Reiches (Código Criminal do Impèrio de 1830), das Strafgesetzbuch der Vereinigten Staaten von Brasilien (Código Penal dos Estados Unidos do Brasil de 1890), das Strafgesetzbuch von 1940 (Código Penal de 1940), das Strafgesetzbuch von 1969 (Código Penal de 1969), das nicht in Kraft getreten war, die Reform des Allgemeinen Teils von 1984 durch das Gesetz Nr. 7.209 vom 11.07.1984 und schließlich das neue Gesetz von 2019.
Alle zusammengenommen ergeben aber ein schlüssiges Bild, d.h., niemals hat Brasilien ein Strafgesetz mit spezifischen Vorschriften zum Notwehrrecht für Polizisten verabschiedet. Die bisherigen Gesetze hatten lediglich den Begriff und die Voraussetzungen der Notwehr auf verschiedene Weise und in verschiedenem Umfang ausgedrückt. So lauten z. B. die „Ordnungen des portugiesischen Reiches” von 1595 (Ordenagöes Filipinas) - Buch V der „Ordnungen des Reiches” (Ordenagöes Filipinas) Titel XXXV: „Wenn der Tod zu seiner notwendigen Verteidigung dient, wird es keine Strafe geben, es sei denn, er überschreitet die Mäßigkeit, die er haben sollte, so wird er wegen Exzesses bestraft” - in diesem Sinne ähnlich sind auch das Strafgesetzbuch von 1940 in seiner ursprünglichen Formulierung und nachfolgenden Änderungen (neu nummeriert zum Artikel 25 nach der Änderung von 1984) bis zu dem Gesetz Nr. 13.964 vom 24. Dezember 2019 (Lei Anticrime - „Verbrechensbekämpfungsgesetz “).
Vor Verabschiedung des Gesetz Nr. 13.964 vom 24. Dezember 2019 wurde das Notwehrrecht durch Artikel 21 des Strafgesetzbuches von 1940 (neu nummeriert zum Artikel 25 nach der Änderung von 1984) reguliert. In der Summe drückt es aus, dass derjenige in Notwehr handelt, der mit angemessenen Mitteln einen rechtswidrigen
Angriff, der gegenwärtig oder unmittelbar bevorsteht, auf sein eigenes oder ein anderes Rechtsgut abwendet.
b. Zweifel und Kritik nach dem Gesetz Nr. 13.964 vom 24. Dezember 2019 (Lei Anticrime - „Verbrechensbekämpfungsgesetz “
Zuerst einmal scheint das neue Gesetz eine Neuerung zu sein, um sowohl die Rechte von Polizisten und Sicherheitskräften bei der Ausübung gefährlicher Tätigkeiten als auch die Rechte von Opfern zu wahren.
Bei genauerer Überprüfung steht es aber völlig gegen die brasilianische Rechtstradition und birgt die Gefahr, dass das Strafrecht von den Rules of Engagement verdrängt wird.
Aus sozialer Sicht ist es notwendig, mögliche Folgen solch einer Gesetzesänderung in der konkreten Welt zu antizipieren und zu berechnen, d.h., wie werden die Sicherheitskräfte diese Änderung in ihrer alltäglichen Tätigkeit auslegen? Wie könnte die Zielgruppe dieser möglichen Verteidigungen von Polizisten darauf reagieren?
Zu den oben genannten Fragen muss man bemerken, dass in Brasilien 2018 insgesamt 6220 Tote durch Eingriffe der Polizei registriert wurden, ein Anstieg um 20 % im Vergleich zu 2017. Gleichzeitig ist die Zahl der Todesopfer unter Polizisten im gleichen Zeitraum um 10% gesunken. Ähnliches lässt sich bei der Gesamtzahl der gewaltsamen vorsätzlichen Tode feststellen, welche um 10% abgenommen hat. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Bericht schon veröffentlicht worden war, bevor der Gesetzesentwurf verabschiedet wurde2.
Obwohl diese Tatsachen so relevant erscheinen, hat der damalige Gesetzesentwurf des brasilianischen Verbrechensbekämpfungsgesetzes nichts dazu bemerkt. Bezüglich der neuen Regelungen zur Notwehr wurde im Entwurf nur angekündigt, dass das neue Gesetz mehr Rechtssicherheit für die Tätigkeit der Polizei bringen sollte, nach dem Wortlaut der Begründung des Gesetzentwurfes: „Diese Vorschrift korrigiert die aktuelle Situation der absoluten Unsicherheit der Polizei, da sie auf konkrete Bedrohung oder Beginn der Vollstreckung des Verbrechens warten muss, und erst dann reagieren kann. Mit dem neuen Wortlaut kann sie präventiv handeln, d.h., wenn ein unmittelbares Risiko für sie oder Dritte besteht“.
Die auffällige Diskrepanz zwischen den empirischen Zahlen und den oberflächlichen Überlegungen des Entwurfes lenkt deshalb die Aufmerksamkeit auf die Motivation für das Projekt und eine mögliche politische Ausnutzung des Strafrechts.
2. Das deutsche Notwehrrecht: Kontinuität durch das Strafgesetzbuch und Diskontinuität durch das Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr
a. Notwehr im deutschen Strafgesetzbuch: Entstehung. Kontinuität und Auslegung
Im Folgenden sollen die Regeln zur Notwehr im deutschen Recht seit dem Entwurf von Friedberg von 1969 bis zum heutigen Wortlaut des Strafgesetzbuchs laut der Bekanntmachung von 1998 untersucht werden.
Zunächst einmal ist der Wortlaut der Vorschriften über die Notwehr fast unverändert geblieben. Außerdem hat es niemals seit dem Entwurf von 1869 bis zum heutigen Wortlaut eine Vorschrift gegeben, die dem 2019 eingeführten brasilianischen Verbrechensbekämpfungsgesetz ähnelt3.
Um ein einfaches Konzept zu wählen, könnte man erklären, dass eine Tat nicht rechtswidrig ist, wenn die Gebotenheit der Notwehr vorliegt (§ 32 I StGB). Der § 32 II StGB klärt weiter auf, dass es sich bei der Notwehr um Verteidigungshandlungen handelt, die erforderlich sind, einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. Dieser Begriff umfasst auch die Nothilfe, nämlich die Ausübung der Notwehr zu Gunsten eines Dritten, d.h, die Verteidigung der Rechtsgüter von anderen Personen (§ 32 II Alt. 2 StGB). Gleiches gilt im brasilianischen Recht.
Die Vorschriften haben lediglich - wie früher im brasilianischen Recht - nur Begriffe und Voraussetzungen geklärt. Dazu kann man die Wortlaute des § 53 des ursprünglichen Strafgesetzbuches und des § 32 in seiner heutigen Fassung nach der Bekanntmachung von 1998 erwähnen.
Auch ohne wesentliche Textänderungen hat sich die Auslegung der Notwehr weiterentwickelt, und zwar um den Ausdruck "durch Notwehr geboten", der als rechtsethische Einschränkung zu verstehen ist, insbesondere in Fällen des Missbrauchs des Notwehrrechts4.
Laut Ingeborg Puppe5 kann jedes Recht missbraucht werden, indem es entweder zweckentfremdet oder in seiner eigenen Zwecksetzung ad absurdum geführt wird. Dann verliert die Rechtsausübung ihre Legitimität.
Der Missbrauch von Recht kann möglicherweise nur ein praktisches Phänomen bleiben, oder, und zwar im schlimmeren Fall, durch das Gesetz zu Recht werden. Letzteres war z. B. der Fall bei dem Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr von 1934.
b. Das Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr von 1934: Missbrauch des Rechts durch Gesetz
Um die begangenen Unrechte bei den Röhm-Putschen zu legitimieren, erließ die NS Regierung 1934 das Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr. Alle vorsätzlichen Tötungen während des genannten Ereignisses wurden gerechtfertigt. Das Gesetz hatte allein einen Satz: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens.”. Dieses wurde erst durch das Gesetz Nr. 11 des Alliierten Kontrollrats für Deutschland vom 30. Januar 1946 abgeschafft.
Dieses einzige Beispiel der Diskontinuität des Notwehrrechts im deutschen Strafrecht hatte ernsthafte politische Konsequenzen. Es war der Anlass für die berühmte Rede „Der Führer schützt das Recht“ von Carl Schmitt, womit das Führerprinzip angekündigt wurde. Dabei handelte es sich um Rechtszerstörung, ohne Verfahren und ohne Gerichtsbarkeit. Der „Führer” wurde so zu Richter und Gerichtsbarkeit.
Laut Schmitt (1947, S. 948) handelte es sich um eine besondere Gerichtsbarkeit: „In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz. Es war nicht die Aktion eines republikanischen Diktators, der in einem rechtsleeren Raum, während das Gesetz für einen Augenblick die Augen schließt, vollzogene Tatsachen schafft, damit dann, auf dem so geschaffenen Boden der neuen Tatsachen, die Fiktionen der lückenlosen Legalitätwieder Platz greifen können“.
Damit wurde aus der Notwehr als Schutzgarantie des Einzelnen ein Werkzeug des Staatszwecks gemacht, und zwar die Staatsnotwehr, eine Generalklausel ohne bestimmten Begriff. Schließlich stellte das Gesetz die Absicht dar, den Willen des Führers durch den Staatsapparat auszuführen. In diesem Sinne kann man immer eine Staatsraison oder Staatsnotwehrlage finden, um den geeigneten Weg für weitere Unrechtshandlungen zu verwirklichen.
Somit waren bis 1946 die folgenden beiden gesetzlichen Bestimmungen rechtlich gültig: der § 53 des Strafgesetzbuches und der einzige Artikel des Gesetzes über Maßnahmen der Staatsnotwehr mit all seinem politischen Inhalt.
Deshalb stellt sich die Frage: Gelten heute in Brasilien zwei verschiedene Notwehrrechte, d.h., eines für den Einzelnen und ein anderes für Polizisten nach Artikel 25 mit nur einem einzigen Paragraphen im brasilianischen Strafgesetzbuch?
3. Die Problematik der Auslegung in Bezug zum deutschen NS-Gesetz und brasilianischen Recht und die (mangelnde) theoretische Grundlage der neuen brasilianischen Regelung
a. Problematik der Auslegung
In seinem Werk "Nomografia o el arte de redactar leyes"(Nomographie oder die Kunst des Schreibens von Gesetzen) hat Jeremy Bentham auf etwas wichtiges hingewiesen. Laut Bentham ist der politische Staat, die sog. Gesellschaft, wie eine große Familie, und die Gesetze des Staates entsprechen den Befehlen des Familienvorstands6.
Die scheinbare Harmlosigkeit des neuen Paragraphs des Artikels 25 des brasilianischen Strafgesetzbuches ist noch zu prüfen. Tatsächlich ist der Ausdruck "Unter Berücksichtigung der in diesem Artikel vorgesehenen Anforderungen" keine Gewähr der Gleichbehandlung. Man weiß überhaupt nicht, wie die Sicherheitskräfte den Paragraphen auslegen werden. Wie bereits erwähnt, ist die Gefahr der Verdrängung des Strafrechts zu Gunsten der sog. Rules of Engagement nicht außer Betracht zu lassen.
Laut Bentham benötigen die staatlichen Gesetze entgegen der Familienbefehle weitere Regelungen, damit ihre Vorschriften erfüllt werden. Diese unteren Regelungen wurden von Bentham Ermutigungen (inducements) genannt7.
Hier ist ein Vergleich mit den sogenannten Rules of Engagement notwendig, diese können als interne Regeln der öffentlichen Kräfte oder in einigen Länder als rechtliche Normen konzipiert sein, die zur Regulierung des Einsatzes von Gewalt in extremen Situationen wie Kriegen verwendet werden8.
Dieses Gesetz hat den Anschein der Allgemeingültigkeit, birgt aber das Risiko, individuelle und gefährliche Botschaften zu übertragen.
Im Fall des NS-Gesetz von 1934 war dies anders, die Norm trug eine scheinbare individualisierte Regelung, nämlich eine Amnestie für die Beamten, die beim Fall des Röhm-Putsches am 30. Juni und 1. und 2. Juli 1934 Unrecht begangen haben, jedoch hat sich der Führer auf die Staatsraison berufen, eine generelle Formulierung, die alle ähnlichen nachfolgenden Taten rechtfertigen konnte. Und in der Tat, das Unrecht der Nazizeit hat nicht am 2. Juli 1934 aufgehört.
Zusammengefasst ist dies eine scheinbare individuelle Fassung, um die generelle Staatsraison zu statuieren.
Im Fall der brasilianischen Norm ist die Auslegung noch problematischer, insbesondere, wenn man eine Auslegung nach Sinn und Zweck der Gesetzbestimmung anwenden möchte. In diesem Sinne würden alle politischen Gründe enthüllt, speziell der Zweck des Schutzes des brasilianischen Staats oder Staatsorgane.
b. (Mangelnde) Theoretische Grundlage
Nichts in der Begründung des Entwurfes des Gesetz Nr. 13.964/2019 weist darauf hin, dass die kleinste Spur von empirischen oder engen philosophischen Gründen für den Erlass gegeben ist.
Aus empirischer Sicht schließen die abnehmende Zahl der Todesfälle unter Polizeibeamten und die ebenfalls abnehmende Gesamtzahl der Todesfälle im Land die Notwendigkeit einer spezifischen Regel aus.
Bezüglich des Arguments der Rechtssicherheit, die der Justizminister für absolut unsicher, d.h. nicht bestehend, hält, obwohl er keine Angaben dazu in den Entwurf gebracht hat, muss man sagen, das die niedrigsten Verurteilungsraten vor Gericht für Angeklagte gelten, die der Polizei angehören (42,2%), deshalb entspricht das Argument nicht der Realität9.
Aus enger philosophischer Sicht darf man behaupten, dass es keine Grundlage gibt, unabhängig von der theoretischen Orientierung des Themas, sei es aus naturrechtlicher oder rechtspositivistischer Sicht.
Aus naturrechtlicher Sicht hat seit den Schriften Pufendorfs10 aus dem 17. Jahrhundert die Notwehr einen menschlich orientierten Ansatz, d.h. das Ziel der Notwehr ist ein Recht des Menschen und die Rechtsordnung, und hat nicht den Zweck, den Staat zu schützen.
Aus der Perspektive des Naturrechts hat Selbstverteidigung seit den Schriften von Pufendorf[10] im 17. Jahrhundert eine menschenorientierte Sichtweise, d. h. die Selbstverteidigung ist ein Menschenrecht, und dies dient dem Erhalt und Schutz der Rechtordnung, nicht des Staates.
Nach den Lehren des Positivismus in Bezug auf den Empirismus von David Hume, der als Vorläufer des Rechtspositivismus gilt, kann man sagen, dass das Projekt nicht einmal die Analyse des anfänglichen naturalistischen Fehlschlusses, nach Hume das „is-ought-Problem”, überwinden konnte. Tatsächlich konnte das Projekt nicht einmal die empirische Tendenz belegen, die die beabsichtigte Gesetzesänderung rechtfertigen würde, d. h., nicht einmal der logische Sprung, der den naturalistischen Fehlschluss ausmacht, ist vorhanden11.
Nach Benthams Theorie12 und seiner sogenannten Kommensurabilität sollte der Täter die Möglichkeit haben, ein milderes Vergehen zu wählen. Das ist aber eine Ableitung aus dem Beispiel der Anreize. Wie zu erwarten, berücksichtigt die brasilianische Rechtsnorm keinen Anreiz, ein milderes Vergehen zu begehen, was aus rechtsphilosophischer Sicht völlig unvernünftig erscheint und an die französische Maxime „Police partout, Justice nulle part“13 erinnert.
Hegel und Marx haben ebenso diese auf den Menschen ausgerichtete Sicht der Selbstverteidigung. Für Hegel hat das Individuum ein unverhandelbares Recht auf Selbstverteidigung. Hegel hat kein Wort über Selbstverteidigung zum Zweck des Schutzes des Staates verloren14.
Marx15 hat davor gewarnt, wie Gesetze missbraucht werden können, um die Welt nach der eigenen Weltanschauung zu gestalten. Dafür hat er das Holzraubgesetz der preußischen Rheinprovinz als Beispiel genommen und die Leibeigenschaft der bedürftigen Arbeiter, die dadurch entstand, kritisiert.
Marxs Text16 hat auf das Recht der Arbeiter auf Selbstverteidigung gegen die Armut hingewiesen, während das Gesetz sie wie Diebe behandelt hat. Eine humanistische Sicht auf die Situation, obgleich die Gesellschaft die Logik der Bestrafung übernommen hat und vielleicht die gleiche Lösung wie für den flüchtigen Dieb Domenico Siciliano17 auf die Arbeiter anwenden will.
Schließlich ist es wichtig, Zizek (2001, S. 244, 245) und sein Misstrauen gegenüber guten normativen Absichten, einschließlich derjenigen der Menschenrechte, zu erwähnen, in denen sie sogar die Form ihres genauen Gegenteils annehmen können: “...do we not live in the era of universal human rights which assert themselves even against state sovereignty,? Was the NATO bombing of Yugoslavia not the first case of military intervention accomplished (or, at least, presenting itself as accomplished) out of pure normative concern, without reference to any ‘pathological’ politico-economic interest? This newly emerging normativity of ‘human rights’ is nevertheless the form of appearance of its very opposite”[„... leben wir nicht in der Ära der universellen Menschenrechte, die sich selbst gegen die staatliche Souveränität behaupten? War der
NATO-Bombenanschlag auf Jugoslawien nicht der erste Fall einer militärischen Intervention, der aus rein normativen Gründen ohne Hinweis auf ein „pathologisches“ politisch-wirtschaftliches Interesse durchgeführt wurde (oder sich zumindest als vollbracht darstellte)? Diese neu aufkommende Normativität der „Menschenrechte“ ist dennoch die Form des Auftretens ihres Gegenteils. “].
In diesem Sinne ist das Gesetz Nr. 13.964/2019 unverhältnismäßig und vor allem unnötig. Es ist wichtig, eine Entscheidung der Bundesratskommission aus dem Jahr 1869 zu erwähnen, als sie über das Recht auf Selbstverteidigung im deutschen Strafgesetzbuch diskutierte: „Ebenso wurde der Antrag: in Absatz II nach: "Angriff" einzuschalten: "auf Person, Eingenthum oder Besitz" mit 5 gegen 2 Stimmen abgelehnt, nachdem bemerkt worden war, daß auch der Gesetz Entwurf schon dem Worlaut nach, wie zumal durch die Motive bestätigt werde, den Antrag erschöpfte und dasselbe besage, was der letztere bezwecke“. Ein gutes Beispiel, wie unnötige Bestandteile von Gesetzentwürfen behandelt werden sollten18.
Das neue brasilianische Gesetz mit dem Wortlaut „unter Berücksichtigung der in diesem Artikel vorgesehenen Anforderungen” bestätigt also die unnötige Engstirnigkeit des Gesetzes, ohne die gefährlichen Folgen einer möglichen Verabschiedung des Textes zu berücksichtigen.
III. Schluss
1. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
Um die Frage, weshalb keine der zitierten philosophischen Sichtweisen das analysierte brasilianische Gesetz stützt, und somit den zweiten Punkt der Fragestellung zu beantworten, lohnt sich ein Blick in den Text von Schmitt, außerdem gibt es eine ähnliche Aussage des ehemaligen brasilianischen Ministers Sergio Moro, der sagte, dass das Verfahren das Problem sei19.
Natürlich betonte der Minister auch, dass die Grundrechte der Angeklagten respektiert werden müssen, ganz wie Zizek befürchtet hatte, dass das Gegenteil aus guten Absichten im Namen der Menschenrechte geschehen könnte.
Aber wer ist eigentlich der richtige Richter, wenn es um solch ein Problem geht? Wie soll dieser Richter entscheiden? Die Antwort liegt in der Zustimmung von Moro zu Schmitt und von Liszt.
Das Verfahren ist eine Garantie für die Bürger, ohne die jeder Richter wie Schmitt mit uneingeschränkter Macht Recht sprechen könnte. So wären das Verfahren, das Strafgesetzbuch und die Garantien nutzlos und, wie Liszt sagt, eine Magna Charta für Kriminelle20 und von der Gesellschaft Ausgestoßene.
Alles, was oben erwähnt wurde, lässt uns zu dem Schluss kommen, dass die Änderung des Selbstverteidigungsgesetzes in Brasilien eine Gefahr für die Grundrechte darstellt, die Sicherheit der staatlichen Sicherheitskräfte nicht garantiert und sogar dazu führen könnte, dass die Einsatzregeln und das Strafrecht nicht mehr eingehalten werden.
2. Ausblick
In Brasilien wurde heftig darüber diskutiert, ob die neue Regelung, die gerade geprüft wird, vernünftig, angemessen und verfassungskonform ist. In naher Zukunft werden Gerichte im ganzen Land darüber entscheiden, obwohl noch keine Klage wegen Verfassungswidrigkeit beim Obersten Bundesgericht (Suprema Tribunal Federal) eingereicht wurde. Deshalb sollten die Zivilgesellschaft, die Justizbehörden und die akademische Welt das Gesetz auch öffentlich kritisieren, um die staatlichen Behörden unter Druck zu setzen. Nur so kann der derzeitige, bei den brasilianischen Staatsbehörden vorherrschende Trend zu Strafmaßnahmen, die verfassungswidrig sind, gestoppt werden.
Literaturverzeichnis
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Hegel, G. W. F., GrundlinienderPhilosophiedesRechts, Hamburg, 2009
Hugo, Victor, Choses Vues - Anthologie [Gesehenden Dingen - Anthologie], Paris, 2013
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Marx, Karl/Engels, Friedrich, Werke - Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz , Berlin, 1976
Moro, Sergio/Bochenek, Antonio, O problema e o processo [Das Verfahren ist das Problem]. Säo Paulo, 2015
Pufendorf, Samuel, On the Duty of Man and Citizen According to Natural Law [Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur], New York, 1991
Puppe, Ingeborg, Strafrecht Allgemeiner Teilim Spiegelder Rechtsprechung, 3. Auflage, Baden-Baden, 2016
Santos,Juarez Cirino dos, Direito Penal - Parte Geral [Strafrecht-Allgemeiner Teil], 3. Auflage, Rio de Janeiro, 2008
Schmitt, Carl, DerFührerschützt dasRecht, Berlin, 1947
Siciliano, Domenico, Das Leben des fliehenden Diebes: Ein strafrechtliches Politikum, Frankfurtam Main, 2003
Vormbaum, Thomas/Schubert, Werner(Hsrg.), Entstehung des Strafgesetzbuchs, Baden-Baden, 2003
Zizek, Slavoj, Did somebody say totalitarianism? Five interpretations in the (mis)use of a notion [Hat jemand Totalitarismus gesagt? Fünf Interpretationen in der (falschen) Verwendung eines Begriffs], London, 2001
[...]
1 Vgl. Santos, Direito Penal - Parte Geral[Strafrecht-Allgemeiner Teil], Lumen Juris 2008, 235, 236.
2 Fórum Brasileiro de Seguranza Pública, Anuário Brasileiro de Seguranza Pública 2019[Brasilianisches Jahrbuch der öffentlichen Sicherheit 2019], abrufbar unter: file:///home/dpge/%C3%81rea%20de %20Trabalho/ESTUD0S/V0RLESUNGEN%20WiSe202020.21/LIVR0%20PARA%20ARTIG0/ Anuario-2019-FINAL_21.10.19.pdf (letzter Zugriff: 05.02.2021).
3 Vgl. Vormbaum, Thomas/Schubert, Werner(Hsrg.), Entstehung des Strafgezestbuch, Nomos Verlagsgesellschaft 2002, 78.
4 Vgl. Puppe, Ingeborg. Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Nomos 2016, 178.
5 Vgl. Puppe, Ingeborg. Strafrecht Allgemeiner Teil im Spiegel der Rechtsprechung, Nomos 2016, 178.
6 Vgl. Bentham, Jeremy. Nomografía o el arte de redactar leyes[Nomographie oder die Kunst des Schreibens von Gesetzen], Senado de la República, Mesa Directiva. LX Legislatura 2009, 26.
7 Vgl. Bentham, Jeremy. Nomografía o el arte de redactar leyes[Nomographie oder die Kunst des Schreibens von Gesetzen], Senado de la República, Mesa Directiva. LX Legislatura 2009, 26.
8 International Institute of Humanitarian Law. Sanremo Handbook of Rules of Engagement[Sanremo Handbuch der Regeln der Einsatzregeln], abrufbar unter: http://iihl.org/wp-content/uploads/2Q17/ll/ROE-HANDBOQK-ENGLISH.pdf (letzter Zugriff: 09.02.2021.
9 Conselho Nacional de Justica. Relatorio Estatistico: Mes Nacional do Juri 2018[Statistischer Bericht: Nationaler Monat der Schöffengericht 2018], abrufbar unter: https://www.cnj.jus.br/wp-content/uploads/ conteudo/arquivo/2019/06/b1c8bc69867dc06af2acaefa4764ae70.pdf (letzter Zugriff: 05.02.2021) 10Vgl. Pufendorf, Samuel. On the Duty of Man and Citizen According to Natural Law[Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur], Cambridge University Press 1991, 48. 11Vgl. Hume, David. A Treatise of Human Nature[Traktat über die menschliche Natur], Claredon Press 1896, 469.
10 Vgl. Pufendorf, Samuel. On the Duty of Man and Citizen According to Natural Law[Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur], Cambridge University Press 1991, 48.
11 Vgl. Hume, David. A Treatise of Human Nature[Traktat über die menschliche Natur], Claredon Press 1896, 469.
12 Vgl. Bentham, Jeremy. An Introduction to the Principles of Morals and Legislation[Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und Gesetzgebung], Claredon Press 1907, 119.
13 Vgl. Hugo, Victor. Choses Vues - Anthologie[Gesehenden Dingen - Anthologie], Le Livre de Poche 2013, 262.
14 Vgl. Hegel, G. W. F.. Grundlinien derPhilosophie des Rechts, Felix Meiner Verlag 2017, 126, 128.
15 Vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich. Werke - Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz. Dietz Verlag 1976, 109, 147.
16 Vgl. Marx, Karl/Engels, Friedrich. Werke - Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz. Dietz Verlag 1976, 109, 147.
17 Vgl. Siciliano, Domenico. Das Leben des flhiehenden Diebes: Ein strafrechtliches Politikum. Peter Lang 2003, 52, 59.
18 Vgl. Vormbaum, Thomas/Schubert, Werner(Hsrg.), Entstehung des Strafgezestbuch, Nomos Verlagsgesellschaft 2002, 78.
19 Moro, Sergio/Bochenek, Antonio. O problema e o processo[Das Verfahren iss das Problem], abrufbar unter: https://politica.estadao.com.br/blogs/fausto-macedo/o-problema-e-o-processo/ (letzter Zugriff: 05.02.2021).
20 Vgl. Schmitt, Carl, Der Führer schützt das Recht, Deutsche Juristen-Zeitung 1947, 948.
- Arbeit zitieren
- Aluizio Jácome (Autor:in), 2021, Quo Vadis? Wohin geht das brasilianische Notwehrrecht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1619339