Leseprobe
Die Parteien stecken in der Krise: Zahlreiche Affären haben ihren Ruf beschädigt. Immer weniger wird ihnen zugetraut, die politischen Probleme zu lösen. Die traditionellen Milieus schwinden; die Zahl der Mitglieder sinkt.
Der vorliegende Beitrag[1] reflektiert diese Situation aus christlich-sozialethischer Perspektive und plädiert für eine Erneuerung der bisherigen Mitgliederpartei. Diese bleibt unverzichtbar für die Demokratie; ihre Zukunftsfähigkeit ist daher nicht nur für die Parteien selbst von Belang. Attraktiv werden die Parteien aber nur dann sein (und wieder werden), wenn sie politisch Interessierten effektive Beteiligungsmöglichkeiten anbieten.
Politik sei ein „schmutziges Geschäft“, soll Bismarck einst gesagt haben. Oder anders formuliert: Politiker können keine Heiligen sein. Ein Blick in den Heiligenkalender zeigt zahlreiche Gegenbeispiele. Dort finden sich zahlreiche gekrönte Häupter, deren Gedächtnis in der Liturgie seinen Platz hat. In Bamberg wird man dabei zuerst ganz sicher an das heilige Kaiserpaar Heinrich II. und Kunigunde denken. Die beiden Diözesanpatrone werden noch heute als vorbildliche Herrscher und Beispiele christlicher Tugend verehrt. – Doch wie sieht es mit Männern und Frauen aus, die sich in demokratischen Staatswesen dem Geschäft der Politik verschrieben haben? Dort scheint es wenig Platz für das Streben nach persönlicher Tugendhaftigkeit zu geben. Diesen Eindruck vermitteln zumindest viele Skandalgeschichten, die mit schöner Regelmäßigkeit das mediale Licht der Öffentlichkeit erblicken.
Parteipolitik hat keinen besonders guten Ruf. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist immer wieder von kritischen Diskussionen über die Parteien und ihren Einfluss auf Staat und Gesellschaft begleitet gewesen. Zu Beginn der Neunzigerjahre hatte sich sogar der damalige Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, die Kritik an den Parteien und am gegenwärtigen Zustand der Parteiendemokratie zu eigen gemacht. Zeitgleich wurde das Wort „Politikverdrossenheit“ 1992 zum „Wort des Jahres“ gekürt. Die Diskussion verebbte seinerzeit aber weitgehend folgenlos, ohne dass sich das Ansehen der Parteien nachhaltig bessern sollte.
Affären, so der allgemeine Eindruck, scheinen zur politischen Tagesordnung zu gehören: Schwarzgeldaffäre, Bundeslöschtage, bayerischer Amigosumpf, nordrhein-westfälische Flugaffäre, niedersächsische Hochzeitsaffäre, Berliner Bankenkrise, Flugmeilenskandal, Kölner Müllskandal oder die Diskussionen um die Nebentätigkeiten von Politikern bei Bankhäusern, Energie- oder Automobilkonzernen sind nur einige Beispiele aus den vergangenen Jahren.
Auch wenn die Parteien innerhalb unserer repräsentativen Parteiendemokratie eine zentrale und in einigen Bereichen nahezu monopolartige Rolle spielen, hat sich die Christliche Sozialethik, aber auch die lehramtliche Sozialverkündigung bisher erstaunlich wenig mit ihnen beschäftigt. Viele Stellungnahmen laufen im Kern auf eine Tugendethik für Politiker hinaus, mitunter sogar in Anlehnung an die Fürstenspiegel der Renaissancezeit in Form moderner „Politikerspiegel“ formuliert. Individuelle Tugendappelle reichen jedoch in einer komplexen Demokratie und ausdifferenzierten Gesellschaft als Grundlage der Politik nicht aus.
Denn die sittliche Gestaltung der politischen Ordnung geschieht in erster Linie über Institutionen und Regeln, die es dem Einzelnen ermöglichen, in Gemeinschaft mit anderen darüber zu bestimmen, wie das gemeinschaftliche Zusammenleben gestaltet sein soll. Nicht Fragen der Selbstbestimmung, sondern der Mitbestimmung stehen daher für die politische Ordnung im Vordergrund, auch wenn der Einzelne damit keineswegs von jeglicher persönlicher Verantwortung dispensiert ist.
Doch politisches Handeln ist gerade deshalb verantwortbar, weil es auf gestaltbaren und öffentlich zugänglichen Institutionen und dann auch damit verbundenen Kontrollmechanismen beruht. Politische Entscheidungen vollziehen sich über den Weg politischer Gremien, also über kleine Kollektive, denen die Verantwortung übertragen wurde, für die Allgemeinheit verbindliche Beschlüsse zu fällen. In der Politik geht es vorrangig um kollektivierte Entscheidungen. Politisch Verantwortliche handeln nicht in erster Linie als Privatpersonen, sondern als Mandatsträger oder als Inhaber von Parteiämtern. Für die ethische Beurteilung politischen Handelns kann dies nicht folgenlos bleiben.
Das Gemeinwohl ist nicht substantiell vorgegeben, sondern kann nur in steter politischer Aushandlung verwirklicht werden. Wichtig ist allerdings, dass der politische Streit öffentlich, kompromissorientiert und auf Basis allgemein anerkannter Regeln ausgetragen wird. Glaubwürdige und belastbare Kompromisse bedürfen der ethischen Anstrengung. Der politische Kompromiss, dem im Prozess demokratischer Entscheidungsfindung eine zentrale Rolle zukommt, ist eine Form handlungsorientierter Konfliktbearbeitung, die den Beteiligten neue Handlungsspielräume eröffnen will. Eine Fähigkeit, über die Politiker verfügen müssen, besteht darin, sachliche Alternativen zu entwickeln, zu vergleichen und politisch gegeneinander abzuwägen. Eine Politik hingegen, die sich selbst vermeintlich für alternativlos hält, verspielt auf Dauer ihre eigene Legitimation.
Der Einzelne wird erst dann handlungs-, artikulations- und mitbestimmungsfähig, wenn er sich mit anderen zusammenschließt. Aus diesem Grund wird es in einer freien Gesellschaft mit einem legitimen Pluralismus an Interessen auch immer wieder zur Bildung politischer Interessen- und Gesinnungsgemeinschaften kommen, also zu Parteien – in Deutschland sind dies immerhin knapp unter hundert Groß-, Klein- und Kleinstparteien. Diese sind in erster Linie freie Zusammenschlüsse von Bürgerinnen und Bürgern zur Erreichung gemeinsamer politischer Ziele. Ihre Ausschaltung wäre nur um den Preis der Freiheit möglich.
Das Grundgesetz räumt den Parteien erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte einen konstitutionellen Rang ein und schreibt ihnen an vornehmster Stelle die Aufgabe zu, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken (vgl. Art. 21 Abs. 1 GG).
Gegenwärtig sind jedoch Auszehrungserscheinungen der Parteien nicht mehr zu übersehen. Die traditionellen Milieubindungen werden schwächer, die Zahl der Aktiven sinkt und das mitunter recht deutliche Vereinsimage der lokalen Parteigliederungen ist für jüngere politisch Interessierte kaum noch attraktiv. Parteiarbeit ist mühsam, verlangt Durchhaltevermögen, setzt auf lokale Verankerung und beansprucht ein hohes Maß an disponibler Zeit: Erwartungen, die der gestiegenen sozialen Mobilität, den vorherrschenden beruflichen Anforderungen sowie den Veränderungen im Werterepertoire der spätmodernen Gesellschaft immer weniger entsprechen. Gerade die traditionellen Großorganisationen sind keineswegs Profiteure des sozialen Wandels. Die zahllosen Reform- und Strukturdebatten, die gegenwärtig nicht allein in den Parteien geführt werden, machen dies deutlich. Auch in den Kirchen, Gewerkschaften oder Sozialverbänden beispielsweise laufen ähnliche Debatten, in denen um veränderte Arbeitsformen, eine zukunftsfähige Organisationsstruktur und die künftige Rolle der Mitglieder gerungen wird.
Die aktuellen Veränderungen in den Parteien ergeben keineswegs ein in allen Aspekten widerspruchsfreies Bild. Doch fällt auf, dass inzwischen die traditionelle Mitgliederpartei, die sich als vorherrschendes Parteienmodell in der Nachkriegszeit durchsetzen konnte, auf dem Prüfstand steht. Diese basiert auf einer breiten Mitgliederbasis und einer nahezu flächendeckenden Parteiorganisation. Noch ist keineswegs entschieden, ob es zu einer Erneuerung der bisherigen Mitgliederpartei kommen wird oder ob sich ein ganz neuer Parteityp herausbilden wird: eine Partei, die sich vorrangig als Zusammenschluss professioneller Politiker und Mandatsträger begreift.
In einer ausdifferenzierten Gesellschaft, die eine Vielzahl verschiedener Beteiligungsmöglichkeiten kennt, wird es keinen Rückweg zur Massenpartei früherer Tage geben können. Vielmehr muss es bei Parteireformen darum gehen, die Partizipationspotentiale für jene auszuschöpfen, die sich zu einem parteipolitischen Engagement entschieden haben. Wer heute gesellschaftlich aktiv wird, wägt ab, welcher Ertrag damit verbunden ist. Parteien sind dann attraktiv, wenn sie das anbieten können, was ihre ureigene Funktion ist: dem Einzelnen die Möglichkeit zu eröffnen, sich an den Prozessen der politischen Willensbildung, Entscheidungsfindung und Kandidatenauswahl zu beteiligen.
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[1] Dabei handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung des Promotionsvortrags (Lectio brevis) des Verfassers, gehalten auf einer Akademischen Feier der Fakultät Katholische Theologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg am 4. Februar 2005.