Mensch und Maschine - Grenzen der Fusion


Magisterarbeit, 2010

84 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung
1.1. Ausgangslage: Mensch und Technik
1.2. Zielsetzung der Arbeit
1.3. Aufbau der Arbeit

2. Definition des "Cyborg"
2.1. Etymologie des "Cyborg"-Begriffs
2.2. Gradationen des Cyborgs
2.3. Abgrenzung des Cyborgs

3. Der Cyborg im Sport
3.1. Sport und Gesellschaft - Vorbetrachtungen
3.2. Die Entwicklungen im Leistungssport
3.2.1. Die genetische Disposition prädestiniert das sportliche Ergebnis
3.2.2. Der moderne Athlet als Teil einer "Maschinerie"
3.2.3. Marginale Leistungssteigerungen
3.3. Doping im Sport
3.3.1. Sonderfall Usain Bolt
3.3.2. Doping als Normalfall
3.3.3. Neueste Entwicklung: Gendoping
3.4. Der Cyborg im Sport
3.4.1. Sonderfall Oskar Pistorius
3.5. Die Fusion von Organischem mit Mechanischem - Formen
3.5.1. Umwandlung von Maschine zu Mensch
3.5.2. Umwandlung von Mensch zu Maschine
3.6. Die Fusion von Organischem mit Mechanischem - Grenzen
3.6.1. Gunter Gebauer: Das Problem der Störung
3.6.2. Grenzen der Verschmelzung
3.6.3. Der Mensch ist nur begrenzt technisierbar
3.6.4. Wie sind die Grenzen der Steigerung zu begründen?
3.6.5. Verantwortlichkeit der Steigerungen
3.6.6. "Überbietung" statt "Überschreitung" als konstitutives Prinzip des Leistungssports
3.7. Teilergebnis "Der Cyborg im Sport" I
3.8. Teilergebnis "Der Cyborg im Sport" II

4. Maurice Merleau-Pontys Konzeption des "Fleisches"
4.1. Vorbetrachtung zur Philosophie Merleau-Pontys
4.2. Wissenschaftskritik und eigene Methodik
4.3. Der Leib
4.4. Das "Fleisch"
4.5. Merleau-Ponty und die Grenze von Mensch & Maschine
4.6. Teilergebnis Merleau-Ponty

5. Donna Haraways Cyborg - (Lustvolles) Verwischen der Grenzen
5.1. Kapitelübersicht
5.2. (Situierter) Wissensbegriff
5.3. Neudefinition des Körpers
5.4. Neudefinition von Natur
5.5. Die Informatik der Herrschaft
5.6. Cyborgisierung
5.7. Haraways Cyborg-Begriff
5.8. Cyborg-Politik
5.9. Teilergebnis Donna Haraway

6. Ergebnis

7. Literaturverzeichni

1. Einleitung

"I’m a Cyborg, But That’s OK"1 Südkoreanischer Filmtitel

1.1. Ausgangslage: Mensch und Technik

Die Beziehung zwischen Mensch und Technik nimmt immer neue Formen an - und wird dabei zunehmend inniger. Der moderne Mensch stellt ein Wesen dar, welches in einer bisweilen schon als symbiotisch zu bezeichnenden Verbindung mit der ihn umgebenden Technik lebt - schon lange ist er Teil eines mannigfaltigen und überbordenden Mensch-Maschine-Komplexes.

Für eine Untersuchung, die neue Erkenntnisse bieten soll, kann es nicht genügen, allein die allgemeine Verbindung des Menschen mit der Technik zu betrachten; denn folgt man der Philosophischen Anthropologie, ist der Mensch durch sein Dasein als "Män- gelwesen"2 bereits konstitutionell auf Technik als einen lebenswichtigen, da kultur- schaffenden Faktor ebenso angewiesen, wie er durch seine "Weltoffenheit"3 zu einer schnellen Adaptionsleistung des Gebrauchs der Erzeugnisse seiner Technologie imstan- de ist. Ob in Gestalt eines simplen Werkzeugs, eines Geräts oder einer hochentwickelten Maschine, die Verbindung zwischen Mensch und Erzeugnissen seiner Technologie ist ebenso vielgestaltig geworden, wie die Verwiesenheit auf deren Existenz und Benut- zung zugenommen hat. Diese Verbindung endet heutzutage aber nicht mehr mit einer bloßen Bedienung technischer Hilfsmittel; denn was in den Laboren rund um den Glo- bus bereits praktiziert wird, ist die nächste Stufe der Verbindung zwischen menschli- chem Organismus und Technik: Während zunehmend verbesserte Prothesen den Körper äußerlich vervollständigen, bevölkern Elektronik und Nanotechnologien den hohl ge- wordenen Körper von innen. Das durch Technologien "ausgeweitete" Individuum hat dem Mensch-Maschine-Hybrid Platz gemacht - der Mensch der Zukunft ist da und fin- det in der Figur des "Cyborgs"4 seine emblematische Form.

Dieses Grenzgeschöpf verkörpert die Verbindung des menschlichen Organismus mit steuerbarer Technik und kann nicht nur als reale Entwicklung unserer Lebenswirklichkeit, sondern auch als Problematisierungsdiskurs verstanden werden, der die zunehmende Relevanz von binnenleiblicher Technologie und damit die Vermischung von Künstlichem und Natürlichem sichtbar macht.

Hier stehen sich zwei Bewegungsrichtungen gegenüber: auf der einen Seite wird ver- sucht, die Technik zu "beseelen"; der Mensch scheint verleitet, sich zu einem modernen Prometheus aufzuschwingen, der seinen artifiziellen Konstruktionen den göttlichen Le- bensfunken einzuhauchen vermag. Auf der anderen Seite sehen wir die Cyborgtechno- logie, deren Leitbild letztlich der Neuro-Chip ist, dem die Vision der physischen Einheit zwischen Nerven und elektrischen Leitern, von Zelle und Chip, von Kohlenstoff und Silizium zugrunde liegt. Bei einer idealen Cyborg-Prothese kommt es zu einer rezipro- ken Vernetzung zwischen Nerven und elektronischen Leitern, so daß über die Schnitt- stelle hinweg sowohl eine Steuerung körperlicher Komponenten als auch eine Interpre- tation technischer Sensordaten möglich ist. Der technische Fortschritt und verbesserte Materialeigenschaften machen es hierbei möglich, eine Fusion mit absoluter Endgültig- keit und unbedingter Interdependenz zu verwirklichen - der Zusammenschluß wird permanent, und er wird lebenswichtig.

Der Cyborg stellt folglich die Inkorporierung der Grenzverläufe dar, die sich mit der Erweiterung und Steuerung des menschlichen Organismus durch technische Eingriffe eröffnen. In Form dieses neuen Hybrids kulminiert die menschliche Verfügungsgewalt über die eigene Selbstgestaltung, und so ist diese Mensch-Technik-Verbindung durch eine bislang unerreichte Vehemenz gekennzeichnet.

1.2. Zielsetzung der Arbeit

Ich möchte mich in dieser Arbeit den Grenzen der Fusion von Mensch und Maschine von explizit philosophischer Seite nähern. Mittelpunkt muß dabei immer der Mensch sein, denn sein Alleinstellungsmerkmal ist es, dank der Technik eine so intime Verbin- dung mit seinen artifiziellen Erzeugnissen eingehen zu können, wie das keinem anderen Lebewesen möglich ist. Der menschliche Organismus wird auf technische Art erweitert, bleibt aber gleichzeitig auch immer als notwendiger Träger dieser Erweiterungen erhal- ten; er mutiert zum Cyborg, und er unterwirft sich so in seiner neuen Gesamtheit einer Steuerbarkeit, die dem menschlichen Streben nach Selbstoptimierung und -steigerung neue Perspektiven eröffnet.

Die drei ausgewählten Untersuchungsgebiete erlauben hierbei, diesen Hybrid unter ver- schiedenen Aspekten zu durchleuchten: Außenwirkung, Innenansicht und Ausblick sol- len ein differenziertes Bild des "neuen Menschen" möglich machen, der mit seinen Im- plikationen weit über den traditionellen Mensch-Maschine-Komplex hinausweist. Es soll hier gezeigt werden, wo sich die Grenzen zwischen dem Menschen und den arti- fiziellen Erweiterungen befinden, wo sie durchlässig werden oder sogar schon undeut- lich geworden sind. Diese Grenzen sind aber nicht nur zu lokalisieren, sondern auch auf Begründungsmöglichkeiten und ihre grundsätzliche Sinnhaftigkeit zu untersuchen. Letztendlich schwebt als übergeordnete Frage im Raum, was diese Grenzziehung bzw.

-verschiebung für das Selbstverständnis und das Selbstverhältnis des Menschen bedeutet, wenn er erstmalig die Möglichkeit besitzt, sich über Unzulänglichkeiten des eigenen Körpers hinwegzusetzen.

1.3. Aufbau der Arbeit

Nach der Einleitung ist in Kapitel 2 eine grundlegende Untersuchung der Etymologie des Cyborg-Begriffs zu leisten. Anhand des konstituierenden Aufsatzes "Cyborgs and Space" der beiden Autoren CLYNES und KLINE möchte ich zeigen, wie der Begriff entstand und welche spezifischen Intentionen die Verfasser mit ihm verbanden. Daran anschließend soll eine kurze Übersicht der Cyborg-Typen mögliche Spezifikationen der Verschmelzung von Mensch und Maschine als reale Lebenswirklichkeit aufzeigen so- wie auch eine klare Abgrenzung gegenüber Begriffsverwässerungen und Fehldeutungen ermöglichen. Somit soll hier ein präzises Differenzkriterium für den weiteren Verlauf der Arbeit geschaffen werden.

In Kapitel 3 soll der Sport den ersten Untersuchungskomplex des Hauptteils darstellen. Hier möchte ich zeigen, wie sich der moderne Leistungssport gewandelt hat und durch das Rekordprinzip den Mißbrauch von Doping und die Einführung technischer Erweiterungen begünstigt. Der Cyborg im Sport scheint nur die logische Konsequenz zu sein. Hier wird der menschliche Körper über seine natürliche Leistungsfähigkeit hinausgetrieben - und in der Arena des Sports ist es für jeden sichtbar. Dieser Teil der Arbeit wird also den Außenaspekt der Erweiterung des Körpers durch Technik nachvollziehen. Als Referenz für die und wichtiger Teil der Gesellschaft erlauben die im Bereich des Sports gezogenen Schlüsse eine Extrapolation auf andere gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, die sich in Ansätzen bereits zu erkennen geben.

In Kapitel 4 möchte ich mit dem Phänomenologen MAURICE MERLEAU-PONTY und dessen Spätphilosophie einen Denker in diese Untersuchung mit einbeziehen, der einen radikalen Ansatz der Sinnlichkeit mit dem fühlenden Körper als Mittel zum Weltbezug verfolgt. Im zweiten Untersuchungskomplex soll folglich der Innenaspekt der Verbindung von Mensch und Technik problematisiert werden.

Entgegen einem "konstruierenden" Wissenschaftsansatz will MERLAU-PONTY mit seiner Theorie eine Rückführung auf eine präreflexive Erfahrung leisten und damit eine neue Art der Ontologie schaffen, jenseits der Kategorien von Intellektualismus und Em- pirismus. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung sollen hier die Begriffe "Leib" und "Fleisch" stehen, die eine Neudeutung des Eingelassenseins des Menschen in die Welt ermöglichen.

Seine Philosophie konnte ich als klare Antithese zu einer technischen Erweiterung des Menschen lesen, und ich möchte seinen Denkansatz überdies dazu verwenden, die mo- derne Bewegung der "Extropianer" und deren radikalen Posthumanismus zu kontrastie- ren.

Als visionäre Vordenkerin des Transhumanismus hat die US-amerikanische Biologin und Feministin DONNA HARAWAY einen festen Platz in jeder Beschäftigung mit der Verbindung von Mensch und Maschine. In Kapitel 5 werde ich ihre im "Manifest für Cyborgs" entwickelte Cyborg-Figur beleuchten, denn diese steht für die Utopie einer Neudefinition von Natur, Realität und Körper sowie von Rasse, Klasse und Geschlecht. Der Cyborg ist bei ihr ein Zwitterwesen aus Mensch, Tier und Maschine, dessen Grenzen "flüssig" sind. Für sie beinhaltet die Cyborgtechnologie eine Möglichkeit, die patriarchalen und herrschaftlichen Codes der symbolischen Ordnung durcheinanderzubringen und dadurch Emanzipationschancen zu eröffnen.

Mit ihrem radikalen Denken, verbunden mit einer Dekonstruktion des traditionellen Subjekts und dessen technisch fundierter Rekonstruktion, will die Autorin einen neuen Diskurs über die Technowissenschaften entfachen. Sie kann die Veränderungen, denen sich der Mensch bei der Entwicklung zum Cyborg unterwirft, in einem weiten fachli- chen und politischen Rahmen verorten und führt ihren Diskurs, der die Technokultur als Realität anerkennt und damit in eine Zukunftsperspektive einbezieht, mit kritischen Vi- sionen.

Im sechsten, abschließenden Kapitel werde ich versuchen, ein zusammenfassendes Ergebnis im Hinblick auf die eingangs formulierte Fragestellung zu formulieren. Darüber hinaus möchte ich einen Ausblick leisten auf die zukünftigen Entwicklungen, die anhand der in der Arbeit gewonnenen Resultate zu erahnen sind.

2. Definition des "Cyborg"

"Yod, we're all unnatural now. I have retina implants. I have a plug set into my skull to interface with a computer. I read time by a corneal implant. Malkah has a subcutane- ous unit that monitors and corrects blood pressure, and half of her teeth are regrown. Her eyes have been rebuilt twice. Avram has an artificial heart and Gadi a kid- ney.[...]I couldn't begin to survive without my personal base: I wouldn't know who I was. We can't go unaided into what we haven't yet destroyed of 'nature.' Without a wrap, without sec skins and filters, we'd perish. We're all cy- borgs, Yod. You are just a purer form of what we're all tending toward."5

He, She and It - Marge Pierce

2.1. Etymologie des "Cyborg"-Begriffs

Der Begriff "Cyborg" ist ein englisches Kunstwort, zusammengesetzt aus "cyb ernetic" und "org anism". Es erschien erstmals in dem Zeitschriftenaufsatz "Cyborgs and Space" der beiden Autoren MANFRED E. CLYNES und NATHAN S. KLINE in der US- amerikanischen Zeitschrift Astronautics im Jahre 1960.6 Von der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA (National Aeronautics and Space Administration) in Auftrag gegeben, sollte die Studie die Bedingungen für Reisen durch den Orbit wie auch gene- rell die Möglichkeiten des menschlichen Überlebens im All behandeln.

Dieser Aufgabenstellung begegnen die beiden Autoren mit der Betrachtung der grundlegenden Probleme eines Organismus beim Wechsel in eine lebensfeindliche Umgebung mit völlig anderen Bedingungen. Mögliche Lösungen wären:

a) die lebenswichtigen Voraussetzungen in der neuen Umwelt künstlich herzustel- len (was im Fall des Weltraums unmöglich ist), oder aber
b) in einem abgeschlossenen System eine erdähnliche Umwelt stets mit sich zu transportieren (was immer nur eine Behelfslösung sein kann und mit Gefahren behaftet ist)7, oder
c) als sinnvollste Lösung, den eigenen Organismus entsprechend den neuen Le- bensbedingungen anzupassen.

Dementsprechend lautet der Untertitel des Artikels vielsagend: "Altering man's body functions to meet the requirements of extraterrestrial environments would be more logi- cal than providing an earthy environment for him in space ... Artifact-organism systems which would extend man's unconcious, self-regulatory controls are one possibility"8

CLYNES und KLINE verweisen auf ein Experiment, bei dem es gelungen war, eine Ratte durch Implantation mit einer automatisierten osmotischen Druckpumpe zu verbinden, die über 200 Tage täglich eine geringe Dosis an beliebig wählbaren biochemischen Stoffen der Trägerin injizierte.9 Die Ratte wurde (abgesehen vom zusätzlich zu transportierenden Gewicht der Pumpe) in ihrer Lebensweise und vor allem in ihren Lebensfunktionen nicht beeinträchtigt. Wichtig ist hervorzuheben, daß die Funktion der Pumpe vollständig autonom erfolgte, sprich ohne jedweden Einfluß vonseiten des angeschlossenen Organismus aufrechterhalten wurde.

Auf den Menschen und die spezifische Problemstellung übertragen, erkennen die beiden Autoren hier die zukünftige Möglichkeit, eine solche Pumpe über eine Verbindung mit einem zusätzlichen Meß- und gleichzeitigen Kontrollsensor in einen "continous controlloop" zu verwandeln, der "as an adjunct to the body's own autonomous controls"10 arbeiten könnte. Bspw. könnte der systolische Blutdruck automatisch gemessen, mit einem Referenzwert verglichen und bei Bedarf der Körper mit einem gefäßerweiternden oder -verengenden Medikament versorgt werden.11

Den Schwerpunkt einer zukünftigen Erweiterung des Menschen legen die beiden Auto- ren demzufolge eindeutig auf die Steuerung und Ergänzung der hom ö ostatischen12 Pro- zesse im menschlichen Körper. Diese Prozesse laufen unbewußt ab und zielen auf das Erreichen eines stabilen Zustandes des Organismus, der durch Rückkopplung fähig ist zu einer Anpassung an die jeweilige Situation. "The purpose of the Cyborg, as well as his own homoestatic systems, is to provide an organizational system in which such ro- bot-like problems are taken care of automatically and unconciously,[...]"13 Hier ist deut- lich die Tendenz zu sehen, den menschlichen Organismus als ein kybernetisches14 Sys- tem zu begreifen, das sein funktionales Gleichgewicht in erster Linie durch homöostati- sche Prozesse herstellt, in welche man aber mithilfe der Technik eingreifen kann, um eine Anpassungsleistung an eine neue Lebensumwelt zu erzielen: "The Cyborg deliberately incorporates exegenous components extending the self-regulatory control function of the organism in order to adapt it to new environments."15 Der selbstgestalte- te, aktive Eingriff in die menschlichen unbewußten Selbstregulationsmechanismen er- folgt nun nicht allein über bestimmte mentale Techniken "[...] such as yoga or hypnosis."16, sondern erstmals durch einen künstlichen, automatisierten und autonomen Regelmechanismus, der permanent mit dem Organismus verschaltet werden kann, um bestimmte Parameter zu kontrollieren, zu steuern und in letzter Konsequenz sogar Kör- perprozesse partiell ersetzen zu können. Das Ergebnis ist eine Verschmelzung von Mensch und Technik, der kybernetische Organismus, kurz: der Cyborg.

Primär ist die Tendenz zu einer Erweiterung auf biochemischer Stoffwechselebene zu erkennen; denn über technische Prothesen für Extremitäten oder andere Organsubstitute wird noch keine konkrete Aussage getroffen. Erst in einem späteren Interview äußerte sich CLYNES zum Thema der Prothetik folgendermaßen: "Yes, prosthetic organs, but for the maintenance [eigene Hervorhebung] of the person. It wasn't changing their na- ture. Like a kidney, for example, functions to maintain the internal environment, blood levels, but does not affect man's basic nature to any extent."17 Dieser letzte Punkt wird mehrfach erwähnt, und es scheint den Wissenschaftlern ein wichtiges Anliegen zu sein, daß die technischen Erweiterungen, die mit dem Menschen verbunden werden, lediglich eine unterstützende Funktion haben, ähnlich einer Erweiterung, wie sie die Technik im Mensch-Maschine-Komplex darstellt und welche die grundsätzliche menschliche Natur nicht verändern. "I could say to you in general that our 1960 paper concerning the physiologic adjustments of homeostatic systems did not deal at all with problems of man, or any alteration in the nature of man or woman at all."18 Hier kann man eine Rückführung des Gedankengangs auf den ursprünglichen Einsatzort des Cyborg sehen: Es ging weniger um Veränderungen am Menschen in seinem angestammten Umfeld auf der Erde als um die Anpassung des menschlichen Organismus an einen Aufenthalt in einer ihm lebensfeindlichen Umgebung. Der Mensch als Lebensform bleibt laut Auto- ren unverändert, und sie verwahren sich gegen anderweitige Interpretationen: "By the way, parenthetically, the idea of a cyborg in no way implies an it. It's a he or she. It is either a male or a female cyborg; it's not an it. It's an absurd mistake."19 - Eine Aussage, deren Relevanz bei der Betrachtung der Cyborg-Figur von DONNA HARAWAY (s. Kap. 5) eine signifikant andere Gewichtung bekommen wird. Ob allerdings eine quasi- symbiotische technische Erweiterung des Menschen, ob nun äußerlich oder innerlich, wirklich nicht zu einer Veränderung seiner Natur führt, wird im Verlauf der Arbeit noch thematisiert werden.

Bei genauer Betrachtung geht die hier vorgestellte Möglichkeit der Verschaltung von künstlichen und organischen Komponenten in ihrem Potential über einen reinen Adap- tionsprozeß des Menschen an den für seinen Organismus ungewohnten Lebensraum weit hinaus. Die oben primär genannte Entlastungsfunktion mithilfe einer artifiziellen Erweiterung wird erst durch eine Steuerungsfunktion bestimmter Prozesse des mensch- lichen Körpers möglich. Da das Augenmerk der Schrift auftragsgemäß auf den besonde- ren physischen wie psychischen Anforderungen liegt, denen der menschliche Organis- mus während des angestrebten "space travel"20 ausgesetzt sein könnte, übertragen die Autoren die entwickelte Lösung auf die spezifischen Probleme des Aufenthalts im Weltraum. So könnte beispielweise zur erhöhten Wachsamkeit während der langen Flü- ge ein "psychic energizer"21 zugeführt werden, der den Körper des Astronauten, abge- sehen von dem Mindestquantum Schlaf, den er zum Überleben braucht, auf einem op- timalen Aufmerksamkeitsniveau hält. Mit ähnlichen Lösungen warten die beiden For- scher für Probleme wie u.a. Austausch von Atemgasen, Flüssigkeitsaufnahme und abgabe, Enzymausschüttung, Regulierung des Stoffwechsels, Muskelatrophie, aber auch Wahrnehmungsstörungen, mögliche Strahlungsbelastungen, Mangel an sensorischen Reizen und Psychosen auf. Bei dieser Aufzählung wird aber auch klar, daß nur einigen dieser Probleme mit einer implantierten Lösung adäquat zu begegnen ist; gewisse Erweiterungen müssen externalisiert bleiben.

Darüber hinaus ist auch eine Denkrichtung erahnbar, die sich unterschwellig durch den gesamten Aufsatz zieht: Durch Steuerung ist eine Normalisierung des Organismus im ihm lebensfeindlichen Weltraum möglich, aber in zweiter Funktion wird auch eine Op- timierung seiner Körperfunktionen angedacht. Denn die Autoren verweisen mit ihren Beispielen für Anwendungsmöglichkeiten (s.o.) des von ihnen vorgestellten Cyborgs deutlich auf ein Streben nach einem permanenten und stabilisierten Optimum, während der Mensch mit all seinen Funktionen normalerweise deutlichen Schwankungen unter- liegt. Führt man diesen Gedankengang weiter und betrachtet eine potentielle Nivellie- rung dieser natürlichen Schwankungen der Abläufe innerhalb eines Organismus auf dessen maximalem Level, so führt das in der Summe zu einer Steigerung seiner durch- schnittlichen Leistungsfähigkeit.

Obwohl die im Cyborg verkörperte Kombination eines Organismus mit einer Meß- und Kontrolleinheit (vor allem mit der Möglichkeit einer Zugabe von Zusatzstoffen) das Potential einer Steigerungsmöglichkeit stets beinhaltet, wäre es jedoch zu weit gegrif- fen, den Autoren diese Intention primär zu unterstellen; denn gegen ein Überschreiten der normal-körperbedingten Leistungsgrenzen des Menschen, seien sie nun fiktiv oder real, grenzt sich der interviewte CLYNES mehrmals ab: "Well at first I was amused and then I was horrified because it was a total distortion. It gradually seemed to become more and more distorted. The recent film with this Terminator22,[...] - dehumanized the concept completely. This is a travesty of the real scientific concept that we had. It's not even a caricature. It's worse, creating a monster out of something that wasn't a monster. A monsterification of something that is a human enlargement of function[...]23 ". Eine Entstellung des ursprünglichen Cyborg-Konzepts zu einer simplifizierten Phantasie des Übermenschen, wie sie bspw. in der Populärkultur in vielen Ausprägungen stattgefun- den hat, wird so zwar negiert, aber das (Mißbrauchs-)Potential, welches der Fusion von Organismus und Technik zweifellos innewohnt, scheint mir jedoch, zumindest in einer mißbräuchlichen Ausprägung, von den Autoren noch unterschätzt. Zumindest eine ge- wisse optimistische Fortschrittsgläubigkeit muß den beiden Wissenschaftlern unterstellt werden: "Solving the many technological problems involved in manned space flight by adapting man to his environment, rather than vice versa, will not only mark a significant step forward in man's scientific progress, but may well provide a new and larger dimen- sion for man's spirit as well."24

Eine technisch-basierte Anpassung an die extraterrestrische Umgebung wird von CLYNES und KLINE aber auch unter einem evolutionären Blickwinkel gesehen: "In the past evolution brought about the altering of bodily functions to suit different envi- ronments. Starting as of now, it will be possible to achieve this to some degree without alteration of heredity by suitable biochemical, physiological, and electronic modifica- tions of man's existing modus vivendi."25 Diese Anpassungsleistung kann dank techni- scher Hilfe nun ohne die notwendigen evolutionären Veränderungen erfolgen, die eine Neubesiedelung fremden Lebensraumes (s. einleitende Fragestellung) normalerweise voraussetzt. Infolgedessen würden es die fortschreitenden technischen Möglichkeiten der Wissenschaften dem Menschen erlauben, nun erstmals einen aktiven Part in seiner eigenen Evolution zu übernehmen: "SPACE travel challenges mankind not only technologically but also spiritually, in that it invites man to take an active part in his own biological evolution."26 Das darwinsche Prinzip des survival of the fittest durch Vorteile bestimmter Individuen einer Spezies, hervorgerufen durch deren genetische Mutationen, macht nunmehr einer selbstkreierten, auf Technik begründeten Modifikati- on des Menschen Platz. Die Autoren verbinden dies jedoch mit dem Hinweis, daß die Entscheidung für eine solche Selbstmodifikation auch ein dazugehöriges Verantwor- tungsbewußtsein erfordert.

Schlußendlich darf bei allen Betrachtungen der Implikationen, die der Cyborg beinhal- tet, und den Möglichkeiten, die sich aus dieser neuen Verbindung von Mensch und Technik bieten, das Primärziel des neuen Hybrids nicht aus den Augen verloren werden: "The purpose of the Cyborg, as well as his own homeostatic systems, is to provide an organizational system in which such robot-like problems are taken care of automatically and unconciously, leaving man free to explore, to create, to think and to feel [eigene Hervorhebung]."27

2.2. Gradationen des Cyborgs

Die Entstellungen und Fehldeutungen des ursprünglichen Cyborg-Begriffs, die MANFRED CLYNE (s.o.) kritisiert, haben mittlerweile inflationäre Ausmaße angenommen.28 Demzufolge sind auch die Kriterien, die einen Cyborg ausmachen, mannigfaltig interpretiert worden und divergieren mitunter stark.29

Nach der oben vorgenommenen Begriffsklärung können wir jedoch als ursprüngliche Definition postulieren, daß der Cyborg ein biochemisch, physiologisch oder elektro- nisch erweiterter menschlicher Organismus ist, dessen artifizieller Teil über die Mög- lichkeit der Rückkopplung (meist) dauerhaft in die körpereigenen Prozesse eingebunden ist. Ferner ist auch nach Einsatzzweck der Erweiterung zu unterscheiden, denn diese kann eine restaurative, normalisierende oder optimierende Funktion haben. Es lassen sich nachfolgende Abstufungen zeigen, die ich am Grade der Verflechtung mit dem Or- ganismus, bzw. der Integration der Technik in den Organismus in ansteigender Kom- plexität und der Gegebenheit einer Rückkopplung bestimmen kann. Indes muß ange- merkt werden, daß die Gradationen des Cyborgs oft fließend sind und überdies ein ein- zelner Mensch gleichzeitig Träger mehrerer verschiedener Erweiterungen sein kann.

a. Einfache Erweiterungen

Die Rubrik ist in zwei Untergruppen aufzuteilen: Implantate und externe Erwei- terungen. Solche Systeme sind, obwohl technisch durchaus anspruchsvoll, in ih- rer Verbindung zu Menschen eher simpel und im zweiten Fall auch leicht entfernbar. Bei den Implantaten steht der Ersatz eines Organs oder dessen spezi- fischer Funktion im Vordergrund. Man findet sie meist im medizinischen Be- reich; hier wird ein Gegenstand, z.B. eine Zahnprothese, dem Träger dauerhaft implantiert, wobei ein nachträglicher Eingriff ist zwar unter erheblichem Auf wand prinzipiell möglich, aber selten vorgesehen ist. Eine Steuerung ist generell nicht möglich, und die Funktion des Implantats steht sowohl vor dem als auch für den Einsatz präzise fest.

Die zweite Unterkategorie der externen Erweiterungen umfaßt alle Orthesen und die meisten Prothesen, sowie jede Art von Exoskeletten.

Prothetik mit restaurierender Funktion ist schon seit dem Altertum bekannt und normale Prothesen können vom Träger leicht entfernt werden, dienen als äußere Unterstützung oder Ersatz eines Körpergliedes bei Versehrtheit. Als einstmals simple mechanische Hilfe werden sie zunehmend verfeinert und besitzen, modellabhängig, bereits integrierte Steuerungsmechanismen, um sich selbständig an verschiedene Anforderungen anzupassen. Wie ich später noch zeigen werde, kann eine lediglich normalisierende Funktion durch modernste Hochleistungsprothesen heutzutage sogar schon einer optimierenden Aufgabe weichen (s. Kap. 3.5.)

Bei den Exoskeletten ist deren neueste Generation in der Lage, über Sensoren Informationen des Körpers bezüglich seiner Bewegungsintention abzugreifen und mit einer unterstützenden Eigenbewegung zu reagieren.

Beiden Erweiterungen gemein ist jedoch, daß sie vergleichsweise lose mit dem Organismus verbunden sind und im Regelfall restaurierende bis maximal normalisierende Funktionen übernehmen.

b. Enge Erweiterungen

Bei den engen Erweiterungen ist der Grad der gegenseitigen Verflechtung be- reits sehr hoch - Organismus und Maschine gehen eine Art quasi-symbiotischer Beziehung ein. Vor allem medizinische Geräte, die dazu dienen, dysfunktionale Organe in maschineller, externer Version auszulagern, fallen in diesen Bereich. Die Erweiterung greift massiv in die Stoffwechselprozesse des Körpers ein und übernimmt ihre Steuerung oder gleich ganze Organfunktionen. Eine solche technische Erweiterung ist bei bestimmten Zuständen des Organismus nicht mehr problemlos zu entfernen, ohne das gesamte System zu gefährden. Ein An- schluß an eine Herz-Lungen-Maschine kann also für einige Patienten überle- bensnotwendig sein, ebenso wie eine Dialysemaschine (o.ä.).

Allerdings können die engen Erweiterungen auch als hochentwickeltes Implan- tat auftreten: in Form eines internalisierten Schrittmachers (meistens für das Herz, aber auch für Blase, Darm, und sogar für das Gehirn) kommt erstmals eine so innige Verbindung zwischen Träger und Erweiterung zustande, daß im Regelfall, ermöglicht durch die lange Batterielaufzeit moderner Gerätegenerationen, eine lebenslängliche Verbindung eingegangen werden kann.

Die Steuerung beider Typen der engen Erweiterungen bleibt jedoch unidirektio- nal, es wird aber versucht, Rückkopplungsmechanismen zunehmend zu integrie- ren

c. Neuroprothetik

bezeichnet das gesamte Feld der uni- und bidirektionalen Prothesen mit direkter Nervenanbindung. Man muß darüber hinaus noch zwei Untergruppen unter- scheiden: Auf der einen Seite die unidirektionalen Erweiterungen, die durch eine Nervenanbindung eine motorische oder sensorische Funktion ersetzen oder die Steuerung einer Prothese ermöglichen. Hier sind bspw. Cochlea - oder Retina- Implantate zu nennen, die Versuche darstellen, bei Gehörlosen bzw. Blinden ei- ne rudimentäre Weitergabe einst natürlicher Sinneseindrücke über Nervenver- bindungen an das Gehirn zu ermöglichen. Ebenso einseitig, aber in anderer Richtung, erfolgt die Kommunikation bei der Steuerung motorischen Prothesen, die allein aus Nervenimpulsen ihre Informationsbefehle zu einer bestimmten Bewegung ziehen.

Auf der anderen Seite ermöglichen bestimmte direkte Verbindungen bereits jetzt einen bidirektionalen Austausch von Informationen - das sogenannte Biofeed- back: So können bspw. Handprothesen angebracht werden, die, mit körpereige- nen Nerven verbunden, nicht nur über diese zu steuern sind, sondern bereits über elektronische Sensoren eine Rückmeldung über ertastete Oberflächen, Tempera- turen etc. geben können. Eine echte und möglichst umfassende Reziprozität wird auf diesem Gebiet angestrebt.

Ein Problem der Forscher auf diesem Gebiet ist der Stand der Technik, der für viele Anwendungen noch keine adäquaten Lösungen analog der Komplexität des menschlichen Organismus und der seiner Organe bereithält. Das andere Problem ist der Organismus mit seinem Immunsystem selbst, denn: "Das Innere des Menschen ist die feindlichste Umgebung für Technik, die man sich vorstellen kann."30

d. Gentechnologie

Der genetische Cyborg ist die neueste und am wenigsten weit entwickelte Er- scheinung in dieser Aufzählung. Die Eingriffsmöglichkeit erstreckt sich hier bis auf die molekulare Ebene, genauer, bis in das Erbmaterial des Trägers. Beim derzeitigen Stand der Wissenschaft ist über die Funktion, besonders aber über die Interaktion der einzelnen Gene noch wenig bekannt; erste Versuche mit ein- zelnen Genmanipulationen haben aber schon stattgefunden (s. Kap. 3.4.3.). Das Erbmaterial wird dauerhaft oder auch nur vorübergehend modifiziert. Die Ver- flechtung mit der Technik ist zwar auf einen temporären Eingriff beschränkt, die Auswirkungen sind aber um so größer. Eine Manipulation kann durch eine Imp- fung, einen Virus, aber auch durch eine mechanische Veränderung des Erbmate- rials erfolgen - entweder wird es zurück in den Körper geschleust, oder intern modifiziert.

e. Nanotechnologie

Ebenso wie der genetische Cyborg bringt die Nanotechnologie ein völlig neues Themenfeld in die Diskussion über eine Verschmelzung von Mensch und Ma- schine.

Dieser Forschungsbereich kann als direkte Fortsetzung der Mikrotechnologie betrachtet werden, wobei die Ergebnisse im Nanometerbereich, also auf Atom- und Molekülgröße angesiedelt sind und vom bloßen menschlichen Auge längst nicht mehr erfaßt werden können. Es wird an Strukturveränderungen der chemi- schen Elemente ebenso geforscht wie an Kleinstmaschinen (sog. Nanobots), die in den menschlichen Körper integriert werden sollen. Da konkrete Ergebnisse noch ausstehen, kann über deren Gestalt und Einsatzzweck sowie mögliche Steuerungsmechanismen in Verbindung mit dem Körper nur spekuliert werden. Faktisch würde es sich aber um eine Vermischung von Körper und Technik auf zellulärer Ebene handeln - ein Gedanken, der in der Cyborg-Konzeption DONNA HARAWAYs konstruktiven Anklang findet (s. Kap. 5.6.).

2.3. Abgrenzung des Cyborgs

Da, wie eingangs des Kapitels erwähnt, der Cyborg-Begriff in einer Vielzahl von Gebieten benutzt und sich in der Folge sowohl im allgemeinen als auch im speziellen Sprachgebrauch stark von seiner Ursprungsbedeutung entfernt hat, soll hier eine präzise Abgrenzung vorgenommen werden.

Die erste Unterscheidung, die vorgenommen werden muß, betrifft den Mensch- Maschine-Komplex: nach obiger etymologischer Untersuchung ist klar geworden, daß es nicht ausreichend sein kann, die Einheit zu betrachten, die Menschen in einer belie- big gearteten oberflächlichen Verbindung wie bspw. bei der Bedienung oder Steuerung von Maschinen mit diesen bilden. Denn eine solche Betrachtung hat lediglich im Fokus, wie eine Interaktion zwischen Menschen und Maschinen funktioniert und wie im Zu- sammenspiel dieser beiden Komponenten bestimmte Aufgaben bearbeitet werden kön- nen. Die Verbindung von Technik und Mensch geht beim Cyborg deutlich über jedes klassische Mensch-Maschine-System hinaus.

Aber Cyborgs sind, wie oben der Rückgriff auf den Bedeutungsursprung zeigt, technisch veränderte menschliche Organismen und sollten daher nicht mit anderen Homun culi - also künstlich erzeugten Menschen - verwechselt werden. Obwohl er im Bereich der Philosophie durchaus mit anderer Konnotation konstruktiv verwendet wird, weist der klassische Homonculus, ob nun in symbolträchtiger Gestalt des Golems oder als Monster Frankensteins, für diese Arbeit wenig Relevanz auf.

Man kann die Bestrebung des Menschen, sich aus eigener Kraft ein (zumindest qua- si-autonomes und damit lebendig wirkendes) Abbild seiner Selbst zu schaffen, aber auch an der langen Tradition der mechanischen Automatenmenschen sehen, die unab- hängig vom Kulturkreis immer wieder konstruiert wurden. In dieser Reihe stehen zwei weitere Figuren, die man ebenfalls deutlich vom Cyborg abgrenzen muß: der Roboter und der Android. In der Realität tritt uns der Roboter in vielen Bereichen als Industrie- roboter, Serviceroboter, Erkundungsroboter, Militärroboter, etc. mit einem hohen Spe- zialisierungsgrad und infolgedessen mit eingeschränktem Wirkungskreis gegenüber. Er stellt eine mechanisch-elektronische Konstruktion dar, die nach externen Vorgaben re- petitive Arbeiten präzise und verläßlich auszuführen imstande ist.

Inzwischen erzielt die Roboterforschung allerdings auch Ergebnisse, die in rudimentär humanoider Form und mit entsprechenden Bewegungsabläufen auftreten.31 Dennoch ist der Roboter eindeutig vom (bislang rein fiktionalen) Androiden zu unterscheiden, der, mit eigenem Bewußtsein ausgestattet und einen menschlichen Phänotyp aufweisend, eine Art höchstentwickelten Roboter darstellt.32 Beide Gruppen besitzen im Gegensatz zum Cyborg aktuell allerdings keine oder zumindest kaum Anteile organischen Ur- sprungs.

Auch der gesamte Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) in seiner heutigen Form, mitsamt seinen Ausprägungen in Form von neuronalen Netzen oder der Denkrichtung der technologischen Singularitüt, ist in seinem derzeitigen Entwicklungsstand nicht für die Kategorie des Cyborgs bedeutsam.

[...]


1 Chan-wook Park: I'm a Cyborg But That's OK, 2006

2 vgl. Gehlen, Arnold: Der Mensch, Frankfurt/Main, 1974

3 vgl. Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos, Bonn, 1995 u. Gehlen, Arnold: Der Mensch, Frankfurt/Main, 1974

4 Der Begriff "Cyborg" ist ein englisches Kunstwort, zusammengesetzt aus "cyb ernetic" und "org anism" und geht auf die beiden Autoren CLYNES und KLINE zurück. Eine präzise Erläuterung des Begriffs folgt in Kapitel 2.

5 Piercy, Marge: He, She and It, New York, 1991, S. 156

6 Clynes, Manfred E.; Kline, Nathan S.: Cyborgs and Space, New York 1995 (als Wiederveröffentli- chung); Ursprünglicher Abdruck in Clynes, Manfred E.; Kline, Nathan S.: Cyborgs and Space. in: Astronautics, Nr. September, 1960; dt: Clynes, Manfred E.; Kline, Nathan S.: Der Cyborg und der Welt- raum, Bielefeld 2007

7 Bei Betrachtung der Geschichte der bemannten Raumfahrt kann man allerdings sehen, daß diese Lösung weiterhin als praktikabelste angesehen und angewandt wird: Alle bisherigen Missionen ins All wie auch die Internationale Raumstation ISS bedienen sich dieses Hilfsmittels.

8 Clynes, Manfred E.; Kline, Nathan S.: Cyborgs and Space, New York 1995, S. 29

9 vgl. a.a.O., S. 30

10 a.a.O., S. 30

11 vgl. a.a.O., S. 31

12 Das Konzept der Hom ö ostase geht auf den Physiologen CLAUDE BERNARD, die Begriffsprägung auf WALTER CANNON zurück. Es beschreibt beim Organismus die Fähigkeit, durch Selbstregulation stabile Zustände innerhalb eines bestimmten Bereiches zu gewährleisten.

13 Clynes, Manfred E.; Kline, Nathan S.: Cyborgs and Space, New York 1995, S. 31

14 Im Zusammenhang mit dem Cyborg kann die Kybernetik als eine direkte Fortsetzung des Konzepts der Homöostase betrachtet werden: Der US-amerikanische Mathematiker NORBERT WIENER prägte den Begriff der Kybernetik (von altgr.: κυβερνήτης = "Steuermann", d.h. Kybernetik = "Steuermannskunst") in seinem Werk CYBERNETICS or Control and Communication in the Animal and the Machine (dt.:Wiener, Norbert: Kybernetik, Düsseldorf und Wien, 1963) im Jahre 1948 für die Wissenschaft der Steuerung automatischer Systeme, die durch informationsverarbeitende Rückkopplungsmechanismen die Fähigkeit zur Selbstregulation besitzen.

15 Clynes, Manfred E.; Kline, Nathan S.: Cyborgs and Space, New York 1995, S. 30

16 a.a.O., S. 31

17 Gray, Chris Hables: An Interview with Manfred Clynes, New York 1995, S. 48

18 Gray, Chris Hables: An Interview with Manfred Clynes, New York 1995, S. 48

19 ebenda

20 Clynes, Manfred E.; Kline, Nathan S.: Cyborgs and Space, New York 1995, S. 31

21 ebenda

22 CLYNES bezieht sich wahrscheinlich auf die Filme Cameron, James: The Terminator, 1984 oder Cameron, James: Terminator 2: Judgement Day, 1991.

23 Gray, Chris Hables: An Interview with Manfred Clynes, New York 1995, S. 47

24 Clynes, Manfred E.; Kline, Nathan S.: Cyborgs and Space, New York 1995, S. 33

25 a.a.O., S. 29

26 a.a.O., S. 29; dieser Abschnitt fehlt in der deutschen Übersetzung!

27 a.a.O., S. 31

28 Es ist mittlerweile sogar das Spezialgebiet der Cyborgology entstanden, einer Fachrichtung, die sich nur mit vorgeblich Cyborg-spezifischen Problematiken beschäftigt. So untersucht bspw. Gray, Chris Hables: Cyborg Citizen, Wien, 2002 die Implikationen, die für ein staatliches Bürgerrecht in Bezug auf Cyborgs relevant sein könnten (z.B. eine "Cyborg Bill of Rights").

29 vgl. bspw. Spreen, Dierk: Was ver-spricht der Cyborg? in: Ästhetik & Kommunikation, Nr. 96, Berlin 1997, Gray, Chris Hables u.a.: The Cyborg Handbook, New York, 1995, Oehlert, Mark: From Captain America to Wolverine, Abingdon, Oxon 2007, Hayles, Katherine N.: The Life Cycle of Cyborgs, New York 1995

30 Klein, Stefan: Neuroprothetik - Handschlag mit der Zukunft. in: GEO Magazin, Nr. 6, Hamburg 2000, S. 70

31 Ein Beispiel, welches den derzeitigen Entwicklungsgrad dieser Roboterart gut widerspiegelt, ist das Modell ASIMO (Akronym für "A dvanced S tep in I nnovative Mo bility") des japanischen Technologiekon- zerns Honda.

32 Bekannte Figuren in diesem Sinne sind der Android Data aus der TV-Serie Star Trek: The Next Gene ration, sowie die Gattung der Replikanten aus dem Film Blade Runner (s.a. Kap. 3.6.1.).

Ende der Leseprobe aus 84 Seiten

Details

Titel
Mensch und Maschine - Grenzen der Fusion
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Institut für Philosophie)
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
84
Katalognummer
V162879
ISBN (eBook)
9783640775484
ISBN (Buch)
9783640775330
Dateigröße
825 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Android, Blade Runner, chair, Chiasma, Cochlea-Implantat, corps, Cyborg, Cyborg-Figur, Cyborgisierung, Cyborg-Konzept, DNS, Entlastungsfunktion, Erweiterung, Exoskelett, Extropianer, Feminismus, Fleisch, Fusion, Gehirn, Gendoping, Gentechnologie, Gert-Peter Brüggemann, Geschlechterkonzeption, Grenzgeschöpf, Gunter Gebauer, Herrschaftsmechanismen, Herzschrittmacher, Hirndoping, Usain Bolt, Transhumanismus, Terminator, Technodoping, Situiertes Wissen, Automatenmensch, Chimäre, Cyborg-Politik, Donna Haraway, Doping, Hirnimplantat, Sport, Human Genome Project, Informatik der Herrschaft, Künstliche Intelligenz, Leib, Manfred Clynes, Maurice Merleau-Ponty, Nathan Kline, Norbert Wiener, Neuro-Enhancement, Neuroprothetik, Olympische Spiele, Oskar Pistorius, Robocop, Posthumanismus, Singularität, Prothese, Mensch-Maschine-Komplex, Homöostase, Manifest, Roboter, Kybernetik, Olympia, Netzwerkkörper, Implantat
Arbeit zitieren
M. A. Oliver Becker (Autor:in), 2010, Mensch und Maschine - Grenzen der Fusion, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/162879

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