Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I Einleitung
II Hauptteil
1. Die Situation des Bürgertums nach 1945
1.1 Das Bürgertum im sozialen Bewusstsein
1.2 Charakteristika des Bürgertums
2. Das Prinzip „Arbeiter- und Bauernstaat“ und die Lage der Bürgerlichen in der SBZ und der frühen DDR
2.1 Die bürgerlichen Parteien
2.1.1 Die DDR-CDU
2.1.2 Die LDP
2.2 Die Blockpolitik
3. Der 17. Juni 1953 und die Träger des Volksaufstands
3.1 Die Akteure am 17. Juni 1953
3.2 Wertewandel von unten?
4. Die DDR als Nischengesellschaft: Bürgerliches Kernmilieu protestantische Kirche
III Schlussbetrachtung
I. EINLEITUNG
Weil er gleichermaßen an die Teilung wie an die Wiedervereinigung einer Gesellschaft erinnern will, ersetzt der 3. Oktober seit 1990 den 17. Juni als deutschen Nationalfeiertag. Tatsächlich reichen die langfristigen Folgen der Teilung weit über den Niedergang der DDR hinaus. Bezeichnend genug ist, dass auch 20 Jahre nach dem Mauerfall ein Wahlkampf um das Amt des Bundespräsidenten ausreichend Anlass bietet, um über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Begriffs „Unrechtsstaat“ im Zusammenhang mit der DDR zu debattieren.
Wie totalitär war die DDR demzufolge? Durchwanderte der Einfluss von SED und Stasi alle Bereiche des Lebens? Eine Einstufung als totalitär setzt die Erfüllung dieses Kriteriums voraus. Dass die SED totalitäre Ansprüche hatte, ist unumstritten. Sie machte keinen Hehl daraus, dass ihr angepeiltes Ziel die Entbürgerlichung der Gesellschaft war, die nach marxistischer Logik determiniert aus dem Klassenkampf resultieren würde. Während in der Bundesrepublik ein Generationenwandel offensichtlich mit einem Wertewandel einherging, der seine Höhepunkte in den siebziger Jahren feierte, setzte die SED alles daran, einen Mentalitätswandel nach kommunistischen Standards durchzusetzen. Die vorliegende Arbeit will untersuchen, welcher Instrumente sich die Einheitspartei dabei behalf, und ob und inwiefern es der SED gelungen ist, Lebensstile und Mentalitäten in der ostdeutschen Gesellschaft zu steuern. Weil sich der gewünschte Wertewandel „von oben“ auf das Bürgertum spezifizierte, legt auch die vorliegende Arbeit ihr Hauptaugenmerk auf diese Gesellschaftsschicht. Anhand der Darstellung der Situation des Bürgertums in der DDR soll präsentiert werden, wie weit die Suggestion im SED-Staat reichte. Analysiert werden soll auch die Frage nach den Möglichkeiten des Widerstands gegen die oktroyierte Ideologie. Aus diesem Grund widmet sich die Arbeit in einem Kapitel dem Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 und untersucht die Frage nach bürgerlicher Beteiligung an dem Protest. Als empirische Grundlage für die Analyse dienen die Kernmilieus der ostdeutschen Bürgerlichkeit, nämlich die bürgerlichen Parteien sowie die protestantische Kirche. Dem voran geht eine knappe theoretische Einordnung der Bourgoisie in die soziologische Einteilung von sozialen Klassen und Schichten.
Seit Beginn der 1990er Jahre untersuchen Historiker in Aufsätzen und Monographien die Lage des Bürgertums in der unmittelbaren Nachkriegszeit.[1] Etwas schmäler sieht der Forschungsstand zur konkreten Thematik des DDR-Bürgertums aus.[2] Die Autorin bediente sich in der vorliegenden Arbeit daher in besonderem Maße der Literatur über Parteien, Oppositionsbewegungen und Kirchen im SED-Staat sowie der Entnazifizierungspolitik von KPdSU und SED, da in diesen Zusammenhängen die Bürgerlichkeit eine gewichtige Rolle spielt.
II. HAUPTTEIL
1. Die Situation des Bürgertums nach 1945
Einer der wesentlichen Unterschiede zwischen der Gesellschaftsstruktur in Demokratien und Diktaturen besteht in deren – ideologisch zugelassener und real existierender – gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. Das Bürgertum erfuhr unter sämtlichen europäischen Diktaturen weitgehend Unterdrückung oder gar Ausschaltung, sofern sich seine Vertreter nicht mit dem jeweiligen System arrangierten. Nach 1945 erschien das Bürgertum deshalb sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung als tote Schicht. Selbst im Rückblick sprach etwa Günter Grass noch 1988 von einem Schwinden der Bourgoisie nach dem Ersten Weltkrieg, „in ihrer Substanz getroffen von der Inflation und danach vom Nationalsozialismus.“[3]
Grass‘ Standpunkt korrespondiert mit der vorherrschenden Historikermeinung in Bezug auf das Wirtschaftsbürgertum, wie es sich im 19. Jahrhundert in Europa etabliert hatte, in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Historiker führen die Krise des Bürgertums nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf das intern wie extern gesunkene Vertrauen in die Schicht sowie auf deren existenzielle Probleme zurück. Die fast komplette Ausrottung des mitteleuropäischen jüdischen Bürgertums, die Enteignungen und Vertreibungen zahlreicher Angehöriger der Bourgoisie sowie letztendlich die Enttäuschung von Arbeitern und Intellektuellen über das Unvermögen der Bürgerlichen, eine stabile Gesellschaft zu schaffen, werden gemeinhin als Faktoren für die scheinbare Bedeutungslosigkeit des Bürgertums in den späten vierziger Jahren genannt.[4]
Es finden sich hingegen auch viele Ansätze, die von einer Renaissance zumindest des Bildungsbürgertums nach 1945 in West- und Mitteleuropa und von einem Überleben der bürgerlichen Werte auch während des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieges ausgehen.[5]
1.1 Das Bürgertum im sozialen Bewusstsein
Als Indiz dafür, dass das Bürgertum nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht nur im sozialen Bewusstsein, sondern auch in der Realität existierte, sprechen Begrifflichkeiten in der Alltagssprache jener Zeit. „Bürgertum“ und „Bourgoisie“ tauchten in den vierziger und fünfziger Jahren noch im trivialen Wortschatz auf.[6] Von einer Stunde Null nach 1945, die die Erinnerung an die in den vergangenen beiden Jahrhunderten entwickelte moderne Bürgerlichkeit ausgelöscht hätte, kann also keine Rede sein. In der deutschen Nachkriegsgesellschaft waren klare Vorstellungen von Bürgerlichkeit und Nichtbürgerlichkeit vorhanden – symbolisch voneinander getrennt wurden sie mit jeweiliger Assoziation zur bundesrepublikanischen bzw. zur DDR-Gesellschaft.[7]
Ob sich in historischer Retrospektive eine derartig klare Trennlinie zwischen bürgerlicher und antibürgerlicher Gesellschaft, wie von den Zeitgenossen wahrgenommen, herstellen lässt und ob es dem SED-Staat gelungen ist, seine Gesellschaft zu einer proletarischen Gemeinschaft ohne Bürgerlichkeit umzuerziehen, ist Gegenstand der vorliegenden Analyse.
1.2 Charakteristika des Bürgertums
Wertvorstellungen und Habitus lassen sich nicht einfach durch neue Ideologien beseitigen. Das unumstrittene Fortbestehen bürgerlicher Werte und Lebensweisen im Westen Deutschlands auch nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft beweist, dass sich die über 200 Jahre eingeprägte Idee einer Bürgerlichkeit auch nicht durch die Erfahrungen in einer totalitären Diktatur entfernen ließen.
Soziologen unterscheiden vier Typen von Bürgertum bzw. Bürgerlichkeit. Dies sind erstens „bürgerliche Werte“, die nach soziologischen Idealvorstellungen besonders von Angehörigen des Bildungsbürgertums vertreten werden und demokratische Prinzipien und Freiheiten umfassen. An zweiter Stelle zu nennen ist das Bürgertum im marxistischen Sinne, also die besitzende Klasse, die über das „Kapital“ verfügt und herrscht, drittens das „exklusive Bürgertum“, das von einer nach unten und oben abgeschotteten, bürgerlichen Schicht ausgeht, die sich selbst als Wertegemeinschaft begreift, der Angehörige anderer sozialer Klassen nicht beitreten können. Als Alternative dazu spricht man viertens von einer „inklusiven Bürgerlichkeit“, die sich weitgehend mit dem Konzept einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“[8] im Sinne Helmut Schelskys gleichsetzen lässt und die sich auch zu einer verfassten, mittelständischen Gesellschaftsordnung entwickeln kann.[9]
Als wichtigste Charakteristika bei der Unterscheidung des Bürgertums von den anderen sozialen Schichten gelten ökonomische und Bildungsfaktoren.[10]
Für die vorliegende Arbeit ist insbesondere die Unterscheidung zwischen einer „exklusiven“ und einer „inklusiven“ Bürgerlichkeit relevant. Die Autorin vertritt die These, dass sich in der Bundesrepublik nach 1945 eine nach amerikanischem Vorbild „inklusive Bürgerlichkeit“ etablierte, während sich die Bürgerlichkeit in der DDR auf ein exklusives und zudem gesellschaftlich schwaches Milieu beschränkte, das sich zumal nicht als zentrale Widerstandsgruppe gegen die bürgertumsfeindliche Diktatur herauskristallisierte.
2. Das Prinzip „Arbeiter- und Bauernstaat“ und die Lage der Bürgerlichen in der SBZ und der frühen DDR
Während die Besatzungsmächte im Westen Deutschlands bereits im Zuge der Entnazifizierung versuchten, ein Bürgertum im Sinne eines breiten, offenen Mittelstandes zu etablieren, war das erklärte Ziel der kommunistischen Besatzer in der Ostzone der Klassenkampf, an dessen Ende ein Sieg des Proletariats stehen sollte. Unter dem Vorwand einer durchaus strengen Entnazifizierung besonders in den Bereichen der Bildung und Justiz säuberte die Sowjetische Mitlitäradministration in Deutschland (SMAD) auch solches Personal in Wirtschaft und Verwaltung ohne nationalsozialistischen Hintergrund. Bereits in der Phase der Entnazifizierung bis zum Jahr 1948 zeichnete sich in der zukünftigen DDR eine Diskriminierung der Mitglieder von bürgerlichen Parteien und Angehörigen der Sozialdemokratie ab. Der Druck, den die SMAD gerade auf die CDU und die LDP ausübte, verdeutlicht sich in besonderem Maße an der Abstimmung zur Bodenreform im Jahr 1945. Dass Opposition unter der SMAD nahezu unmöglich sein würde, stellte diese auf symbolträchtige Weise klar, indem sie Andreas Hermes und Walther Schreiber als Reaktion auf deren Widerspruch zur entschädigungslosen Enteignung im Zuge der Bodenreform aus ihren Führungspositionen innerhalb ihrer eigenen Partei, der CDU, entfernte.[11]
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[1] Siegrist, Hannes: Wie bürgerlich war die Bundesrepublik, wie entbürgerlicht die DDR?, in: Koordinaten deutscher Geschichte in der Epoche des Ost-West-Konflikts. Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 55, hrsg. von Hans Günter Hockerts, S. 220 f.
[2] Zu diesem Thema finden sich vor allem Beiträge verschiedener Historiker in Bänden von Hans Günter Hockerts sowie Manfred Hettling/Bernd Ulrich.
[3] Günter Grass, in: Francoise Giroud/Günter Grass, Ecoutez-moi. Paris-Berlin, Aller-retour, Paris 1988, S. 88 f.
[4] Kaelble, Hartmut: Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S. 176 f.
[5] Vgl. u.a. Kaelble, Hartmut: Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S. 176 ff.
[6] Kaelble, Hartmut: Sozialgeschichte Europas 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S. 177.
[7] Siegrist, Hannes: Wie bürgerlich war die Bundesrepublik, wie entbürgerlicht die DDR? Verbürgerlichung und Antibürgerlichkeit in historischer Perspektive, in: Schriften des Historischen Kollegs, hrsg. von Günter Hockerts, XX, S. 208.
[8] Vgl. auch: Braun, Hans: Helmut Schelskys Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ und die Bundesrepublik der 50er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 199-223.
[9] Siegrist, S. 210.
[10] Vgl. u.a. Kaelble, S. 178 ff.
[11] Pötzsch, Horst: Deutsche Geschichte von 1945 bis zur Gegenwart. Die Entwicklung der beiden deutschen Staaten und das vereinte Deutschland, München 2006, S. 60 f.