1967 berichtet der ‚Spiegel’ über eine „stürmische Sitzung“, die bereits im Februar 1966 im Institut für Marxismus-Leninismus in Moskau stattgefunden habe, eine Diskussion über das Buch ‚22. Juni 1941’ des sowjetischen Historikers Aleksandr Nekrič, „der Stalin für die anfänglichen Niederlagen der Sowjetarmee verantwortlich macht“. Damit erreicht eine Auseinandersetzung auch den Westen, die im Juni 1967 im Parteiausschluss des Historikers gipfelt, der für ihn praktisch ein Verbot von beruflichen Kontakten und das Ende der Forschungstätigkeit bedeutet. Die ‚Affäre’ um Nekrič, die Hildermeier als den „bekanntesten Fall“ eines kritischen Historikers bezeichnet, für den seine „Gegenargumente“ gegen das offizielle Geschichtsbild nach Chruščëvs Sturz „eine umgehende Maßregelung zur Folge hatten“, hat in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre ein beachtliches Echo in der UdSSR und international hervorgerufen. Trotzdem hat es bis heute keine tiefer gehende Forschungsaktivität gegeben, die sich mit diesen Ereignissen beschäftigt hätte. Die umfangreichste und detaillierteste Darstellung stammt nach wie vor von Nekrič selbst.
Wenn in der Forschung der Fall Erwähnung findet, dann wird die Ächtung des Historikers i. d. R. wie von Hildermeier als Zeichen des Machtwechsels und einer damit verbundenen Neubewertung Stalins und des Krieges gewertet. Tumarkin etwa sieht das Verbot des Buches als Folge des sich unter Brežnev etablierenden Kriegskultes,
der keine Abweichungen von der „master narrative“ mehr dulden konnte – und zu der gehörten unverrückbar die Plötzlichkeit des unerwarteten deutschen Angriffs, eine positive Darstellung Stalins und ein Übergehen der anfänglichen Niederlagen.
Selbst Nekrič führt das Schicksal seines Buches auf die Entmachtung Chruščëvs zurück. Zaslavsky reiht das spätere Schicksal Nekričs als „one of the most telling examples“ außerdem in eine Strategie der Brežnev-Ära ein, „active intellectual critics who were catalysts in the democratization movement and the anti-Stalinist struggle“ systematisch ins Exil zu treiben. Eine interessante Alternative präsentiert Heer, die, unter Berücksichtigung der Argumente der Kritik an Nekrič, zum Ergebnis kommt: „Nekrich is simply not working within Marxist-Leninist historical categories“. Es scheint sinnvoll, auch diesem Hinweis auf einen Konflikt des Buches mit den etablierten Kategorien der sowjetischen Geschichtsdarstellung zu folgen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- 1. Der Große Vaterländische Krieg und die Entstalinisierung
- 1.1. Der Krieg im Stalinismus: Lob des Generalissimus
- 1.2. Die Geheimrede: Eine neue Version
- 1.3. Die sowjetische Geschichtsschreibung nach der Geheimrede
- 2. Die Umdeutung unter Brežnev
- 2.1. Brežnev: der Sieg des Kommunismus auch dank Stalin
- 2.2. Die neue Linie
- 3. Exkurs: Tabuthemen
- 3.1. Der Hitler-Stalin-Pakt
- 3.2. Die sowjetische Aggression gegen Finnland
- 3.3. Die menschlichen Verluste des Krieges
- 4. „22. Juni 1941“
- 4.1. Rezeption: Ein Überblick
- 4.1.1. UdSSR
- 4.1.2. Welt
- 4.2. Zum Inhalt
- 4.3. Fokus: Die Gegenargumente
- 4.3.1. Diskussion im Institut für Marxismus-Leninismus
- 4.3.2. Der Artikel von Deborin und Tel'puchovskij
- 4.1. Rezeption: Ein Überblick
- Schluss
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der „Nekrič-Affäre“ und deren Einordnung in die sowjetische Kriegshistoriographie. Sie analysiert die unterschiedlichen Darstellungen des Kriegsbeginns und der Rolle Stalins in der Stalinära, der Chruščëv-Zeit und der Brežnev-Ära. Dabei geht es insbesondere darum, die politischen Hintergründe der Verurteilung von Nekričs Buch „22. Juni 1941“ zu beleuchten.
- Die Darstellung des Kriegsbeginns in der Sowjetunion
- Die Rolle Stalins in der Kriegshistoriographie
- Die Entstalinisierung und die Neubewertung des Krieges
- Die ‚Nekrič-Affäre’ als Konflikt zwischen unterschiedlichen Geschichtsbildern
- Die Entwicklung des Kriegskultes unter Brežnev
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung stellt den Fall Nekrič vor und setzt den Rahmen für die Untersuchung.
- Kapitel 1 beleuchtet die offizielle Darstellung des Krieges in der Stalinära und analysiert die Kritik Chruščëvs in seiner Geheimrede. Es betrachtet die Auswirkungen der Geheimrede auf die sowjetische Geschichtsschreibung.
- Kapitel 2 beschreibt die neue Linie der Geschichtsdarstellung unter Brežnev, die eine Rehabilitierung Stalins und eine Verklärung des Kriegsverlaufs mit sich bringt.
- Kapitel 3 widmet sich einigen Tabuthemen der sowjetischen Geschichtsschreibung, darunter der Hitler-Stalin-Pakt, der Krieg gegen Finnland und die Frage der menschlichen Verluste.
- Kapitel 4 analysiert die Rezeption von Nekričs Buch „22. Juni 1941“ in der UdSSR und international, seine Kritikpunkte und die Argumentation seiner Kritiker.
Schlüsselwörter
Sowjetische Kriegshistoriographie, Entstalinisierung, Stalin, Chruščëv, Brežnev, Kriegskult, ‚Nekrič-Affäre’, „22. Juni 1941”, Hitler-Stalin-Pakt, Krieg gegen Finnland, menschliche Verluste des Krieges.
- Arbeit zitieren
- Stefan Krause (Autor:in), 2010, "22. Juni 1941" - Die "Nekritsch-Affäre" im Kontext der sowjetischen Kriegshistoriographie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/165161