Camus' Definition von Revolte und Revolution in "Les Justes"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1 Camus – Situationsanalyse und Aufruf zur „Krisenbewältigung“

2 Revolte und Revolution – Ein Gegensatzpaar?
2.1 Spontanes Aufbegehren in der révolte – Schaffung von Werten menschlicher Gemeinschaft
2.2 Von der Revolte zur Revolution – Die Tendenz zum Absoluten

3 Anarchistischer Terror – Der historische Rahmen der Justes

4 Les Justes im Zeichen der „pensée de midi“
4.1 Das Prinzip der démesure und die Revolution als “bien suprême”
4.2 Kaliayev: Die gerechte Revolte

5 Die Revolte in ihrem Widerspruch und die Zerrissenheit der Justes
5.1 Die Revolte im Spannungsfeld von Ideal und Erfordernissen
5.2 Die Spannung zwischen hehrem Ideal und privatem Glück

6 Die Revolte der Justes – eine Sackgasse?

7 Schluß

1 Camus – Situationsanalyse und Aufruf zur „Krisenbewältigung“

Alors, quand la révolution, au nom de la puissance et de l’histoire, devient cette mécanique meurtrière et démesurée, une nouvelle révolte devient sacrée, au nom de la mesure et de la vie. Nous sommes à cette extrémité. [...] Par delà le nihilisme, nous tous, parmi les ruines, préparons une renaissance. Mais peu le savent.[1]

In diesen wenigen Zeilen scheinen bereits die Begrifflichkeiten auf, die Camus literarisches Schaffen wie ein roter Faden durchziehen, Begrifflichkeiten, die unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und der Okkupation sich formten und in der Nachkriegszeit an Schärfe gewannen. Eindeutig negativ konnotiert wird die Revolution, entwickelt sie doch im Zeichen eines verabsolutierten Geschichtsbegriffes eine unzähmbare Eigendynamik, der letztendlich alles zum Opfer fallen muß. Wider diesen scheinbar unaufhaltsamen Ablauf erhebt sich die Bewegung der Revolte als Fürsprecherin des Lebens, der Kreatur.

In der Situation des Nachkrieges sieht Camus den Umschlagpunkt erreicht, ab dem sich die Revolte erneut manifestieren muß. Die Formulierung nouvelle révolte deutet auf die zyklische Struktur seines Konzeptes hin, wonach die révolte dauerhafte, unwandelbare Ergebnisse nicht zeitigen kann, sondern stets aufs Neue zu wagen ist.

Zitierte Textstelle gewährt Einblick in Camus Wahrnehmung seiner Zeit, einer Welt im Schatten des beendeten und am Vorabend eines neuen Krieges. Die ausgehenden vierziger Jahre bringen die Spaltung der Welt in zwei große Machtblöcke mit sich, deren jeder die eigene Einflußsphäre auszudehnen sucht. Insbesondere die UdSSR schafft sich mit den Satellitenstaaten des Warschauer Paktes eine eigene Hausmacht, der Kalte Krieg läßt die Situation über Jahrzehnte erstarren. Der offensiven Außenpolitik der Sowjetunion entspricht im Inneren eine Politik der Unterdrückung, der fortgesetzten stalinistischen Säuberungen. In den Augen vieler Zeitgenossen diskreditiert sich der Kommunismus à la UdSSR selbst.

Angesichts einer Zeit der ideologischen Fixierung und Verhärtung ruft Camus nun zur Erneuerung der révolte auf, meint damit aber sicherlich nicht ein wie auch immer geartetes kriegerisches Aufbegehren. Der Ursprung liegt vielmehr im einzelnen Menschen selbst, der einen Bewußtwerdungsprozeß zu vollziehen hat. In ihrer reinsten Form tritt – nach Camus Kriterien – die Revolte in Gestalt des russischen Sozialrevolutionärs Kaliayev zutage, des Protagonisten der Justes. Nach einer umfassenden Klärung und Abgrenzung der beiden Begriffe Revolte und Revolution soll ihre Manifestation in genanntem Drama untersucht und Camus Konzept einer kritischen Betrachtung unterzogen werden.

2 Revolte und Revolution – Ein Gegensatzpaar?

2.1 Spontanes Aufbegehren in der révolte – Schaffung von Werten menschlicher Gemeinschaft

Aus camusianischer Sicht schafft die Möglichkeit zur Auflehnung der menschlichen Natur eine Perspektive, drückt sich ihre Eigenart in dieser spontanen Reaktion aus. Ihren Ursprung nimmt die révolte demnach im Individuum, um jedoch bald eine Bedeutung zu entfalten, die die Grenzen des individuellen Bereichs weit überschreitet. Camus zufolge konstituiert sich so Gemeinschaft, mündet die révolte doch in ein dépassement de l’individu dans un bien désormais commun[2]. Der Einzelne sucht einen an ihn gestellten Anspruch, eine Bedingung zu negieren, zu bestreiten, im Namen unveräußerlicher, dem Menschsein innewohnender Prinzipien. Auf der Grundlage des Je me révolte, donc nous sommes[3] entsteht Gemeinschaft, im Zeichen überindividueller Werte.

Menschlicher Zusammenhalt in der révolte erfordert Gegnerschaft, formt sich demnach in Opposition zu einer vorgegebenen Bedingung, zu bestimmten Prinzipien, aus. Camus unterscheidet hier zwischen dem unabänderbaren Schicksal aller, der Sterblichkeit einerseits und den Formen äußerlich verursachter Ungerechtigkeit bzw. Gewaltherrschaft andererseits.

In der révolte métaphysique begehrt der Mensch gegen seine Endlichkeit auf, die ihm unerklärlich und inakzeptabel, als Laune eines grausamen und ungerechten Gottes oder Schicksals, erscheint. Der Versuch, sich selbst an dessen Stelle zu setzen und den Menschen als oberstes Ziel zu bestimmen, bezeichnet den Umschlagpunkt von der metaphysischen Revolte in die Revolution.

Gewalt im Namen eines oktroyierten Herrschaftssystems treibt das Individuum in die révolte historique, die sich für Camus unauslöschlich mit den Terrorakten verbindet, die Europa gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts schütteln. Sein besonderes Augenmerk gilt den russischen Sozialrevolutionären, deren Aufstand gegen Zarismus und Obrigkeit von hohen moralischen Anforderungen an die eigene Bewegung gekennzeichnet war, Ansprüche, deren Verwirklichung an der realpolitischen Situation scheitern mußte.

Die Revolte wird von Menschen für Menschen unternommen, werteschaffend gesteht sie demnach auch dem menschlichen Leben höchste Priorität zu. In eine geradezu verzweifelte Lage gerät der révolté, ist er aufgrund politischer Umstände zur Mißachtung dieses Wertes gezwungen: Dès qu’il frappe, le révolté coupe le monde en deux. Il se dressait au nom de l’identité de l’homme avec l’homme et il sacrifie l’identité en consacrant, dans le sang, la différence.[4] Camus letztes Stück, Les Justes, thematisiert genau dieses Dilemma und sucht in Gestalt des Terroristen Kaliayev zumindest einen möglichen Ausweg aufzuzeigen.

2.2 Von der Revolte zur Revolution – Die Tendenz zum Absoluten

In dem Maße, in dem sich die révolte von der Wahrnehmung des Individuums, von der Wertschätzung des Lebens an sich abkehrt und an dessen Stelle eine abstrakte Größe – die Geschichte in ihrem Ablauf, das Reich der Gerechtigkeit – setzt, entfremdet sie sich ihren Ursprüngen und wandelt sich zur Revolution. Letztere richtet ihr Bestreben auf eine „bessere“ Zukunft aus, deren Verwirklichung jedes nur erdenkliche Opfer fordern darf: Das Leben des einzelnen, das die Revolte kaum anzutasten wagt, verliert zunehmend an Wert; Terror und Unterdrückung werden vor diesem Hintergrund legitimiert.

Aus der Sicht Camus gehen Revolte und Revolution von unterschiedlichen Zielsetzungen aus – fegt letztere doch im Hinblick auf das nahende Reich der absoluten Gerechtigkeit alle Skrupel beiseite: Le mouvement de révolte, à l’origine, tourne court. Il n’est qu’un témoignage sans cohérence. La révolution commence au contraire à partir de l’idée. Précisément, elle est insertion de l’idée dans l’expérience historique quand la révolte est seulement le mouvement qui mène de l’expérience individuelle à l’idée. Alors que l’histoire, [...] , d’un mouvement de révolte, est toujours celle d’un engagement sans issue dans les faits, [...] , une révolution est une tentative pour modeler l’acte sur une idée [...][5]

Die Revolte erweist sich an dieser Stelle als eine Form eher individuellen Engagements, mit der Aufgabe Zeugnis abzulegen – wider eine als bedrückend empfundene Situation für den allen gemeinsamen Grundwert, die menschliche Natur. In aller Deutlichkeit tritt der Ansatz Camus hier zutage, läßt eine Hinwendung zum (folgenlosen) Heroismus erahnen, vermag die révolte doch keine dauerhafte Veränderung der tatsächlichen Gegebenheiten herbeizuführen. Vielmehr soll der Einzelmensch aus der Isolation einer scheinbar sinnentleerten, absurden Existenz heraustreten, um nicht kampflos zu unterliegen. Die Revolution dagegen zielt auf radikale Veränderung, im Sinne einer inflexiblen Idee, die sich die Welt zu unterwerfen sucht. Hinordnung der Welt auf ein Prinzip meint Verabsolutierung desselben, eine Tendenz, die in die Sklaverei mündet.

Kein Zweifel, Camus mißtraut der revolutionären Bewegung als „Heilsbringerin“ zutiefst. Dieses Unbehagen rührt vermutlich aus seiner Wahrnehmung der großen Ideologien, Nationalsozialismus/Faschismus[6] und Kommunismus, her, deren jede – dem Selbstverständnis der Ideologie gemäß – alleinigen Anspruch auf Weltdeutung und Sinnschaffung erhob. Muß aber die Revolte zwangsläufig in die Revolution münden, ohne Aussicht, einmal errungene Werte zu bewahren?

Sobald die Revolte in die Phase des Absoluten eintritt, wandelt sie sich zur Revolution und vernichtet damit alle von ihr geschaffenen bzw. bekräftigten Werte. Die Revolution beugt die Welt unter das Joch eines Prinzips, der efficacité historique[7], wie Camus ausführt. Um dieser „Degeneration“ zu entgehen, muß die Revolte zu ihrem Ausgangspunkt, dem Leben in seiner vielschichtigen Wirklichkeit, der menschlichen Natur, zurückkehren. Eben diese Wirklichkeit widersetzt sich jeglicher Schematisierung, verbleibt so im Bereich des Relativen, Begrenzten: En même temps qu’elle [la révolte, die Verf.] suggère une nature commune des hommes, la révolte porte au jour la mesure et la limite qui sont au principe de cette nature.[8]

Die Zielsetzungen der révolte „erschöpfen“ sich demzufolge ebenfalls im Relativen. Gerechtigkeit und Freiheit können in ihrer vollkommenen, reinen Form nicht realisiert werden, schlösse doch das absolut gesetzte Eine die Verwirklichung des anderen aus. So stehen beide Prinzipien in enger Verbindung und begrenzen sich gegenseitig; ihr Verhältnis zueinander erweist sich als situations- und zeitgebunden. An diesem Punkt läßt sich jedoch zu Recht die Frage nach der Definition einer solch relativen Gerechtigkeit erheben: On peut être d’avis – Camus l’est – que la justice, elle aussi, est relative comme le sont la liberté, la raison et la vérité. Mais puisque les puissances relatives qui s’entrechoquent au cours de l’Histoire font toutes appel à leur justice particulière, on peut se demander au nom de quelle relativité Camus parle.[9] Der Homme révolté vermag auf diese Frage jedoch keine befriedigende Antwort zu erteilen.

Die Besinnung auf mesure und limite als zentrale Charakteristika der Revolte wirkt deren Abgleiten in die terroristische Variante der Revolution entgegen. An diesem Punkt seiner Ausführungen angelangt, greift Camus mit der pensée de midi, auch als pensée solaire bezeichnet, auf klimatheoretische Überlegungen zurück. Mesure und limite entfalten sich auf der Grundlage des mediterranen Denkens, das von der harmonischen Übereinstimmung des Menschen mit der Natur ausgeht. Demgegenüber versucht die pensée de minuit die Natur unter ihren Willen zu zwingen: La nature qui cesse d’être objet de contemplation et d’admiration ne peut plus être ensuite que la matière d’une action qui vise à la transformer.[10] Die Umgestaltung der Natur nach menschlichen Prinzipien birgt die Gefahr, den Menschen als oberstes Ziel der Geschichte zu bestimmen – bezeichnenderweise bringt Camus an dieser Stelle die sog. idéologie allemande ins Spiel – , ein Bestreben, das notwendigerweise in die Tyrannei führen muß. Dem nördlichen Teil Europas ordnet Camus das Absolute, die démesure zu, unter dem Hinweis, diese Tendenzen hätten die Zentralwerte des mediterranen Denkens verdrängt und wirkten nun in der krisengeschüttelten Welt des Nachkrieges fort. Ohne eine Rückbesinnung auf die pensée de midi sei die Bewältigung eben dieser Krise nicht zu leisten.

Das Ringen um einen Wertekodex innerhalb der Revolte steht auch im Zentrum der Justes, die thematisch und zeitlich eng mit dem Homme révolté zusammenhängen. Spielt die Handlung auch im zaristischen Rußland des Jahres 1905, aus Sicht Camus handelt es sich um Grundprobleme der menschlichen Existenz, deren Konstellation ohne weiteres auf Nachkriegseuropa zu übertragen ist.

[...]


[1] Camus, Albert, L’Homme révolté, Paris 1951, S. 376.

[2] Ebd., S. 28.

[3] Ebd., S. 36.

[4] Ebd., S. 348.

[5] Ebd., S. 136.

[6] Der Frage, ob der Nationalsozialismus eine „Spielart“ des Faschismus oder eine davon unabhängig zu betrachtende Bewegung darstellt, soll hier nicht nachgegangen werden.

[7] Camus, Albert, L’Homme révolté, Paris 1951, S. 363.

[8] Ebd.

[9] Gay-Crosier, Raymond, Les Envers d’un échec. Étude sur le théâtre d’Albert Camus, Paris 1967, S. 176.

[10] Camus, Albert, L’Homme révolté, Paris 1951, S. 370.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Camus' Definition von Revolte und Revolution in "Les Justes"
Hochschule
Universität Augsburg  (Lehrstuhl für französische Literaturwissenschaft)
Veranstaltung
Hauptseminar Literatur des französischen Existenzialismus
Note
1,3
Autor
Jahr
2003
Seiten
22
Katalognummer
V16649
ISBN (eBook)
9783638214339
Dateigröße
564 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
In die Arbeit wird neben "Les Justes" auch der Essay "L'Homme révolté" von Albert Camus einbezogen.
Schlagworte
Camus, Definition, Revolte, Revolution, Justes, Hauptseminar, Literatur, Existenzialismus
Arbeit zitieren
Anne-Bärbel Kirchmair (Autor:in), 2003, Camus' Definition von Revolte und Revolution in "Les Justes", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16649

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