Er war nie einfach nur ein Musiker. Mike Oldfield erschuf Klangwelten – sphärisch, emotional, unergründlich. Mit "Tubular Bells" schrieb er Musikgeschichte, doch hinter dem Ruhm steht ein scheuer Visionär, dessen Musik bis heute Generationen bewegt.
Thomas Gaevert zeichnet in dieser detailreichen Biografie das vielschichtige Porträt eines Ausnahmekünstlers, der Zeit seines Lebens Grenzen überschritt – zwischen Rock und Klassik, Spiritualität und Technik, Rückzug und Neubeginn, Erfolg und Selbstzweifel. Basierend auf Interviews, Zeitzeugnissen und seltenem Archivmaterial entsteht das eindrucksvolle Bild eines Menschen, der in der Musik Zuflucht fand – und zugleich eine eigene Welt erschuf.
Ein Buch über Klang als Sprache der Seele – und über die stille Kraft eines Künstlers, der nie aufhörte, nach Sinn im Ton zu suchen.
Thomas Gaevert
Mike Oldfield
Klangmagier der Seele

Eine Biografie
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Impressum:
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Text: © 2025 Copyright by Thomas Gaevert
Umschlaggestaltung und Illustrationen:
Cover: Gitarren und Silhouette KI-generiert; Hintergrund: Genfer See, von Pyc Assaut | stock.adobe.com
Illustrationen: KI-generiert | Thomas Gaevert
Herstelleradresse: info@bod.de
Inhalt
Krankheit, Verlust und Rückzug
Aufbruch in die Welt der Musik
Erinnerungen von Sally Oldfield
Klänge zwischen Ziegelstein und Zärtlichkeit
Ein Orchester aus einem einzigen Menschen
Zerfall im Licht der Erkenntnis
Mandolinen, Glocken, ein fremder Rhythmus – nicht vermarktbar
Richard Branson und das Haus der Möglichkeiten
Was brauchst du, um ein Album zu machen?
Ein Gespräch mit Simon Heyworth über die Aufnahmen zu „Tubular Bells“
Eine außergewöhnliche Premiere oder Warum ein Benz seinen Besitzer wechseln muss
Musikalische Analyse: Tubular Bells (1973)
Covergestaltung: Tubular Bells
Zwischen Erfolg und Einsamkeit
Von der Schwierigkeit, ein zweites Erfolgsalbum zu produzieren
Debütsingle: Mike Oldfield’s Single (1974)
Musikalische Analyse: Hergest Ridge (1974)
Die verschiedenen Fassungen von Hergest Ridge
Covergestaltung: Hergest Ridge
Musikalische Analyse: The Orchestral Tubular Bells (1975)
Musikalische Analyse: The Orchestral Hergest Ridge
Die zweite Single: Don Alfonso (1975)
Vom Schmerz, der sich in Musik verwandelt
Musikalische Analyse: Ommadawn (1975)
Single: In Dulci Jubilo / On Horseback (1975)
Weitere musikalische Arbeiten und neue Kollaborationen
Ein neues Haus, ein neuer Anfang
Vier Langspielplatten zum Preis für zwei
Musikalische Analyse: Boxed (1976)
Singles: William Tell Overture (1977) / Cuckoo Song (1977)
Musikalische Analyse: Incantations (1978)
Extended Play (EP): Take Four (1978)
Musikalische Analyse: Exposed (1979)
Musikalische Analyse: Platinum (1979)
Musikalische Analyse: QE2 (1980)
Konflikte, Tourneen, Selbstbehauptung
Extended Play (EP): The Singles (1981)
Musikalische Analyse: Five Miles Out (1982)
Covergestaltung: Fives Miles Out
Singles zum Album Five Miles Out
The Mike Oldfield EP: Deutschland, September 1982
Musikalische Analys: Crises (1983)
Simon Phillips über Crises und die Kunst, Mike Oldfield zu produzieren
Essay: Mike Oldfields Erfolgsalbum Crises (1983) – Eine Neuverortung im Jahr 2013
Single: Crime of Passion (1984)
Musikalische Analyse: Discovery (1984)
Musikalische Analyse: The Killing Fields (1984)
Covergestaltung: The Killing Fields
Single: Étude (1984 / Re-Issue: 1990)
Auf der Suche nach der verlorenen Magie
Zwischen Videoästhetik und Popstruktur
Single: Pictures in the Dark (1985)
Musikalische Analyse: Islands (1987)
Zwei Cover, zwei Strategien – Islands in Europa und den USA
Musikalische Analyse: Earth Moving (1989)
Fazit und Stellung im Gesamtwerk:
Singles aus Earth Moving (1989)
Musikalische Analyse: Amarok (1990)
Musikalische Analyse: Heaven’s Open (1991)
Covergestaltung: Heaven’s Open
Musikalische Analyse: Tubular Bells II (1992)
Covergestaltung: Tubular Bells II
Die Live-Premiere von Tubular Bells II
Singles: aus Tubular Bells II (1992/93)
Weitere Veröffentlichungen der Jahre 1992/93
Musikalische Analyse: The Songs of Distant Earth (1994)
Covergestaltung: The Songs of Distant Earth
Zweite Auflage (1995): Enhanced CD mit CD-ROM-Inhalten
Essay: Oldfield, Myst und die Geburt der Enhanced-CD
Singles aus The Songs of Distant Earth (1994/95)
Musikalische Analyse: Voyager (1996)
Single: Women of Ireland (1997)
Musikalische Analyse: Tubular Bells III (1998)
Covergestaltung: Tubular Bells III
Singles aus Tubular Bells (1998/99)
Guitars, Glocken und eine letzte Tour
Musikalische Analyse: Guitars (1999)
Musikalische Analyse: The Millennium Bell (1999)
Covergestaltung: Millennium Bell
Klanggewalt am Brandenburger Tor
Drei Monde über einer neuen Welt
Musikalische Analyse: Tres Lunas (2002)
Essay: Die frühen 2000er – Zwischen Chillout, Ambient und New Age
Weitere Veröffentlichungen der Jahre 1998–2002
Zurück zum Anfang: Tubular Bells 2003
Musikalische Analyse: Tubular Bells 2003 (2003)
Covergestaltung: Tubular Bells 2003
Musikalische Analyse: Light + Shade (2005)
Rückblick, Resonanz und ein sphärischer Aufbruch
Musikalische Analyse: Music of the Spheres (2008)
Covergestaltung: Music of the Spheres
Single aus Music of the Spheres
Tubular Bells 2009 – der Auftakt
Hergest Ridge und Ommadawn – die Wiederentdeckung der stillen Werke
Incantations und Platinum – neue Perspektiven
Deluxe-Editionen und Fanbegeisterung
London 2012 – die Rückkehr der Glocken
Neue Projekte, neue Klangwelten
Essay: Tubular Beats – Remixe als Reverenz
Man on the Rocks – Rückkehr zur Songform
Musikalische Analyse: Man on the Rocks (2013)
Covergestaltung: Man on the Rocks
Verlust und Vermächtnis – Return to Ommadawn
Musikalische Analyse: Return to Ommadawn (2017)
Covergestaltung: Return to Ommadawn
Der Klangmagier in Bildern – Stationen aus Mike Oldfields Leben
Vorwort
Was bleibt von einem Musiker, der sich Zeit seines Lebens immer wieder entzogen hat – dem Ruhm, den Medien, oft sogar dem Publikum? Mike Oldfield hat sich nie leicht einordnen lassen. Seit den frühen 1970er-Jahren war er ein Grenzgänger: zwischen Rock und Klassik, zwischen Studio und Bühne, zwischen äußerem Erfolg und innerem Rückzug. Seine Musik – oft instrumental, vielschichtig, und nicht immer leicht zu vermarkten – widersetzte sich einfachen Zuschreibungen. Und vielleicht liegt genau darin ihre Kraft.
Diese Biografie ist kein Katalog der Veröffentlichungen, keine lückenlose Chronologie. Sie versteht sich eher als Annäherung an einen Künstler, dessen Werk eng mit seiner Biografie verwoben ist. Sie erzählt von den frühen Jahren in Reading, von den Folkclubs, in denen alles begann, vom Aufbruch nach London, von improvisierten Aufnahmesessions im Manor Studio, wo Tubular Bells entstand. Sie folgt den Spuren eines jungen Mannes, der nach dem plötzlichen Ruhm Zuflucht in den Hügeln an der walisischen Grenze suchte, der sich der Welt entzog, weil er sie nur so ertragen konnte. Und sie erzählt von einer lebenslangen Suche – spirituell, existenziell, musikalisch.
Die Grundlage dieses Buches bilden zahlreiche Stimmen: Mike Oldfields eigene, überliefert in Interviews und autobiografischen Texten, aber auch Erinnerungen von Familienangehörigen, Musikerinnen und Musikern, Produzenten, Toningenieuren und Weggefährten. Hinzu kommen Presseberichte, Archivmaterial und Rezensionen aus fünf Jahrzehnten. Wo immer möglich, spreche ich nicht über Mike Oldfield – sondern lasse ihn selbst zu Wort kommen.
Es war mir wichtig, den Spannungen in diesem Leben Raum zu geben: dem Rückzug und dem gleichzeitigen Drang, gehört zu werden. Dem tiefen Bedürfnis nach Spiritualität und dem fast manischen Streben nach technischer Perfektion. Der Verletzlichkeit eines Menschen, den viele für ein Genie hielten – und der oft nicht wusste, wer er selbst war.
Dieses Buch will kein Denkmal errichten. Es will verstehen.
Thomas Gaevert

Teil 1
Wie alles begann

Kapitel 1
Kindheit
Alltag, Eltern, erste Klänge
Reading, Berkshire, Anfang der 1950er-Jahre. Die Reihenhaussiedlung am Monks Way liegt ruhig zwischen sanften Hügeln. Ein unscheinbarer Vorort mit gemähtem Rasen, Milchflaschen vor den Türen und dem vertrauten Klang der Briefklappe. In einem dieser Häuser – Nummer 21 – lebt die Familie Oldfield: Vater Raymond, Mutter Maureen und die drei Kinder – Sally, Terry und Mike.
Raymond Oldfield ist viel unterwegs. Als örtlicher Hausarzt trägt er eine so wichtige Verantwortung, wie sie nur wenige Berufe jener Zeit mit sich bringen. Als Landarzt ist er Respektsperson, Lebensretter und Beichtvater zugleich. Sein schwarzer Mantel hängt stets griffbereit an der Garderobe, die Aktentasche steht wie ein stummer Begleiter neben der Tür. Oft ist er unterwegs zu Hausbesuchen, Geburten, Sterbebetten oder zu Gesprächen zwischen Medizin und Trost.
Wenn er doch einmal zu Hause ist, bleibt es selten still. Auch mitten in der Nacht klingelt das Telefon – schrill, durchdringend, wie ein Ruf aus einer anderen Welt. Dann richtet er sich auf, tastet im Halbdunkel nach Hemd und Krawatte und geht, ohne viele Worte. Mike schaut ihm manchmal nach. Dann sieht er, wie Dad im Flur verschwindet, sich das Jackett überzieht und hinausgeht in die nächtliche Kälte. Eine Tür fällt leise ins Schloss. Dann ist es wieder still.
Maureen, die früher Krankenschwester war, ist nun Hausfrau – eine stille Regentin über Töpfe, Pfannen und Rituale. Jeden Tag steht sie in der engen Küche, wo der Geruch von Zwiebeln, Fleisch und dampfenden Kartoffeln wie ein vertrauter Schleier in der Luft hängt. Mit fast mechanischer Ruhe schichtet sie Hackfleisch und Gemüse in die Auflaufform, streicht das Kartoffelpüree glatt und schiebt den Shepherd’s Pie in den Ofen, bis sich eine goldene Kruste bildet. An anderen Tagen gibt es Steak und Kidney Pudding – ein schweres, dunkles Gericht aus Fleisch, Nieren und gedämpftem Teig. Oder es gibt einfach Würstchen mit süßlichen Bohnen aus der Dose.
Am Sonntag ändert sich der Takt. Dann wird gemeinsam gegessen – aber erst nach der Messe. Die Familie schreitet durch das Kirchenschiff, die Kinder sitzen in Reih und Glied auf den kalten Bänken. Vorn spricht der Priester in Latein – feierlich, fern. Die Worte gleiten über die Köpfe hinweg wie Weihrauch: fremd, aber wirksam. Was gesagt wird, bleibt unverständlich – und hinterlässt doch eine Ahnung von Bedeutung, die tiefer geht als Sprache.
Sally ist die älteste der drei Geschwister, geboren am 3. August 1947. Zwei Jahre später, am 12. August 1949, folgte ihr Bruder Terence Raymond, genannt Terry. Der jüngste ist Mike – Michael Gordon Oldfield – geboren am 15. Mai 1953.
Zu Mikes frühesten Erinnerungen gehört dieses nächtliche Klingeln des Telefons, wenn sein Vater wieder einmal zu einem Patienten gerufen wird. Später das vertraute Geräusch des zurückkehrenden Autos, die Schritte auf der Treppe – Beobachtungen eines wachen Kindes.
„Ich kann mich kaum an eine Zeit erinnern, in der mein Dad nicht mitten in der Nacht mindestens zweimal angerufen wurde. […] Noch heute habe ich eine Heidenangst vor Telefonen.“ [1]
Trotz beruflicher Belastung bleibt der Vater für den kleinen Mike präsent – nicht durch viele Worte, sondern durch gemeinsame Bastelstunden. Raymond baut in seiner Freizeit Modellflugzeuge. Die Begeisterung überträgt sich bald auf Mike. Gelegentlich überrascht Raymond die Familie mit Gesang.
„Unser Dad hatte eine schöne Gesangsstimme“, erinnert sich Sally. „Er war ein Bariton, aber nicht ausgebildet, also ziemlich rau. Und obwohl er nicht klassisch geschult war, konnte er Arien singen – wie zum Beispiel Tschaikowskys ‚Nur wer die Sehnsucht kennt‘. Ein wunderschönes Lied.“ [2]
Maureen Oldfield, von ihrer irischen Familie „Maisie“ genannt, ist lebendig, stolz, manchmal streng. Sie stammt aus Charleville im County Cork im Südwesten der Republik Irland und hat sich in England ein neues Leben aufgebaut. Sie liebt Partys, Gedichte und Musik – vor allem tragische Opern von Puccini, gespielt auf einem der frühen Plattenspieler. Ihre Lippenstiftspuren auf Zigarettenstummeln füllen die Aschenbecher im Haus.
„Mum war ein lebhafter, sehr strenger Charakter. […] Sie war eine rein irische Frau, ganz und gar keltisch“, erinnert sich Mike.[3]
„Sie war fast völlig taub, aber sie liebte Musik – tragische Opern, Puccini“, ergänzt Sally.[4]
Als Mike etwa vier Jahre alt ist, zieht die Familie in ein Einfamilienhaus in der Western Elms Avenue – ein wohlhabenderes Viertel in Reading. Auch dort bleibt Maisie ihrer exzentrischen Art treu:
Die Kinder wachsen zwischen diesen Polen auf – zwischen Disziplin und Fantasie, zwischen Gesang und Schweigen. Die Urlaubsfahrten zur Isle of Wight bleiben Mike besonders in Erinnerung:
„Wir fuhren in den Ferien immer auf die Isle of Wight. Die
Fahrt dorthin dauerte ziemlich lange […] Mum trug ihre langen, epischen
Gedichte vor […] Sie konnte auch den längsten Dorfnamen in Wales aussprechen –
Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch.“ [5]
Auch andere Ausflüge, etwa ins Modelldorf Beaconsfield oder zu den Großeltern, gehören zu dieser frühen Zeit.
Ein verblasster Superachtfilm von 1960 fängt flüchtige Momente der Familie Oldfield ein: Sally, etwa zwölfjährig, läuft gemeinsam mit ihren Brüdern Terry und dem kleinen Mike auf die Kamera zu – lachend, voller Energie. Die Bilder sind körnig, die Farben blass, doch sie erzählen noch von Geborgenheit. In einer weiteren Szene kniet Mutter Maureen im Garten und pflanzt ein Bäumchen, sorgfältig und würdevoll. Dann: ein Spaziergang über den Gartenweg, sie trägt eine weiße Einkaufstasche mit schwarz-rotem Muster, die später beim Picknick auf einem Aussichtspunkt erneut auftaucht. Die Kinder toben auf dem Rasen, versuchen Handstand. Es ist ein Familienleben, das festgehalten wurde – ehe etwas zerbrach.[6]

Der kleine Mike ist nicht wie andere Kinder. Er fühlt sich oft fremd unter Gleichaltrigen. Geburtstagsfeiern bedeuten Stress. Er bastelt lieber Fallschirme aus Bettlaken, baut Rettungsstationen im Garten, will Flugzeugpilot werden. Gemeinsam mit seinem Vater baut er Flugzeugmodelle.
Wenn Mike mit anderen Kindern spielt, dann sind es meist die etwas Älteren – keine Freunde im eigentlichen Sinn, eher Gelegenheitsgefährten. Gespielt wird nicht im Garten, sondern jenseits des Zauns, im dichten Gebüsch am Rand der Bahnlinie. Dort legen sie Pennystücke auf die Schienen, warten auf das Rumpeln der Dampfloks, spüren das Zittern der Erde, wenn der Zug näherkommt – und beobachten mit staunender Faszination, wie das schwere Stahlmonster die Münzen überrollt. Wer genau hinhört, kann den Moment erkennen, in dem das Rad auf das Geldstück trifft: ein kurzer metallischer Laut – wie ein geheimer Code aus einer anderen Welt.
An anderen Tagen bauen sie ein Lager im Unterholz. Kisten, alte Planen, Vorräte aus Cola und Schokoriegeln – ein provisorisches Versteck, das für ein paar Nachmittage wie eine eigene kleine Welt wirkt. Doch die Illusion hält nicht lange: Eines Tages taucht eine Gruppe fremder Jungen auf. Und was eben noch Zuflucht war, wird in wenigen Minuten zerstört.
Für Mike sind es Kindheitserinnerungen an Tage und Wochen voller unbeschwerter Freiheit:
„Ich denke zurück an Sommernächte, in denen wir mit unseren Bollerwagen die Straße entlangrollten und später mit Sternenkarten den Himmel durchmusterten. Ich liebte das – und liebe es noch immer.“[7]
Weihnachten 1960 ist jenes besondere Fest, das Mike wie kaum ein anderes in Erinnerung bleiben wird. Mutter schmückt das Haus, dekoriert den Baum und bereitet das traditionelle Festessen: Truthahn mit Bratkartoffeln, Gemüse, Cranberrysauce und Yorkshire-Pudding. Mum ist eine wirklich gute Köchin. Es liegt ein festlicher, fast märchenhafter Zauber über diesen Tagen. Wie immer nimmt die Familie nach dem Festessen an der Mitternachtsmesse teil – ein katholisches Ritual, das Mike zwar nicht versteht, das aber dennoch seine Wirkung auf ihn entfaltet. Doch das Schönste ist an diesem Weihnachtsfest das Geschenk seines Vaters: ein selbstgebautes Modell des Flugzeugträgers Ark Royal, komplett mit winzigen Flugzeugen. Der siebenjährige Mike ist völlig fasziniert, kann seine Augen kaum abwenden: Jedes einzelne Flugzeug, jedes noch so winzige Detail wurde sorgfältig bemalt. Wie viele Stunden musste sein Vater damit verbracht haben, diese kleine Welt zu erschaffen:
„Ich erinnere mich daran, als wäre es in meinem Gehirn fest verankert. Vielleicht ist das der Grund, warum ich später beim Musikmachen so viel Wert auf jedes einzelne Detail gelegt habe. Ich wusste: Es muss etwas Besonderes sein – nicht etwas, das man einfach wegwirft.“[8]

In diesen Tagen beginnt Mike auch das erste Musikinstrument zu entdecken, das ihn fasziniert. Es ist jene alte, leicht verstaubte Gitarre, die an der Wand im Wohnzimmer hängt. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit nimmt sein Vater sie herunter, setzt sich, und spielt im Kreis seiner Familie einfache Lieder wie „Jimmy Crack Corn“, „Danny Boy“ oder „The Blue Tail Fly“. Drei Akkorde, mehr kann er nicht – C, F und G. Doch für Mike öffnet sich damit eine Tür.
„Ich fragte ihn eines Tages, wie man das spielt. Er zeigte mir, wo ich meine Finger hinlegen musste. Das C war schwer zu greifen, aber das G ging leichter.“ [9] Von da an lässt ihn dieses Instrument nicht mehr los.
Auch das Zimmer seiner Schwester Sally übt eine seltsame Anziehung auf Mike aus – wie ein Magnet. Die inzwischen zwölfjährige Sally nimmt Ballettunterricht. Ihr Reich ist ein Ort der Musik, der Bewegung und des Erwachens: In einer Ecke steht ein Dansette-Plattenspieler mit eingebauten Lautsprechern – eine kleine Klanginsel, erfüllt von Elvis, den Shadows und sehnsuchtsvollen Balladen. Besonders ein Lied brennt sich ein. Es erzählt von einem Himmel, der weint: „And the heavens cried.“[10] Die Platte ist verkratzt, das Lied springt – immer wieder: „Are you lonesome tonight, tonight, tonight…“ Dieser gebrochene Refrain klingt in Mike bis heute nach.
Sally nimmt auch Klavierunterricht, sie kann Noten lesen, ein Können, das Mike staunend beobachtet. Im Wohnzimmer unten steht ein kleiner weißer Flügel. Manchmal setzt sich Mike selbst an die Tasten, spielt ein wenig, erfindet Melodien. Eines Tages präsentiert er Sally ein selbst ausgedachtes Stück. „Der sterbende Schwan“, verkündet er stolz. Sally muss lachen. „Es war ein ganz einfaches Stück“, erinnert sich Mike später. Aber es war sein erster eigener musikalischer Ausdruck.
Daneben gibt es das Radio – ein großes, warm summendes Gerät, aus dem auch Kinderprogramme wie „Children’s Hour“ oder „Listen with Mother“ tönen.[11] Mike hockt davor und hört aufmerksam zu. Vermutlich mit Hilfe seiner Eltern oder seiner älteren Geschwister schickt er einen Brief mit einem Liedwunsch an die BBC – „The Runaway Train Came Down the Track“ – doch der Song wird nie gespielt.
Ein Fernseher ist auch da – schwarz-weiß, mit nur einem Sender. Doch für Mike ist das eigentliche Wunderwerk nicht das Bild, sondern das Innenleben. Wenn niemand im Haus ist, schraubt er das Gerät auf, untersucht die Röhren, riecht das Ozon, fühlt das leichte Kribbeln elektrischer Spannung. Die Faszination für Elektronik ist geweckt.
Eines Tages, nachdem er den Fernseher wieder zusammengeschraubt hat, sieht Mike zum ersten Mal eine Sendung mit einem Musiker, der eine E-Gitarre spielt. Der Klang elektrisiert ihn. Auch ein Freund seiner Schwester spielt Gitarre. Klassische Gitarre. Nicht mit einem Plektrum. Sondern mit den Fingern. Und Mike lauscht. Fingerpicking nennt sich diese Kunst – ein Spiel ohne Schläge, ohne Druck, fast wie ein Tanz. Jeder Finger übernimmt eine Aufgabe: der Daumen (spanisch pulgar) wandert über die tiefen Saiten wie ein ruhiger Fluss. Zeige- (índice), Mittel- (medio) und Ringfinger (anular) zupfen die hohen – G, B und das hohe E – wie kleine helle Sterne am Rand des Klangs.
So entsteht eine Musik, die atmet. Die gleichzeitig gehen und schweben kann. Bass, Akkord, Melodie – alles zur selben Zeit, in einem Körper, einem Klang. Manchmal weich und rund, wenn die Fingerkuppen singen. Manchmal klar und gläsern, wenn die Nägel die Saiten streifen. Jeder Ton ein Hauch. Jeder Rhythmus ein Puls.
Und Mike? Er beginnt zu üben. Akkorde wie kleine Türme: C, F, G. Dann A, D. Jeder Griff ein Schritt, jeder Wechsel eine Brücke. Er weiß nicht, wohin das führt. Aber er spürt: Es führt irgendwohin.
Damals, in dieser kleinen Welt aus Weihnachtsbaum, Modellflugzeugteilen, Radioknöpfen und nach Ozon riechenden Fernsehröhren ahnt noch niemand, dass hier ein Musiker erwacht. Einer, der all das – Elektrizität, Gefühl, Disziplin und Klang – eines Tages zu etwas ganz Eigenem verbinden wird.
Doch zunächst wird Mike eingeschult. Seine Eltern bringen ihn auf eine katholische Klosterschule namens St. Joseph’s in der Upper Redlands Road. Auch seine Schwester Sally geht dort bereits hin. Der erste Tag bleibt ihm zeitlebens im Gedächtnis:
„Mein Gott, was war das für ein Schock“, erinnert sich Mike. „An diesem Morgen zogen mir meine Eltern meine Schuluniform an, die schrecklich juckte. Ich musste eine Krawatte tragen – das hatte ich noch nie zuvor gemacht.“[12]
Mit dem Auto bringen ihn die Eltern zur Schule. Doch kaum sind sie weg, fühlt sich Mike auch schon alleingelassen und verloren. Die Nonnen in ihren schwarz-weißen Gewändern, die fremden Gesichter der anderen Kinder, die seltsam aussehenden Spielsachen – alles wirkt unnahbar. Mike beobachtet, aber er nimmt nicht teil.
„Ein Teil von mir fragte sich, warum die anderen mich nicht einluden, mitzuspielen, während ein anderer Teil von mir dachte: Na ja, ich würde sowieso nicht wollen. […] Alle anderen schienen zueinander zu passen – aber nicht zu mir.“[13]
Die Ausgrenzung trifft ihn tief. Er weiß nicht, warum er anders ist – nur, dass er nicht dazugehört. Eines Tages wird er von einem älteren Mädchen grundlos geohrfeigt. Als er sich wehrt, wird er von einer Nonne bestraft. Diese Erfahrung brennt sich ein:
„Ich dachte, mein nettes, ruhiges kleines Leben sei völlig verrückt geworden. Ich sehnte mich nur noch danach, dass man mich dort herausholte.“[14]
Und genau das geschieht schließlich. Nach nur sechs Monaten wird Mike von seinen Eltern auf eine andere Schule geschickt: die Highlands Junior School in Tilehurst. Die neue Umgebung bringt eine gewisse Erleichterung.
Die Schule liegt in einer ländlichen Idylle, umgeben von einem großen Garten mit Bäumen. Bei gutem Wetter wird draußen unterrichtet. Mrs. Peach, die Schulleiterin, ist eine alte Dame mit sanfter Autorität. Hier lernt Mike lesen – auch wenn er sich lange am Wort „all“ die Zähne ausbeißt, denn er versteht nicht, warum man dieses Wort mit zwei „ll“ schreiben muss. Jeden Morgen liest Mrs. Peach aus der Bibel. Die Schüler dürfen ihr danach Fragen stellen. Mrs. Peach beantwortet sie im Rahmen dessen, was ihr das katholische Dogma vorgibt. Für Mike bleibt viel unklar, aber ein Gefühl bleibt: Es muss etwas Größeres, Unsichtbares geben, das sich nicht in Worte fassen lässt.
Die Kirche ist für Mike mehr Pflicht als Offenbarung – aber sie hinterlässt dennoch ihre Spuren. Besonders eindrücklich ist der Besuch einer Kirche in Pangbourne, die er immer zusammen mit seinen Eltern besucht: die lateinische Liturgie, der wirbelnde Weihrauch und die gewaltigen Orgelklänge beeindrucken Mike. Der Heimweg führt immer über einen Zwischenstopp im Pub. Während Vater und Mutter dort ein Bier trinken, wartet Mike im Auto mit Orangensaft und Chips. Ein stilles Ritual, das ihm besser gefällt als jede Predigt. Bei diesen Kirchenbesuchen lernt er auch einen zwölfjährigen Jungen kennen, der schon Bachs Toccata und Fuge auf der Orgel spielen kann. Mike ist beeindruckt.
„Vielleicht war das damals meine erste Inspiration für ‚Tubular Bells‘“, erinnert sich Mike. „Doch dann wurde plötzlich alles auf den Kopf gestellt.“[15]

Kapitel 2
Der Bruch
Krankheit, Verlust und Rückzug
Im Frühjahr 1961 verändert sich die Welt der Familie Oldfield schlagartig und für immer. Die Nachricht, dass Maureen erneut schwanger geworden ist, wird den Kindern noch mit einem gewissen Stolz verkündet. Mike erinnert sich:
„Ich hielt ihren Bauch und fühlte, wie er sich bewegte. In der Schublade sah ich die neuen Babykleider und all so etwas. Ich dachte nur 'igitt' und fragte mich, warum jemand diese komischen Kleidungsstücke tragen würde.“[16]
Doch bald wird aus dem freudigen Warten eine diffuse Leere. Mutter und Vater verschwinden – einfach so. Freunde der Familie übernehmen die Betreuung der Kinder. Mike registriert das Fehlen der Eltern, aber niemand erklärt ihm etwas.
„Dad tauchte ab und zu nachts auf, um ein wenig zu schlafen, blieb aber immer wieder tagelang verschwunden. Meine Mutter hingegen war völlig verschwunden.“[17]
Dann kommt der Vater eines Tages zurück. Die Familie habe einen kleinen Jungen bekommen – David. Doch das Baby sei gestorben, heißt es. Ein Loch im Herzen.
Als der Vater die Kinder mit dem Auto zu ihrer Mutter bringt – in ein Erholungsheim an der Küste –, weiß Mike instinktiv, dass etwas nicht stimmt. „Da war unsere Mum, aber irgendetwas war anders an ihr.“[18]
Endlich, nach mehreren Wochen, kommt die Mutter wieder nach Hause. Doch was nun folgt, ist ein schleichender Verfall. Es beginnt nachts – als Mike ihr Weinen hört, das durch die Dunkelheit dringt. Dann kommen Medikamente: Schlafmittel, Barbiturate, später auch Mittel gegen Angst und Panik. Die lebendige, leidenschaftliche Mutter, die einstmals barfuß in der Küche tanzte, wird zur benommenen, verwirrten Frau.
Mit der Zeit steigt ihre Abhängigkeit von Schlafmitteln, Beruhigungsmitteln, Antidepressiva. Mike beobachtet, wie sich das Wesen seiner Mutter nach und nach auflöst.
„Sie war nicht mehr die lebhafte Person, die sie gewesen war, bevor die ganze Sache begann.“[19]
Auch Terry erinnert sich noch lebhaft an diese Zeit:
„Im Laufe der Zeit wurde deutlich, dass es mit unserer Mum nicht besser wurde, sondern dass es ihr immer schlechter ging. Sie litt an einem schweren emotionalen Trauma. Sie schwankte zwischen emotionalen Ausbrüchen, unkontrollierbarem Schluchzen und langen Phasen, in denen sie sich nicht mitteilte, bis eines Abends die Situation ihren Höhepunkt erreichte und Dad einen Krankenwagen rufen musste. Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich in dieser Nacht mit meinem Dad am Fenster des oberen Stockwerks im Schlafzimmer meiner Eltern stand und auf die Szene hinunterblickte, in der meine Mum zum ersten Mal mit einem Krankenwagen weggebracht wurde. Ich erinnere mich, dass ich laut sagte: ‚Armes Ding‘, woraufhin mein Dad in ein unkontrolliertes Schluchzen ausbrach. Ich tat mein Bestes, um ihn zu trösten, während ich das wahre Ausmaß der Situation selbst noch nicht begreifen konnte.“[20]
Auch der neunjährige Mike muss in dieser Nacht miterleben, wie seine Mutter zum ersten Mal in das Fairmile Hospital eingewiesen wird. Es ist ein Ort, der sich ihm nach dem ersten Besuch bei seiner Mutter unauslöschlich einprägen wird: Patienten in verzweifeltem Zustand, umherirrend, murmelnd. Die eigene Mutter auf einem Bett sitzend, weiß wie ein Laken.
„Ich verstand nicht, was sie dort tat oder warum meine Mum überhaupt dort war.“
Wieder vergehen Tage und Wochen. Als sie zurückkommt, bringt sie Bob Dylans erstes Album, ein buntes Hemd und eine modische Krawatte für Mike mit. Für einen Moment scheint es, als könne alles wieder gut werden. Doch es ist der Beginn eines jahrelangen Kreislaufs: Krankenhaus, Heimkehr, Zusammenbruch. Immer wieder.
Zwei oder drei Tage lang scheint es ihr gut zu gehen, wie in alten Zeiten, und dann geht es wieder bergab. Dann beginnt sie erneut zu taumeln. Es ist wie ein langsames Abgleiten in eine Mischung aus innerer Zerrissenheit, Medikamenten und Alkohol, ein Zustand, der sie mehr und mehr der Welt entziehen wird. Am Ende steht stets die erneute Einweisung – und mit ihr das Verstummen aller Fragen.[21]
Sally erinnert sich, wie sie in dieser schwierigen Zeit immer mehr in die Rolle einer Verantwortlichen hineinwachsen musste:
„Nun, da ich die Älteste war, und weil unsere Mum so krank war, musste ich mich wirklich um die Familie kümmern. Dad hat sich also oft an mich gewandt.“[22]
Sally wird zu einer Art Stütze für den Vater. Und sie ist nachts zur Stelle, wenn die Unruhe im Haus wieder ihren Höhepunkt erreicht.
„Ich wusste vielleicht viel mehr darüber, was vor sich ging, weil Dad sich mir anvertraute. Ich half beim Kochen, half nachts, wenn diese schwierigen Situationen auftraten und wieder der Krankenwagen für meine Mum kam. Ich habe also wirklich gelernt, andere Menschen an die erste Stelle zu setzen, was aber für mich auf Dauer sehr anstrengend war.“[23]
Doch Sally und ihre Geschwister spüren, dass da noch etwas ist, ein Geheimnis, über das nicht gesprochen wird, was sie nicht wissen sollen. Sally erinnert sich.
„Eine weitere Folge von Mums dunklem Geheimnis und ihrem labilen Zustand war, dass wir Kinder nun das Gefühl hatten, dass wir unsere Probleme nicht mehr offen aussprechen konnten, so dass wir vieles, über das wir sonst hätten sprechen können, einfach in uns hineinstopften. Auch unserem Vater merkte man sehr stark die Belastung an. Dennoch hat er immer versucht, uns gegenüber stark zu sein.“[24]
Während sich das Leben der Familie Oldfield nach außen hin in Routinen rettet, beginnt sich in Mike ein stilles Drama abzuspielen. Die Ereignisse haben sein kindliches Vertrauen in eine sichere Welt erschüttert.
„Ich hatte immer so sehr zu meinen Eltern aufgeschaut und angenommen, dass sie mich immer beschützen würden. Bis dahin fühlte ich mich sicher und ich hätte nicht geglaubt, dass mir jemals etwas Schlimmes zustoßen könnte.“[25]
Doch genau das war nun eingetreten. Die Mutter, einst Mittelpunkt und Energiequelle, ist kaum wiederzuerkennen. Und auch der Vater, bisher so präsent und liebevoll, scheint von einer stummen Überforderung gezeichnet zu sein. Für Mike bedeutet das einen innerlichen Rückzug. 1962 kommt er in die St. Edward's Schule, die zufällig von Mr. Peach, dem Ehemann von Mrs. Peach geleitet wird. Der autoritäre Ton der Lehrer, die Prügelstrafen, die starren Rituale – sie verstärken Mikes Gefühl der Ohnmacht.
„St. Edward’s war eine vorbereitende Schule – alles sehr prüde und diszipliniert. [...] Vielleicht war Roger Waters auf einer ähnlichen Schule, denn bei den The-Wall-Konzerten von Pink Floyd sah der übergroße Lehrer mit dem Rohrstock genauso aus wie unser damaliger Schulleiter, Mr. Peach. Er wirkte wie eine Karikatur: groß, hager, mit kahlem Kopf und strähnigem Haar. In der Hand hielt er stets einen überdimensionierten Stock, den er mit erschreckender Selbstverständlichkeit einsetzte. Wenn man sich in einer Woche drei Verfehlungen geleistet hatte, musste man mit auf den Dachboden – dort zwang Mr. Peach einen, sich zu bücken, und verabreichte einem mehrere Hiebe mit dem Stock.“[26]
Mike schleicht sich in diesen Tagen und Wochen durch den Schulalltag. Er liest heimlich in der Bibliothek, entwickelt Tricks, wie man bei den Klassenarbeiten spicken kann. In einer Französischstunde wird Mike plötzlich beschuldigt, geschummelt zu haben. Tatsächlich hat er sich dieses Mal nur den Rücken gestreckt – doch der Vorwurf steht im Raum, unbeweglich, wie ein Schatten an der Wand. Es trifft ihn unvermittelt. Und tief. Die Erinnerung springt zurück: an seine erste Schule, an das ältere Mädchen, das ihn schlug – und an die Ungerechtigkeit, selbst dafür bestraft worden zu sein. Schon damals begreift er, was ihn bis heute beschäftigt: Dass Strafe nur dann Sinn ergibt, wenn man auch schuldig ist. Dass es nichts Zermürbenderes gibt, als für etwas belangt zu werden, das man nicht getan hat.

Vielleicht würde Mike all das besser ertragen, wäre da nicht das tägliche Schweigen zu Hause. Die stille, langsame Verwahrlosung des Alltags. Mittags kehrt er von der Schule zurück – allein. Die Mutter ist da, ja, aber sie wirkt, als wäre sie aus der Zeit gefallen. Sie sitzt im Sessel, regungslos, eine Zigarette in der Hand. Der Rauch steht im Raum, süßlich, schwer. Worte fallen kaum. Manchmal wärmt sich Mike eine Steak- und Nierenpastete auf. Dann setzt er sich in die Küche, isst, ohne zu schmecken, und hört das Ticken der Uhr.
Die Mutter hat ein silbernes Etui für ihre Zigaretten – Piccadillys, ordentlich hineingelegt, wie kleine Soldaten. Mike, neun oder zehn Jahre alt, nimmt sich heimlich ein paar. Er geht hinunter in den Garten, versteckt sich zwischen den Büschen, zündet eine an. Es geht ihm nicht um Trotz oder Protest – nur um das Gefühl. Der erste Schwindel kommt wie ein kleines Wunder. Bald ist es Gewohnheit: heimkommen, essen, rauchen, Musik hören. Die Welt bleibt draußen.
Dann entdeckt er den Alkohol. Bierflaschen stehen leer herum, in Kisten gestapelt, vergessen. Mike bringt sie in den Laden zurück, bekommt ein paar Pence Pfand. Eines Tages fragt er: „Kann ich ein paar Flaschen Bier für meine Eltern haben?“ Der Verkäufer nickt. Mike nimmt sie mit – und trinkt sie aus. Er kennt dieses Gefühl nicht, das sich da in ihm ausbreitet. Eine plötzliche Leichtigkeit, ein inneres Aufleuchten. Ein kurzer Moment, in dem alles erträglich scheint. Er denkt: Das ist es. Das habe ich gesucht. Es wird ein heimlicher Zyklus: Flaschen sammeln, abgeben, Bier holen, trinken. Wenn das Geld nicht reicht, nimmt er heimlich ein paar Schillinge aus der Handtasche der Mutter.
Doch während Mike sich betäubt, verliert die Mutter immer mehr den Boden unter den Füßen. Sie zieht sich zurück, ihre Augen wirken leer, ihr Körper wie abgeschnitten von allem, was lebendig ist. Manchmal scheint es, als habe sie den Glauben verloren – oder als klammere sie sich noch verzweifelter daran. Und es wird nicht besser. Wieder muss sie ins Krankenhaus gebracht werden, kehrt heim, stürzt wieder ab. Drei Monate dauert ein Zyklus, dann beginnt er von vorn. Die Hoffnung verkleinert sich. Die Verzweiflung zieht ins Haus ein wie ein stummer Gast.
Irgendwann hört die Mutter Stimmen. Aus dem Nichts. Oder aus einer anderen Welt. Die Eltern bitten den Priester der nahegelegenen Kirche, Pater Scantleberry, um Hilfe. Mike erfährt erst später davon. Der Priester kommt ins Haus, trägt ein Ritual vor – einen Exorzismus, wie es heißt. Vielleicht, so glaubt er, ist da etwas, das hinausmuss. Man erzählt sich, dass er es tatsächlich hinausträgt, hinaus ins Auto, und an den Stadtrand von Reading fährt, um es dort freizulassen. Danach steht ein Bild von Jesus im Flur, mit einer kleinen Lampe darunter, die rund um die Uhr brennt. Ein stilles Licht gegen die Dunkelheit.
Doch das Licht hilft nicht. Die Stimmen verstummen nicht. Der Kreis schließt sich erneut. Was immer es war – es bleibt. Oder es kommt zurück.
Und mit der Zeit leiden alle. Auch die Geschwister entfernen sich. Sally verschwindet in ihr eigenes Leben und Terry kommt ins Internat und ist kaum noch greifbar. Deshalb fühlt sich Mike in jeder Hinsicht verloren – in der Schule, zu Hause, in sich selbst. Sein Vater scheint die Verlorenheit seines jüngsten Sohnes zu spüren und versucht ihm wieder etwas mehr Zuwendung zu geben. An einem regnerischen Tag holt er Mike früher von der Schule ab und nimmt ihn mit zum Flugplatz.
Gemeinsam helfen sie, ein Segelflugzeug – einen zweisitzigen Slingsby-Trainer mit offener Kabine – zur Startwinde zu bringen. Mike hält sich an der Tragfläche fest, schiebt mit. Dann klettert er zum Piloten in die Kabine. Das Flugzeug hebt fast senkrecht ab, löst sich von der Winde – und Mike erlebt zum ersten Mal die Stille des Himmels. Unter ihm wirken die Häuser wie Spielzeug. Der Wind pfeift durch die Kabine. Für ihn ist es, als würde er eine andere Welt betreten.

In diesen Tagen entdeckt noch eine andere Leidenschaft, die ihn zeitlebens begleiten wird: das Motorradfahren. In der Zeitschrift "Exchange and Mart" liest er eines Tages eine Anzeige: eine Matchless 350 Scrambler – sechs Pfund, inklusive Lieferung. Die Matchless 350 Scrambler ist ein klassisches britisches Motorrad mit einem 350-Kubikzentimeter-Einzylindermotor. Sie stammt aus der legendären Matchless-Schmiede, einem der ältesten Motorradhersteller Großbritanniens. Diese Maschine, konstruiert für Geländefahrten und bekannt für ihren rauen Klang und ihre Robustheit, vereint Kraft mit handwerklicher Mechanik – und spricht damit genau den Jungen an, der sich nach Freiheit, Technik und Geschwindigkeit sehnt.
Woher er das Geld nimmt, ist unklar. Mike sammelt, spart, organisiert – und sagt niemandem etwas. Eines Tages steht ein Lastwagen vor dem Haus, lädt das Motorrad ab. Sein Vater ist nicht begeistert, erkennt aber, dass Mike einen Ort braucht, um zu fahren. Er arrangiert die Nutzung einer Kiesgrube bei Tilehurst, mit Unterstellmöglichkeit bei einem seiner Patienten – unter der Bedingung, dass sein minderjähriger Sohn, der eigentlich noch nicht fahren darf, das Motorrad erst dort startet.
Schnell wird er sicher im Umgang mit der Maschine. Er meistert Sprünge, landet sauber. Sein Vater schaut manchmal zu, bringt Coca-Cola und Schokolade. Mike fühlt sich frei, und er wird gesehen. Eines Tages tauchen drei ältere Jungs auf – cool, bedrohlich. Einer versucht, Mikes Sprung zu kopieren, stürzt beinahe. Danach behandeln sie ihn mit Respekt. Die Matchless wird für Mike zum Symbol seiner Eigenständigkeit.
In der Schule hingegen bleibt er weiter isoliert. An der St. Edward's School hat er keine engen Freunde. Dafür lädt ihn ein älterer Bekannter, Eddie Moss, zur Johanniter-Jugend ein – Erste-Hilfe-Unterricht, aber auch eine Art Jugendclub. Mike geht hin, erlebt Freundlichkeit, aber fühlt sich fremd. Die Lektionen – künstliche Verletzungen, simulierte Unfälle – berühren ihn kaum.
Eines Abends sieht er einen Rocker vor dem Fenster stehen: Lederjacke, Triumph Tiger Club. Der junge Mann, George Offerdahl, ist Norweger. Sie kommen ins Gespräch. George bietet Mike eine Mitfahrt an. Fortan fahren sie gemeinsam Hunderte Kilometer, von Reading bis Hayling Island. George wird zu einer Art Mentor. Mike trägt bald selbst Lederjacke, wird Teil der Rocker-Szene. Nächtliche Touren, Cafés, die ständige Reibung mit Mods in Reading – er ist mittendrin. Mods und Rocker prägen in diesen Jahren das Straßenbild britischer Städte. Die Rocker – in Lederjacken, auf schweren Motorrädern – verkörpern ein rebellisches Lebensgefühl, hören Rock’n’Roll und treffen sich in Straßencafés. Die Mods hingegen gelten als stilbewusst, tragen Maßanzüge und fahren Motorroller. Sie hören Soul und Ska, tanzen in Clubs. Die Konflikte zwischen beiden Gruppen eskalieren vielerorts in Schlägereien – auch in Reading. Für Mike ist die Rockerszene ein Ort der Zugehörigkeit. Die Angst vor den Mods gehört zum Alltag. Die Eltern sagen wenig. Solange er heil zurückkommt, lassen sie ihn gewähren. Das gemeinsame Abendessen ist längst Vergangenheit; Mike lebt von Fish and Chips.
In der Kiesgrube schraubt er weiter an seiner Maschine. Eines Tages wechselt er die Kupplungsscheiben – am Sonntag, im Haus des religiösen Patienten. Dieser ist entsetzt. Mike vergisst die Kupplungsflüssigkeit und zerstört fast den Motor. George hilft ihm später, alles zu reparieren. Doch dann wird er dabei erwischt, wie er die Maschine auf dem Bürgersteig fährt – das war’s, er wird rausgeworfen.
Mit elf oder zwölf lebt Mike ein Leben, das nach außen älter wirkt. Er sieht aus wie siebzehn, zieht ältere Jugendliche an. Körperlich wächst er rasant – als wolle sein Körper mit den emotionalen Anforderungen mithalten. Die Dehnungsstreifen am Rücken bleiben. Er streift mit Freunden an den Bahngleisen umher, steigt heimlich in abgestellte Züge. Kein Vandalismus – aber auch kein Spiel. Die Aufsicht fehlt. Zuhause herrscht Chaos. Er raucht, hört zeitweise damit auf und fängt wieder an.

Einmal kommt er spät nach Hause. Sein Vater wartet im Auto, ruft ihn zur Eile. Die Mutter steht im Nachthemd, zittert. Sie hat sich gesorgt. Für einen Moment wirkt es, als wäre ihr klar geworden, dass sie einen Sohn hat. Am nächsten Tag ist alles vergessen. Es bleibt das einzige Mal, dass sie in diesen Tagen ernsthaft nach ihm fragt.
Etwa zu dieser Zeit tritt der Vater zum Katholizismus über. Doch in einem England, das religiös stark zwischen anglikanischer Mehrheit und katholischer Minderheit gespalten ist, bedeutet der Übertritt zum Katholizismus keine bloße Formalität. Raymond Oldfield besucht sechs Monate lang Katechismuskurse – vielleicht ein letzter Versuch, seine Frau zu stärken und damit die Familie zu heilen. Mike wird daraufhin von der protestantischen Schule St. Edward’s abgemeldet und auf das katholische Presentation College geschickt. Katholische Schulen gelten im England jener Zeit als autoritär und fromm, oft geleitet von Ordensgemeinschaften. Die religiöse Erziehung ist streng, das Weltbild konservativ. Für Mike bedeutet der Wechsel nicht nur einen Bruch im Alltag, sondern den Eintritt in ein rigides und einschüchterndes Bildungssystem.
Denn die neue Schule ist kein Zufluchtsort. Die Mönche sind brutal, die Disziplin rigide. Körperstrafen gehören zum Alltag. Die Schüler leben in Angst. Doch gerade hier erlebt Mike erstmals interreligiöse Bildung. Sein Physiklehrer, Islam Nabi Jaffrey, ist Muslim. Die Schüler sind fasziniert – statt Physik lernen sie nun über den Islam. Für Mike ist es ein Schlüsselmoment: Die erste Ahnung, dass es mehr geben könnte als den engen katholischen Horizont, den man ihm beigebracht hat.
Unter seinen Mitschülern findet er kaum Anschluss, zu weit entfernt scheinen ihm ihre Interessen, zu gewöhnlich ihr Verhalten. Orientierung sucht er eher bei jenen, die selbst nicht ins Bild passen. Denn die Schule ist international. In seiner Klasse sitzen Schüler aus verschiedenen Teilen der Welt – und gerade sie ziehen seine Aufmerksamkeit auf sich.
Einer von ihnen kommt aus Rhodesien, dem heutigen Simbabwe. Er trägt die Erinnerung an eine Kindheitserfahrung am Körper: eine Schusswunde am Bein, die er den anderen bereitwillig zeigt. Ein weiterer stammt von den Kanarischen Inseln, aus Teneriffa. Seine etwas dunklere Hautfarbe, seine Herkunft von einem Ort, den Mike nur aus Atlanten kennt, machen ihn zu einer faszinierenden Gestalt. Der Junge bringt ihm ein paar spanische Wörter bei und erzählt Geschichten aus seiner Heimat Las Palmas – von Taranteln, die sich manchmal auf Türklingeln niederlassen, und der Vorsicht, die man beim Klingeln walten lassen muss.
Für Mike sind diese Mitschüler wie ein Fenster in eine andere Welt. Sie sind anders, exotisch, nicht gewöhnlich – und gerade deshalb üben sie eine Anziehungskraft aus. Er fühlt sich ihnen näher als den „normalen“ Kindern, auch wenn keine tiefen Freundschaften entstehen. Auf dem Schulhof hält er sich in ihrer Nähe auf, meist still, eher ein Beobachter als ein Teil der Gruppe. In ihrer Andersartigkeit erkennt er etwas von sich selbst wieder: das Gefühl, nicht dazuzugehören – und darin zugleich ein Stück Verbundenheit.
Mike liebt Flugzeuge. Nach der Schule träumt er sehr oft vom Fliegen. Nicht nur für ihn, sondern für viele Jungen in Großbritannien gilt die RAF – die Royal Air Force – als Inbegriff von Disziplin, Technikbegeisterung und nationalem Stolz. Gegründet 1918, ist sie nicht nur militärisch bedeutend, sondern tief im kulturellen Bewusstsein des Landes verankert. Besonders die heldenhaften Luftkämpfer des Zweiten Weltkriegs sind in populären Büchern, Filmen und Jugendmagazinen allgegenwärtig. Die RAF verkörpert Abenteuer, Pflichtgefühl und eine klare Rollenverteilung – ein Kontrast zu Mikes innerer Unruhe. Die Vorstellung, selbst Pilot zu werden, verknüpft sich mit Abenteuergeschichten, Büchern über Luftkämpfe und dem Wunsch, sich aus dem Alltag zu erheben. Etwas von dieser Sehnsucht wird in ihm bleiben und auch als Motiv in seinen späteren Werken immer wieder auftauchen. Doch gleichzeitig wird auch die Beschäftigung mit Musik immer stärker. Er spürt: Da ist etwas, das aus ihm selbst kommt.
Schon zuvor hatte Mike mit der Gitarre seines Vaters experimentiert, einfache Akkorde gelernt – C, F, G. Nun wird dieses frühe Interesse zu einem Rettungsanker. Er beginnt, sich gezielt mit dem Gitarrenspiel zu beschäftigen, kauft sich im Plattenladen Alben von berühmten Folkmusikern wie Bert Jansch, hört ihnen zu, studiert ihre Technik. Besonders das Fingerpicking fasziniert ihn. Er beginnt, es selbst auszuprobieren.
„Ich überredete meinen Vater, mir eine Akustikgitarre zu kaufen, eine sogenannte Eko, eine sechssaitige Gitarre, und schon bald spielte ich in jeder freien Minute auf dieser Gitarre.“[27]
Mike legt sich dazu ein Ritual zurecht: Platten auflegen, die Nadel exakt an eine bestimmte Stelle setzen, das kurze Motiv immer und immer wieder hören – und nachspielen. Es ist eine obsessive Übung. Und eine Flucht.
„Ich blieb bis zwei, drei Uhr nachts auf und übte einfach. Ich kam von der Schule nach Hause, ging in mein Zimmer und übte, bis ich einschlief, und wachte dann morgens auf und spielte weiter, bevor ich zur Schule ging.“[28]
Ein ganzes Jahr lang ist die Gitarre sein Lebensmittelpunkt. Sie wird seine Stimme, seine Möglichkeit, sich auszudrücken. Während die Welt draußen zu zerfallen scheint, findet Mike in der Musik Struktur und Sinn.
„Wenn ich spielte, konnte ich mich von allem abkapseln, was zu Hause und in der Schule vor sich ging; irgendwie konnte ich mich in den Rhythmen und Noten verlieren.“[29]
Bald lernt er, Melodien zu erfinden, zu improvisieren, mehrere Stimmen gleichzeitig zu spielen. Die Technik, die er dabei entwickelt, wird ihn sein ganzes Musikerleben begleiten. Er spielt mit den Fingern, nicht mit dem Plektrum – ein Stil, der ihn später unverwechselbar machen wird.
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- Thomas Gaevert (Autor:in), 2025, Mike Oldfield - Klangmagier der Seele, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1669413