[...] Des weiteren ist eine Unterscheidung in bewusste
und unbewusste Vorstellungen sinnvoll. Unter bewussten Vorstellungen sind solche
zu verstehen, die zum Beispiel der mittelalterlichen Historiograph innerhalb seines
Werkes im Rahmen einer Vorrede oder Einleitung ausdrücklich benennt, während die
unbewussten zwar auf diese Arbeit Einfluss nehmen, jedoch nicht explizit genannt sind.
Sie müssen „zwischen den Zeilen“ herausgelesen werden. Diese Weise, sich mittelalterlichen
Quellen und insbesondere Texten zu nähern, erfordert ein hohes Maß an Interpretation
und birgt dabei die Gefahr in sich, dass der gegenwärtige Rezipient sich in nicht
ausreichend darüber im Klaren ist, dass er selbst ebenso den bestimmten Vorstellungen
seiner eigenen Zeit unterliegt. Der Wende im Verständnis des Mittelalters sollte zugleich das Bewusstsein um den Wandel in den Vorstellungswelten von damals bis
heute entsprechen. In meiner vorliegenden Arbeit möchte ich mich mit der Untersuchung mittelalterlicher
Vorstellungswelten in der Chronik Hermanns von Reichenau beschäftigen. Dieses
hochmittelalterliche Werk aus dem Bodenseekloster wurde vor allem in der älteren Forschung
wegen seiner nüchternen und sachlichen Darstellung als der Beginn einer neuen
Blüte hochmittelalterlicher Historiographie betrachtet.3 Dennoch lassen sich auch in
dieser Schrift Spuren spezifisch mittelalterlichen Denkens finden, wie ich im folgenden
aufzeigen möchte.
Dazu werde ich nach einem Blick auf das Leben und Werk Hermanns von Reichenau
kurz den Aufbau und die Quellen seiner Chronik analysieren, sowie den Zusammenhang
mit einer weiteren anonymen Inkarnationschronik darlegen, welcher für die Interpretation
von Bedeutung ist. Um die Vorstellungswelten Hermanns von Reichenau genauer
herausarbeiten zu können, werde ich mich vorwiegend, soweit dies möglich ist,
mit dem sogenannten „selbstständigeren“ Teil seiner Chronik befassen ab dem Jahre
901.
3 Vgl. dazu Grundmann, Herbert: Geschichtsschreibung im Mittelalter. Göttingen 41987. S.20 und Vgl.
dazu von den Brincken, Anna-Dorothee: Chronica. In: Legner, Anton (Hg.): Monumenta Annonis. Weltbild
und Kunst im hohen Mittelalter. Köln/ Siegburg 1975. S.104-111. Hier S.104.
Inhaltsverzeichnis
- EINLEITUNG
- LEBEN UND WERK HERMANNS VON REICHENAU
- Das Leben
- Das Werk
- DIE CHRONIK- AUFBAU UND QUELLEN
- Aufbau
- Quellen
- Hermanns Chronik und die anonyme Inkarnationschronik
- MITTELALTERLICHE VORSTELLUNGSWELTEN IN DER WISSENSCHAFTLICHEN ARBEIT HERMANNS
- Mittelalterliche Historiographie als wissenschaftliche Disziplin
- Hermanns Wissenschaftlichkeit
- MITTELALTERLICHE VORSTELLUNSWELTEN IN HERMANNS ZEIT- UND RAUMERFAHRUNGEN
- Geschichtliche und natürliche Zeit
- Die Universalität der Reichenauer Chronik
- MITTELALTERLICHE VORSTELLUNSWELTEN IN HERMANNS GESCHICHTSBILD
- MITTELALTERLICHE VORSTELLUNGSWELTEN IN HERMANNS FAMILIENGESCHICHTLICHEN NACHRICHTEN
- SCHLUSSBETRACHTUNG
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Untersuchung mittelalterlicher Vorstellungswelten in der Chronik Hermanns von Reichenau. Ziel ist es, die spezifischen Denkweisen und Ansichten des Autors zu analysieren, die in seinem Werk zum Ausdruck kommen. Dabei werden die Besonderheiten der mittelalterlichen Historiographie und die Rolle von Vorstellungswelten in der Gestaltung der Vergangenheit und Gegenwart beleuchtet.
- Die Bedeutung von Vorstellungswelten in der mittelalterlichen Historiographie
- Die Analyse von Hermanns eigener Vorstellungswelt in seiner Chronik
- Die Einordnung von Hermanns Werk in den Kontext der mittelalterlichen Zeit- und Raumvorstellungen
- Die Darstellung von historischen Ereignissen im Lichte der mittelalterlichen Vorstellungswelt
- Die Rolle von Familiengeschichte und Traditionen in Hermanns Chronik
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die Problemstellung und die Forschungsmethodik der Arbeit dar. Sie beleuchtet die Bedeutung von Vorstellungswelten in der mittelalterlichen Historiographie und die Herausforderungen ihrer Erforschung. Kapitel 2 gibt einen Überblick über das Leben und das Werk Hermanns von Reichenau, wobei besonders seine physische Behinderung und die dadurch bedingten Lebensumstände hervorgehoben werden. Kapitel 3 analysiert den Aufbau und die Quellen von Hermanns Chronik sowie die Beziehung zu einer weiteren anonymen Inkarnationschronik. Kapitel 4 beleuchtet die mittelalterliche Historiographie als wissenschaftliche Disziplin und untersucht die Wissenschaftlichkeit von Hermanns Werk. Kapitel 5 beschäftigt sich mit den mittelalterlichen Zeit- und Raumvorstellungen, die in Hermanns Chronik zum Ausdruck kommen. Kapitel 6 analysiert die Darstellung von Geschichte in der Chronik im Lichte der mittelalterlichen Vorstellungswelt. Schließlich widmet sich Kapitel 7 den familiengeschichtlichen Nachrichten in Hermanns Chronik.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit Themen wie mittelalterliche Vorstellungswelten, Historiographie, Chronik Hermann von Reichenau, Zeit- und Raumvorstellungen, mittelalterliche Denkweise, wissenschaftliche Disziplin, Familiengeschichte.
- Arbeit zitieren
- Nina Neitzert (Autor:in), 2003, Mittelalterliche Vorstellungswelten in der Chronik Hermann von Reichenaus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16698