Auf das Erschütternde der Dichtungen Heinrich von Kleists ist mehrfach hingewiesen worden. Am vielleicht greifbarsten begegnet uns das Erschütternde in diesem Werk in Form zunächst unerklärlicher Gewaltausbrüche und deren nicht weniger drastischen Dar-stellung. So auch in Die Verlobung in St. Domingo , die den zweiten Band seiner „Erzäh-lungen“ eröffnet: Am Ende wird Gustav, der „edelste und vortrefflichste Mensch“ (177), zum „unbegreiflich gräßlichen Mörder“ (192), indem er seine Verlobte Toni erschießt, die Sterbende mit dem Fuß von sich stößt und sie eine Hure nennt (vgl. 192), woraufhin seine fassungslosen Verwandten und mit ihnen der Leser ausrufen: „Du ungeheurer Mensch!“ (192)
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diesen irritierenden Ausbruch der Gewalt zu verste-hen: Was lässt den Protagonisten zum ungeheuren Menschen werden, der den Menschen tötet, den er liebt?
Meine Arbeit wird im Wesentlichen der Chronologie der Erzählung folgen. Im ersten Kapitel werde ich mich der Erzählung ganz unbedarft mit der Frage eines naiven Lesers nähern: Wieso St. Domingo? Mit welcher Absicht könnte Kleist für seine tragisch schei-ternde Liebesgeschichte dieses ‚Setting‘ gewählt haben? Es wird sich zeigen, dass Kleist die historischen Kämpfe zu einem Rassenkonflikt zuspitzt, in dem sich eine neue Ordnung herausbildet mit zwei klar getrennten feindlichen Parteien, den Schwarzen und den Wei-ßen. In den folgenden Kapiteln werde ich zeigen, wie zwei Frauen gemischter Hautfarbe – Babekan und ihre Tochter Toni, die auf Seiten der Schwarzen stehen – den weißen Gustav in eine Erkenntnis- und Vertrauenskrise stürzen.
Inhalt
Einleitung
1. Die Exposition
1.1 Nähe zum Geschehen
1.2 Die Rache der Schwarzen
1.3 Neuordnung
1.4 Zwei Mischlinge
2. Vertrauen
2.1 Spiel der Verstellungen
2.2 Fehler in der Inszenierung
3. Liebe
3.1 Zwei exemplarische Legenden
3.2 Kapuzinerpredigt
3.3 Die Liebesnacht
3.4 Der Morgen danach – Ein doppeltes Spiel
3.5 Fest umschlungen
4. Verrat
5. Die Moral von der Geschicht’
6. Ohne Worte
Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Wer aber durch Lectüre lieber erheitert als bloß erschüttert, oder gar in Furcht gesetzt seyn möchte, der muß freilich andere [Erzählungen] suchen.[1]
Einleitung
Auf das Erschütternde der Dichtungen Heinrich von Kleists ist mehrfach hingewiesen worden.[2] Am vielleicht greifbarsten begegnet uns das Erschütternde in diesem Werk in Form zunächst unerklärlicher Gewaltausbrüche und deren nicht weniger drastischen Darstellung. So auch in Die Verlobung in St. Domingo[3], die den zweiten Band seiner „Erzählungen“ eröffnet: Am Ende wird Gustav, der „edelste und vortrefflichste Mensch“ (177), zum „unbegreiflich gräßlichen Mörder“ (192), indem er seine Verlobte Toni erschießt, die Sterbende mit dem Fuß von sich stößt und sie eine Hure nennt (vgl. 192), woraufhin seine fassungslosen Verwandten und mit ihnen der Leser ausrufen: „Du ungeheurer Mensch!“ (192)
Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diesen irritierenden Ausbruch der Gewalt zu verstehen: Was lässt den Protagonisten zum ungeheuren Menschen werden, der den Menschen tötet, den er liebt?
Meine Arbeit wird im Wesentlichen der Chronologie der Erzählung folgen. Im ersten Kapitel werde ich mich der Erzählung ganz unbedarft mit der Frage eines naiven Lesers nähern: Wieso St. Domingo? Mit welcher Absicht könnte Kleist für seine tragisch scheiternde Liebesgeschichte dieses ‚Setting‘ gewählt haben? Es wird sich zeigen, dass Kleist die historischen Kämpfe zu einem Rassenkonflikt zuspitzt, in dem sich eine neue Ordnung herausbildet mit zwei klar getrennten feindlichen Parteien, den Schwarzen und den Weißen. In den folgenden Kapiteln werde ich zeigen, wie zwei Frauen gemischter Hautfarbe – Babekan und ihre Tochter Toni, die auf Seiten der Schwarzen stehen – den weißen Gustav in eine Erkenntnis- und Vertrauenskrise stürzen.
Anschließend werde ich Gustavs Seelenleben genauer untersuchen, um zu erklären, weshalb er einen sicheren Halt und seine Rettung so zielgerichtet in einer Liebesbindung mit Toni sucht. Dabei wird sich herausstellen, dass Gustav der Vorstellung absoluter Liebe anhängt, deren vermeintlichen Verrat durch Toni er am Ende rächen wird. Im Weiteren werde ich die Umstände rekonstruieren, die Gustav irrtümlich glauben lassen, Toni hätte ihn verraten.
Das Schlusskapitel schließlich wird sich mit der Frage auseinandersetzen, ob und wenn ja, wie sich das Töten der Geliebten hätte verhindern lassen. Dabei werde ich die These vertreten, dass allem voran eine gelingende Kommunikation zwischen den Liebenden die Tragödie hätte vermeiden können.
1. Die Exposition
1.1 Nähe zum Geschehen
In einer allerersten Annäherung an Kleists Novelle könnte man versucht sein zu fragen: Warum eigentlich St. Domingo? Was mag den preußischen Dichter Heinrich von Kleist dazu bewogen haben, eine Liebesgeschichte ausgerechnet auf diesem „unselige[n] Eiland“ (164) in der Karibik anzusiedeln?
Als erstes sticht die auffällige zeitliche Nähe ins Auge. Für heutige Leser ist jene Revolution der Schwarzen bereits in weite historische Ferne gerückt und weitgehend in Vergessenheit geraten. Als aber Kleists Erzählung Die Verlobung in St. Domingo 1811 erschien, führte sie ihre damaligen Leser in die allerjüngste weltgeschichtliche Vergangenheit. Das ist ungewöhnlich für Kleist. Die Handlung seiner übrigen Erzählungen spielt in einer historisch weit zurückliegenden ungefähren oder undatierten Zeit, wenn sie nicht im Untertitel gar als „Legende“ ausgewiesen wird.[4] Demgegenüber situiert Kleist die Handlung der Verlobung in einem sehr konkreten historischen Augenblick „zu Anfange dieses Jahrhunderts“ (160), „im Jahr 1803, als der General Dessalines mit 30 000 Negern gegen Port au Prince vorrückte“ (161).
Bei anderen Erzählungen und Dramen Kleists drängt sich bisweilen der Eindruck auf, dass hier die historische Situation dazu dient, Problemlagen der eigenen Zeit zu artikulieren. Wenn Kleist beispielsweise wie im Zweikampf über die Unzuverlässigkeit eines mittelalterlichen Gottesurteils schreibt, liegt die Vermutung nahe, dass dieser zwar fragwürdigen, historisch jedoch längst obsolet gewordenen Rechtspraxis nicht Kleists eigentliches Interesse gilt. Bei der Verlobung hingegen fehlt ein solcher zeitlicher Abstand von Kleists Gegenwart zur historischen Ausgangssituation auf dem revolutionären Inselstaat. Kleist war zwar buchstäblich weit davon entfernt, von den politischen Ereignissen auf Haiti persönlich betroffen zu sein.[5] Aber sie hängen doch mittelbar mit der Französischen Revolution zusammen, jener Epoche machenden Umbruchszeit, von der Kleist als Zeitgenosse sehr wohl betroffen war. Insofern ist nicht unmittelbar ersichtlich, was die ‚eigentliche‘ Thematik des Textes bildet.
Die Frage nach Nähe oder Ferne der historischen Ereignisse für Kleist und seine Zeitgenossen impliziert also die Frage, welche Bedeutung dem geschichtlichen Hintergrund beizumessen ist. Man könnte meinen, in Zeiten der Globalisierung, in denen Bilder einer haitianischen Erdbebenkatastrophe oder wie aktuell die einer Cholera-Epidemie in Echtzeit um die Welt gehen, habe sich für uns heutige Leser umgekehrt der räumliche Abstand verringert. Die Entfernung zum Geschehen würde demnach für damalige Leser in Europa in einer geographischen Ferne bestanden haben, und die Erzählung setzt denn auch mit einer Ortsbestimmung ein: „Zu Port au Prince, auf dem französischen Anteil der Insel St. Domingo“ (160), dem heutigen Haiti also. Die ferne westindische Insel könnte somit nur die bunte Kulisse abgeben für die exotische Liebesgeschichte, um die es Kleist eigentlich ging.[6] Die bürgerkriegsähnlichen Zustände wären damit nicht viel mehr als eine allgemeine Bedrohung, die Liebe und Vertrauen unter erschwerte Bedingungen stellt.
Das hieße aber zu unterschätzen, wie nah diese ferne Südseeinsel in der öffentlichen Wahrnehmung bereits um 1800 an Europa herangerückt war: Die ‚unerhörten‘ Ereignisse auf Haiti wurden in Europa breit diskutiert.[7] Die Kolonialmacht Frankreich gingen sie unmittelbar etwas an, schließlich hatte sich St. Domingue, wie der „französische[] Anteil der Insel“ (160) eigentlich hieß, im 18. Jahrhundert zu ihrer reichsten Kolonie entwickelt.[8] Doch war das nicht der einzige Grund, zumal die haitianische Revolution Wellen schlug über die – unter Napoleon freilich sehr ausgedehnten – nationalen Grenzen Frankreichs hinweg. Entscheidender war vielmehr, dass die Erhebung der Sklaven den mutmaßlich einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand der Menschheitsgeschichte überhaupt darstellte, der 1804 in der ersten Unabhängigkeitserklärung einer Kolonie gipfelte.[9]
Das hat einige Interpreten die Nähe eher in Form einer Analogie zur politischen Situation Preußens sehen lassen.[10] Diese Analogie soll Kleist sehr wohl bewusst und ausschlaggebend dafür gewesen sein, gerade diesen Stoff zu wählen. Kleists regelrechter Franzosenhass und sein Engagement für das deutsche ‚Vaterland‘ nach dem Zusammenbruch Preußens 1806 sind bekannt.[11] Ebenfalls bekannt ist, dass Kleist in diesem Zusammenhang der Unterdrückung durch eine Besatzungsmacht von Sklaverei spricht.[12] Noch bevor man in die eigentliche Interpretationsarbeit und damit in eine genaue Lektüre der Verlobung einzusteigen braucht, fallen einige Parallelen ins Auge: Der Aufstand der haitianischen Sklaven richtet sich – aus heutiger bzw. aufgeklärter Perspektive – gegen ein aufoktroyiertes Unrechtsregime und kann somit als antinapoleonischer Befreiungskampf gelesen werden. Die napoleonischen Invasionstruppen, die die Wiedereinführung der Sklaverei durchsetzen sollten, wurden unter tatkräftiger Unterstützung des Gelbfiebers besiegt, wenig später wurde die erste Unabhängigkeit eines Kolonialstaates ausgerufen. Was sich Kleist für Deutschland erhoffte, den Schwarzen auf St. Domingo gelang es: Das muss das Interesse dieses politischen Autors erweckt haben.
Muss es das? Eine solche Lesart müsste sich freilich anhand des Textes belegen lassen. Doch ein ebenfalls erster flüchtiger Blick zeigt, dass die Signalwörter Vaterland und Sklaverei kaum vorkommen. Und da, wo sie es tun, augenscheinlich in ganz anderer Verwendung.[13] Bezeichnenderweise aber stützen sich solche Interpretationen stets auf Doppelanalysen, in Verbindung mit Kleists politischen Schriften und Werken, allen voran seine umstrittene Hermannsschlacht. Dass sich in der Verlobung selbst nur so wenige Anhaltspunkte für solche Deutungen finden, wird gerne erklärt durch einen Verweis auf die Bedingungen der Zensur, unter der Kleist Praktiken uneigentlichen Schreibens habe trainieren müssen.[14]
Im Folgenden soll eine genauere Untersuchung und ein Abgleich mit den historischen Fakten zeigen, dass sich solche Lesarten nicht halten lassen.[15]
1.2 Die Rache der Schwarzen
Mit dem ersten Satz der Erzählung und wenigen folgenden wird der Leser unversehens in eine Welt hineingezogen, die aus ihren Fugen geraten zu sein scheint: Ein „fürchterlicher alter Neger, namens Congo Hoango […], der in seiner Jugend von treuer und rechtschaffener Gemütsart schien“ (160), wird von einem Tag auf den anderen zum Mörder seines ehemaligen Herrn. Dabei hatte er diesem einst das Leben gerettet und war zum Dank dafür „mit unendlichen Wohltaten überhäuft worden“ (160):
Nicht nur, daß Herr Guillaume ihm auf der Stelle die Freiheit schenkte, und ihm […] Haus und Hof anwies; er machte ihn sogar, einige Jahre darauf, gegen die Gewohnheit des Landes, zum Aufseher seiner beträchtlichen Besitzung, und legte ihm, weil er nicht wieder heiraten wollte, an Weibes Statt eine alte Mulattin, namens Babekan, aus seiner Pflanzung bei […]. Ja, als der Neger sein sechzigstes Jahr erreicht hatte, setzte er ihn mit einem ansehnlichen Gehalt in den Ruhestand und krönte seine Wohltaten noch damit, daß er ihm in seinem Vermächtnis sogar ein Legat auswarf; und doch konnten alle diese Beweise von Dankbarkeit Herrn Villeneuve vor der Wut dieses grimmigen Menschen nicht schützen. (160)
Warum macht sich der Erzähler die Mühe, diese Wohltaten lang und breit aufzulisten? Offenbar geht es um den scharfen Kontrast zwischen Dank und Undank, der umso ungeheuerlicher erscheint. Will Kleist damit die Grausamkeit Congo Hoangos und damit die moralische Minderwertigkeit der Schwarzen überhaupt vorführen? Denn zunächst sieht es ja in der Tat so aus, als sei die Tötung eines derart wohltätigen Herrn eine kaum zu überbietende Undankbarkeit. Doch werfen andererseits alle diese außergewöhnlichen Dankesbezeugungen die Frage nach der Ursache jener gewaltigen „Wut“ auf, die nicht einmal solche „unendlichen Wohltaten“ zu dämpfen vermochten. Der Erzähler verschweigt sie uns nicht: Congo Hoango erschießt seinen Herrn „eingedenk der Tyrannei, die ihn seinem Vaterlande entrissen hatte“ (160). Ein Unrecht, das viele Jahrzehnte zurückliegt und von Hoango doch nie vergessen wurde. Der Hinweis auf diese Tyrannei wirft ein neues Licht auf die vermeintlichen Wohltaten seines Herrn: Mit der Freiheit wird Congo Hoango genau genommen nichts geschenkt, sondern lediglich zurückgegeben, was ihm einst genommen worden war.[16]
Wie aber kommt es dazu, dass seine scheinbare Treue und Rechtschaffenheit nach all den Jahren so plötzlich umschlagen in grimmige Wut und Gewalttätigkeit? Den Umschlagpunkt bilden „die unbesonnenen Schritte des National-Konvents“ (160) in Paris. Welche Schritte das sind und warum der Erzähler sie für unbesonnen hält, erfahren wir nicht.[17] Was wir erfahren, ist, dass als Folge dieser Schritte ein „allgemeine[r] Taumel der Rache […] in diesen Pflanzungen aufloderte“ (160). Das ist historisch falsch. Richtig ist, dass es erste Erhebungen der Schwarzen gab, nachdem „die Ausdehnung der gerade emphatisch proklamierten Menschen- und Bürgerrechte auf die Schwarzen verweigert worden war.“[18] Weshalb aber kommt hier und auch sonst nirgends in der Erzählung zur Sprache, dass die Schwarzen für Gleichberechtigung und Freiheit zu den Waffen griffen? Denn dass Kleist diese politischen Beweggründe durchaus bekannt waren, davon ist auszugehen. Wenn es Kleist wirklich bei den Aufständen der Schwarzen um einen antinapoleonischen Befreiungskrieg gegangen wäre, den er sich auch für Preußen ersehnte, hätte er dann nicht den Akzent auf diese ehrbaren Ziele gelegt? Indem Kleist die Motivation der Schwarzen auf persönliche Rache reduziert, tilgt er damit einen Großteil der politischen Dimension des historischen Sklavenaufstands.[19]
Der in Hoango dargestellte Einzelfall ist somit nicht repräsentativ für den historischen Aufstand.[20] In der Novelle hingegen wird Hoango eingeführt als „einer der ersten, der die Büchse ergriff“ (160), also als eine treibende Kraft der Aufstände. Er ist einer derjenigen, der die ‚Neger‘ „versammelt und bewaffnet“ (161). Welchen Grund könnte es für Kleist gegeben haben, dennoch gerade eine Figur wie Hoango zu erfinden und mit ihm in das Geschehen hineinzuführen?
Schon der Name dieser Figur ist auffällig.[21] Die führenden Gestalten der haitianischen Freiheitsbewegung, die in die Geschichtsbücher eingingen, trugen fast sämtlich französische bzw. romanisch-christliche Namen: Toussaint L’Ouverture etwa oder der namentlich genannte „General Dessalines“[22] (161). Es scheint, als habe Kleist das Fremdartige, Nicht-Europäische dieser Figur betonen wollen, dessen Namen die Erinnerung an seinen afrikanischen Ursprung wach hält – und damit zugleich an die „Tyrannei, die ihn seinem Vaterlande entrissen hatte“ (160). Kleist macht im Falle Hoangos das ursprünglichste Unrecht namhaft, das alle Schwarzen auf dieser Insel eint, die gewaltsame Verschleppung aus ihrer Heimat. Indem Kleist dies tut, fängt er das ‚strukturelle‘ Moment der Gewalt überhaupt nicht ein, das die Sklaverei kennzeichnet: das Unrecht der Sklaven arbeit kommt nicht mit einer Silbe vor.[23] Auch die anderen von der Erzählung dargestellten Schwarzen, zwei Frauen, beteiligen sich an der „Empörung“ (164; 166; 169; 170), um sich für individuell erlittenes Unrecht zu rächen, das über das strukturelle Unrecht ihres Sklavendaseins hinausgeht. Jeweils geht es dabei um in der Vergangenheit liegendes Unrecht, das „nicht nach Aufhebung, sondern allenfalls nach Rache verlangen“ kann.[24] Mit dieser Umdeutung des Befreiungskrieges in einen Rachefeldzug wird von vornherein ausgeschlossen, dass sich weiße Anhänger der Ideale der Französischen Revolution auf ihre Seite schlagen.[25] Hoangos Fallgeschichte illustriert damit den radikalen Bruch zwischen den Rassen: In seiner unverhältnismäßigen, sich gegen ausnahmslos alle Weißen und selbst deren materielle Besitztümer richtenden Gewalt wird somit eine Art zentrifugale Kraft sichtbar, die restlos alle Schwarzen und Weißen trennt – selbst da, wo sie bis dato scheinbar friedlich und mit gegenseitigen ‚Wohltaten‘ zusammenleben. Der Riss, der seit den „unbesonnenen Schritte[n] des National-Konvents“ (160) durch die Gesellschaft geht, verläuft nicht zwischen den sozialen Schichten, sondern zwischen den Rassen.
Alles das lässt darauf schließen, dass es Kleist in seiner Darstellung des Sklavenaufstands darauf ankam, „die Unversöhnlichkeit des Schwarz-Weiß-Konflikts hervorzuheben.“[26] Zusätzlich belegen lässt sich das durch einen kurzen Abgleich mit der historischen Realität, die um ein Vielfaches komplizierter war als Kleists vereinfachende Zuspitzung:
Aus der Vielzahl von möglichen Konflikten – der Rivalität zwischen den Kolonialmächten, Kämpfen zwischen armen und reichen Mulatten und Weißen, Mulatten und Schwarzen, freien und unfreien Nichtweißen, freien Nichtweißen und Weißen – greift er jenen heraus, dessen Antithetik am schärfsten ausgeprägt ist.[27]
In Kleists Novelle ist es ein schwarzer Sergeant, der „die Bosheit gehabt, sogleich alle Schiffe im Hafen [von Fort Dauphin] in Brand zu stecken, um den Weißen die Flucht nach Europa abzuschneiden“ (169). Am Schluss retten sich die Strömlis „mit dem französischen Heer auf die englische Flotte“ (195). In Wahrheit war es die britische Marine, die die französischen Schiffe kaperte und damit den Resten der geschlagenen napoleonischen Invasionstruppen den Rückzug unmöglich machte.[28] Durch solche gravierenden Abweichungen von der Historie erklärt sich auch die schwammige Chronologie der Ereignisse, die den historischen Fakten und damit allem logischen Realismus zuwiderläuft:[29] Zwischen Ausbruch der ‚Empörung‘ und der finalen Belagerung Port-au-Princes[30], dem Einsatzpunkt der eigentlichen Handlung, vergeht in der historischen Wirklichkeit mehr als ein Jahrzehnt. Während dieser Zeit bleibt die weibliche Hauptfigur jedoch unverändert fünfzehn Jahre alt. Dass Kleist an ihrem Alter und der konkreten Jahreszahl 1803 festhält, zeigt, wie wenig es Kleist hier weder um Realismus noch um historische Genauigkeit ging. Stattdessen hat er die Ereignisse sehr gezielt zu jenem Rassenkampf Schwarz gegen Weiß verdichtet.[31]
Nun stellt sich freilich die Frage: Weshalb beschränkt sich Kleist auf die Schlussphase, „als die Schwarzen die Weißen ermordeten“ (160)? Wie sich zeigen wird, ist diese Formulierung nämlich durchaus wörtlich zu nehmen:[32] Die Weißen sind hier von Beginn im Hintertreffen; um die Ermordung der „Reisenden“ und „die in ihren Niederlassungen verschanzten Pflanzer“ kümmert sich Hoango, mit offener Gewalt seines „Negertrupp[s]“ „am hellen Tage“ (161). Die anderen Weißen sind „Flüchtlinge“ (161), die Lebensmittel oder eine Zuflucht suchen. Um auch ihrer habhaft zu werden, zwingt Hoango in seiner „unmenschlichen“ wie offensichtlich unstillbaren „Rachsucht“ (161) auch Babekan, „eine alte Mulattin“ (160), und deren Tochter Toni, „eine[] junge[] funfzehnjährige[] Mestize [33] “, zu einer „gräßlichen List“ (161): Für die Zeit seiner Streifzüge weist er sie an, „weiße oder kreolische Flüchtlinge […] mit Unterstützungen und Gefälligkeiten bis zu seiner Wiederkehr hinzuhalten“, die den „Armen, die sich durch diese Künste hatten täuschen lassen“ (161), den unmittelbaren Tod bringt. Weshalb sich die beiden gemischtfarbigen Frauen gerade wegen ihrer helleren Hautfarbe „zu dieser gräßlichen List“ (ebd.) eignen, werde ich in den folgenden Abschnitten genauer ausführen.
[...]
[1] Journal des Luxus und der Moden vom Februar 1812, zitiert nach Sigismund Rahmer: Heinrich von Kleist als Mensch und Dichter. Nach neuen Quellenforschungen. Berlin 1909, 334.
[2] So nennt etwa Franz M. Eybl (Kleist-Lektüren. UTB 2007, 9) Kleists literarisches Werk eine „Erschütterungskunst, die es anderswo nicht gibt.“
[3] Zitiert nach: Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bde., hrsg. v. Helmut Sembdner, 9. verm. u. revid. Aufl., München 1993, Bd. 2, 160-195. Zitate werden im fortlaufenden Text mit Seitenzahlen nachgewiesen.
[4] Sein Michael Kohlhaas spielt „um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts“ (9), Das Erbeben in Chili im „Jahre 1647“ (144), Die Heilige Cäcilie „[u]m das Ende des sechzehnten Jahrhunderts“ (216) und Der Zweikampf „gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts“ (229). Die Handlungszeiten von Die Marquise von O…, Das Bettelweib von Locarno und Der Findling bleiben dagegen unbestimmt. Vgl. Sigrid Weigel: Der Körper am Kreuzpunkt von Liebesgeschichte und Rassendiskurs in Heinrich von Kleists Verlobung in St. Domingo. In: Kleist-Jahrbuch, 1991, 202-217, hier: 202.
[5] In der Forschung wird dennoch immer wieder ein biographischer Berührungspunkt angeführt, einer der wenigen, die sich überhaupt finden: Kleist war 1807 im Fort de Joux inhaftiert, im selben Gefängnis, in dem wenige Jahre zuvor Dessalines Vorgänger Toussaint L’Ouverture gestorben war. Mir ist allerdings schleierhaft, wie dieser Umstand Kleists Stoffwahl erklären helfen soll. Vgl. Ruth Klüger: Freiheit, die ich meine. Fremdherrschaft in Kleists Hermannsschlacht und Verlobung in St. Domingo. In: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, 133-162, hier: 135. [Zuerst unter dem Titel: Ruth Angress: Kleist’s Treatment of Imperialism. Die Hermannsschlacht und Die Verlobung in St. Domingo. In: Monatshefte (69), 1977, 17-33.]
[6] So wurde die Novelle bis weit ins 20. Jahrhundert rezipiert, vgl. Klüger: Freiheit, a.a.O., 134 und Hansjörg Bay: „Als die Schwarzen die Weißen ermordeten“. Nachbeben einer Erschütterung des europäischen Diskurses in Kleists Verlobung in St. Domingo. In: Kleist-Jahrbuch, 1998, 80-108, hier: 81.
[7] So breit und ausführlich, das haben die Forschungen seit den 1990er Jahren deutlich gemacht, dass es als ebenso aussichtslos wie überflüssig erscheint, nach den genauen Quellen Kleists zu forschen, vgl. Bay: Nachbeben, a.a.O., Anm. 13, 85.
[8] Rund ein Viertel der gesamten französischen Kolonialimporte stammte aus Haiti. Vgl. Jochen Schmidt, der einen knappen Überblick über die Geschichte der Insel seit ihrer neuzeitlichen Entdeckung gibt: Heinrich von Kleist. Die Dramen und Erzählungen in ihrer Epoche. Darmstadt 2003, 245. Das ist insofern nicht ganz unwichtig, als viele eigentlich aufgeklärte Europäer sich zwar einerseits vorbehielten, die Sklaverei im Prinzip abzulehnen, als deren Nutznießer aus ökonomischen Rücksichten aber doch an ihr festhielten. Fischer, 250 und 253f.
[9] Vgl. Klüger: Freiheit, a.a.O., 134. Weil die Schwarzen damit aus dem Bild ausbrachen, das man sich im Europa des 18. Jahrhunderts gemacht hatte und das „für die Konstruktion der europäischen Identität grundlegend[]“ gewesen sein soll, spricht Hansjörg Bay (Nachbeben, a.a.O., 80) von einer Erschütterung des europäisch-kolonialistischen Diskurses über die Stellung der Rassen, Sigrid Weigel (Der Körper am Kreuzpunkt, a.a.O., 205) gar von einer schockartigen, ja regelrecht traumatischen Erfahrung. Solchen diskursiven Schichten der Erzählung galt spätestens seit Beginn der 1990er Jahre das Hauptinteresse der Forschung zur Verlobung. In diese Richtung wies freilich bereits Peter Horn: Hatte Kleist Rassenvorurteile? Eine kritische Auseinandersetzung mit der Literatur zur Verlobung in St. Domingo. In: Ders.: Heinrich von Kleists Erzählungen. Eine Einführung. Königstein i. Ts. 1978, 134-147.
[10] Die in dieser Hinsicht maßgebende Interpretation hat Ruth Klüger: Freiheit, a.a.O., vorgelegt, daran anknüpfend Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege. Freiburg 1987. Ähnlich Bernd Fischer: Zur politischen Dimension der Ethik in Kleists Die Verlobung in St. Domingo. In: Dirk Grathoff (Hg.): Heinrich von Kleist. Studien zu Werk und Wirkung. Opladen 1990, 248-262, und Wolfgang Wittkowski: Gerechtigkeit und Loyalität, Ethik und Politik. Kleists Verlobung in St. Domingo und Goethes teilweise Widerspruch in der Belagerung von Mainz. In: Kleist-Jahrbuch, 1992, 152-171.
[11] Siehe im Einzelnen zu den Einwänden gegen eine Analogie besonders Herbert Uerlings: Preußen in Haiti? Zur interkulturellen Begegnung in Kleists Verlobung in St. Domingo. In: Kleist-Jahrbuch, 1991, 185-201, hier: 187.
[12] So etwa im Katechismus der Deutschen: „FRAGE. Was aber ist ihm [Gott] ein Greuel? / ANTWORT. Wenn Sklaven leben.“ (360)
[13] Für Hoango ist das Vaterland, dem ihn die Tyrannei der Weißen entrissen hat, die „Goldküste von Afrika“ (161). Haiti hingegen ist niemandes Vaterland; die Einheimischen wurden kurz nach der Entdeckung Hispaniolas durch die Spanier nahezu vollständig ausgerottet und später durch aus Afrika eingeschiffte Sklaven ersetzt. Uerlings (Preußen in Haiti?, a.a.O., 192) formuliert daher pointiert: „’Vaterland‘ ist in der Verlobung kein politisches Konzept.“ Der „Wortstamm Sklav- [kommt] in der gesamten Erzählung nur ein einziges Mal“ vor (das pestkranke Mädchen in Gustavs Erzählung wird „Sklavin“ (170) genannt), vgl. Bay: Nachbeben, a.a.O., Anm. 17, 87.
[14] Wittkowski (Gerechtigkeit, a.a.O., 153), dessen Aufsatz eine Replik auf Uerlings darstellt und mit der er die Verlobung gerade doch als eminent politischen Text auszuweisen versucht, glaubt deshalb „einige halbversteckte Signale“ im Text entdecken zu können. Mich vermag seine Argumentation nicht zu überzeugen, siehe dazu auch Anm. 71 dieser Arbeit zur symptomatischen Fehldeutung einer Wittkowski zufolge zentralen Stelle.
[15] Ein Verdienst der neueren Arbeiten zur Verlobung ist es, die Aufmerksamkeit auf den historischen Hintergrund gelenkt zu haben, den Literaturwissenschaftler seitdem zunehmend mehr erforscht bzw. verstärkt zur Kenntnis genommen und in ihre Interpretationen einbezogen haben. Sofern dies über den Diskursbegriff erfolgt, rücken eher inhaltlich orientierte Fragen, wie ich sie zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen gemacht habe, zusehends in den Hintergrund. Wer einen solchen, diskursgeschichtlichen Zugang zu Kleists Verlobung wählt, den interessieren weniger „die Figuren, ihre Äußerungen und Konstellationen“ als vielmehr „Bilder und Diskurse, die imaginäre und symbolische Ordnung der Dinge“, die darin zur Darstellung kommen. Weigel: Der Körper, a.a.O., 205. Daneben steht Bays (Nachbeben, a.a.O., 82) ebenfalls diskursgeschichtliche argumentierende These, „daß der Liebesgeschichte die gewählte Situierung keineswegs äußerlich bleibt und daß sowohl die ‚Rassenverhältnisse‘ als auch ihr Umsturz tief eingeschrieben sind in Struktur und innere Dynamik der Erzählung.“ Wo also interpretatorische Rückschlüsse von diskursiven Aspekten – ob von Kleist nun bewusst thematisiert und kritisch reflektiert, wie Fischer vermutet, oder eher als Erschütterung eines „politischen Unbewußten in der symbolischen Ordnung des zeitgenössischen europäischen Diskurses“ (S. 82), die Kleist eher intuitiv „seismographisch genau“ (S. 108) registriere – auf die Deutung der Psyche der Figuren und ihres Handelns gezogen werden, werde ich dies in meiner inhaltlich orientierten Analyse an den betreffenden Stellen berücksichtigen.
[16] Dass ihm eine Frau gegen seinen Willen (von dem ihren ist gar nicht erst die Rede) ‚beigelegt‘ wird, darin drückt sich die ungebrochene Gewalt des weißen Herren aus, die dieser über ihn und seinesgleichen nach wie vor hat. Über Sklaven wird wie über Gegenstände verfügt, die Sklaverei selbst verbirgt sich im Euphemismus von der „Gewohnheit des Landes“ (160). Dabei handelt es sich um die ersten jener Widerstände, die sich im Verlauf der Novelle gegen die parteiische, eurozentristische Darstellung des Sklavenaufstands entfalten. Vgl. Bay: Nachbeben, a.a.O., 83.
[17] Dabei handelt es sich vermutlich um eine Serie von Beschlüssen, bestehend „aus der Proklamation der Gleichberechtigung der freien Farbigen im Mai 1791, der Widerrufung dieses Dekrets im September desselben Jahres und seine erneute Proklamation im April 1792, der Entsendung von Kommissaren der Französischen Republik auf die Insel und dem Beschluß von 1794 zur Abschaffung der Sklaverei, der dann 1802 durch Bonaparte schon wieder rückgängig gemacht wurde.“ Weigel: Der Körper, a.a.O., 204. Welcher der Schritte oder ob deren Zögerlichkeit unbesonnen gewesen sein soll, bleibt unklar.
[18] Vgl. Weigel: Der Körper, a.a.O., 204
[19] Oder verschweigt uns der Erzähler die wahren Motive der Schwarzen, um ein möglichst schlechtes Bild von ihnen und ihrem Befreiungskampf zu zeichnen? Die Frage nach dem Rassismus der Erzählung, ihres Autors, ihres Erzählers sowie ihrer Figuren wurde seit Peter Horn (Hatte Kleist Rassenvorurteile, a.a.O.) immer wieder ausführlich mit wechselnden Ergebnissen diskutiert. Horn hatte bereits die Position Gustavs kritisch relativiert, vor allem Klüger (Freiheit, a.a.O.) und Fischer (Zur politischen Dimension, a.a.O.) sehen auch im Erzähler eine parteiische, eurozentristische wie kolonialistische Perspektive vorgeführt, gegen die sich die Erzählung als ganze allerdings kritisch verhalte. So wie der Hinweis auf die Tyrannei der Sklavenverschleppung ein neues Licht auf die Wohltaten des Herrn Guillaume werfen, so erscheint dieser vermeintliche Wohltäter selbst in neuem Licht, wenn Babekan später von den „sechzig Peitschenhiebe[n]“ (169) berichtet, die er ihr zu Unrecht geben ließ. Die persönliche Rache der Schwarzen ist somit stets gut motiviert, auch das pestkranke Mädchen rächt sich „jener Mißhandlungen eingedenk“ (170) an ihrem ehemaligen Herrn. Bay (Nachbeben, a.a.O., 84f.) kritisiert das Ausblenden der strukturellen Dimension (und weist darauf hin, dass die „kolonialistische Sichtweise Gustavs und des Erzählers [] durchaus derjenigen der zeitgenössischen Publizistik“ entspreche und sieht in der Erzählung nur eine sehr begrenzte Dekonstruktion dieser Sichtweise): Indem die strukturelle Dimension der Sklaverei ausgeblendet und der Kritik entzogen werde, erscheine „der Befreiungskampf nicht als Beseitigung eines Unrechtssystems, sondern als ‚Rache‘ für individuell erlittenes Unrecht, als vielleicht nicht völlig unmotivierte, aber blindwütige […] und insofern unmenschliche und ungerechtfertigte Reaktion. Die individualethische Beurteilung ihres politischen Kampfes bescheinigt den ‚Schwarzen‘ dann auch gleich jene ethische Unzulänglichkeit und Barbarei, welche die Sklaverei als ihnen adäquate Lebensform erscheinen lässt.“ Ich hingegen sehe den Erzähler eher auf einer Linie mit Gustavs grundsätzlich revolutionskritischer Haltung angesichts von ebenso blindwütigen Straßburger Revolutionären, die ich im Kapitel 3 näher beschreiben werde. Wenn man schon nach der ‚Einstellung‘ des Autors Kleist fragt, so scheint mir am plausibelsten, auch ihn nicht als Gegner einer Sklavenbefreiung, sondern als Revolutionsgegner zu sehen. Dass sich die Revolution gegen Unrecht richtet, bleibt davon unbeschadet. – Im Folgenden werde ich versuchen, die Reduktion auf persönliche Rache als bewusste Fiktion Kleists plausibel zu machen, um den Schwarz-Weiß-Konflikt auf die Spitze zu treiben.
[20] Das stimm nicht ganz: „Aus der Schicht der durch leichtere […] Arbeit privilegierten, oft bildungsbeflissenen Sklaven, der schwarzen Aufseher und der Freigelassenen, der Congo Hoango angehört, stammten in der Tat die Anführer der Aufständischen zu Beginn der Revolution in den 1790er Jahren“. Rémy Charbon: Der „weiße“ Blick. Über Kleists Verlobung in St. Domingo. In: Kleist-Jahrbuch, 1996, 77-88, hier: 79. Nicht repräsentativ hingegen ist das Motiv der Rache, auf das ich mich im Folgenden konzentriere.
[21] Zum einen wird bereits mit diesem Namen, der vielleicht nicht ganz zufällig in Silbenanzahl und seinen Endungen den auf ‚O‘ auslautenden Namen der Insel Sant o Doming o aufgreift und wiederholt, das exotische Terrain angezeigt, auf dem das Geschehen angesiedelt ist. Roland Reuß (Die Verlobung in St. Domingo – eine Einführung in Kleists Erzählen. Basel/Frankfurt a.M. 1988, 3-44, hier: 18) vermutet, dass es sich um ein Kompositum aus den Namen zwei der größten Flüsse Afrikas bzw. Asiens handelt, von Kleist als Name für eine Figur gewählt, deren Gewalt sich wie ein wilder Strom Bahn bricht, während die ‚Strömlis‘ zunächst macht- und hilflose Flüchtlinge sind. Aber auch ohne dieses lexikalische Wissen mag dieser Name für europäische Ohren einen martialischen Klang gehabt haben, etwas Kraftvolles und Rohes, das in der Sklavenrolle nur vorübergehend hat gebändigt werden können.
[22] Dessalines zeichnete für einige der schlimmsten Massaker an den Weißen verantwortlich, sein Name musste daher ein krasses Negativbild bei den europäischen Lesern hervorrufen. Vgl. Bay a.a.O., Anm. 9, 82.
[23] Ebd., 86.
[24] Ebd., 86.
[25] Die privilegierten und wohlhabenden weißen Pflanzer waren in der großen Mehrheit dagegen, aber dass der Beschluss zur Aufhebung der Sklaverei ein knappes Jahrzehnt Bestand hatte, zeigt, dass es zumindest in Europa durchaus Befürworter einer gänzlichen Abschaffung gab.
[26] Johannes Harnischfeger: Liebe und Vertrauen in Kleists Verlobung in St. Domingo. In: Beiträge zur Kleist-Forschung (15), 2001, 99-127, hier: 103.
[27] Charbon: Der „weiße“ Blick, a.a.O., 87. Vgl. auch Bay: Nachbeben, a.a.O., 82f. u. besonders 87f., wo diese Beobachtung zusätzlich mit einer überzeugenden Analyse der räumlichen Strukturierung der Erzählung sowie der Figurenkonstellation untermauert wird.
[28] Harnischfeger: Liebe und Vertrauen, a.a.O., 103.
[29] Der alten Forschung galten diese und andere Unstimmigkeiten als literarische Mängel und somit als Indiz dafür, dass es sich um ein frühes, unreifes Werk handeln müsse. Solche Unstimmigkeiten machen die Erzählung für dekonstruktivisitische Lektüren anschlussfähig, siehe Reuß und Volker Kaiser: Der Haken der Auslegung. In: Athenäum (7), 1997, 193-210. Charbons (Der „weiße Blick“, a.a.O., 78) funktionale Erklärung erscheint mir treffender: „nicht die Plausibilität [ist] das Wesentliche, sondern die Polarisierung“.
[30] Eigentlich wurde die entscheidende Schlacht im Norden, bei Le Cap, geschlagen. Vgl. Charbon: Der „weiße“ Blick, a.a.O., Anm. 26, 83. Warum sie Kleist dorthin verlegt, ist unklar. Vielleicht ging es ihm um einen auch namentlich als Hafenstadt erkennbaren „letzte[n] Stützpunkt der französischen Macht auf dieser Insel“, gewissermaßen als allerletzter Brückenkopf für eine rettende Überfahrt nach Europa.
[31] Darin wiederum ist Kleist historisch korrekt, ins Jahr 1803 fiel die blutigste Phase des Befreiungskrieges, in der die Schwarzen und die Mulatten eine Zweckallianz gegen die Franzosen schlossen. Vgl. Charbon: Der „weiße“ Blick, a.a.O., 79f.
[32] Anders Weigel: Der Körper, a.a.O., 204, die meint, der Erzähler bediene sich hier einer „ mythischen Redeweise “, dieser Satz sei „die sprachliche Gestalt, in der die Kämpfe auf Haiti im kollektiven Gedächtnis der Europäer erinnert werden.“ (Hervorhebungen original) Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskurse handele es sich um das „Zitat einer traumatischen Erfahrung inmitten einer bereits mythisch gewordenen Erinnerung an ein Jüngstvergangenes“ (S. 205). Mir scheint, dass hier der Begriff des Diskurses ein wenig überstrapaziert und die Bedeutung des Wortwörtlichen für die literarische Fiktion aus den Augen verloren wird, die Kleists Verlobung bei aller Diskursivierung immer noch zuerst ist.
[33] Diese Bezeichnung für die Tochter einer Mulattin und eines Europäers hat für mancherlei Verwirrung in der Forschung gesorgt, weil sie im heutigen Sprachgebrauch für Mischlinge aus Europäern und Indianern verwendet wird. Unlängst konnte jedoch nachgewiesen werden, dass das über das spanische mestizo auf lateinisch mixtus zurückgehende Mestize zu Kleists Zeiten auch ganz allgemein für ‚Mischling‘ gebräuchlich war. Vgl. Klaus Müller-Salget: August und die Mestize. Zu einigen Kontroversen um Kleists Verlobung in St. Domingo. In: Euphorion (92), 105ff.
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