Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Gottfried Kellers Novelle „Frau Regel Amrain und ihr Jüngster“. Von den Regeln der Erziehung, die den Ausweg aus dem Typus der Seldwyler ermöglichen
2.1 Frau Regel Amrains Kampf um den Steinbruch und der Auslöser ihrer Erziehungsvorsätze
2.2 Frau Regel Amrains Erziehung als Ausweg aus dem seldwylerischen Dasein
3. Schlusswort
4. Literatur- und Internetquellenverzeichnis
1. Einleitung
Nachdem Gottfried Keller bei seinem Verlag Vieweg[1], bei dem er zuvor bereits publizierte, einen „Possen gespielt“[2] hatte und dadurch für die Entstehung seines Novellenzyklus‘ ‚ Die Leute von Seldwyla ‘ den ersten Stein setzte, schrieb er im Jahre 1854 in einer Nachricht an Ferdinand Freiligrath, einem deutschen Dichter und Übersetzer, der zur gleichen Zeit wie Keller lebte[3]: „Ich […] werde nun zu Hause mit wichtigem Gesicht mich an eine höchst raffinierte und ausgetüftelte Tätigkeit machen.“[4]
In den darauf folgenden Jahren verfasste Keller seinen raffinierten und ausgetüftelten ersten Band des Novellenzyklus‘, den er ‚ Die Leute von Seldwyla ‘ nannte sowie den Plan für den zweiten Band, der jedoch erst in den Jahren zwischen 1860 und 1875 veröffentlicht wurde. Neben Giovanni Boccaccios ‚ Decamerone ‘, zählt Gottfried Kellers ‚ Die Leute von Seldwyla ‘ bis heute zu den bedeutsamsten, die Zeit überdauernden Novellenzyklen.[5]
Der erste sowie der zweite Band der Erzählungen Kellers bestehen jeweils aus fünf Geschichten. Jene, die in dieser Hausarbeit im Zentrum steht, befindet sich im ersten Band an dritter Stelle und wurde von Gottfried ‚ Frau Regel Amrain und ihr Jüngster ‘ betitelt. Die Novelle spielt, wie es zu erwarten ist, in der fiktiven Stadt Seldwyla, die sich irgendwo innerhalb der Schweiz befindet. Frau Regel Amrain ist eine, von ihrem in Seldwyla geborenen Ehemann mit einem enormen Schuldenberg, zurückgelassene allein erziehende Mutter von drei Söhnen, die sich, nachdem ihr jüngster Sohn Fritz, sie vor einer unehelichen Liebelei rettete, das Ziel setzt, all ihre Aufmerksamkeit auf jenen kleinen Sohn zu lenken, der ihr an diesem Tag heldenhaft zur Seite stand, um ihn durch ihre spezielle Art der mütterlichen Erziehung auf einen besseren Weg zu lenken, als den, den sein Vater sowie die Masse der restlichen Seldwyler einschlugen. Christian Stotz schrieb hierzu:
„[Es ist nicht nur] der Konflikt zwischen Vater und heranwachsendem Sohn; es ist auch der Konflikt zwischen Rechtschaffenheit und Seldwylertum, zwischen ganz unterschiedlichen Auffassungen von Verantwortung. […] Es ist das Element, das die Sphären der Ökonomie und die der Bürgerpflicht, in denen Fritz jeweils achtbare Erfolge vorweisen kann, […] und das auch Resultat seiner Erziehung ist.“[6]
Ob Stotz‘ These der Wahrheit entspricht, dass Frau Regel Amrains Erziehung der Grundstein für ein nicht-seldwylerisches Leben ist, ob dementsprechend die Erziehung den Ausweg aus dem Typus der Seldwyler ermöglicht, wird in dem nun folgenden herausgearbeitet. Ebenfalls wird die Frage bearbeitet, was diesen Typus der Seldwyler ausmacht, wer ihm entspricht und wer es auch welchen Gründen schafft, aus dem Schema der Seldwyler auszubrechen.
2. Gottfried Kellers Novelle „Frau Regel Amrain und ihr Jüngster“. Von den Regeln der Erziehung, die den Ausweg aus dem Typus der Seldwyler ermöglichen
2.1 Frau Regel Amrains Kampf um den Steinbruch und der Auslöser ihrer Erziehungsvorsätze
Gottfried Kellers Werk ‚ Frau Regel Amrain und ihr Jüngster ‘ ist, so wie Keller es selbst innerhalb des Untertitels dieser Sammlung festsetzte, eine Erzählung, d.h. es ist eine Darstellung eines ausgedachten oder wahren Ereignisses in mündlicher oder schriftlicher Form, welches sich in die Einleitung- in der der Autor die Situation beschreibt-, den Hauptteil- in dem die Personen Dialoge führen, agieren und handeln und die Situation dadurch zu einem Höhepunkt zuspitzen- und dem Schluss zusammensetzt- in dem der Konflikt gelöst wird und die Geschehnisse eventuell durch eine Überraschung abgerundet werden. Die Erzählung ist ein Oberbegriff für Sagen, Kurzgeschichten, Novellen, Anekdoten und Nacherzählungen.[7] Kellers Werk ist demzufolge zwar eine Erzählung, doch im engeren Sinne eine Novelle, da sie sich dadurch charakterisiert, dass sie eine kurze Form der Erzählung ist und „eine außergewöhnliche Begebenheit, […]in Prosa“[8] darstellt.
‚Frau Regel Amrain und ihr Jüngster‘ ist schlussendlich eine Novelle, die die Geschichte um die im Titel genannte Regel Amrain sowie um ihren jüngsten Sohn Fritz beschreibt, welche beide in der fiktiven Stadt Seldwyla leben.Die Novelle beginnt mit der für sie typischen Einleitung der bisherigen Geschehnisse. Keller stellt zunächst die Namensgeberin der Erzählung vor, als „Frau eines abwesenden Seldwylers“[9] mit „ […] einem großen Steinbruch […]“ (S.141) Herr Amrain im Gegenzug ist „ein ansehnlicher Mann“ (S.141), der eines Tages die Knopfmacherei, in der er arbeitete liquidierte und anschließend „[…] in einer wichtigen Hauptsitzung der Seldwyler Spekulanten jenen Steinbruch […]“ (S.141) hinter der Stadt übernahm und infolgedessen aufgrund seines entstandenen Schuldenwesens, seiner politischen Gesinnungslosigkeit sowie seiner „angemessenen beweglichen Lebensweise“ (S. 141) getrieben wird, die Flucht ins Ausland zu ergreifen. Dass es abzusehen war, dass Herr Amrain sich durch den Kauf des Steinbruches in den finanziellen Ruin treiben wird, anstatt zu Wohlstand und Reichtum, zeigt sich insbesondere in seiner Motivation, die Knopfmacherei zu verlassen und stattdessen in den Steinbruch zu wechseln:
„Nun hatte er die angemessene bewegliche Lebensweise gefunden, indem er mit einer roten Brieftasche voll Papiere und einem eleganten Spazierstock, auf welchem mit silbernen Stiften ein Zollmaß angebracht war, etwa in den Steinbruch hinaus lustwandelte, wenn das Wetter lieblich war […] und dann schleunigst in die Stadt zurückkehrte, um den eigentlichen Geschäften nachzugehen, dem Umsatz der verschiedenen Papiere in der Brieftasche, was in den kühlen Gaststuben auf das beste vor sich ging. Kurz, er war ein vollkommener Seldwyler […].“ (S.141f)
Innerhalb dieser Beschreibung über Herrn Amrain und seinen Beweggründen, diesen Steinbruch zu übernehmen, wird deutlich, dass er die Leitung nicht übernommen hat, um der Leiter eines Steinbruches zu sein, sondern, um eine Brieftasche voller Geld, welches er in der Stadt direkt in einer Kneipe ausgibt, und einen eleganten Spazierstock zu besitzen. Genau darin begründen sich auch sein Scheitern und sein finanzieller Ruin. Nicht nur, dass er die Firma ohne Vorkenntnisse über die Leitung eines Steinbruches oder die Arbeit in ihm besitzt, legt er seinen Fokus nur auf die Luxusgüter, die er durch den erworbenen Steinbruch erwirtschaftet und gibt das erarbeitete Geld direkt, ohne an die Zukunft zu denken, in der Kneipe aus.Wie er aber sicherstellen kann, dass der Steinbruch auch weiterhin wirtschaftet, spielte für ihn in dieser Situation jedoch keinerlei Rolle. Aber nicht nur dieser falsche finanzielle Umgang war der Sprung in seinen Ruin, sondern insbesondere die Erzürnung seines Gönners, der den Steinbruch mitfinanzierte, seinin den Steinbruch investiertes Geld wieder zurücknahm und „trieb dadurch vor der Zeit den bestürzten Amrain vom Steinbruch und in die Welt hinaus.“ (S.142)Nachdem dieser also den Steinbruch und damit auch seine Familie finanziell ruinierte, war er gezwungen das Land zu verlassen und hinterließ nicht nur seine Familie, sondern ebenfalls den enormen angestauten Schuldenberg.
Während die restlichen Seldwyler unter sich darüber diskutieren, wer als nächstes von ihnen den Steinbruch führen soll, setzte Frau Amrain „ganz unseldwylerisch und gegen alle Bemühungen der ‚Gläubiger‘ durch, dass sie ‚wirklich die Besitzerin des Steinbruchs wurde.“[10] Keller zeigt an dieser Stelle den deutlichen Unterschied zwischen Frau und Herr Amrain: Während Herr Amrain „ein vollkommener Seldwyler“ (S.142) ist, der sein Leben lang in dieser Stadt lebte und so, wie viele andere seiner Mitbürger durch sein Nichtwissen und seine Überheblichkeit sein Geschäft in den Ruin stürzte, ist Frau Amrain das vollkommene Gegenstück zu ihm, da sie weder eine geborene Seldwylerin ist noch deren Lebensphilosophie folgt. Sie ist im Gegensatz zu ihrem Mann „ganz unseldwylerisch“[11], was darauf schließen lässt, dass sie in ihrer Heimatstadt eine andere, deutlich bessere Erziehung genoss, als die Menschen in Seldwyla und dementsprechend der seldwylerischen Lebenseinstellung, die ehrliche und richtige Arbeit an letzter Stelle zu setzen und dafür den Blick auf die Unterhaltung zu lenken, nicht verfällt, da sie selbst am Beispiel ihres Ehemannes sehen kann, dass diese Einstellung kein gutes Leben ermöglicht. Sie nimmt, um der Katastrophe innerhalb ihrer Familie entgegenzuwirken, das Ruder selbst in die Hand und übernimmt den Steinbruch, der ihr ehelich zusteht. Sie veranlasst einen Umbau der Firma und setzt das richtige Ziel fest, welches zum Erfolg führt, denn sie „gründete zum ersten Mal die Unternehmung, statt auf den Scheinverkehr, auf wirkliche Produktion“ (S.143) zu setzen und ließ die Arbeiter „fleißig und ordentlich darin arbeiten unter der Leitung eines guten fremden Werkführers.“(S.143) Worin man ebenfalls deutlich sehen kann, dass sie es mit der Firma ernst meint, ist nicht nur ihre Bemühung, den Steinbruch umzustrukturieren, sondern ebenfalls, dass sie darauf achtet, dass die Arbeiter ordentlich und vor allem engagiert arbeiten. Die wohl vernünftigste und zum Erfolg führendste Entscheidung Frau Amrains ist jene, dass sie sich einen Werkleiter für den Steinbruch sucht, da sie selbst keinerlei Erfahrung mit der Leitung eines Geschäftes besitztund sich als unerfahrene Leitung als ungeeignet sieht. Aber sie hat sich nicht nur einen Werkleiter gesucht, sondern im Speziellen einen, der von außerhalb stammt, wodurch sie sicherstellt, dass er nicht dem seldwylerischen, unproduktiven und erfolglosen Leben unterworfen ist, sondern im besten Falle eine ebenso gute Erziehung genossen hat, wie Frau Amrain es tat und mit der notwendigen Kenntnis und Vernunft den Laden führt.
Trotz der Bemühungen der Seldwyler, Frau Amrain in ihrem Engagement und ihrem Willen, den Schuldenberg zu beseitigen und sich eines Tages ein gutes Leben finanzieren zu können, vom Wege abzubringen, behauptet sie sich unentwegt und schafft es, dank ihrer erzogenen privatenSparsamkeit und Tugendhaftigkeit, jegliche Forderungen zu bezahlen und festigt dadurch ihren Standpunkt in der Menge der Seldwyler.
Frau Regel Amrain ist jedoch nicht nur eine verlassene Ehefrau und Besitzerin der Firma, sondern ebenfalls Mutter dreier Söhne, die allesamt ohne ihren Vater aufwachsen müssen. Die Lücke des Vaters will jedoch der geschäftsführende Geselle des Steinbruchs füllen, der sowohl aus ökonomischen Gründen als auch aus Liebe zu ihr, versucht, sie eines Tages zu verführen. Die sonst so besonnene und entschlossene Frau Amrain verfällt in diesen einem Moment der Schwachheit, die durch die überraschenden Umgarnungsversuche des Werkführers entsteht. Doch in diesem einzigen Moment, in dem sie sich selbst nicht voll und ganz unter Kontrolle hat und ihre Bemühungen sowohl den Schein der noch bestehenden Ehe als auch ihre erkämpfte Stärke zu bewahren, erwacht ihr jüngster Sohn Fritz und verjagt den Werkführer mit seinem zornigen Ausruf „Mutter! es ist ein Dieb da!“ (S. 147) und seinem Angriff auf ihn mit einer langen Gardinenstange. Durch das Beschützen ihres fünfjährigen Sohnes vor diesem aufdringlichen Mann, den er als Einbrecher zu erkennen vermochte und dadurch die Situation vollkommen falsch verstanden hatte, entsteht „zwischen Mutter und Sohn ein ganz besonders inniges Band, das die beiden anderen Brüder vollkommen in den Hintergrund stellen läßt.“[12] Dank seines Eingreifens konnte ihr kurzzeitiger Schwächeanfall zerschlagen werden. Um es ihren kleinen Sohn gleich zu machen, entscheidet sie sich ab diesem Tag, all ihre Aufmerksamkeit ganz auf Fritz zu lenken, um an ihm ein „Erziehungsideal“[13] entwickeln zu können, welches ihn voll und ganz vom typischen seldwylerischen Werdegang abbringen soll, sodass er, als einziger ihrer Söhne, „der dem Vater glich“ (S.148), durch ihre Erziehung all das werden kann, was sein Vater nicht erreichen konnte bzw. nicht wollte.
2.2 Frau Regel Amrains Erziehung als Ausweg aus dem seldwylerischen Dasein
Gerhard Kaiser schrieb über Frau Amrain in Bezug auf ihre Erziehung, dass sie die „Meisterin im indirekten Setzen von Motivationen anstelle von Verboten“[14] sei und auch Christian Stotz ist seiner Meinung, dass sie ihren Sohn nicht durch Verbote, sondern vielmehr durch „positive Motivation“[15] erzieht.
An verschiedenen Stellen innerhalb des Textes zeigt dich sehr deutlich, dass sowohl Stotz als auch Kaiser mit ihren Aussagen über die amrainsche Erziehung Recht behalten. Frau Amrain ist bestrebt, ihrem Sohn gegenüber empfindsamkeitslos zu sein, um bei Fritz den Drang zu entwickeln, alles so zu tun, wie es seiner Mutter beliebt, um dadurch ihre Zuneigung zu erlangen.[16] Da er unentwegt in ihrer Nähe bleibt, übernimmt er endlich all ihre Manieren und ihre Denkungsart und tut dadurch bald von sich aus nichts mehr, was auch „nicht im Geschmacke der Mutter lag.“ (S.149) Sie schafft es also mit Liebesentzug und unterbewusster Kontrolle des Jungen, diesen so zu formen, wie es ihr gefällt, ohne dass der Junge bemerkt, dass er nicht aus eigenem Antrieb handelt und auf Ideen kommt, sondern von ihr unbemerkt beeinflusst wird. Um zu verhindern, dass ihr Sohn eitel wird, wählt sie selbst die Kleidung für ihn aus, einfache Kleidung, in der er sich wohl fühlt, wodurch er nicht auf den Gedanken kommt, etwas Besseres oder ganz anderes tragen zu wollen, als das, was seine Mutter für richtighält. Bei dem Essen verhält es sich ähnlich: Sie behandelt das Essen mit vollkommener Geringschätzung, wodurch Fritz erneut selbst begreift und sich beibringt, dass man auf Lebensmittel nicht allzu viel Wert legen soll. Durch diese erzieherische Maßnahme Amrains beugt sie bei ihrem Sohn vor, dass dieser, wie andere in Seldwyla der „Gelüstigkeit und Tellerleckerei“ (S.149) verfällt und dem folgend einen „Hang nach Wohlleben und zur Verschwendung“(S.149) entwickelt. Durch diese beiden Punkte innerhalb der Erziehung ihres Sohnes, festigt sie seinen Charakter und macht ihn nicht nur zu einem guten Sohn, sondern setzt sie dadurch ebenfalls die Grundpfeiler für einen heranwachsenden Mann, der weder eitel noch gierig sein wird. Sie erzieht ihren Sohn, wenig Wert auf Qualität und Quantität von Nahrung und Kleidung zu legen, ohne zu ihm zu sagen, dass er es so behandeln soll, sondern, da Fritz sehr an ihr hängt und viel Zeit bei ihr verbringt, sieht er, wie sie mit den Dingen umgeht und eignet sie sich ebenfalls an, um es seiner Mutter gleich zu machen. Frau Amrain bleibt zunächst in ihrer Erziehung passiv und ermuntert ihn dazu, es ihr nachzumachen, anstatt es ihm zu verbieten, dem Essen und der Mode einen Wert zu verleihen.
[...]
[1] Vgl. http://www.gottfriedkeller.ch/frameset.htm (Zugriff: 28.02.2011).
[2] Keller, S. 653.
[3] Vgl. Bauer- Jonis, S. 285.
[4] Keller, S. 653.
[5] Vgl. Ebenda.
[6] Stotz, S. 124.
[7] Vgl. Bauer- Jonis, S. 241.
[8] Ebenda, S. 613.
[9] Keller, S. 141. Um Platz zu sparen folgt nun die Nennung der Seitenzahl in Klammern nach dem Zitat.
[10] Selbmann, S. 66.
[11] Ebenda.
[12] Stotz, S. 122.
[13] Ebenda
[14] Kaiser, S. 316
[15] Stotz, S. 122.
[16] Vgl. Keller, S. 149.