Leseprobe
Inhalt
1. Einleitung
2. Kurze historische Verortung Kants und seines a-priorischen Raumbegriffs
2.1 Der Raumbegriff in „Von dem ersten Unterschiede der Gegenden im Raume“
2.2 Der Raumbegriff in ,,Von dem Raume“
2.3 Der Raumbegriff in ,,Was heifit: sich im Denken orientieren?“
2.4 Zwischenfazit
3. Der Roman „Die Vermessung der Welt“
3.1 CarlFriedrichGaufi
3.1.1 Der a priorische Raumgedanke
3.1.2 Geometrie vor Empirie
3.1.3 Korper sind Grenzen
3.1.4 Unwissenheit ist die Schranke der Erkenntnis
3.1.5 Wo Gaufi uber Kant hinaus wachst
3.2 Alexander von Humboldt
3.3 Unterschiede von Humboldts Arbeitsweise in Abgrenzung zu Gaufi
3.4 Gemeinsamkeiten
3.5 Wertung
4. Fazit
5. Literatur
1. Einleitung
Der Raumbegriff hat spatestens in den 1970er Jahren, als ein „Spatial Tum“ fur die Kulturwissenschaften festgestellt wurde, auch in der Philosophie wieder erhohte Aufmerksamkeit erhalten[1]. Erneute Beschaftigung mit dem Raum konnte auch erneute Beschaftigung mit klassischer und moderner Philosophie bedeuten, die sich seit Aristoteles mit Fragen der Raumlichkeit auseinander setzte[2]. Einer der einflussreichsten Philosophen der klassischen Philosophie auch auf diesem Gebiet war Immanuel Kant[3]. Er bezog sich auf die Ansatze anderer wichtiger Philosophen und Wissenschaftler wie zum Beispiel Isaac Newton oder Wilhelm Leibniz, entwickelte diese weiter und kam so zu einem a priorischen Begriff des Raumes[4].
Die Literaturwissenschaft hingegen nahm lange Zeit an, dass Raumlichkeit der bildenden Kunst vorbehalten war, wahrend die Literatur zeitlichen Ordnungsparametern gehorchte (dies besagte Lessings Laokoon-These von 1766)[5]. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wandelte sich diese Grundannahme zu Gunsten eines Raumwissens in der Literatur[6]. Mit dem oben bereits erwahnten ,,Spatial Turn“ setzte dann auch in dieser Wissenschaft eine rege Beschaftigung mit dem Thema Raum ein[7]. Die vorliegende Arbeit beschaftigt sich allerdings nicht mit Fragen der Raumlichkeit der Literatur an sich, sondern untersucht, wie die philosophische Diskussion zum Thema Raum in der Gegenwartsliteratur verarbeitet wird. Literatur wurde als Medium gewahlt, da es ein Kulturprodukt ist, welches stets auch einen Beitrag zu aktuellen Diskursen leisten kann.
Der Roman ,,Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann deutet bereits im Titel die enge Verbindung zum Thema des Raumes an. Greift der Autor aber tatsachlich Gedanken aus der konzeptionellen Auseinandersetzung mit dem Raumbegriff auf, um diese an seinen Protagonisten Carl Friedrich Gaufi und Alexander von Humboldt deutlich zu machen?
Da Kant mit seinem a priorischen Raumbegriff der Mathematik, wie sie vom Protagonisten Carl Friedrich Gaufi vertreten wird, eher nahe steht als der empirischen Forschung, die hier an Alexander von Humboldt gezeigt wird, ist es wahrscheinlich, dass Kehlmann mit Gaufi einen Wissenschaftler beschreibt, der den a priorischen Gedanken der Raumkonzeption verfolgt und umsetzt. Der Charakter Alexander von Humboldts fungiert aus dieser Perspektive eher als Abgrenzung und zeigt die Uberflussigkeit seiner eigenen Vorgehensweise, die durch reine Berechnung ersetzt werden kann.
2. Kurze historische Verortung Kants und seines a-priorischen Raumbegriffs
Die zeitgenossische Raumphilosophie vertrat im Wesentlichen zwei konkurrierende Raummodelle, ein absolutes oder ein relatives. Rene Descartes und Isaac Newton gehorten zu den Verfechtern eines absoluten Raumverstandnisses[8], wahrend Leibniz hingegen Raum als Ordnungsschema betrachtete, welches uber die Relationen von Korpern zueinander definiert wird[9]. Descartes betonte die enge Verknupfung von Korper und Raum, indem er anfuhrte, dass ein Gegenstand ohne raumliche Ausdehnung nicht sein konne[10]. Raum musse also vor dem Sein stehen und sei demnach a priorisch. Newton fuhrte daruber hinaus den Beweis, dass der Raum leer ist[11]. Bis dahin hatte man angenommen, dass Bewegung durch den Anstofi einer Materie, die den Raum erfulle, entstehe[12]. Dieses Prinzip hatte den Vorteil, dass ihre Vertreter nicht mit der Kirche in Konflikt geraten konnten, da es die Moglichkeit eines ersten Verursachers der Bewegung einschloss[13]. Der Beweis der Leere des Raumes konnte jedoch, als er einmal ausgesprochen war, nicht mehr verleugnet werden und setzte sich letztendlich durch.
Obwohl Kant der Lehre Newtons wohl am nachsten stand[14], verwarf er schliefilich alle Theorien seiner Vorganger als zu kurz greifend (s. u.) und entwarf ein ganz eigenes Konstrukt von Raum. Dieses Konzept beruht weitgehend darauf, dass jede Form der Beschreibung bereits Begriffe voraussetzt, die Produkte eines raumlichen Denkens sein mussen[15]. Diese Vorstellung ist eine Verstandesleistung und damit subjektiv, abstrakt und a priorisch.
In der neueren Philosophie ruckt der a priorische Raumgedanke wieder in den Hintergrund. Gepragt durch die neuen physikalischen Ideen Einsteins[16] bezogen die Philosophen des 20. Jahrhunderts wie Deleuze, Derrida oder auch Heidegger das Erleben wieder sehr viel starker in ihre Definition von Raum mit ein[17]. Kants Ansatz ruckte etwas in den Hintergrund, bleibt bis heute aber in Raumdiskussionen trotzdem der meistadaptierte[18].
Fur die vorliegende Arbeit sind drei Schriftstucke Immanuel Kants von Interesse. In allen dreien ist die Beschaffenheit von Raum und Raumen zentral. Sie werden zu den vorkritischen Schriften gezahlt und erschienen in der Zeit von 1768 bis 1786 in Zeitschriften bzw. in ,,Schriften zur Metaphysik und Logik“[19].
In diesem Text entwickelt Kant zunachst eine Theorie des inkongruenten Gegenstuckes. Eine menschliche Hand sei immer entweder eine linke oder eine rechte. Als Korper seien beide sich vollig ahnlich und in der raumlichen Ausdehnung sogar gleich, doch bleibe ein ,,innerer Unterschied“ der daher ruhre, dass die Begrenzung des einen Raumes den anderen nicht mit einschliefie.[20] Dieser innere Unterschied sei nicht begrifflich zu fassen und doch gelange man durch Anschauung zu einem Verstandnis dessen, was ihn ausmacht[21]. Da der Unterschied raumlicher Art ist, gelange man zum Verstandnis des Raumes ebenfalls durch Anschauung[22].
Im Folgenden widerlegt Kant die Meinung anderer Philosophen (hier ist der direkte Bezug zu Leibniz zu sehen), dass Raum lediglich im Verhaltnis der Gegenstande, welche er einschliefit, bestehe. Diese Ansicht wurde einerseits bedeuten, dass Raum blofi Zwischenraum und damit Leere ware. Auf der anderen Seite fuhrt er an, dass das Verhaltnis von zwei rechten Handen gleich dem Verhaltnis zwischen einer rechten und einer linken Hand sein konne. Die Relation beschreibe also nur den Platz, den ein Korper einnehme, nicht jedoch sein Wesen.[23] Kant bekennt sich in diesem Abschnitt bereits zu einer den Naturwissenschaften nahe stehenden Position[24].
Indem er feststellt, dass Raum erst ermogliche, dass zwei Korper zueinander in Relation gebracht werden konnen, bringt er zum ersten Mal den Gedanken des a priori bestehenden Raumes ein. Das Verhaltnis eines Korpers zum absoluten Raum sei entscheidend, nicht das der Korper untereinander[25]. Der absolute Raum sei eine Idee und ein Grundbegriff und entziehe sich darum aller aufierer Empfindungen. Da der Raumbegriff a priori besteht, ist er ein rein gedankliches Konstrukt. Die sinnliche Wahrnehmung bezieht sich auf konkrete Raume und kann somit nie den Raumbegriff erfassen, dies ubernimmt die reine Anschauung.[26]
Dennoch sei der Raum sowohl Begriff als auch sinnliche Wahrnehmung und damit ideal und konkret zugleich.[27] Wie oben bereits erwahnt, sind in der Betrachtung beider Falle, des idealen und des konkreten Raumes, Anschauungen zentral. Damit deutet Kant an, dass der a priorische Raumbegriff einen subjektiven Charakter besitzt[28].
Dieser Text besteht aus funf Abschnitten (A-E). Jeder Abschnitt fuhrt eine Grundeigenschaft des Raumes an. Die ersten beiden Abschnitte greifen Gedanken auf, die bereits in „Von dem ersten Unterschied der Gegenden im Raume“ ausgefuhrt wurden, die Aprioritat des Raumgedankens und die Trennung eines abstrakten Raumbegriffs von konkreten Raumen. Abschnitt C beschreibt erstmals die Geometrie als Wissenschaft des Raumes. Sie sei „unbezweifelbar und diskursiv“[29], sie schaffe nicht nur die Voraussetzung fur sinnliche Wahrnehmung, sondern sei auch der Grund fur das Denken in Raumen und Dimensionen uberhaupt.[30]
In der Fufinote dieses Abschnitts macht Kant deutlich, dass alles, was im Raum ist, nicht zu einem Teil des Raumes selbst wird, sondern zur Grenze, da der Raum aufhore, wo der Korper beginnt. Dass selbst kleinste geometrische Einheiten als Grenzen fungieren konnen zeigt er, indem er vom Korper, der durch Flachen begrenzt wird, uber Flachen, die durch Geraden begrenzt werden, bis zur Linie, die durch Punkte begrenzt wird, alle geometrisch denkbaren Begrenzungen erwahnt. Auch Raume selbst konnten Grenzen sein.
Im Folgenden (Abschnitt D) erwahnt er zwei alternative philosophische Raumkonstrukte: Der Raum als Behaltnis und der Raum als Verhaltnis. Beide lehnt er als zu beschrankt ab. Die Idee des Raumes als Verhaltnis hat er schon in ,,Von dem ersten Unterschiede der Gegenden im Raume“ abgelehnt. Betrachte man den Raum aber als Behaltnis, so lehne man die Geometrie zu Gunsten der Empirie ab. Er stellt also das reine Verstandeswissen uber das Erfahrungswissen bzw. das durch Untersuchung oder Beobachtung erreichte Wissen. Er erhebt damit den Raum zu einem philosophischen Phanomen und entfernt ihn von den Naturwissenschaften. Dieser Gedanke wird noch deutlicher im letzten Abschnitt, in dem er konkret feststellt, dass der Raum der Natur uberzuordnen sei. Der Raum schliefie zwar die Natur ein, gehe aber uber diese hinaus. Da der Raum alles umfasse, einzig und unteilbar sei, begrunde er die Ganzheit und damit die Moglichkeit der menschlichen Sinne diese zu erahnen.
In diesem Textabschnitt zeigt sich, dass Kant den Raumbegriff in seiner Abstraktheit auf zahlreiche Phanomene anwendet[31]. So kommt er mit Hilfe der Grundkategorie Raum zum Beispiel zu einem Verstandnis der Gegenstande, welches innerlicher und aufierlicher Art ist, zu abstrakten Wissenschaften wie der Geometrie, zu einer Bewertung der Natur. Dabei leugnet er nicht die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung, stellt sie aber unter den Raumbegriff[32].
Hier fuhrt Kant zunachst aus, dass Orientierung nur aufgrund des Empfindens des Unterschiedes zwischen den beiden Korperhalften moglich sei. Aufgrund dieses Gefuhls fur die Unterschiede der Richtungen konne auf die Himmelsrichtungen geschlossen werden.[33]
Kant entwirft im Folgenden ein Beispiel fur Orientierung im Raum, die von Sinneserfahrung unabhangig geworden ist. In einem dunklen Raum konne der Mensch sich aufgrund seiner Erfahrung orientieren. Er musse lediglich die Position eines Gegenstandes wissen, um errechnen zu konnen, wo alle anderen Gegenstande sich befinden.[34]
Orientierung konne aber auch rein logisch, im Denken, stattfinden. Es sei ein Bedurfnis des Verstandes die Grenzen der Erfahrung zu uberschreiten und allgemein gultige Maxime zu erkennen. Die Unwissenheit sei die Grenze der Erkenntnisfahigkeit. Irrtumer hingegen wurden meist durch falsche Schlusse oder anmafiende Wissensuberschatzung hervor gebracht. Um dies zu vermeiden, werde eine Regulierung des Denken notig.[35]
Um sicher zu stellen, dass keine Widerspruche entstehen, solle zunachst eine grundliche Begriffsprufung stattfinden. Danach musse man den Gegenstand auf Gegenstande aus der Erfahrung beziehen. Dieses Verhaltnis solle schliefilich unter ,,reine Verstandesbegriffe“[36] gebracht werden.
Abschliefiend konstatiert Kant, dass allein diese Leistung, da sie noch immer von Wahrnehmung abhangig ist, nichts uber die wahre Beschaffenheit von Gegenstanden aussagen kann. Es kann als eine radikale Hinwendung zum Subjekt verstanden werden, dass Kant hier betont, dass die Vernunft, die das Bedurfnis nach Erkenntnis einschliefit, das Recht haben muss, Voraussetzungen, die sie aus reiner Anschauung hervor bringt, als gegeben anzunehmen. Orientierung im „Nacht erfulleten Raume des Ubersinnlichen“[37] werde also durch das Bedurfnis des Verstandes nach Erkenntnis moglich.[38]
Ernst Cassirer hat in seinem Werk „Kants Leben und Lehre“ den Aufbau dieses Aufsatzes von Kant als Stufenfolge beschrieben[39]. Die geografische Orientierung ist demnach die am wenigsten abstrakte, die einfachste Form. Die mathematische Orientierung sei etwas abstrakter, verliere aber nicht den Kontakt zum Konkreten. Die logische Herangehensweise ist schliefilich nicht nur die abstrakteste, sondern auch am hochsten zu bewerten, da sie Ausdruck der Vernunft sei.[40]
[...]
[1] Quadflieg, Dirk: „Philosophie“ in: Gunzel, Stephan: „Raumwissenschaften“ 2009: 274
[2] Vgl. Dunne, Jorg; Gunzel, Stephan: ,,Raumtheorie - Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften“ 2006: 19/20
[3] Dunne, Gunzel 2006: 28
[4] Vgl. Dunne, Gunzel 2006: 28/29
[5] Sasse, Sylvia: „Literaturwissenschaft“ in: Gunzel, Stephan: „Raumwissenschaften“ 2009: 225
[6] Vgl.Sasse 2009:231
[7] Vgl.Sasse 2009:231ff
[8] Ebd.
[9] Ebd.
[10] Quadflieg 2009: 279
[11] Dunne, Gunzel 2006: 24
[12] Dunne, Gunzel 2006: 26
[13] Ebd.
[14] Quadflieg 2009: 281
[15] Vgl. Quadflieg 2009: 281 und Dunne, Gunzel 2006: 30
[16] Dunne, Gunzel 2006: 39
[17] Vgl. Quadflieg 2009: 282/283
[18] Dunne, Gunzel 2006: 43
[19] Vgl. Dunne, Gunzel 2006: 83
[20] Kant, Immanuel: ,,Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume“ in: Dunne, Jorg; Gunzel, Stephan: ,,Raumtheorie - Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften“ 2006: 74
[21] Vgl. Unruh, Patrick: ,,Transzendentale Asthetik des Raumes - zu Immanuel Kants Raumkonzeption“ 2007: 70
[22] Ebd.
[23] Kant 2006: 75
[24] Unruh, Patrick: ,,Transzendentale Asthetik des Raumes - zu Immanuel Kants Raumkonzeption“ 2007: 60
[25] Ritzel, Wolfgang: ,,Immanuel Kant“ 1985: 226
[26] Kant 2006: 76
[27] Kant 2006: 76
[28] Jaitner, Arne: ,,Zwischen Metaphysik und Empirie - Zum Verhaltnis von Transzendentalphilosophie und Psychoanalyse bei Max Scheler, Theodor W. Adorno und Oda Marquard“ 1999: 27
[29] Kant, Immanuel: ,,Von dem Raume“ in: Dunne, Jorg; Gunzel, Stephan: ,,Raumtheorie - Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften“ 2006: 77
[30] Ebd.
[31] Winkler, Gunther: ,,Raum und Recht - dogmatische und theoretische Perspektiven eines empirisch-rationalen Rechtsdenkens“ 1999: 208
[32] Winkler 1999: 208
[33] Vgl. Kant 2006: 80
[34] Vgl. Kant 2006: 80/81
[35] Vgl. Kant 2006: 81
[36] Kant 2006: 82
[37] Kant 2006: 82
[38] Vgl. Kant 2006: 82
[39] Vgl. Recki, Birgit (Hrsg.): „Ernst Cassirer: Gesammelte Werke - Hamburger Ausgabe; Band 8; Kants Leben und Lehre“ 2001: 38
[40] Vgl. Recki; Cassirer2001: 38