Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Pierre Chamblain de Marivaux: Autor und Werk im historischen Kontext
3. Die Commedia dell`arte: Masken in Paris
3.1 Das Théâtre Italien
3.2 Die Masken der Commedia dell`arte
4. La Double Inconstance
4.1 Die Differenz zwischen dem Gemeinten und Gesagten
4.2 Inhalt, Figurenkonstellation und Aufbau
4.3 Die Intrige als Selbstfindungsprozess
5. Bibliographie
1. Einleitung
Es mag dem heutigen Leser oder Theaterbesucher normal erscheinen, dass in Komödien die handelnden Figuren mehrere, oft auch widersprüchliche Charaktereigenschaften besitzen. Doch war eine psychologische Darstellung in dieser Gattung lange Zeit keine Selbstverständlichkeit. Eine Analyse von Marivaux` Werk soll nun aufzeigen, in wieweit dieses den typologischen Figuren die Maske vom Gesicht nahm und ihnen statt derer mehrere Charakterzüge und vor allem auch damit verbundene Gefühlsunsicherheiten zusprach.
Zumindest gehören typische Merkmale der klassischen französischen Komödien-tradition wie die statische Psychologie und das farcenhafte Element der Komik nicht zu den Wesensmerkmalen der Marivauxschen Stücke. [1]
Anfänglich möchte ich hierzu in wenigen Worten Marivaux` Biographie behandeln, da aus seinem Lebensweg manch spätere Besonderheit seines Oevres erkennbar ist. Weiters wird die Tradition der Commedia dell` arte von Bedeutung sein: eine Typenkomödie, in welcher es weder individuelle Charaktere noch Wandlungsmöglichkeiten gibt. Manche dieser Figuren und vor allem die Intrige finden sich in dem, als Textgrundlage dienendem Stück La Double Inconstance (1723) wieder, in welchem der Prozess der Psychologisierung und der Selbstfindungskampf der Figuren zur eigentlichen Problematik wird.
2. Pierre Chamblain de Marivaux: Autor und Werk im historischen Kontext
Marivaux kam am 4. Februar 1688 in Paris als ein gewisser Pierre Carlet[2] zur Welt; Molière war demnach schon 15 Jahre zuvor verstorben und Frankreich befindet sich in einer Phase der öffentlichen Theaterfeindlichkeit: so durfte ab 1694 nur mehr die Comédie-Francaise ihren Vorhang öffnen, und die querelle war in aller Munde. Seine Jugend verbrachte er in der Provinz (Riom), wo er eine jesuitische Ausbildung durchlitt, die er so weit wie möglich ablehnte:
Der Mangel an klassischer Bildung dürfte später eine der Ursachen seiner Abneigung, ja Respektlosigkeit gegenüber der klassischen Literatur sein, die ihn im Kampf der anciennes contra modernes auf die Seite der Spracherneuerer treiben wird.[3]
1710 begann er das Jusstudium in Paris, das jedoch nur sehr mäßig voranging; stattdessen verbrachte Marivaux seine Zeit im literarischen Salon von Madame de Lambert. Diese Salonkultur definierte sich vor allem durch den Glauben an die Freiheit des Geistes, die Einfachheit des Lebens wurde gepriesen (gegen das absolutistische Leitbild) und war Hauptquartier der Modernen wie LaMotte, Watteau, u.a. Hier lernte Marivaux des Weiteren die gesellschaftliche Maskierung kennen, die sich in seiner literarischen Sprache widerspiegelt. 1715 wurde Herzog Philipp von Orléans zum Regenten und es endete die kulturelle Ebbe: der Hof kehrte nach Paris zurück und eine große Zeit der Vergngügungssucht setzte ein.
Im Jahre 1716 änderte Marivaux – da er zur Klasse des Provinz-Amtsadels gehörte und somit das Recht besaß, einen zweiten Namen anzunehmen – seinen bürgerlichen Namen zu de Chamblain (den Namen seines Vetters) und ergänzte ihn später durch de Marivaux. Es gilt zu bedenken, dass er zwischen zwei Schichten stand: sowohl bürgerlich, jedoch ohne zum Großbürgertum zu gehören, als auch zum niederen Adel, der jedoch wiederum aus der Hierarchie heraus nur sehr abwertend betrachtet wurde.
1717 heiratete Marivaux Colombe Bologne, und dank der Mitgift konnte er 3 Jahre ein sorgloses Literatenleben führen, in denen er hauptsächlich Prosa verfasste.
Marivaux hatte im Jahre 1721 durch die berüchtigte Law-Affäre – ein Börsenschwindel, der ganz Frankreich in eine schwere Finanz- und Wirtschaftskrise gestürzt hatte – sein gesamtes Vermögen verloren. Seitdem war er gezwungen, vom Schreiben zu leben. [4]
1723 erlebte er mit La Double Inconstance seinen ersten großen Erfolg und bleibt bis in die 1740er Jahre ein Stern am Pariser Theaterhimmel: er verfasste 36 Komödien, wobei die Mehrheit Liebeskomödien umfasst. Durch seinen Einfluss in den literarischen Salons setzte sich Madame de Tencin 1740 dermaßen für ihn ein, dass er in die Académie francaise anstatten Voltaires aufgenommen wurde. Danach jedoch geriet er langsam in Vergessenheit: eine neue Generation (z.B. Diderot) kam zum Vorschein und auch sein Ensemble ging in Ruhestand. 1763 verstarb er einsam und verschuldet.
3. Die Commedia dell`arte: Masken in Paris
Die Singularité an Marivaux` Werk, die zu seinen Lebzeiten stark kritisiert wurde, erklärt sich sicherlich aus seiner Ablehnung der antiken Vorbilder, der Verwendung der Salonsprache und des Einflusses der Commedia dell`arte. Letztere soll nun etwas erörtert werden:
3.1 Das Théâtre Italien
Die internationale Heiratspolitik ermöglichte einen regen Kulturaustausch und so wurden bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts unter anderem italienische Künstler an den französischen Hof geladen. Diese Truppen (zum Beispiel Comici Confidenti oder Comici Gelosi genannt) verweilten jedoch nicht nur am Hof, sondern reisten ebenso durch die Provinzen. Kulturpolitische Probleme führten jedoch immer wieder dazu, dass sich bis 1653 keine Truppe fest in Paris ansiedelte.
1660 wurde der italienischen Truppe dann auf Anordnung des Königs zusammen mit der Truppe Mòlieres das Theater des Palais-Royal als Spielstätte gegeben und die Konkurrenz, aber auch die gegenseitige Befruchtung der diversen Theatertruppen noch verschärft.[5]
Interessanterweise wurde die Commedia dell` arte schließlich in Frankreich so heimisch, dass sie ihren ursprünglichen, italienischen Charakter verlor: man sprach französisch und sie wurde „comédie italienne“ genannt.
Ende des 17. Jahrhunderts findet sich in Frankreich eine starke Theaterfeindlichkeit wieder: 1697 wird das Théâtre Italien geschlossen, die Schauspieler vertrieben und 1694 schließlich erklärte Bousset alle öffentlichen Aufführungen für unmoralisch. Erst nach dem Tod Ludwig XIV, im Jahre 1716, kam die letzte in Frankreich auftretende original italienische Truppe nach Paris zurück.
[...]
[1] Miething, Christoph: Marivaux` Theater – Identitätsprobleme in der Komödie. München: Wilhelm Fink Verlag, 1975; S. 111
[2] Bild: Schricke, Gilbert und Peter Lotschak (Hg.): Leben und Werk des Pierre Chamblain de Marivaux. Düssedorf: Karl Rauch Verlag, 1968; S. 32
[3] Schricke, Gilbert und Peter Lotschak (Hg.): Leben und Werk des Pierre Chamblain de Marivaux. Düssedorf: Karl Rauch Verlag, 1968; S. 224
[4] Marivaux: Das Spiel von Liebe und Zufall. Und andere Komödien. Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1985; S. 295
[5] Mehnert, Henning: Commedia dell`arte. Struktur – Geschichte – Rezeption. Stuttgart: Reclam, 2003; S. 47