Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Definition der Begriffe sense data und sensation
3. Die Funktion von sense data und sensation in Russells Argumentation
4. Der Einfluss der Unterscheidung zwischen sense data und sensation auf die Gültigkeit des Arguments
5. Fazit
Bibliographie
1. Einleitung
Russell baut in seinem Argument in den ersten drei Kapiteln von Problems of Philosophy wesent- lich auf dem Begriff der sense-data auf, den er von sensation unterscheidet. Der Begriff der sense-data erlaubt ihm zudem die Trennung des physical space vom private space, zu welchem die sense-data ge- hören, so dass er Objekte wie seinen Beispiel-Tisch als unabhängig von der menschlichen Wahr- nehmung betrachten kann. Der Begriff der sense-data erfüllt also eine zentrale Funktion für seine Argumentation. Russell unterscheidet zwar zwischen sense-data und sensation, aber eine klare Be- deutungstrennung der beiden sowie die Gründe für seine Unterscheidung bleiben unklar. Ich möchte deshalb versuchen heraus zu finden, was genau der Bedeutungsunterschied der beiden Begriffe ist und welchen Einfluss die Unterscheidung auf die Gültigkeit des Arguments hat. Dazu gehört auch eine genauere Untersuchung, welche Funktionen die Begriffe in der Argumentation erfüllen und daraus abgeleitet, ob der Unterschied der beiden Begriffe vielleicht nur in ihrer Funktion liegt. Das könnte für das Argument heissen, dass es ohne die Unterscheidung nicht funktionieren würde.
Ich stelle meiner Arbeit deshalb folgende Fragestellung voran: Ist die Unterscheidung zwischen sense-data und sensation nötig für die Gültigkeit von Russells Argument dafür, dass wir kein Wissen über die physischen Objekte an sich haben können, sondern nur über die Relationen zwischen ihnen?
Zuerst werde ich den Versuch einer Begriffsklärung von sense-data und sensation aufgrund Russells Bedeutungsangabe auf S. 4f. machen, als zweiten Punkt dann die Funktion und den Einfluss der beiden Begriffe, vor allem aber derjenige der sense-data, in der Argumentation versuchen zu rekonstruieren, und schliesslich werde ich im dritten Punkt untersuchen, ob das Argument auch ohne die Unterscheidung zwischen sense-data und sensation funktionieren würde.
2. Die Definition der Begriffe sense-data und sensation
Um im nächsten Kapitel herauszufinden, was für eine Funktion die Begriffe sense-data und sen- sation in Russells Argument einnehmen, muss zuerst deren Bedeutung geklärt werden. Russell definiert sense-data als „things that are immediately known in sensation: such things as colours, sounds, smells, hardnesses, roughnesses, and so on.“ (Russell 1912: 4), frei übersetzt als Dinge, die unmittelbar durch Sinneseindrücke erkannt werden, wie Farben, Geräusche, Gerüche etc. Den Begriff sensation dagegen definiert er als „experience of being immediately aware of these [siehe oben: colours, sounds, smells etc. A.S.] things.“ (Russell 1912: 4) - die Erfahrung, sich dieser Dinge wie Farben, Geräusche, Gerüche etc. unmittelbar bewusst zu sein. Der Begriff sensa- tion kommt im Definiens von sense-data vor: sense-data kommen nur durch sensation zu Stande, sie werden durch sensation erkannt. Umgekehrt basiert aber auch das Definiens von sensation auf sense- data, da sich das verweisende Pronomen these auf die als sense-data bezeichneten Dinge bezieht - „colours, sounds, smells, hardnesses, roughnesses, and so on.“ (Russell 1912: 4). Sensation (Sin- neswahrnehmung) ist also die Erfahrung, sich der sense-data sofort bewusst zu sein. Wenn man daher im Definiens von sense-data den Begriff sensation durch dessen Definiens ersetzt, ergibt sich eine zirkuläre Definition, da darin wiederum der Begriff sense-data vorkommt.1 Die Definition ist also in dieser Lesart problematisch. Auch wenn man diese Substitution bei Seite lässt, so basieren doch beide Definitionen auf der jeweils anderen, was für Russells Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen problematisch ist.
Der Unterschied zwischen den beiden Begriffen wird leichter ersichtlich, wenn man den As- pekt des Verhältnisses der beiden hervorhebt. Russell umschreibt die Unterscheidung zwischen Sinnesdaten und Sinneswahrnehmung weiter unten folgendermassen: „The colour [ein Sinnesda- tum, A.S.] is that of which we are immediately aware, and the awareness itself is the sensation.“ (Russell 1912: 4). Das Sinnesdatum Farbe ist das, worüber wir uns bewusst sind, das Objekt des Bewusstseins, das Bewusstsein selbst ist die Sinneswahrnehmung. Sinneswahrnehmungen sind demnach nur bewusste Wahrnehmungen von Sinnesdaten. Den Aspekt, dass Sinneswahrneh- mungen von Sinnesdaten sind, Sinnesdaten also das Objekt der Sinneswahrnehmungen sind, un- terstreicht auch das folgenden Zitat: „[W]henever we see a colour, we have a sensation of the co- lour, but the colour itself is a sense-datum, not a sensation.“ (Russell 1912: 4). Das Sinnesdatum Farbe liegt der Sinneswahrnehmung zu Grunde und ist selbst keine Sinneswahrnehmung.
Genau in diesem Punkt liegt aber meines Erachtens das zweite Problem (neben den aufeinan- der basierenden Definitionen). Russell beginnt seine Argumentation mit der Beschreibung von Wahrnehmungen eines Tisches, der appearance. Dazu gehören die Form, die Oberflächenbeschaf- fenheit, der Klang beim darauf Klopfen, und eben auch die Farbe. Die Farbe des Tisches gibt es jedoch bei genauerer Betrachtung nicht, da sie aus verschiedensten Lichtreflexionen besteht. Wenn von der Farbe die Rede ist, wird darunter also etwas von unserer unmittelbaren Wahrneh- mung Abstrahiertes, Erschlossenes verstanden.2 Russell aber definiert den Begriff sense-data - und damit das sense-datum Farbe - als von sensation, der Sinneswahrnehmung, abhängig und berück- sichtigt die vorher genannte Erschlossenheit der Farbe nicht. Wenn man diese Erschlossenheit berücksichtigt, beinhaltet der Begriff der Sinnesdaten eine gewisse Unabhängigkeit von der Sin- neswahrnehmung, was im Widerspruch zu der Definition Russells steht. Wie kann ein Sinnesdatum, ein von den Sinnen Gegebenes, von den Sinnen unabhängig sein? Ausserdem ist nicht ganz ein- leuchtend, warum Farbe keine sensation sein soll. Farbe wird von Russell vorher3 als eine bewusste Sinneswahrnehmung beschrieben, die unter seine Definition von sensation fiele, soll aber nachher gerade nicht unter diese Definition, sondern unter die der sense-data fallen (vgl. vorausgehender Abschnitt).4
Dies und die verschwommene Grenze zwischen den beiden Begriffen lassen die Unterscheidung leicht erzwungen erscheinen. Die Widersprüche lassen an der Zweckmässigkeit von Russells Definitionen der Begriffe sense-data und sensation zweifeln und werfen die Frage nach den Gründen für seine Unterscheidung auf.
3. Die Funktion von sense-data und sensation in Russells Argumentation
Die Begriffe sensation und v.a. sense-data ziehen sich durch das ganze Argument Russells und spielen eine prominente Rolle. Im vorigen Kapitel habe ich versucht zu zeigen, dass die Unter-scheidung zwischen den beiden Begriffen von der Definition her problematisch ist. In diesem Kapitel möchte ich nun untersuchen, welche Funktion die beiden Begriffe im Argument über-nehmen, um im nächsten Kapitel dann analysieren zu können, ob der Zweck der Unterscheidung vielleicht (nur) in ihrer Funktion für das Argument liegen könnte. Um die Funktion der beiden Begriffe zu untersuchen, werde ich zuerst eine grobe Rekonstruktion des Argumentes vorneh-men, um danach die Funktion der Begriff an den zentralen Stellen des Arguments genauer zu betrachten.
Russell argumentiert für die Konklusion, dass keinerlei Wissen über die Aussenwelt, den physi- cal space, möglich ist, ausser über die Relationen zwischen den Objekten des physical space, da diese mit den Relationen zwischen den Sinnesdaten im private space korrespondierten.5 Für dieses Ar- gument werden mehrere Prämissen benötigt, in denen die Begriffe der Sinnesdaten oder - Wahrnehmung eine erhebliche Rolle spielen. Das Argument geht von der Hauptfrage aus, ob es Wissen gibt, das in vernünftiger Weise nicht angezweifelt werden kann. Russell startet in der ers- ten Prämisse damit, dass Wissen über Erfahrung und Erfahrung über Wahrnehmung erworben werde, und legt seinem Argument deswegen den Anfangspunkt des direkten Erfahrungswissens zu Grunde. Er führt darauf hin die Unterscheidung zwischen Sinneswahrnehmung und Sinnesda- ten ein, die im vorigen Kapitel schon besprochen wurde. Gemäss dieser Unterscheidung liegen dem direkten Erfahrungswissen nun nicht mehr die über Wahrnehmung vermittelten physischen Objekte zu Grunde, sondern die Sinnesdaten. Daraus resultieren die Fragen, ob es überhaupt physische Objekte gibt, und wenn ja, welcher Natur diese sind.
Die erste Frage, ob es überhaupt physische Objekte gib]t, bejaht Russell unter der Begründung, dass diese Annahme erstens die einfachere sei als die Annahme, dass die Welt nur aus mir und meinen Gedanken bestehe, da sie Kontinuität gewährleiste, und zweitens intuitiv sei. In der Be- antwortung dieser Frage spielt der Begriff der Sinnesdaten auch eine wichtige Rolle beim Ein- wand, dass die Existenz der Aussenwelt nicht bewiesen werden kann. Sinnesdaten bleiben immer subjektiv, und auch die Bestätigung physischer Objekte von anderen Individuen kann die Exis- tenz einer Aussenwelt nicht beweisen, da die Bestätigung durch andere wiederum auch auf Sin- nesdaten beruht. Russell argumentiert mit Descartes «Cogito, ergo sum.» dafür, dass nichts siche- rer sei als das eigene Subjekt, die subjektiven Zweifel und Wahrnehmungen: in unserem Falle die Sinnesdaten. Wissen von Sinnesdaten kann also nicht bezweifelt werden, die Existenz von Ob- jekten, die von uns unabhängig sind, jedoch schon. Selbst wenn es keine existierenden physischen Objekte gibt, so bestätigen doch die eigenen Gedanken und Sinnesdaten, dass es uns selbst und das Wissen von Sinnesdaten gibt.
Die zweite Frage, welcher Natur die Objekte des physical space sind, beantwortet Russell damit, dass wir nichts darüber wissen können ausser den Relationen zwischen den Objekten. Da wir Wissen nur über Sinnesdaten erlangen können und diese zum private, nicht zum physical space ge- hören, können wir über die Natur der Objekte des physical space nichts wissen. Relationen zwi- schen den Objekten des physical space hingegen korrespondieren mit den Relationen zwischen Sinnesdaten im private space (z.B. räumliche oder zeitliche Relationen). Deswegen können wir nur Wissen haben über Relationen im physical space, nicht über die Objekte selbst wie sie wirklich sind.
Ich möchte nun drei Textstellen des Argumentes näher untersuchen, in denen der Begriff der Sinnesdaten und der Begriff der Sinneswahrnehmung eine wesentliche Rolle spielen. In der ers- ten zu analysierenden Textstelle auf S. 46 wird die Definition der Begriffe sense-data und sensation festgelegt (vgl. Kapitel 2 dieser Arbeit). Die Sinnesdaten sind, wie Russell am Beispiel des Tisches vorher gezeigt hat, noch kein Zeichen für die Existenz von physischen Objekten, geschweige denn eine Information über deren Natur. Weder ist der Tisch die Sinnesdaten noch ist er wie die Sinnesdaten. Sinnesdaten sind nicht einmal Eigenschaften des Tisches. Berkeley zeigte, dass die von uns unabhängigen physischen Objekte nicht direkt das Objekt unserer Sinneswahrnehmung sein können, falls es überhaupt unabhängig von uns existierende Dinge gibt, und dass die Exis- tenz solcher Objekte verneint werden können.
Die Sinneswahrnehmung ist von Etwas, im üblichen Verständnis meint man damit die Sinnes- wahrnehmung von Objekten der Aussenwelt. Die Sinnesdaten sind Objekte der Sinneswahrneh- mung, im Gegensatz zu der intuitiven Ansicht, die unabhängigen physischen Objekte seien Ob- jekte der Sinneswahrnehmung. Hier liegt die Funktion des Begriffs der Sinnesdaten darin, dass Russell als Objekt der Sinneswahrnehmung nicht mehr die physischen Objekte verstehen muss, sondern die Sinnesdaten - und somit keine direkte Verbindung zwischen Wahrnehmung und Aussenwelt mehr besteht. Auf diese Weise kann er später für die Konklusion argumentieren, dass wir nichts über die physischen Objekte an sich wissen können. Der Begriff der Sinnesdaten fun- giert hier also als Zwischenschritt, der deutlich macht, dass es keine direkte Verbindung zwischen den von uns unabhängigen physischen Objekten und der Sinneswahrnehmung gibt, die gemein- hin angenommen wird. Dennoch ist ersichtlich, dass, falls wir überhaupt etwas über physische Objekte wissen, dieses Wissen über die Sinnesdaten erworben werden muss (vgl. Russell 1912: 4), und es somit doch irgendeine Verbindung zwischen den physischen Objekten und den Sinnesda- ten geben muss. Daher muss Russell später (siehe unten) doch eine indirekte Verbindung zwi- schen der Sinneswahrnehmung und dem physical space annehmen, um überhaupt von einer existie- renden Aussenwelt ausgehen zu können.
In der zweiten Textstelle auf S. 107 geht es um das Verhältnis der Sinnesdaten zu physischen Objekten. Voraus geht die Argumentation für die Unanzweifelbarkeit der Sinnesdaten anhand Descartes Methode des systematischen Zweifels und dessen «Cogito, ergo sum.». Die Sinnesdaten werden in der vorliegenden Textstelle als gesichert angenommen, eine Verbindung zu den physischen Objekten, die für deren Existenz spricht, wird jedoch noch nicht als gesichert angenommen. Problematisch für die Argumentation der vorliegenden Textstelle ist, dass durch den Zwischenschritt über die Sinnesdaten (siehe oben) ein Beweis für die Existenz von unabhängigen physischen Objekten nicht mehr möglich ist, aber die ganze Argumentation in dieser Textstelle auf einen Beweis der Existenz abzielt. Die einzige Möglichkeit, die Existenz einer unabhängigen Aussenwelt (physical space) wenigstens plausibel zu machen, besteht im Hinzuziehen des Prinzips der Einfachheit und dem Hochhalten von intuitivem Wissen.
Am Beispiel einer Katze8 zeigt Russell, dass die Annahme, Sinnesdaten seien tatsächlich ein Zeichen für die Existenz unabhängiger physischer Objekte, wesentlich weniger Komplikationen im alltäglichen Leben verursacht, als die Annahme, das ganze Leben sei ein Traum und bestehe nur aus den von uns erschaffenen Sinnesdaten. Das Prinzip der Einfachheit verlangt, dass wir die gleiche Katze sehen, wenn sie einmal in der einen Ecke des Zimmers und danach in der anderen zu sehen ist, und nicht auf einmal eine zweite, identische dort ins Leben gerufen wurde. Es ist einfacher, davon auszugehen, dass die Katze auch existiert, wenn ich sie nicht sehe, und nicht nur, wenn ich die Sinnesdaten zu ihr habe. Wenn sie nicht existieren würde, wenn ich sie nicht sehe, könnte es z.B. nicht sein, dass sie dann gleich schnell hungrig wird wie wenn ich sie sehe und sie existiert. Wenn die Katze aber nur aus meinen Sinnesdaten besteht, ist es schwer erklär- bar, warum sie dann hungrig werden kann, da ja nichts ausser meinem eigenen Hunger ein Sin- nesdatum für mich sein kann. Es macht also gemäss dem Prinzip der Einfachheit mehr Sinn, die Katze als unabhängig von uns und unseren Sinnesdaten zu verstehen. Anhand des Beispiels mit der Katze wird die These, dass Objekte nur aus meinen Sinnesdaten bestünden, ins Absurde ge-führt.
[...]
1 Sense-data (Sinnesdaten) sind dann Dinge, die unverzüglich durch die Erfahrung, sich der Sinnesdaten sofort bewusst zu sein, erkannt werden.
2 Vgl. Russell 1912: 2f.
3 Vgl. Russell 1912: 2f.
4 Vgl. Russell 1912: 2-4.
5 Der private space ist der Raum unserer Sinneswahrnehmung und -Daten, der für uns zugänglich ist, der physical space ist der Raum der physischen Objekte wie sie an sich sind, eine Wirklichkeit, die für uns unzugänglich ist.
6 Russell 1912: 4, Kapitel 1, §10-13.
7 Russell 1912: 10, Kapitel 2, §11-15.
8 Russell 1912: 10f., Kapitel 2, §12.