Wissen und Nichtwissen - Eine Betrachtung der Paradoxien der Transparenz


Hausarbeit (Hauptseminar), 2000

14 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. THEMA UND ABGRENZUNG

2. BETRACHTUNG DER PARADOXIEN DER TRANSPARENZ
2.1. Die Eigendynamik des Nichtwissens
2.2. Popitz: Die Präventivwirkung des Nichtwissens
2.2.1. Kommentar
2.3. Elster: Die zwanghafte Suche nach Sinn
2.3.1. Kommentar
2.4. Young: Die Rolle der Polizei als Verstärker von Abweichung, Konstrukteur von Wirklichkeit und Übersetzer von Phantasien
2.4.1. Kommentar

3. FAZIT UND SCHLUSSWORT

4. LITERATURVERZEICHNIS

1. THEMA UND ABGRENZUNG

In vielen gesellschaftlichen Bereichen wird oftmals über fehlende Transpa-renz und ein überhandnehmendes Nichtwissen geklagt. Dieses Phänomen lässt sich sowohl in der Politik, als auch in der Wirtschaft, bis hin zu büro-kratischen Systemen beobachten. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine aus soziologischer Sicht höchst interessante Thematik, bei der eine Vielzahl von Teilaspekten immer wieder neue Betrachtungsweisen ermöglichen. Die gesellschaftlichen Vor- und Nachteile von Transparenz, und die bewusste oder unbewusste Manipulation derselben, entwickeln bei näherer Beobach-tung eine Eigendynamik, die zu erklären oder zumindest zu beschreiben ich in dieser Arbeit versuchen möchte.

Dabei werde ich zunächst auf die Frage der gesellschaftlichen Relevanz der Transparenz eingehen, und einige erhellende Bezüge zu aktuellen Ereignis-sen und Entwicklungen ziehen, welche den Tatbestand noch einmal verdeut-lichen sollen. Anschließend werde ich etwas spezieller auf das Phänomen der Wirkungserklärungen zu sprechen kommen, um die Problematik aus einem etwas differenzierteren Blickwinkel zu beleuchten.

2. BETRACHTUNG DER PARADOXIEN DER TRANSPARENZ

2.1. Die Eigendynamik des Nichtwissens

In vielen gesellschaftlichen Bereichen belastet fehlende Transparenz den reibungslosen Ablauf sozialer Prozesse. Das Nichtwissen bietet eine Art Handlungsspielraum für Normbrüche, führt zu Fehlinterpretationen und Miß-verständnissen, andererseits ermöglicht es erst das gesellschaftliche Zusam-menleben. Diese paradoxe Eigenschaft der Transparenz gehört zu dem Themenkomplex, der soziologisch besonders interessant ist. In jedem Falle entwickelt sich in einer von Nichtwissen geprägten Gesellschaft immer eine Eigendynamik, weil es eine typisch menschliche Reaktion ist, die Leerstellen füllen zu wollen. Da dies nicht immer möglich ist, werden an deren Stelle Vermutungen und Spekulationen gesetzt, die schnell den Status eine „self-fulfilling-prophecy“ erhalten können.

2.2. Popitz: Präventivwirkung des Nichtwissens

Popitz betrachtet in seiner Abhandlung „Die Präventivwirkung des Nichtwis-sens“ das Thema Transparenz aus einem induktiven Blickwinkel. Er stellt die Grundthese auf, dass erst das Nichtwissen die Aufrechterhaltung gesellschaft-licher Strukturen ermöglicht. In seiner Argumentation sorgt die fehlende Transparenz innerhalb der sozialen Strukturen dafür, dass Normen, Sanktio-nen und andere gesellschaftliche Instanzen gewahrt werden.[1]

Um diesen Gedanken zu verdeutlichen, verweist Popitz auf die Utopie einer transparenten Gesellschaft (in Anlehnung an den englischen Schriftsteller William Makepeace Thackeray), in der eine totale Verhaltenstransparenz herrscht:

In dieser gedanklich erschaffenen „gläsernen Gesellschaft“ finden die Men-schen wechselseitig alles übereinander heraus, jedes nicht normkonforme Verhalten wird entdeckt und auch sanktioniert. Es handelt sich also um eine Gesellschaft ohne Geheimnisse.

Popitz geht weiterhin davon aus, dass eine solche Gesellschaft unmöglich ist. In der Untersuchung und Darlegung dieser Unmöglichkeit wird die gleichzei-tige Notwendigkeit der fehlnden Transparenz innerhalb eines gesellschaftlich-en Systems aufgezeigt. Für die Annahme, dass eine solche Gesellschaft in der Realität nicht durchführbar ist, bzw. nicht von Bestand sein könnte, bringt Po-pitz folgende soziologische Begründungen:

Eine totale Verhaltenstransparenz ist schon allein aus einem Grunde nicht möglich, denn die Kenntnis des Verhaltens anderer Menschen ist immer be-grenzt. Zwar führen in den einzelnen sozialen Einheiten (Familie, Freundes-kreis, Arbeitsplatz etc...) die Menschen unterschiedliche Verhaltenskonten voneinander, jedoch basieren diese nur auf partiellem Wissen über den jeweils anderen. Jeder Mensch führt in seinem Umfeld mehrere dieser Verhaltenskon-ten, die jeweils auf das Gegenüber und die Beziehung zu diesem abgestimmt sind. Die Verhaltenstransparenz ist also je nach Gehalt der sozialen Bezieh-ungen verschiedenartig abgegrenzt. So hängt die Verhaltensinformation eng zusammen mit anderen Kennzeichen der sozialen Struktur (z.B. Größe der sozialen Einheit, Häufigkeit der Interaktion, Organisationsform, etc...).

Trotz dieser sehr begrenzten Einsicht in die Handlungsmotivation, und der ge-gebenenfalls minimalen Verhaltenstransparenz, ist es dem Gegenüber dennoch möglich, sich ein Bild von der entsprechenden Person zu machen. Dies geschieht mit Hilfe des Herausbildens von Charakterbildern, die Informationslücken verdecken und kompensieren. Solche Verhaltenskonten bilden den fundamentalen Grundstock der gesellschaftlichen Struktur.

Eine totale Verhaltenstransparenz würde folglich grundlegende Formen des sozialen Zusammenlebens stören, wenn nicht sogar zerstören. Daher errichtet eine Gesellschaft, laut Popitz, eine Vielzahl von Sperren, die eine Perfektio-nierung der Verhaltensinformation unmöglich machen.

Zum einen gibt es die subjektiven Sperren, wie psychisches Unbehagen, Re-nitenz und Gegenreaktionen basierend auf dem individuellen Bedürfnis nach einem Spielraum der Informationsimmunität.

Zum anderen sind aber auch organisatorisch-technische Sperren zu nennen, welche besonders in größeren sozialen Einheiten auftreten, in denen es stets neue Möglichkeiten gibt, sich den Informationsinteressen zu entziehen (Beispiel: George Orwells Gesellschaft im Roman „1984“. Egal welcher Grad an Verhaltensinformation in einem System angestrebt wird, es lässt sich immer etwas im Geheimen tun.).

Ein weiterer, von Popitz aufgeführter Grund für die Unmöglichkeit einer „gläsernen Gesellschaft“ ist der, dass es kein Normensystem gibt, das die Entdeckung aller Normbrüche aushalten würde.

Die vollkommene Verhaltensinformation würde nämlich auch die lückenlose Information über jede Abweichung vom normkonformen Verhalten mit ein-schließen. Und da Normen stets etwas Starres, Unverbindliches, Fixiertes und somit etwas „Überforderndes, Illusionäres“ in sich tragen sind solche Norm-brüche innerhalb einer Gesellschaft unvermeidbar.

Die Aufdeckung jeglicher Normbrüche würde allerdings das gesamte Norm-system zerstören, denn wenn nicht alle Normbrüche sanktioniert würden, wä-ren die Normen bald hinfällig.

Ein zusätzlicher Gesichtspunkt dieser Problematik ist der, dass die Begren-zung der Verhaltensinformation auch das Abklingen einzelner (eventuell nicht mehr zeitgemäßer) normativer Forderungen ermöglicht. Indem über die Ver-letzung solcher Normen unter dem Deckmantel des „Nichtwissens“ hinweg-gesehen wird, ist eine langsame Angleichung dieser Normen möglich. Würde der Normbruch jedoch schonungslos aufgedeckt, so müsste er zwangsläufig sanktioniert werden, oder das Normsystem müsste verändert werden. Jeder Normwandel allerdings würde die gesamte normative Ordnung verunsichern.

Durch eine Lockerung des Informationsgrades jedoch, kann die Veränderung einer Norm überdauert werden, ohne die Würde des Gesetzes und die Autori-tät der Instanzen zu offenkundig in Frage zu stellen.

Es gibt kein Sanktionssystem, das seine Schutzfunktion bewahren könnte, wenn es alle Normbrüche die passieren, aufdecken und verfolgen müßte.

Der letzte und wohl einleuchtendste Grund für die Unerreichbarkeit der tota-len Verhaltensinformation bezieht sich auf die Durchsetzung von Sanktionen. Das Sanktionssystem jeder Gesellschaftsform kann einer Aufdeckung jeden Normbruchs nicht gewachsen sein, denn einerseits gäbe es technische und organisatorische Probleme (zu viele Sünder), und andererseits auch psychi-sche Probleme (Abstumpfung der Sanktionsbereitschaft; die Strafe würde ihr moralisches Gewicht verlieren, wenn sie jeden trifft). Wieder wären die Nor-men und das Sanktionssystem grundlegend in Frage gestellt.

Die Nichtentdeckung von Normbrüchen muss also auch als Entlastung der Sanktionskomponente angesehen werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, die Begrenzung der Verhaltensinforma-tion „ermöglicht ein Ausweichen, eine Entdramatisierung, - eine Unschärfe-Relation des sozialen Lebens, die letztlich ebenso der guten Meinung dient, die wir uns voneinander, wie der, die wir uns von unserem Normensystem bilden.“[2]

Zusätzlich muss bedacht werden, dass eine starke Diskrepanz zwischen fakt-ischen und kognitiven Gesellschaftsstrukturen existiert, ohne die gesellschaft-liches Zusammenleben unmöglich wäre. Die Dunkelziffer der gebrochenen Normen entlastet also das Norm- und Sanktionssystem und erhält es somit am Leben.

[...]


[1] Meine Ausführungen in diesem Kapitel beziehen sich auf einen Vortrag von Heinrich Popitz, gehalten am 23.01.1976 im Rahmen einer Vortragsreihe der Rechts- und Staatswissenschaft-lichen Fakultät der Universität Freiburg „Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften“. Erschienen ist dieser Vortrag in Heinrich Popitz: „Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe“, Tübingen 1968.

[2] Popitz, Heinrich: „Über die Präventivwirkung des Nichtwissens. Dunkelziffer, Norm und Strafe“, Tübingen 1968, S.12. Künftig zitiert als „Popitz“.

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Details

Titel
Wissen und Nichtwissen - Eine Betrachtung der Paradoxien der Transparenz
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn  (Soziologisches Seminar)
Veranstaltung
Eigendynamik sozialer Prozesse
Note
1,3
Autor
Jahr
2000
Seiten
14
Katalognummer
V17389
ISBN (eBook)
9783638219761
Dateigröße
453 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wissen, Nichtwissen, Eine, Betrachtung, Paradoxien, Transparenz, Eigendynamik, Prozesse
Arbeit zitieren
Birgit Michels (Autor:in), 2000, Wissen und Nichtwissen - Eine Betrachtung der Paradoxien der Transparenz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17389

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