Existenzielle Seiltänzer - Vom Umgang mit dem Absurden am Beispiel des Ich-Erzählers in Thomas Bernhards Roman "Verstörung"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

15 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Rahmen

3. Werkanalyse des Romans Verstörung
3.1 Erzählsituation, Inhalt und Struktur des Werkes
3.2 Leben als Krankheit zum Tode
3.3 Der schwankende Ich-Erzähler

5. Fazit: Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie?

Literatur

1. Einleitung

Eine Welt, die man […] erklären kann, ist eine vertraute Welt.

Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusion und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd.

Albert Camus[1]

Dieser Grundhaltung entspricht auch das Oeuvre Thomas Bernhards und es nimmt nicht wunder, dass seine Werke überwiegend als düster rezipiert worden sind. Die Themen Krankheit, Selbstmord, Tod und eine vernichtende Umwelt (wozu Natur ebenso gehört wie andere Menschen) sind omnipräsent und präsentieren eine grausame, durch die ständige Konstante Tod sinnentleerte Welt.

Sprachlich dominieren Superlative, Neologismen und Schimpftiraden, insbesondere auf den österreichischen Nationalsozialismus und Katholizismus, ebenso Hyperbeln und scheinbar endlose Wiederholungsschleifen, was Bernhards Werken eine gewisse Homogenität verleiht.

Die Handlungsarmut der Werke korreliert dabei mit der Weltverdrossenheit der in ihnen enthaltenen Figuren. Die typographische Gestaltung seiner Werke, die zunehmend weniger Absätze vorsieht, dem Leser also keine optischen Pausen gönnt, verdichtet den Text zu einem einzigen Block und unterstützt die Atemlosigkeit, die sich unverzüglich beim Lesen einstellt. Radikales, verabsolutiertes Denken manifestiert sich als »assoziatives Monologisieren« und »gestörte Rede.[2]

Hatte sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki bei Thomas Bernhards Debütroman Frost (1963) noch jeglicher Kritik enthalten, reagierte er auf den vier Jahre später erschienenen zweiten Roman Verstörung (1967) mit Unverständnis: Die Werke des Österreichers bezeichnet er als „Konfessionen eines Besessenen“[3] und den Autor als einen Erzähler von „Krankheitsgeschichten“[4]. Tatsächlich sind alle Protagonisten Bernhards Geistesmenschen, die als egozentrische, monologisierende Melancholiker dem Rest der Welt als einer Masse von grobschlächtigen Instinktmenschen antipodisch gegenüberstehen.

Dass der Autor in seinen Büchern die Sinn- und Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz aufzeigt, ist ein etablierter Gedanke in der Forschung.[5] Dennoch hat Bernhard selbst seine Bücher stets als komisch empfunden; bereits sein Erstlingsroman Frost enthalte das philosophische Lachprogramm, welches sich durch sein ganzes Werk erstrecke.[6]

Diesem Lachprogramm wird hier am Beispiel des Romans Verstörung nachgegangen und als Verzweiflungsabwehr angesichts einer als absurd empfundenen Welt gedeutet. Dokumentiert wird das Schwanken des Ich-Erzählers des Romans Verstörung zwischen Verzweiflungsanfälligkeit und seinen Versuchen, deprimierende Eindrücke mit Hilfe seines Verstandes zu unterdrücken.

2. Theoretischer Rahmen

„Bei Frost zum Beispiel muss ich immer lachen!“
Thomas Bernhard, 1981[7]

War man sich in der Bernhard-Forschung bis weit in die 1980er Jahre noch darüber einig, dass die Ansichten des Autors mit denen seiner misanthropischen Figuren synonym seien[8], gelangte man in den 1990er Jahren zu einer relativierten Rezeption, die den Autor, der von seiner Arbeit gesagt hat: „Alles, was ich erschaffe ist künstlich“, ebenfalls als Inszenierungskünstler versteht. Im Filmporträt Monologe auf Mallorca erklärt Bernhard seine Auffassung des Komischen. Das Ernste sei der Kitt für das philosophische Lachprogramm[9], welches er mit dem Beginn seines Schreibens aufgemacht habe:

Nur ernste Philosophie ist nicht zum Lachen, sie ist ja auch wahnsinnig fad; aber beim Schopenhauer kann ich auch lachen – je verbissener er ist, desto mehr ist er zum Lachen. Nur nehmen die Leute das alles tragisch ernst. Aber wie kann man jemanden ernst nehmen, der mit einem Pudel verheiratet ist? […] Das ist ein Lachphilosoph, das sind die großen Spaßmacher in der Geschichte: Schopenhauer, Kant, Pascal […].[10]

Ferner bezeichnet Bernhard sich dort als „philosophischen Aasgeier“, der sich die größten Philosophen herauspicken würde. Diese Aussage könnte als selbstironischer Kommentar zu dem von ihm betriebenen Namedropping in seinen Werken verstanden werden, verweist aber auch auf die Fülle von Einflüssen verschiedener Philosophen in seinen Werken. Die weitverbreitete Ansicht, dass einem bei der Lektüre Bernhards oftmals das Lachen im Halse steckenbleibe liegt wohl in der grotesken Darstellungsform des Komischen begründet.

Zwar weisen auch die Protagonisten in Verstörung sämtliche Symptome der Melancholie auf, beispielsweise leiden sie alle an Schlaflosigkeit, doch werden die Figuren selbst dermaßen übertrieben dargestellt, dass man weniger Mitleid als Befremden empfindet: „Das Komische sticht umso greller durch das Tragische, und umgekehrt erhöht es seinerseits das Tragische ins fast absurd Verzweiflungsvolle, und beides geschieht in unlöslichem Ausgleich.“[11] Auf die Frage, ob seine Stücke nicht eigentlich viel lustiger seien, als sie letztendlich aufgeführt werden, antwortet Bernhard: „Es ist alles komisch. Genau wie bei meiner Prosa darf man nie genau wissen: Soll man jetzt hellauf lachen oder doch nicht. Diese Seiltanzerei ist erst das Vergnügen.“[12] Aber nicht nur die Leser, auch die Protagonisten selbst betreiben einen Seiltanz: „Bernhards Künstler leben aufgespannt zwischen der Diagnose, daß das Dasein nichts wert ist, und der Frage, wie es sich dennoch aushalten und darin einrichten läßt.“[13]

Für die Groteske [it. grotta = Höhle] ist der Seiltanz, das Schwanken zwischen zwei Extremen, charakteristisch. In der Literatur bezeichnet man die Groteske als eine Textsorte, bei der Lustiges mit Grausigem verbunden wird.[14] Als dominierende Wirkungsfunktion wird das „gleichzeitige Erregen von Grauen (bis hin zum Schock) und Lachen“[15] genannt. Wolfgang Kayser erkennt in der „Kunst der Gegenwart eine […] Affinität zum Grotesken wie vielleicht keine andere Epoche“[16] und pflichtet Dürrenmatt bei, der die „tragische Komödie, die Tragikomödie, d.h. die Groteske“[17] als einzig legitime Form der Gegenwart ansehe. In der folgenden Untersuchung wird die fortschreitende Verstörung des Ich-Erzählers in Hinblick auf die Seiltänzermetapher dargelegt.

3. Werkanalyse des Romans Verstörung

Es ist ein unheimliches Buch, das wie eine klassische Erzählung anfängt

und den Leser ins Grauen hineintreibt, ohne dass er es merkt.

Thomas Bernhard, 1966[18]

Im Verlauf des Romans wird der Ich-Erzähler mit einer Reihe grausiger Fälle konfrontiert, deren groteske Schilderung auf die zunehmende Verstörung des Sohnes hinweisen. Obwohl der Prosatext wie ein Entwicklungsroman beginnt und die insgesamt neun Fälle des Arztes für einen solchen prädestiniert scheinen, findet keinerlei Entwicklung statt. Was der Leser jedoch beobachten kann, ist das Seiltanzen des Ich-Erzählers über dem Verzweiflungsabgrund, sein Schwanken zwischen Melancholie und Groteske. Die Stilmittel der komischen Darstellung in Verstörung gestalten sich hauptsächlich durch absurde Metaphorik und die hypotaktischen Redeweisen, die durch den „gehorsamen Stenograph“[19] [i.e. der Ich-Erzähler] widergegeben werden. Auf eine vertiefende Analyse des Saurauschen Monologs wurde hierbei bewusst verzichtet, da der enge Rahmen dieser Hausarbeit seiner Stofffülle nicht gerecht werden kann. Zudem erschwert die extrem assoziative Art des Monologs eine stringente Interpretation.

[...]


[1] Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Hamburg: Rowohlt 112009. S. 14. Fortan: Camus.

[2] Vgl. Thomas Fraund: Bewegung, Korrektur, Utopie. Studien zum Verhältnis von Melancholie und Ästhetik im Erzählwerk Thomas Bernhards. Frankfurt am Main/Bern/New York: Peter Lang 1986. (Studien zur Deutschen Literatur des 19. Und 20. Jahrhunderts; Bd. 2) S. 6.

[3] Marcel Reich-Ranicki: Konfessionen eines Besessenen. In: Die Zeit, Nr. 17 vom 28. April 1967, S. 52.

[4] Ebd.

[5] So beispielsweise bei Hajo Steinert und Manfred Jurgensen (1998).

[6] Vgl. Interviews mit Krista Fleischmann: Monologe auf Mallorca und Die Ursache bin ich selbst. Die großen Interviews mit Thomas Bernhard. Frankfurt am Main: Filmedition Suhrkamp 2008. Fortan: Monologe auf Mallorca.

[7] Monologe auf Mallorca.

[8] So auch Christa Strebel-Zeller in ihrer Dissertationsschrift: Die Verpflichtung zur Tiefe des eigenen Abgrunds in Thomas Bernhards Prosa, Zürich 1975, S. 8. Fortan: Strebel-Zeller.

[9] Monologe auf Mallorca.

[10] Ebd.

[11] Karl Siegfried Guthke: Geschichte und Poetik der deutschen Tragikomödie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1961, S. 14.

[12] Thomas Bernhard: Der Wahrheit auf der Spur. Hg. v. Wolfram Bayer, Raimund Fellinger u. Martin Huber. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2011, S. 122.

[13] Markus Scheffler: Kunsthaß im Grunde. Über Melancholie bei Arthur Schopenhauer und deren Verwendung in Thomas Bernhards Prosa. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2008, S. 212.

[14] Groteske. In: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender u. Burkhard Moennighoff. Stuttgart/Weimar: Metzler 32007, S. 297.

[15] Ebd.

[16] Wolfgang Kayser: Das Groteske in Malerei und Dichtung. In: Rowohlts deutsche Enzyklopädie. Hg. v. Ernesto Grassi. Hamburg: Rowohlt 1960, S. 7.

[17] Ebd. S. 7f.

[18] Thomas Bernhard: Brief an Hedwig Stavianicek, 24. Oktober 1966. Zitiert nach: Thomas Bernhard: Werke in 22 Bänden. Band 2: Verstörung. Hg. v. Matin Huber u. Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 214.

[19] Strebel-Zeller, S. 64.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Existenzielle Seiltänzer - Vom Umgang mit dem Absurden am Beispiel des Ich-Erzählers in Thomas Bernhards Roman "Verstörung"
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Deutsches Institut)
Veranstaltung
Thomas Bernhard
Note
1,7
Autor
Jahr
2011
Seiten
15
Katalognummer
V173972
ISBN (eBook)
9783640943340
ISBN (Buch)
9783640943128
Dateigröße
586 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
existenzielle, seiltänzer, umgang, absurden, beispiel, ich-erzählers, thomas, bernhards, roman, verstörung
Arbeit zitieren
Kristin Freter (Autor:in), 2011, Existenzielle Seiltänzer - Vom Umgang mit dem Absurden am Beispiel des Ich-Erzählers in Thomas Bernhards Roman "Verstörung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/173972

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