Der menschliche Ausdruck in Mienen, Gesten, Fonen und Manövern


Fachbuch, 2011

644 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

PROLEGOMENA

der theoretische Ansatz

der funktionell-klinische Ansatz

der anatomische Ansatz

das diagnostische Vorgehen

Täuschung und Lüge im sozialen Kontext

Worum? Weil die Sache eine gute Geschichte abgab, und weil sich die Leute komplizierte Angelegenheiten nur über Geschichten klarmachen konnten. Stephenson

Im Medizinstudium war ich lange unschlüssig, für welche Fachrichtung ich mich entscheiden soll. Eine Freundin schenkte mir Ballys FREUD-Biografie [7], das brachte die erste Weichen - stellung. Die Entscheidung fiel 1976 mit Leonhards Der menschliche Ausdruck in Mimik, Gestik und Phonik [112]. Nur war das unendlich viel und sehr, sehr kompliziert - obwohl doch Dinge be - schrieben wurden, die wir andauernd erleben und selbst tun. Das Thema ließ mich nicht mehr los, mal mehr, mal weniger: 1991 unternahm ich den ersten Vorstoß, Informatiker dafür zu interessieren (Ausdruckserkennung als Bereich der Pattern Recognition, mathematische Formalisierung des Ausdrucksgeschehens, informatische Vervollständigung partieller Daten) leider vergebens: zu viel™, zu kompliziert..., zu viel Arbeit..., keine rechte Zielstellung..., kein verkäufliches Produkt in Sicht.[1]

Zunächst nahmen mich die Alltagssorgen anderweitig in Beschlag, 2007 fand sich dann endlich Zeit. Zunächst war Webprogrammierung zu lernen, Computergrafik, Video und Morphing, Fotografie mit Bildverarbeitung, Domainverwaltung. 2008 konnte ich den ersten Versuch ins Netz stellen.

Mein Ausgangspunkt war ein romantischer Ich wollte ein guter Psychiater werden, auch wissenschaftlich aktiv sein. Ich wollte mich in mir selbst zurechtfinden, natürlich auch in der Welt. Als Student hab ich dies eingebunden in eine Weltsicht der Beschddigungstheorien nach Rousseau [150] - die gesellschaftlichen Umstände hindern den Menschen daran, sei­ner wahren Natur gemäß zu leben. Dementsprechend habe man nach dem wahren, dem eigentlichen und dem freien Menschen und den sozialökonomischen Zwängen zu suchen. Als Mittel gehörten bei mir denn auch Autogenes Training, Hypnose und Trance, Psycho­analyse und Gruppenpsychotherapie dazu. Und auch die Beschäftigung mit Mimik, Gestik und Phonik - denn diese müssten doch den „wahren Menschen” sichtbar machen können.

Insgesamt aber habe ich gelernt, dass unser Leben kaum noch von „natürlichen”, „wahren” Ausdrucksweisen getragen wird. In dieser Vorstellung brechen sich die Traditionen der deutschen Romantik - die Idee vom Menschen in Naturzustand und Naturrecht, welcher sich dem Sozium entziehen könne.

Für die Kommunikation mittels Ausdrucksgebarens lässt sich also vermuten, dass diese denselben Konstellationen unterliegt wie die sprachliche Kommunikation auch. Hier die Kommunikationsbedingungen nach Koch & Oesterreicher [104]: a) Grad der Öffentlichkeit (Zahl der Kommunikanten sowie Vorhandensein/Größe eines Publikums); b) Grad der Ver­trautheit der Partner (vorherige gegenseitige Erfahrung, gemeinsames Wissen, Ausmass der Institutionalisierung der Kommunikation); c) Grad der emotionalen Beteiligung (Affektivi­tät und Expressivität des Kommunikationsobjekts); d) Grad der Situations- und Handlungs­einbindung der Kommunikationsakte; e) der Referenzbezug (ego-hic-nunc); f) physische Nähe der Kommunikationspartner (zeitlich und lokal); g) Grad der Kooperation inkl. Mitwir­kungsmöglichkeit des Kommunikanten in der Produktion des Diskurses; h) Grad der Dialogi- zität (Möglichkeit und Häufigkeit spontaner Übernahme der Produkzentenrolle); i) Grad der Spontaneität; j) Grad der Themenfixierung.

Wir schwimmen in einem Meer sozialer Konventionen und Regeln (was hier die Manöver[2] der Convenien genannt wird), die uns überhaupt erst erschaffen. Das Ausdrucksgebaren unterliegt denselben Einflüssen wie die gesprochene Sprache mit ihrer späteren Verschrift - lichung zur Literatursprache. Koch & Oesterreicher unterscheiden bei den Versprachlichungs- strategien zwischen Nähe- und Distanzsprechen. Verfolgt man die Phylogenese des Ausdrucksgebarens, zeigt sich, dass mit Zunahme der zwischenmenschlichen Kontakte durch die Entstehung des Soziums auch immer größere soziale Distanzen zwischen den Akteuren entstehen, sodass Ausdrucksformen entstehen mussten, die diese Distanzen wi­derspiegeln, her- und darstellen.

Diese Zweckhandlungen realisieren sich - im Unterschied zur gesprochenen Sprache - primär über den Gebrauch phylogenetisch bereitgestellter Ausdrucksweisen, wobei es derzeit in Mode ist, letztere möglichst naturgetreu nachzuahmen[3] (was nicht immer so war[4] und vielleicht auch nicht so bleiben wird). Genau so bedient sich die literarische Hochspra - che der Elemente der Umgangssprache, welche sie spezifischen Regeln einer elaborier - ten Mündlichkeit unterwirft.

Gleichzeitig entstehen Ausdrucksweisen permanent neu, so wie sich auch gesprochene Sprache andauernd weiterentwickelt. Damit erweitern sich die Freiheitsgrade vom biolo - gisch Vorgegebenen zum sozial Vorgeformten, aber letztendlich Gewollten. Eigentlich hat sich mein Vorhaben damit selbst die Basis entzogen, schauen wir dennoch, was vorzufin­den ist und was der Diskurs daraus gemacht hat.

Karl Leonhard berichtete, dass ihn die Lehrbuchverweise zur Paramimik[5] nicht befriedig­ten, denn es gab fast keine Arbeiten, wie eine normale Psychomotorik[6] denn nun ei­gentlich aussähe - dies wüsste man eben. So sammelte er seine Beobachtungen und pu - blizierte sie erstmals 1949[7] [8] [9].

Sein Vorgehen folgt der Diskursfigur der Methode:

Die Methode wird von außen aufgezwungen, und zwar durch globale Ähnlichkeiten, die die Dinge miteinander verwandt machen. Sie transkribiert die Perzeption sofort in Diskurs. Sie bleibt in ihrem Ausgangspunkt in nächster Nähe der Beschreibung, aber es ist ihr stets möglich, dem allgemeinen Merkmal, das sie empirisch definiert hat, doch die sich auf­drängenden Modifikationen hinzuzufügen... [67]

Er geht dabei von der Empirie der Psychopathologie aus und beschreibt mit den nicht­pathologischen Ausdrucksweisen dann die Dinge, die außerhalb seines Ausgangsfeldes liegen. Es werden also Unterschiede beschrieben, bis sich die allgemeine Übersicht der Verwandtschaften abzeichnet [67]. Diese werden dann zusammengefasst: Er gelangt damit letztendlich von den Entitäten mit ihrer topografischen Ordnung zur Geschichte der Ausdrucksweisen mit sich wandelnden Funktionen des Ausdrucks.

Man beachte seinen Reichtum emotionaler Ausdrucksweisen und Mechanismen - und stelle zeitgleich erschienene psychologische Arbeiten daneben. Lehrbücher für Kunststu­denten waren da schon differenzierter [59]8.

Andere Autoren suchten mit der Denkfigur des Systems [67] nach den Grundbausteinen des Ausdrucksgebarens: Ein System nimmt postulierte Basiseinheiten als arbiträren Aus­gangspunkt, was eine Kombinatorik gestattete, die numerisch zufrieden stellend war. Ein System resultiert aus einer Entscheidung, es muss aber absolut kohärent sein - es muss seinen fundamentalen Begriff und seine Prinzipien als absolut oder invariabel oder als so allgemein betrachten, dass es keine Ausnahmen dulden kann [67]9 Ein System versucht also, sich den Anschein einer absolut exakten Wissenschaftlichkeit zu geben, insbesonde­re das Problem der Intuition zu umgehen (welche aus der Empirie heraus einen Weg vor - gibt). Aber etwas zu tun, ohne genau zu wissen, was man tut - damit eröffnet man sich die Chance, in dem, was man getan hat, etwas zu entdecken, was man vorher nicht wusste [27]:

Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit. Nietzsche, Götzendämmerung: Sprüche und Pfeile

Nun lässt sich Geschmackserleben auf die Mischung der fünf gustatorischen Grundqualitä - ten zurückführen, dass es sich bei der ausgedrückten Emotionalität des Menschen analog verhält - eine numerisch definierte handvoll Primöremotionen mischen sich zur Unzahl von Sekundöremotionen - darf bezweifelt werden:

Die Idee, dass bei Zerstörung der Wörter es weder Geräusche noch reine, arbiträre Elemente sind, die man findet, sondern andere Wörter[10], die bei ihrer Pulverisierung wiederum andere freisetzen - diese Idee ist gleichzeitig das Negativ der ganzen modernen Wissenschaft der Sprachen und der Mythos, in den wir die dunkelsten Kräfte

der Sprache, die zugleich die wirklichsten sind, transkribieren. [67]

Dabei handelt es sich um eine Spielart des Artischocken-Mythos, der sich hier aus der Psychoanalyse heraus entwickelte: Danach sei kein Vorgang, was er zu sein vorgäbe, son - dern dahinter stünde stets ein anderer. Und wie also letztendlich Libido jede menschliche Aktion verursache, so müsse jede Emotion von einem simpleren animalischen Erleben be - dingt sein:

Der Mythos von den Primäremotionen: Diese ist eine der gängigsten Varianten des Arti­schocken-Mythos. Der Theorie der Primäremotionen zufolge ist das Herz einer Emotion in Wirklichkeit eine andere, elementarere Emotion, sodass zum Beispiel das Herz einer De­pression in Wahrheit Wut ist. Etwas anders formuliert kennt dieser Mythos einige wenige Primär- oder Grundemotionen, die nicht weiter reduzierbar sind und aus denen sich alle anderen Emotionen zusammensetzen. Die Zahl und Art der als solche konkret anerkann­ten Primäremotionen variieren abhängig von den einzelnen Theoretikern. Robert Plutchik spricht zum Beispiel von acht Primäremotionen (Angst, Wut, Freude, Traurigkeit, Akzeptanz, Ekel, Erwartung,Überraschung), diejeweils in Relation zu einer grundlegenden biologi­schen Adaption zu sehen sind.Jaak Panksepps Konzept beinhaltet vier Grundemotionen (Angst, Wut, Traurigkeit und Erwartung), für die er eine neurophysiologische Beweisführung vorlegt. GeraldjAMPOLSKY, als Psychiater im klinischen Bereich tätig, hat die Liste schließlich auf zwei, Liebe und Angst, reduziert, wobei Angst „die Liebe ausschließt". Keiner dieser Autoren bestreitet, dass wesentlich mehr Emotionen als diese wenigen Primäremotionen erfahren werden. Ihre Behauptung ist vielmehr, dass die geläufigsten der bekannten Emotionen (Liebe, Neid, Schuld usw.) in Wirklichkeit Kombinationen jener Primäremotionen darstellen. Plutchik veranschaulicht seinen Punkt am Beispiel von F arben. Alle F arben des Farbspektrums können durch Mischen von nur drei Grundfarben gewonnen werden; ähn­lich könnten, so seine These, alle Farben des Emotionsspektrums durch Mischen der acht Primäremotionen erzielt werden. Einfach und unkompliziert ist löblich. Beides gehört zu den wichtigsten Zielsetzungen der Wissenschaft. Einfachheit und Unkompliziertheit kön­nen auch in einem klinischen Kontext, wo einfache,verständliche Richtlinien oft nützlicher

als komplexe Analysen sind, oft sehr hilfreich sein. Dieser Mythos von den Primäremotio­nen kannjedoch, wenn er ernst genommen wird, vernichtend für die Frage der emotiona­len Kreativität sein, zumindest was die Primdremotionen selbst angeht. Denn sie werden als Grundphänomene vorausgeschickt, die zwar in verschiedenster Weise kombiniert, nicht aber grundlegend geändert werden können. Eine keineswegs triviale Einschrän­kung, da die Primäremotionen zugleich allgemein als die wichtigsten Emotionen gelten. Statt Emotionen mit den Farben des Farbspektrums zu vergleichen, finden wir, dass Kunst­werke - Gemälde zum Beispiel - eine treffendere Analogie darstellen. Leonardos Mona Lisa ist mehr als nur einfach ein Gemisch aus F arben. Sie hat Form und Inhalt. Im Idealfall können auch Emotionen wie Kunstwerke sein; und wie andere künstlerische Produktionen stellen auch die menschlichen Emotionen ein Feld endloser Möglichkeiten dar. Bislang wurde, in, welcher Kultur auch immer, nur ein Bruchteil dieser Möglichkeiten ausgeschöpft und ver­wirklicht. [4]

Zunächst wird sichtbar, dass die Denkfigur des Systems dazu führt, willentlich diesen oder jenen theoretischen Aspekt in den Vordergrund zu stellen (Ortony & Turner [142] vermuten den schlichten Versuch, das Meer an Daten handhabbar zu bekommen[11]). Auch hat man den Eindruck, dass kontrastreiche, gegensätzliche Qualia als Ausgangspunkt zur Konstruktion der Systeme benutzt werden. So ist der

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Perpessus / Erdulden: Man durchläuft eine gedankliche Stellungnahme zur Ursache einer Frustration

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Perpessus

beispielsweise die häufigste emotionale Reaktion; nur eben mit einem wenig sichtbaren, wenig kontrastierenden mimischen Darstellung... Nun ist dies eine sehr kleine Miene, über

die man sich im Alltag wenig Rechenschaft abgeben wird. Daneben aber steht auch ein unübersehbares Beispiel (welches jedoch unter Laboratoriumsbedingungen kaum auftreten wird): der

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Defatigus / Überreizung: Ein Leiden wird als unerträglich erlebt

Selbst dieser Ausdruck wird in der Lehre der Primäremotionen nicht berücksichtigt - ob - wohl er gewiss eine basale Angelegenheit ist - er passt nur eben nicht ins Kalkül.

Es konnte inzwischen aber gezeigt werden, dass Primäremotionen besser in statischen Abbildungen identifiziert werden, während dynamische Expositionen feineres Wahrnehmen ermöglichen und damit realitätsnäher sind [97].

Damit führt dieser Ansatz zum Verlust einer ganzen Reihe von Urteilsmöglichkeiten: Es macht einen Unterschied, ob das initial zugewandte Gesicht im Affekt abgewendet wird (Avertus) oder ob sich das initial abgewandte Gesicht zum Partner zu drehen beginnt

(Convertus). Dasselbe gilt für den Blick - ein sich abwendendes Gesicht bei angewandtem Blick kommuniziert ein Gekränktwerden (Recedus), ein abgewandtes Gesicht mit Blickzuwendung jedoch ein Gekränktsein (Iniurus).

Eine Zusammenfassung des Diskurses findet sich in von Schweve [191] - der allerdings keine Phylogenese der Emotionalität diskutiert, sondern nur biologische und soziologische Erklärungen gegeneinander abwägt (Expression und Hermeneutik müssten somit historisch punktuell voll ausgebildet ins Verhalten hineingesprungen zu sein und werden dann sozial nur noch etwas modifiziert).

Der Ansatz des Systems[12] kann sich auch in eine selbst erfüllende Prophezeiung verwan dein:

Die wissenschaftliche Einteilung in Klassen führt zur gemeinsamen Wurzel der von den Ak­teuren geschaffenen klassifizierbaren Praxisformen und ihren klassifizierenden Urteilen über die eigene Praxis so gut wie die der anderen: der Habitus ist Erzeugungsprinzip ob­jektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principum divisionis) dieser Formen. ... Der eine Population in Klassen einteilende Beobachter vollzieht nur nach,

was die gesellschaftliche Praxis ohnehin leistet. [26].

Damit läuft man Gefahr, rationalisierend in vor und parawissenschaftlichen Vorstellungen verfangen zu bleiben. Die Erfinder von Primäremotionen klassifizieren somit nur den Habitus ihrer Bezugspersonen, sie anerkennen und verkennen die in ihren eigenen Köpfen schon festsitzende Ordnung.

Das Bestreben des Artischocken-Mythos, emotionales Reagieren auf ein halbes Dut­zend Primäremotionen zu reduzieren, ist sicher ein Extremfall rationalisierender Ver­schriftlichung[13]. Diese gehen auf Woodworth (1938)[14] zurück, der den emotionalen Ausdruck in einer sechsstufigen linearen Skala kategorisierte: (1) Liebe, Freude, Glück, (2) Überra - schung, (3) Furcht, Erleiden, (4) Zorn, Entschlossenheit, (5) Ekel, (6) Verachtung. 1941 änderte Schlosberg dies in zwei Dimensionen [Angenehm-Unangenehm und Hinwendung-Abwen­dung], 1958 mit einer dritten Dimension [Schlaf-Spannung] ab [92].

Bereits Wundt hatte im 19. Jahrhundert drei Emotions-Dimensionen an­genommen [Spannung / Lösung, Lust / Unlust, Erregung / Beruhigung];

Wahner im 20. Jahrhundert dann erneut [positiv / negativ; aktiv / pas­siv; Identifikationen / Bedürfnisse / Erwartungen / Selbstwerterleben].

Es wird sich zeigen, dass diese Primäremotionen zum Teil selbst schon zusammengesetzte Ausdrucksweisen darstellen[15] und dass viele grundlegende Emotionen völlig anders geartet sind, als die um Mund und Brauen zentrierten Modelle vorgeben - beim Menschen steht das Auge im Mittelpunkt der Mimik.

Letztendlich hat man beim Ansatze der Primärexpressionen den Eindruck, dass es sich

um einen Versuch handelt, sowohl die Phylo- als auch die Ontogenese des Ausdrucksge­barens so schlicht als möglich zu erklären. Biologisch basale Ausdruckweisen, die sich auch beim Säugetier wahrnehmen lassen, seien an den Menschen vererbt worden - dies entspricht sowohl den Traditionen der Verhaltenstherapie als auch der klassischen Psycho­analyse (Reduktion der Triebkräfte auf Libido).

Weder habe der Mensch eine spezifische Evolution durchlaufen, va nicht zum Höheren, noch hätte sich spezifisch humanes Ausdrucksgebaren herausgebildet. Eine Entwicklung müsse daher nicht beschrieben werden...

Die Wissenschaftsobjekte bauen aufeinander auf, mit der Entwicklung des Instrumentariums haben sich dann auch die Fachwissenschaften hierarchisch strukturiert. Sie widerspiegeln damit den jeweiligen Umschlag von Quantitäten in eine neue Qualität: Die Physik der Ele - mentarteilchen erklärt den Aufbau der Atome, die physikalische Chemie den Aufbau der Moleküle. Beide zusammen bilden die anorganische Chemie. Diese ist der Grundlage der organischen Chemie, aus der sich die Biochemie ableitet. Letztere ist Rüstzeug, um die Physiologie zu verstehen usw usf.. Nun kann die Physiologie nicht ohne die Physik der Ele - mentarteilchen ablaufen - sie lässt sich jedoch nicht daraus ableiten oder zu Erklärungen physiologischer Vorgänge heranziehen. Die jeweils fundamentaleren Wissensgebiete be­schreiben in ihren Naturgesetzen nur prinzipielle Begrenzungen, welche die höheren Struk­turen nicht verletzen können, ansonsten bringen letztere ihre eigenen Konstellationen ein. Die neuen Qualitäten können sie nicht vorhersagen. Das höher stehende Wissensgebiet benutzt elementarere Bereich als Material - aber Ziegel, Rohre und Kabel sind eben kein Haus. Ähnliche Trugschlüsse ließen sich im letzten Jahrzehnt bei der Genomanalyse beob - achten: In nur sehr wenigen Fällen setzt sich ein Genotyp linear im Phänotyp durch. Dementsprechend groß ist die Enttäuschung, dass sich kein Gen der Schizophrenie oder Depressions-Gen finden ließ, dessen Austausch diese Krankheitsgruppen wegbehandeln ließe.

Dass eine soziale Emotion sich aus Elementen zusammensetzt ist eine Beobachtung, dass sie sich darauf reduziere ist eine unhaltbare Behauptung. Hinter dem Artischocken­Mythos steht auch das Bestreben, sich der Untersuchung der Weiterentwicklung der Emo­tionalität des Menschen zu entziehen, das spezifisch Menschliche nicht beschreiben zu wollen [142]: was biologisch basal - ergo auch anatomische verdrahtet, ergo auch univer­sell - sei, müsse auch psychologisch grundlegend sein. Was sich nicht über eine Miene ausdrücke, sei auch kein emotionaler Zustand [54] ...

Es ist unwissenschaftlich, originäre T ätigkeiten auf eine feste Zahl scharf voneinander ge­schiedener Klassen von Instinkten zu begrenzen. Und die praktischen Auswirkungen die­ses Versuchs sind schädlich. Etwas zu klassifizieren ist ebenso nützlich wie natürlich. Der unbestimmten F ülle, besonderer, sich wandelnder Ereignisse begegnet der Geist, indem er definiert, inventarisiert, auflistet, rubriziert und bündelt ... Wenn wir aber glauben, dass unsere Listen und Bündelungen feste Einteilungen und Gruppierungen in rerum natura darstellen, dann behindern wir unseren Umgang mit den Dingen, statt ihn zu fördern ... Wir werden unfähig, mit den Nuancen und neuartigen Erscheinungen in der Natur und im Le­ben wirksam umzugehen ... Die T endenz, die Funktion von Unterscheidungen und Klassifi­kationen zu vergessen und sie für Kennzeichen der Dinge selbst zu halten, ist der verbrei­tete Trugschluss des wissenschaftlichen Spezialistentums ... Der Mensch ist in eine festste­hende Kollektion von Primärinstinkten aufgelöst worden, die sich zählen, katalogisieren und nacheinander ausgiebig beschreiben lassen. Unterschiede zwischen den Theoretikern gibt es nur hinsichtlich ihrer Zahl und ihrer Rangfolge. [36]

Leonhard beobachtete andere Personen, Fotografien sowie sein Spiegelbild in der Hypo­thesen vermeidenden emphatischen Haltung[16] der psychiatrischen Exploration und re­gistrierte den sich assoziierenden Eindruck[17]. Daneben imitierte er die bei seinen Ge­sprächspartnern ablaufenden mimischen Ausdrücke und registrierte die sich bei ihm ein - stellende Gefühlslage. Natürlich wurde auch der eigene Ausdruck während gewisser Ge - stimmtheiten analysiert und mit Beschreibungen anderer Autoren abgeglichen.

Er benutzte somit die auch in der JAMES-LANŒ-Gefühlstheorie beschriebene Tatsache des gegenseitigen Hervorrufens und Verstärkens von affektivem Erleben und affektivem Ausdruck[18]. Jene erklärt auch die Alltagsbeobachtung, dass man durch das Auf setzen ei­ner bestimmten Miene das eigene Erleben modifizieren kann:

- man kann sich durch Nachahmen auf den Gefühlszustand des Anderen einstellen (wenn man empathisch keinen ausreichenden Zugang findet, wenn man seine Wahrnehmung überprüfen und vertiefen will oder wie hier - wenn man Mienen überhaupt untersuchen möchte),

- man kann bei sich einen bestimmten Gefühlszustand anstoßen, der für die soziale Situati­on benötigt wird (z.B. Modestus[19]).

Oder man manipuliert die gesamte Situation:

- indem man bei einem kooperativen Kommunikanten eine übergreifende Reaktionssequenz auszulösen versucht (wie bei den Intentionen und den Convenien).

In den 1980gern wurde dieses empirische Vorgehen durch Laboruntersuchungen ande­renorts repliziert und bestätigt [137].

Das Problem liegt im Erlernen dieser unvoreingenommenen Beobachterhaltung: Einem Ge­sprächspartner zuzuhören beinhaltet normalerweise, seine Sätze im eigenen Geiste zu vollenden, sobald man meint, die Richtung des Diskurses erfasst zu haben. Man geht also mit sich schnell einstellenden Hypothesen an den ablaufenden Vorgang heran[20]. Dies gilt es zu unterlassen, was einen gewissen Lernvorgang erfordert.

Noch schwieriger ist dies bei der Introspektion[21], sie setzt schon ein längeres Training voraus[22] - dies meist unter Anleitung eines Trainers, was wieder den Einfluss der Schulmei - nungen ins Spiel bringt[23]. der funktionell-klinische Ansatz

Entscheidend wurde auch bei Leonhard die Methode, Bildvorlagen partiell abzudecken und damit zu finden, dass viele Mienen nicht vom ganzen Gesicht, sondern nur von Teilen des - selben getragen werden (wer Zweifel hegt, möge sich den Zeichentrickfilm [Wall-e] an­schauen - hierin werden emotionale Ausdrücke ausschließlich durch Augenmienen und -gesten dargestellt und ein nachvollziehbares emotionales Erleben erzielt). Damit findet sich umgekehrt auch, dass der Eindruck gewisser Mienen zerstört wird, deckt man be - stimmter Gesichtsteile ab. Kombinierte Mienen ließen sich auf diese Weise in ihre Einzelteile zerlegen:

Leonhard beschreibt z.B. die Miene des Weinens mit: Es enthält neben einer spezifischen Miene an den Nasenflügeln mehrere Leidmienen, aber es drückt nicht mehr all das, was diese einzeln bedeuten, aus. Diese spezifische Miene - das Zusammenziehen der Na - senflügel - ist der

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Reprehensus /Missbilli­gung:

Man wirft einem Anderen ein verfehltes Handeln vor

Das Weinen beginnt mit diesem Erleben und bekommt dann seine Bedeutung durch weite­re hinzutretende Affekte.

Zu den auftretenden Leidmienen gab er an: Alle Unlustmienen des Gesichts können sich im Weinen zusammenfinden. Zur Demonstration hier der umgekehrte Weg durch Hinzufügen der Unlustmienen zum Reprehensus:

Eine Spur

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eine Prise

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Pertu b atu s / Verlegenheit: Man findet sich in der Situation nicht zurück und glaubt, sich falsch zu benehmen

und

Tristitus ¡ T raurigkeit: Man erlebt eine Unlust durch eine gedankliche Stellungnahme über den Verlust von etwas Positivem

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sowie

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Admiratus / Verwunderung: Man erlebt etwas Unge­wöhnliches und Neuartiges, kann dies aber nicht ver­stehen

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Admiratus.

All dies zusammen dann noch mit der Fone des

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Ploratus

und man hat die ausgeprägte Miene des

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Lacrimus i Heulen:

Man beginnt, mit dem Schicksam zu hadern — wie man zu leiden habe, wie schön es andere hätten!

Man gehe noch einmal diese minimalen Veränderungen durch, die von einem neutralen Ausdruck ihren Ausgangspunkt nahmen - und allein durch Leonhards Beobachtungen zu­sammengetragen wurden. Für den Betrachter wird der Vorgang zu einem stimmigen Aus - druck, d.h. man erlebt nicht mehr jede einzelne affektive Reaktion, sondern einen ge - schlossenen Gesamtvorgang.

Leonhard stand in den 1970gern im achten Jahrzehnt, hatte ein halbes Jahrhundert Be­rufserfahrung als Psychiater und grundlegende Arbeiten zur Behandlung, zum biologi - sehen Hintergrund, zur Ätiopathogenese und zur Klassifikation von Persönlichkeitsstörungen sowie endogener Psychosen veröffentlicht. Er stellte die Frage der Universalität des affek - tiven Ausdrucks und konnte diese bejahen.

Anschließend entwickelte er eine Hypothese zur Phylogenese des menschlichen Aus­drucksverhaltens. Seine Idee, aus der Gesamtfläche einer Miene und deren Kombinatio - nen auf ihr Entwicklungsalter schließen zu können, wurde hier übernommen.

Er postulierte, dass bestimmte mimische Kombinationen zweifelsohne höheres menschli­ches Erleben ausdrücken, also phylogenetisch jünger sein müssten. Auch dieser Gedanke wird hier fortgeführt.

Weiterhin realisierte er, dass bestimmte Aspekte des Ausdrucksverhaltens darauf inten­dieren, den Kommunikanten zu korrespondierenden Reaktionen zu provozieren und dass dieser Ausdruck aus simplifizierten Elementen besteht, hier also wohl eine noch jüngere Entwicklungsetappe angenommen werden kann.

Er fasste die Mienen nach ihren Loci zusammen, was hier nicht übernommen wurde. Wei - terhin klassifizierte er die Ausdrucksphänomene nach ihren semantischen und kognitiven In - halten, was beibehalten wurde.[24] Einige wenige Ausdrucksweisen konnten seinen Beobach­tungen neu hinzugefügt werden. Insgesamt betont er entsprechend seiner Biologischen Psychologie [113] die biologischen Grundlagen des menschlichen Ausdrucks - hier hat sich die Datenlage in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert und konnte eingearbeitet werden.

Zwischen Darwin [45] und Leonhard hatte sich eine Reihe weiterer Autoren mit dem menschli­chen Ausdruck befasst: Borée [24], Frida [69], Hertl [83], Hughes [89], James [94], Kroh [107], Landis [109], Lange [110], Piderit [147], Sante de Sanctis [160] und Spitz [173]. In seiner Bibliografie dominie­ren Autoren des deutschen Sprachraums, welche die Anschauungen ihrer Epoche nach­haltig prägten. Während er durch seine Aufteilung der endogenen Psychosen [113] weltweite und die Biologische Psychologie fachspezifische Bekanntheit erlangte, blieb sein Menschlicher Ausdruck unbeachtet (hier mögen die zwei kleinen Auflagen des Buchs eine Rolle gespielt haben).

Sicher aber auch die Tatsache, dass die Psychiatrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun - derts biochemisch und pharmakologisch geprägt wurde. Die Psychopathologie und in ihr die Psychomotorik erlebten einen Niedergang: vor allem das DSM agiert gerne mit dem Begriff bizarr, ohne ihm eine Beschreibung des Nicht-Bizarren, des Durchschnittlichen oder auch des Üblichen entgegen zu stellen. Hier sprang dann auch die Populärpsychologie ein

mit ihren Protagonisten der Körpersprache, welche über die Massenmedien bis in Mana­gementkurse vordrang. In den Convenien wird darauf Bezug genommen werden.

der anatomische Ansatz

Geprägt wird das Feld in den letzten 50 Jahren von Paul Ekman [55], der sich auf den eng­lischen Korpus stützt und die frühen europäischen Autoren offensichtlich nicht kannte. Er kann auf vielfältige und umfangreiche Publikationen verweisen, die weltweit Beachtung fan - den. Vor allem wohl dadurch, dass er über mehrere Jahrzehnte die Ausdrucksthematik fast allein bearbeitete und diese von der Psychiatrie (die sie fallen gelassen hatte) in die Psy - chologie hinüber rettete (die sie jetzt auf verschiedene neue Felder verbreitete). Die Psy - chologisierung des wirtschaftlichen [91] und gesellschaftlichen [65] Lebens schuf hierfür ei­ne gewaltige Nachfrage:

Aber andererseits versucht sie zu erstellen, was diesem Bewusstsein entging: die Einflüs­se, die an ihm hafteten, die impliziten Philosophien, die ihm zu Grunde lagen, die unartiku­lierte Thematik, die unsichtbaren Hindernisse; sie beschreibt das Unbewusste der Wis­senschaft. Dieses Unbewusste ist immer die negative Seite der Wissenschaft - das, was ihr Widerstand leistet, sie vom Wege abbringt oder sie stört. Was ich jedoch erreichen wollte, war, ein positives Unbewusstes des Wissens zu enthüllen: Eine Ebene, die dem Be­wusstsein des Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftlichen Dis­kurses ist... [67]

Ekman - er stand in den 60gern am Ende seines dritten Dezenniums und hatte ein halbes Jahrzehnt Berufserfahrung als klinischer Psychologe - hängt dem Artischocken-Mythos nach und strebt nach einer Zurückführung der Mimik auf Primäremotionen. Die Mimik blieb über Jahrzehnte fast das einzige Feld des menschlichen Ausdrucks, das er bearbeitete.

Große Verbreitung fand seine Facial Action Coding System (gemeinsam mit Wallace Friesen), wobei beide Psychologen auf der

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[52]

Anatomie der Gesichtsmuskulatur nach Carl-Herman Hjortsjö [199] aufsetzen. Ein zunächst nachvollziehbarer Ausgangspunkt, um erst einmal festen Boden unter den Füßen zu be­kommen[25]. Und die Anatomie ist kaum sozial überformt, sie muss also den „wahren Men­schen” zeigen.

Die Idee jedoch stammte noch von G B. Duchenne de Boulogne, der

Pseudomimiken durch elektrische Reizungen der Gesichtsmuskulatur erhalten hatte.

Das FACS listet phänomenologisch die motorischen Aktionseinheiten auf, ist schlichter als das LEONHARDsche System und strebt eine basale Kodierung des motorischen Geschehens an. Dabei werden, wie bei Leonhard auch, faziale Topi geordnet, das Verständnis des Aus­drucks ergäbe sich inhaltlich dann aus einer Gesamtformel.

Da es später mit all seinen Isomorphemen von der Computergrafik übernommen wurde, ist es wohl auch der Grund, weshalb die computergenerierten Zeichentrickfilme solch höl­zern-unnatürlichen Eindruck hinterlassen[26]. Hier scheint das FACS aber langsam überwun­den zu werden, indem menschliche Gesichter nicht mehr via Computer synthetisiert, son­dern gescannt und digitalisiert werden.

Bei der Beurteilung eines Ausdrucks wird angegeben:

In Altemativfällen können zwei Aktionseinheiten nicht gemeinsam bewertet werden, da sie nicht simultan ausgeführt werden können oder es schwer ist, sie voneinander zu unter­scheiden[27] oder wenn es die Logik anderer FACS-Regeln nicht gestattet, beide gleich­zeitig zu bewerten. Der Untersucher entscheidet dann, welche der beiden Alternativen die gegebene Aktion am besten beschreibt. ... Viele Alternativregeln wurden gestrichen und nur logisch inkompatible Alternativen wurden belassen. [56]

Da das FACS in der Anatomie und nicht in den Ausdrucksgehalten verankert ist, nennt der Psychologe Ekman z.B. mit der

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die Leistung des M. levator labii superioris alaquae nasii [181] als mediales Geschehen und der

die Leistung des M. levator labii superioris als laterales Geschehen beim Anheben der Oberlippe [180] nur zwei Möglichkeiten.

Der Neurologe Leonhard aber unterscheidet beim Anheben der Oberlippen das Vorkom­men gleich dreier verschiedener Mienen mit jeweils eigenem Ausdrucksgehalt, die an un - terschiedlichen Dritteln der Oberlippen ansetzen (also auch aus Kombinationen muskulärer Aktivitäten entstehen):

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Dolorus - Anheben des lateralen Drittels,

Pertubatus - Anheben des mittleren Drittels,

Perpessus - Anheben des medialen Drittels.

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Täuschung und Lüge im sozialen

Das Schöne im menschlichen Leben ist, dass wir uns nicht auf Instinkte bei uns und bei an­deren verlassen können. ... Wir wissen nur selten sehr genau, was der andere will. Und das ist gut so. Wie unendlich langweilig wäre unser Leben, wenn wir unser Gegenüber instinktsi­cher zu jeder Zeit einschätzen könnten! Stattdessen aber sind wir gezwungen, ein un endliches Spiel zu spielen: das Spiel des Deutens. [150]

Ekmans Ansatz entspricht der Diskursfigur des Systems und er entwickelt mit dem FACS dann seine [Mathesis]. Er beschreibt keine Geschichte, va. keine spezifische des Aus­drucksgeschehens - aber ein Geheimnis: die Lüge, die es zu entlarven gilt. als gäbe es kein anderes zu lösen [67][28]: Es schimmert die „Beschädigungstheorie” des „wahren Men­schen” hervor; den es hinter den Schichten von Lüge hervorzuholen gelte[29].

Bereits bei höheren Affen sind Täuschungsmanöver untereinander beobachtet worden, jedoch auch die Fähigkeit, diese zu durchschauen. Frühen Menschen dürfte dieses Vermö - gen nicht abgegangen sein, in der Jagd war es wohl überlebenswichtig. Im Zusammenle - ben kannte man die Figur des [Trickster] - die Fähigkeit zum Altruismus konnte auch miss - braucht werden, was jedoch wieder über das Gerechtigkeitsgefühl sanktioniert wurde [172][30].

Mit dem Entstehen der Polis tauchten schnell auch Rhetorik und Demagogie auf, die Lis­ten der Jagd entwickelten sich zu Kriegslisten. Zunächst aber blieben die Lebens- und va. die Produktionsverhältnisse überschaubar - im Dorf kannte jeder jeden, in der Stadt fan­den alle Herstellungsprozesse noch öffentlich statt, der Wert der Dinge war für jeden ab­schätzbar; deshalb auch die Überschätzung von Fernhandelsgütern, deren Produktions - aufwand unbekannt blieb:

Bei reicheren und weiteren Kulturen dagegen steht das Leben auf tausend Vorausset­zungen, die der Einzelne überhaupt nicht bis zu ihrem Grund verfolgen und verifizieren

kann, sondern die er auf Treu und Glauben hinnehmen muss. In viel weiterem Umfang, als man sich klar zu machen pflegt, ruht unsere moderne Existenz von der Wirtschaft, die im­mer mehr Kreditwirtschaft wird, bis zum Wissenschaftsbetrieb, in dem die Mehrheit der

Forscher unzählige, ihnen gar nicht nachprüfbare Resultate anderer verwenden muss,

auf dem Glauben an die Ehrlichkeit des anderen. [167]

Diese Lebensweise institutionalisiert jedoch den Trickster...

Die Psychológia mendaciorum[31] sucht nach der Antwort auf ein Problem, das Sennett bei der Analyse der Entwicklung der urbanen Gesellschaft entwickelt:

... Als die Maske zum Gesicht wurde, als die äußere Erscheinung zum Indiz für die Person wurde, ging die Selbst-Distanz verloren. Wie frei sind die Menschen, wenn sie so sind, wie sie erscheinen? ... Soziale Beziehungen jeder Art sind um so realer, glaubhafter und au- thentischer,je näher sie den inneren, psychischen Bedürfnissen der Einzelnen kommen. Diese Ideologie der Intimität verwandelt alle politischen Kategorien in psychologische. ...

Eine Persönlichkeit zu entwickeln bedeutet heute, die Persönlichkeit eines Flüchtlings zu entwickeln ... Schon in der Zerstörung des Gleichgewichts zwischen Öffentlichkeit und Pri- vatheit ... erweist sich der Mythos vom „Vorrang des Menschen vor den Maßnahmen" . als Mittel der politischen Befriedung ... Aus Angst vor der Leere begreifen die Menschen das Politische als einen Raum, in dem sich die „Persönlichkeit als solche" Ausdruck ver­schaffen soll. So werden sie zu passiven Zuschauern des Politikers, der sie mit seinen Ab­sichten und Empfindungen abspeist, statt über sein Handeln zu sprechen. ... es wird zur vornehmlichen Aufgabe der Gemeinschaft, sich derer zu entledigen, die nicht dazuge­hören. Dass die Gemeinschaft es ablehnt, „mit sich reden zu lassen", dass sie fortwäh­rend auf die Ausschließung von Außenseitern bedacht ist, rührt aus dem vermeintlich men - schenfreundlichen Wunsch, alles Unpersönliche aus den gesellschaftlichen Beziehungen zu verbannen. ... Die Struktur der intimen Gesellschaft ist durch zwei Momente geprägt. In­nerhalb der sozialen Beziehungen wird ein spezifischer Narzissmus mobilisiert, und die Enthüllung der eigenen Empfindungen vor anderen wird destruktiv. ... Eine destruktive Ge­meinschaft entsteht dort, wo die Menschen glauben, dass sie ihre Empfindungen vorein­ander enthüllen müssen, um emotionale Bindung herzustellen. ... Aus der Suspendierung der Ich-Interessen ist eine systematische Unterstützung der narzisstischen Abkehr von der Realität geworden, insofern soziales Handeln nicht mehr vor allem in Bezug auf das Ergebnis, sondern in Bezug auf die ihm zugrunde liegende Motivation bewertet wird. ... Die intime Gesellschaft macht aus dem Individuum einen Schauspieler, der seiner Kunst be­raubt ist. [166]

Die Psychologia mendaciorum möchte jene entlarven, welche sich dem Zwang der intimen Gesellschaft zur Enthüllung der eigenen Empfindungen entziehen, die ihre Würde bewah­ren möchten:

... Zivilisiertheit[32] ist ein Verhalten, das die Menschen voreinander schützt und es ihnen zu­gleich ermöglicht, an der Gesellschaft anderer Gefallen zu finden. Eine Maske zu tragen gehört zum Wesen von Zivilisiertheit. Masken ermöglichen unverfälschte Geselligkeit, los­gelöst von den ungleichen Lebensbedingungen und Gefühlslagen derer, die sie tragen. Zivilisiertheit zielt darauf, die anderen mit der Last des eigenen Selbst zu verschonen.

[166]

Sie reduziert all dies auf eine Technik, vermeintlich hinter die Kulissen der Flüchtlinge, Politiker und Außenseiter zu schauen, ihre Adepten beschwören das Bild von den überall lauern­den Kleinkriminellen[33]. Ihre eigentlichen Objekte lässt sie links liegen:

Künstler leben in einer seltsamen Welt. Umgeben von der Kälte und Rastlosigkeit ihrer Plattenfirmen wird von ihnen erwartet, ihre Gefühle der Welt darzulegen, ihre Integrität zu bewahren und die Wahrheit nicht in die Medien gelangen zu lassen. Wir sind hier wegen des Geldes. Diese Attitüde hat das Misstrauen des Publikums nicht nur gegenüber der Musik, sondern der ganzen Gesellschaft gegenüber entstehen lassen. Buchhalter, Mar­keting-Manager und Werbeleute sind die neuen Bannerträger. Sie verunmöglichen, dass etwas Echtes in die Festung gelangt, die sie gebaut haben, um das eigene Einkom­men zu schützen. In der Politik nennen wir das heute Spin. Vor dreißigjahren nannten wir es

Lügen. Haskell [81]

Einem ihrer Adepten fiel es nach der Bankenkrise 2008 ein, dass Banker Kompetenz vor - gespielt hatten - also logen. Daraus folgt ein sozialer Auftrag der Investoren - wofür man aber nicht selbst die HASKEizsche Wahrheit ausspricht und das Geschäftsgebaren auf­deckt, sondern Verhörtechniken in die Bewerbungsgespräche integriert[34]...

Besonders hübsch ist eine Arbeit von ten Brinke et al [182] - sie benutzten die Mikroemo­tionen um nachzuweisen, dass die Reue bei Straftätern auch vorgespielt sein kann. - was diese wohl doppelt verwerflich macht und ihre Untersucher moralisch überhöht, während doch aber überall das Bild des Kommunikationsvirtuosen (homme galant) das Ausbil - dungs- und Führungsideal des Bürgertums[35] bestimmt. Eine soziale Kommunikator-Kommu- nikant-Dynamik zwischen den Akteuren (Richter vs. Straftäter) wie in der Psycholingustik wird nicht einmal ansatzweise erwogen; einer soziale Situation mit maximaler Distanz wird eine Interaktion mit kommunikativer Nähe [105] untergeschoben36.

Immerhin aber landet auch Ekman damit letztendlich beim Problem der Zweckbewegun­gen, den Convenien.37

Die FACS muss mittlerweile [käuflich] erworben werden, ist [in Kursen] zu erlernen und man muss in einer Prüfung nachweisen, ein folgsamer Adept zu sein. Ähnliches ist aus der Geschichte der Etablierung der Psychoanalyse schon gut bekannt38 - der Theoriebereich soll institutionalisiert, d.h. in vertikales Wissen39 (d.h. eine hierarchische Wissenschaft) ver­wandelt werden. Entwicklung ist dabei die Entwicklung der Theorie.

Ekman fragte nach der Universalität der menschlichen Mimik - auch er erlebte natürlich, dass sich die Kulturen untereinander verstehen. Bei ihm waren untrainierte Versuchsper­sonen aus einem fremden Kulturkreis aufgefordert, empathisches Erleben zu verbalisieren. Dann sollten seine Versuchspersonen nach gedolmetschter Aufforderung Mienen produ­zieren und er erhielt unsichere Responses - folgt man Rohdes [154], zweifelt man auch sehr an der Empathiefähigkeit der EKMANschen Versuchspersonen.

Boroditsky [100] unterstreicht, dass die Struktur der Muttersprache die Wahrnehmung ei­ner Situation steuert (was Ekman nicht untersucht hatte):

Indem die Menschen ihre Gedanken in Wörtern ausdrücken, deren sie nicht Herr sind, in­dem sie sie in Sprachformen unterbringen, deren historische Dimensionen ihnen entgehen, wissen sie nicht, dass sie sich den Erfordernissen ihrer Sprache unterwerfen, glauben da­gegen, dass sie ihnen gehorcht. [67][36] [37] [38] [39]

Rivers hatte sich mit Head seinerzeit einen trainierten Beobachter für seine neurologischen Untersuchungen geholt [11]; Ekmans Lehrer, Tomkins [187], hatte interessanterweise ebenfalls die Analyse durch erfahrene und informierte Beobachter angeraten: Dies strafft die Interpre­tation (der Versuchspersonen) der Interpretation (des Versuchsleiters)[40]. Russel analysierte ausführlich den Einfluss des Sprachkreises und des kulturellen Hintergrundes der Bewerter einer Emotion [157].

Zu den 1967 entdeckten Tasaydas als gern benutztes Beispiel für im Urzustand leben - de Menschen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Dann kam heraus, dass es sich bei den T asaydas um 26 gedungene Statisten aus einigen Ubo-Dörfern in der Nahe handelte, die ein US-Paläolithiker ausstaffiert und der Minoritä­tenminister in eine Berghöhle gesteckt hatte, wo er sie bewachen ließ. Zwei dieser Bewa - cher wurden später, als T asaday verkleidet, nach Manila geflogen und US-Präsident Carter vorgeführt - die F ake-Steinzeitmenschen hatten zu viel Angst vor dem Fliegen ge­habt.

Eine fast gleichsinnige Kritik am Vorgehen von Ekman äußerte kürzlich Russel [159]: Schlecht kontrollierte Kontrollbedingungen in den Erstuntersuchungen zum Nachweis der Primäremo­tionen, suggestives Vorgehen durch Verwendung aufgesetzter Fotos[41], zunehmende Lern­effekte bei den Versuchspersonen durch das bestätigende Feedback der Versuchsleiter; primärer Bias durch Begrenzung der Auswahl auf die postulierten Primäremotionen[42].

Die Anwendung des FACS und der daraus folgenden diagnostischen Technologien auf amerikanischen Flugplätzen - Screening Passengers for Observational Techniques (SPOT) - erbrachte 2008 keinerlei verwertbare Ergebnisse.

Seiner Zusammenfassung, Ausdruck sei insgesamt nur ein sozial-kulturelles Konstrukt kann ich natürlich nicht folgen - hierbei würden die Convenien allen phylogenetisch älteren Ausdrucksformen übergestülpt werden.

Hervorhebenswert jedoch sind die EKMANschen Leistungen bei der Videoanalyse der menschlichen Mimik. Hierbei insbesondere die Beschreibung der willentlich nicht beein­flussbaren mimischen Primärreaktionen (Mikroexpressionen [56][43] ). Bei der Mikroemotionsanalyse wird die Tatsache ausgenutzt, dass die Wahrnehmung eines affektiven Reizes nach 160 ms nachweisbar ist, die Bewertung einer Wahrnehmung nach 200-250 ms vor - liegt und das subjektive Erleben einer Willensleistung erst 300 ms nach der motorischen Leistung einsetzt - in diesem Zeitfenster findet also die ungesteuerte, wirkliche, ursprüngli­che Ausdrucksleistung statt. Diese kann erst danach durch eine Zweckreaktion überformt werden.

Ein Beobachter kann erstere zwar nicht bewusst beschreiben, erlebt sie ober dennoch [va, wenn er dieselben Reaktlonstendenzen hot] [144].

Dass die Psychologia mendaciorum dabei letztendlich den gesellschaftlichen Auftrag übernahm, mit dieser Technologie einen neuartigen Lügendetektor zu entwickeln, dürfte in der allgemeinen Tendenz zur Psychologisierung sämtlicher sozialer Felder (hier der Ver - hörtechniken) liegen:

.. .ein Dispositiv, das die Geschichte weit umspannt, da es den alten Gestandniszwang mit

den Methoden des klinischen Abhorchens zusammenschaltet. [66],

denn

Dieser Bedeutungswandel von Säkularität hatte eine tiefgreifende Wirkung auf das öf­fentliche Leben. Auftritte in der Öffentlichkeit mussten trotz aller Verschleierung und Mysti - fikation ernst genommen werden, denn sie konnten Hinweise auf die Person hinter der Maske liefern.Jeder Auftritt eines Menschen war auf eine bestimmte Weise real, weil er greifbar war; und wenn dieser Auftritt eine Verschleierung darstellte, dann war es erst recht notwendig, ihn ernst zu nehmen Aus welchem Grund hätte man ihn von vornherein unbeachtet lassen oder aussondern sollen? Wenn sich eine Gesellschaft dem Grund­satz verschreibt, dass die Dinge aus sich heraus Bedeutung haben, so führt sie in ihren Wahrnehmungsapparat ein Element gründlichen Zweifels ein, dennjede Aussonderung

einer Wahrnehmung könnte sich später als F ehler erweisen. [164]

was sich gründet auf

In Paris sind echte Gefühle die Ausnahme; sie zerbrechen im Spiel der Interessen, werden im Räderwerk dieser Maschinenwelt zermalmt; die Tugend wird verleumdet, die Unschuld verschachert; die Leidenschaften haben verschwenderische Launen und dem Laster Platz gemacht; alles wird verfeinert und zergliedert, verkauft und gekauft. Es ist ein Basar, in dem alles seinen Preis hat, und die Berechnungen stellt man ohne Scheu am hellichten T ag an; nur zwei Arten von Menschen gibt es noch, Betrüger und Betrogene. ... Man sehnt den Tod der Großeltern herbei; der ehrliche Mann ist ein Dummkopf; Großzügigkeit ist ein Mittel zum Zweck; die Religion gilt als politisches Erfordernis; Ehrbarkeit wird zur Pose; alles wird ausgenutzt und umgesetzt; das Lächerliche wird zum Aushängeschild und öffnet alle Türen; derjunge Mensch ist hundertjahre alt und schmäht das Alter. Balzac,

was auch heute noch zutrifft:

Die jetzige Gesellschaft, welchen den einzelnen Menschen mit allen übrigen in Feind­schaft bringt, erzeugt auf diese Weise einen sozialen Krieg Aller gegen Alle, der notwen­digerweise bei einzelnen, namentlich Ungebildeten, eine brutale, barbarisch-gewaltsa­me Form annehmen muss - die Form des Verbrechens. Um sich gegen das Verbrechen, gegen die offene Gewalttat zu schützen, bedarf die Gesellschaft eines weitläufigen, verwickelten Organismus von Verwaltungs- und Gerichtsbehörden, der eine unendliche

Menge von Arbeitskräften in Anspruch nimmt. [192].

Die Psychologie des emotionalen Ausdrucks wird hier in den Dienst der Verhörtechnik ge - stellt und insbesondere die Mikroemotionsanalyse dazu in dramatisierenden Kriminalserien herausgestellt:

Erstens wird das immer mehr um sich greifende law-and-order-Getue nicht so sehr um seiner selbst willen ausgeheckt und aufgeführt, als vielmehr mit dem ausdrücklichen Ziel, vorgeführt und angeschaut, sehr genau angeschaut,ja, begierig angeschaut zu werden. Das Spektakel - im wahrsten Sinne des Wortes - hat absolute Priorität. Zu diesem Zweck muss die Verbrechensbekämpfung in Worten und T aten systematisch inszeniert, über­trieben, dramatisiert, ritualisiert werden. [192][44].

Es wird die Illusion erzeugt, es sei eine lückenlose und objektive Transkription eines Diskur - ses möglich, aber:

Eine Schwäche der gesprächsanalytischen Ansätze stellt die Zurückhaltung hinsichtlich theoretischer Systematisierung dar. Die Analysen zerfließen leicht im Partikulären, oder aber es wird vorschnell generalisiert; der Status der analysierten Phänomene wird kaum reflektiert (universal, einzelsprachlich, diskurstraditionell, individuell...) [104]

Die Ermittlung von Wahrheit und Lüge soll technologisch objektiviert werden, aber:

Wahrheit ist wesentlich Ausdruck von dialektischem Denken. Man kann sie einzig in der beständigen Kooperation der Subjekte, im Wechselspiel von Frage und Antwort ermitteln. Sie ist deshalb etwas anderes als ein empirisches Objekt; sie muss verstanden werden als

Resultat einer sozialen Handlung. [36]

Analysiert man eine Befragung als soziales Zusammentreffen (zumeist ja auf verschiede - nen Ebenen der gesellschaftlichen Macht) aus unserer Sicht der Phylogenese des Aus - drucksgebarens, löst sich das Geheimnisvolle des „mimischen Lügens” auf:

Der Befragte erlebt sich in einer evtl. für ihn gefährlichen oder auch nur bedrückenden sozialen Situation, auf welche er zunächst einmal mit einer Affektion reagieren wird - hier ergibt sich ein Mikroausdruck. Dann können Juditionen und Intentionen mit ihren Mikroaus­drücken nachfolgen. Letztendlich wird - es handelt sich um eine soziale Situation mit einem Machtgefälle - ein Manöver einsetzen, welche die soziale Beziehung steuern soll.

Die von der Psychologie mendaciorum unterstellte Eltern-Kind-Situation (Ich hab Dir doch beigebracht, mir stets die Wahrheit zu sagen), greift hier einfach zu kurz. Selbst eine be­wusste Lüge des Befragten beruht weniger auf einer psychologischen Beziehung, als auf einer sozialen Konstellation mit ihren zu erwartenden Auswirkungen. Letztere ist das Feld der Auseinandersetzung beider Protagonisten!

Befördert wurde die Frage der Täuschungen von Rosenthal [48], [204], [156] - mit dem kaum verblüffenden Ergebnis, dass Menschen zum Täuschen sowohl Mimik, Fonik und Ges­tik als auch die vermittelten Inhalte benutzen [73]... Nachvollziehbar ist sein Hinweis, dass es sich im sozialen Zusammenleben oft geradezu verbietet, Täuschungen zu entlarven. Über­gangen jedoch wird die wesentlich wichtigere Alltagsaufgabe, nicht Täuschungsversuche, sondern unbewusste Fehlurteile, -haltungen (Habitus, verfestigte Verhaltensweisen) und Irr- tümer (Manöver) des Kommunikators zu erkennen! Denn

Wir leben keine Normalbiografien mehr wie unsere Großeltern, wir haben Wahlbiografien, oder genauer „Bastelbiografien" Wir wählen aus einem immer größeren Sortiment an Lebensmöglichkeiten und wir müssen wählen. Wir sind gezwungen, uns selbst zu verwirkli­chen, weil wir ohne diese „Selbstverwirklichung" augenscheinlich gar nichts sind. Und uns verwirklichen heißt nichts anderes als auswählen aus Möglichkeiten. Wer keine Wahl hat, kann sich gar nicht selbst verwirklichen. Wer sich dagegen verwirklichen muss, kann auf die Wahl nicht verzichten. Und die wundervolle Chance „Sei du selbst!" ist zugleich eine finste­re Drohnung. Was ist, wenn mir das nicht gelingt? [150]

Der dahinter stehende soziale Auftrag wird noch einmal angesprochen werden. Heylen kri­tisiert denn auch, dass die Untersuchungen von Ekman und den Vertretern seiner Richtung kaum im natürlichen sozialen Kontext, sondern meist unter isolierten Laborbedingungen erfolgten [84]. Dasselbe bei Navarro [135], der sein gesamtes letztes Kapitel der Unmöglich­keit der Lügenentlarvung widmet - dies nach 40 Jahren ausschließlich darauf verwendeter Berufserfahrung - .. .leider gibt es keinen Pinocchio-Effekt, der einem sagt, wenn jemand lügt (M. G Frank)! Wenn also jemand es wirklich gelernt hat, Manöver perfekt einzusetzen, ist dem nichts entgegen zu setzen.

Auch Leonhard fragte sich, ob wir mimische Ausdrücke aus anderen Kulturen verstünden (er prüfte, ob sich ein japanischer Film einem europäischen Beobachter emphatisch erschließt) - und bejahte diese Frage (wobei er als trainierter Psychiater zunächst seine eigene Versuchsperson war). Die Alltagserfahrung gibt ihm dabei Recht. Dann prüfte er experimentell, ob er durch verbale Beschreibungen Versuchspersonen (aus seinem Kultur - kreis) dazu bringen konnte, einen gewünschten Ausdruck lebensecht zu produzieren - was überzufällig oft gelang. Auch hier finden wir uns durch die Alltagserfahrung bestätigt.

[...]


[1] Dasselbe ergab sich bei der Entwicklung der iPad-Version: sozial unbeholfene Marktteilnehmer ohne echten Hintergrund und Kultur der Kooperation - aber einem ökonomischen Habitus (Bourdieu), der sich als besondere Cleverness erlebt.

[2] welche erklären, weshalb homologe Gebärden so stark differierende Bedeutungen haben können und weshalb sich dies im Laufe der Zeit so stark unterscheiden kann - also im Fluss ist.

[3] im Bereich der Sprache: Schreiben im Duktus der Mündlichkeit Koch & Oesterreicher [105].

[4] im Bereich der gesprochenen Sprache dasselbe - die [Diglossie] der Soziolinguistik. Auch: Sprechen im Duktus der Schriftlichkeit [105].

[5] mimische Veränderungen im Rahmen psychotischer Erkrankungen

[6] die Gesamtheit der emotional untermauerten Bewegungsweisen.

[7] seine Ausdruckssprache der Seele von 1949 habe ich bislang nicht finden können.

[8] die anderen - meist fragwürdig gestellten - Beispiele in den Galerien sind aus [169].

[9] Man lese Stanislawski in Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst [215]: Er beginnt die Kritik des Theaters vor ihm damit, dass dieses eine definiertes Set an Basisausdrücken entwickelt hatte - worin eben gerade sei­ne Begrenztheit besteht (Theatralische Mimikry [133]). Wie man im frühen Stummfilm oder im klassischen Ballett oder der Oper mit ihrer monotonen Theatralik immer noch finden kann (und wie sie im Kinderfilm und den Comics beibehalten wird, dies nun allerdings zum Vergüngen des Publikums). Derzeit kann man dies beobachten, wenn ein Naturtalent vom Geschäft eingeholt und auf den Marktgeschmack ausge - richtet wird . Die PR-Arbeit der Spin-Doktoren besteht gerade darin.

[10] auch meine Lehrer hatten jeden neuen Diskurs mit der Etymologie des Objekts begonnen, auf der Webseite versuchte ich dies aus der Gewohnheit heraus auch - und muss jedoch Foucault zustimmen!

[11] eine Beobachtung bezeichnet etwas, indem sie es unterscheidet. Sie produziert mit dem, was sie bezeichnet, zugleich einen unmarkierten Bereich. Der nicht intentional oder thematisch erfasst (be­zeichnet), aber als Welt-im-Übrigen vorausgesetzt ist [120]. Während die Methode dieses nicht er­fassten Bereich erträgt, zulässt und für weitere Untersuchungen offen lässt, möchte das System ihn von vornherein minimieren,möglichst ganz beseitigen: ... dass die Ontologie und die ihr zugeordnete zwei - wertige Logik den Begriff der Welt limitiert. Welt kann nicht als Hintergrundunbestimmtheit (weder Sein noch Nichtsein), sondern nur auf der Ebene designationsfähiger Objekte, als Objektmenge oder als Objektgesamtheit bezeichnet werden. Sie ist so, wie sie ist; man kann sich nur in den Bezeichnungen irren und muss diese dann korrigieren [120].

s. S. 10 Diese ist damit von den Diagnostiker auf die Versicherungen übergegangen.

[13] Formeln zum Beschreiben von Phänomenen werden verwechselt mit den Kräften, welche diese Phä­nomene hervorbringen [36] - die Dinge der Logik werden verwechselt mit der Logik der Dinge [30].

[14] 1921 haften E.L. & R.P. Benedict noch Hunger, Liebe, Hass, Furcht, Hoffnung und Ambitionen als Basis menschlichen Erlebens angegeben. Daraus folgten menschliche Typen: der alimentive Typ (the Enjoy- er), der thorakale T yp (Thriller), der muskuläre T yp (Worker), der knöcherne Typ (Stayer), der zerebrale T yp (Thinker); es folgen Ratschlage über das optimale Heiratsverhalten und geschäftliche Aktivitäten [14]. All dies geht deutlich von einer optimalen Einpassung in die damalige amerikanische Lebensweise aus, wie sie auch heute noch von der Pop-Psychologie propagiert wird.

[15] genau genommen handelte es sich um Zweckbewegungen der Versuchspersonen, um den Autoren einen Gefallen zu tun - s. die Aufnahmen bei [169].

[16] gleichschwebende Aufmerksamkeit: Vermeiden einer präkonstruierten Befangenheit, einer eigenen Investition in den Untersuchungsvorgang und Erreichen einer objektiven Objektivierung [28]. Es verbleibt die Wirksamkeit des vorher erworbenen Vermögens zum Entschlüsseln des Wahrgenommenen [26].

[17] homolog der kategorialen Anschauung Husserls.

[18] aktuell s. Heylen [84], auch die Körperschleife bei Damasio, die externale Verhaltenskontrolle bei Bem, die Kontrolle der sozialen Situation bei Schächter & Singer, das Feedback der Gesichtsmuskulatur bei Tomkins und Foroni [62]. 1907 hatte Waynbaum diese T atsache über die Verschränkung der Aa. car. int. & ext er­klärt [137] - was bei den Gesten und Fonen natürlich nicht weiter hilft.

[19] Demut: man wird hinnehmen, was ein höher Stehender einem zuteilt.

[20] der Mörder ist immer der Gärtner.

[21] welche zudem im letztenjahrhundert als unwissenschaftlich denunziert wurde, da sie keine objekti­vierbaren Datenmassive liefert. Dabei wird sie täglich gebraucht, trainiert und hat einen mittlerweile gut dokumentierten neurophysiologischen und -psychologischen Hintergrund [61]: Bewusst oder un- s.S. 15 s. S. 14 bewusst misst man den Stand einer Disziplin oft an einem evolutionistischen Modell; [Auguste Comtes] berühmt-berüchtigte T afel der Rangordnung der Wissenschaften spukt immer noch wie eine Art ideel­ler Hitparade in unseren Köpfen herum, und die so genannten exakten Wissenschaften werden immer noch als der Maßstab angesehen, an dem die so genannten nicht-exakten Wissenschaften sich mes­sen müssen ... Die amerikanische Orthodoxie der fünfzigerJahre hat sich über einen stillschweigenden Kuhhandel organisiert: Der Eine liefert die „große Theorie", der Andere die „Multivarianzstatistik" und der Dritte die „Theorie mittlerer Reichweite" - schon haben Sie die kapitolinische Trias des neuen akademi­schen Tempels. Bourdieu

[22]... weiter verbreitet als im soziologischen Feld Amerikas, wo die (positivistischen) Kanons der wissen - schaftlichen Zensur zu einer weitgehenden Unterdrückung der Selbstreflexion und der angeblich stär­ker „literarischen" Formen der wissenschaftlichen Darstellung geführt haben. [30].

[23] Da man die Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand benutzen muss, um Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden zu können, kann man nicht zugleich auch die Einheit dieser Unterschei­dung reflektieren. [120]. Freud hatte seinerzeit Introspektion freigiebig benutzt, seinen Nachfolgern aber verboten - sie hatten Lehranalysen zu durchlaufen.

[24] bei der F ülle des von ihm gebotenen Ausgangsmaterials habe ich nur in die nötigsten Fälle als Zitat gekennzeichnet.

[25] der allerdings nicht tragfähig ist - die mimische Muskulatur zeigt große Varianzen

[26] Varietékünstler sehen dies ganz anders [82]

[27] ein Ansatz, der auch im DSM übernommen wurde - man unterlässt, was schwierig zu trennen ist

[28] mit den immer neuen Versuchen, einen Lügendetektor zu schaffen - vom Polygrafen über die Phallo- grafie bis eben zum Hochgeschwindigkeitsfilm. Auch Morris [133] widmet sich den größten Teil seines Bu­ches diesem Thema, ohne eine Begründung für seine Ergriffenheit zu nennen.

[29].wenn es denn auf Präsentation ankommt, muss eine paradoxe Kommunikation vermieden werden. Nur die Rhetorik und vor allem die Poesie können sich noch der Paradoxie annehmen; und das geschieht nun speziell mit dem Hintergrundgedanken, mit Gattungsabstraktionen zu täuschen und die T äuschung zu entlarven und dadurch die gesamte Generalisierungstechnik der Theologen und Philosophen in Fra­ge zu stellen. Aber diese Abseitsstellung des Paradoxierens kann auch so verstanden werden, als ob die Angelegenheit mit dem Durchschauen erledigt sei. [120]

[30] [113] nennt daher bei den Gemeinschaftsinstinkten (sic) auch den Rechtsinstinkt mit dem Gefühl der Em­pörung (sic).

[31] Eine ihrer Wurzeln sind auch Omnipotenzfantasien der Autoren: Die Adepten wirken als Träger be - sonderen, fast geheimen Wissens, welche nicht so einfach erworben werden könne; sie durchschauen alles undjeden und sind darüber hinaus Verteidiger des Wahren. Im Unterschied zur Inquisition foltern sie aber nicht mehr, was sie weiterhin überhöht.

[32] Ein zivilisierter Mensch ... istjemand, der etwas Befriedigenderes entdeckt hat als den Kampf [98]

[33] Navarro [135] grenzt sich ebenfalls ab: Dabei ist festzustellen, dass die Authentizität von nonverbalen Signalen grundsätzlich - von unten nach oben blickend - abnimmt. Bedauerlicherweise haben die Lehr­bücher der Strafverfolgungsbehörden in den letzten 60Jahren (einschließlich einiger aktueller Arbei­ten) immer das Gesicht in den Mittelpunkt gestellt, wenn es darum ging, in Gesprächssituationen das Verhalten von Menschen zu interpretieren. Er selbst beschränkt sich auf Aussagen zu Spannung/Entspannung und Nähe/Distanz und deren Dyna­mik

[34] NasherJ .: Durchschaut. Das Geheimnis, kleine und grosse Lügen zu entlarven. Heyne. 2010, iBooks.

[35] wie man auch an der derzeit aufgeblasenen Darstellung der Sexualdeliquenz erkennt, suchen sich gewisse Untersucher bevorzugt Objekte aus, die sich auf Grund ihrer Position im sozialen Feld im Diskurs nicht wehren können. Die Untersucher realisieren damit eine moralische Volkspädagogik (religiöse Volkspädagogik in einer historischen Beschreibung bei Luhmann [120]).

[36] in der analytischen Psychotherapie geht es in der Beziehungsklärung eben gerade darum, die so­ziale Distanz zwischen Therapeut und Klient zu minimieren.

[37] Klassifikationssysteme sind weniger Erkenntnis- als Machtinstrumente, sozialen Funktionen unterwor­fen und mehr oder weniger offen auf die Erfüllung spezifischer Gruppeninteressen hin ausgerichtet. Bourdieu 1982.

[38] Eine andere Art, Wissenschaft zu mimen, besteht darin, eine akademische Machtposition zu beset­zen, die es einem erlaubt, die anderen Positionen zu kontrollieren, die Studienpläne, die Berufungsvor­aussetzungen usw., kurz, die akademischen Reproduktionsmechanismen, und eine Orthodoxie durch­zusetzen. ... In einem echten wissenschaftlichen Feld kann man frei in freie Diskussionen eintreten und sich heftigst mit jedem beliebigen Kontrahenten mit den Waffen der Wissenschaft streiten, weil die Stelle, die man hat, nicht von ihm abhängt, oder weil man woanders eine andere Stelle bekommen kann. Bourdieu. Es wird spannend, ob die entstandene Emotionsindustrie demnächst versuchen wird, die „Basisemotio­nen" u/o die EKMANsche Terminologie zu patentieren. E.U.

[39] Dagegen Horizontales Wissen (Forschung): Ein horizontaler Diskurs führt zu einem Set an Strategien, welche lokal, segmental organisiert, kontextspezifisch und abhängig sind, um Begegnungen zwischen Personen und Lebensräumen zu maximieren. Entwicklung ist hierbei die Erstellung einer neuen Fach - sprache... [17]

[40] die doppelte Hermeneutik der Sozialwissenschaften bei Gidden [122].

[41] die Erkennungsrate fällt von 84% bei gestellten Fotos auf 31% bei nicht gestellten Schnappschüssen, die Rate ist bei den Primäremotionen insgesamt kleiner als 50% bei Personen aus nicht europäischen Kulturkreisen.

[42] die eigenständige Antworten der Versuchspersonen aus der Südsee weisen erkennbar darüber hinaus.

[43] shortfall signals bei Morris [133]: Ausdrucksgebaren, dass nicht die übliche Intensität / Dauer erreicht, da es überspielt werden soll (Soziale Mimiky). Ansonsten Erstbeschreibung durch Condon sowie s.S. 30 s. S. 29 Haggard & Isaacs [1966], nach Ekman erneut Gottmann [2002].

[44] der zweite Mechanismus ist das Aufblasen des Borderline-Begriffs; auch in meiner Praxis laufen im - mer öfter Fälle auf, in denen Behörden diese „Diagnose" stellen und vorbei an jeglicher Gesetzgebung „Therapie" anordnen, andernfalls droht Entzug der Leistungen des sozialen Netzes.

Ende der Leseprobe aus 644 Seiten

Details

Titel
Der menschliche Ausdruck in Mienen, Gesten, Fonen und Manövern
Veranstaltung
keine
Autor
Jahr
2011
Seiten
644
Katalognummer
V175193
ISBN (eBook)
9783640961436
ISBN (Buch)
9783640961726
Dateigröße
83186 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Mimik, Gestik, Fonik, Gebärden, Manöver, Lügen
Arbeit zitieren
Dr. med. Eckhard Umann (Autor:in), 2011, Der menschliche Ausdruck in Mienen, Gesten, Fonen und Manövern, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/175193

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