Eine 'vulnerable family' in Wien zur Zeit des Nationalsozialismus


Seminararbeit, 2001

19 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Das Interview
„Das hat mich zuinnerst empört“
Zweimal das gleiche Motiv
„Dort bin ich, dort bleibe ich“
Überwintern
„dass das nicht in Frage kommt, und dass ich so was nicht mach’“
Kompromisslosigkeit und Kompromisse
„Mein Vater hat sie nie aus den Augen gelassen“
Eine „vulnerable family“
„für uns war’s wie ein Gerücht über die Konzentrationslager“
Zwischen Nichtwissen und Wissen
„Ich habe nie verstanden, dass man nicht das österreichische Heer
in Bewegung bringt“
Ein ungenütztes Widerstandspotential?
„Uns hat es nicht gestört, denn es war ja unsere Richtung“
Der österreichische „Ständestaat“ / „Austrofaschismus“
„alle haben gewusst, wer wer ist“
Die eigene Gruppe und die anderen
„Da hab’ ich gewusst, jetzt muss ich in die Pfarrgruppe gehen“
Brüche
„Ich fahr’ bestimmt nicht mit mit dem Schiff“
Das Fremde für mich

2. Weitere Überlegungen
1. Ein „Widerspruchspotential gegenüber verkürzten Generalisierungen“?
2. „Gewaltfreie Kommunikation“?
3. Sprache und Stil
4. Das Interview als Prozess

Bibliographie

1. Das Interview

Auf den ersten Blick erscheint die private Lebensgeschichte von Frau F. L. so konstant, wie man es heute wohl nur mehr selten findet. Die alte Dame hat ihr ganzes Leben nicht nur am gleichen Ort, sondern auch in derselben Wohnung verbracht. 1921 in Wien geboren, hat sie hier die Erste Republik, den „Ständestaat Österreich“, die Zeit des Nationalsozialismus mit dem Zweiten Weltkrieg und mehr als ein halbes Jahrhundert der Zweiten Republik erlebt. Nach der Matura absolvierte sie eine Ausbildung zur Bibliothekarin und blieb in diesem Beruf bis zu ihrer Pensionierung. Sie stammt aus einer katholischen Familie und ist auch heute noch in einer katholischen Bewegung tätig (die ich als sehr aufgeschlossen und bewusst kritisch charakterisieren würde). Von dorther kenne ich sie auch seit langem. Dem Nationalsozialismus stand Frau F. L. äußerst ablehnend gegenüber.

„Das hat mich zuinnerst empört“
Zweimal das gleiche Motiv

Zu diesem Interview habe ich F. gebeten, weil mich interessiert hat, wie in ihrem damaligen Milieu die Zeit des Nationalsozialismus erlebt wurde. Äußerst interessiert und bereitwillig sitzt mir meine fast 80jährige Bekannte gegenüber; es ist ihr offensichtlich ein Anliegen, ihre Sicht der Dinge darzustellen. Vor die Wahl gestellt, wo sie anfangen will, beginnt sie ihre Schilderung in den 30er Jahren und erzählt sehr bald von einem Ereignis, das ihr im Rückblick als eine Art politisches Schlüsselerlebnis erscheint:

„.. Richtig angefangen so nachzudenken über diese Dinge habe ich dann in der Mittelschule, das wird etwa 1935 gewesen sein, wo mich ein Zeichenprofessor aufgefordert hat, das war unser Klassenvorstand damals, und ich war sehr schlecht im Zeichnen, und da hat er mich natürlich ( ...) können – weil er mich aufgefordert hat, ihm mitzuteilen, aufzupassen, mitzuteilen, wer von den Mitschülerinnen ein Hakenkreuz trägt. Das hat mich zuinnerst empört, natürlich. Ich habe natürlich nie etwas gesagt...“

Viel später im Gespräch taucht dieses Motiv der „Aufforderung zum Bespitzeln“ noch einmal auf. F. erzählt, dass „der Mann, den sie gerne zum Mann gehabt hätte“ einrücken musste und dann als vermisst gemeldet wurde. Er sei bei der Armee des General Paulus gewesen, „der die Armee in die Gefangenschaft geführt hat“.[1] 1945 sei er mit dem ersten Flugzeug aus Russland zurückgekehrt und bald habe sie dann erkannt, dass „etwas passiert“ sein musste. F. glaubt, diese Bevorzugung bei der Entlassung aus der Gefangenschaft sei vermutlich mit einer Art Spionageauftrag verbunden gewesen. Nach der anfänglichen Freude über die Rückkehr – und nachdem der Mann seltsam abweisend gewesen sei – wurde die Verbindung abgebrochen. F. erzählt auch, später noch habe ihre Mutter, die bereits an starker Demenz erkrankt war, aber offensichtlich unter dem Scheitern dieser Beziehung ihrer Tochter litt, dem Betreffenden unzählige Briefe geschrieben, die nur aus wirrem Gekritzel bestanden. F. erfuhr davon, weil der Betreffende Kontakt mit ihrem Vater aufnahm und ihm Stöße von Briefen übergab. F. hat nie geheiratet. Der nach außen hin so konstante Lebenslauf und die im Gegensatz dazu äußerst folgenschweren politischen Ereignisse verknüpfen sich bei näherer Betrachtung zu einem Knoten.

Ohne dass es ausgesprochen wird, scheinen die beiden geschilderten Ereignisse zusammenzuhängen. Die Tatsache, dass F. selbst der Aufforderung, jemanden zu bespitzeln – auch wenn es die politischen Feinde waren - nicht nachkam, obwohl sie sich davon hätte einen Vorteil erwarten können, rechtfertigt und erklärt den Bruch der Beziehung.[2] Damit stellt F. L. in gewisser Weise eine „Konsistenz“ ihres Lebenslaufs her, da in diesem Punkt „Konstanz“ oder „Kontinuität“ nicht zu erreichen sind.[3]

„Dort bin ich, dort bleibe ich“
Überwintern

Im Laufe des Gesprächs zeigt sich, dass Bibliothekarin gar nicht der erste Berufswunsch war. Frau F. L. erzählt, dass sie zuerst Lehrerin werden wollte, sie wurde aber 1939 nach der Auf-nahmsprüfung mit der Begründung abgewiesen, sie hätte in Musik nicht entsprochen. Ihrer Umgebung sei diese Begründung sehr unglaubwürdig erschienen. Später habe sie dann durch einen Freund ihres Vaters erfahren, in ihrem persönlich Akt stehe: „politisch nicht einwandfrei“. Sie führt dies auf eine Begebenheit zurück, in der sie der BDM-Führerin gegenüber darauf bestand, am Sonntag die Messe zu besuchen.

Nach der Ablehnung machte Frau F. L. in der Österreichischen Nationalbibliothek, wo es ihr gefällt, eine Ausbildung zur Bibliothekarin. Bei deren Abschluss brach unter den Kursteilnehmerinnen Panik wegen eines drohenden Einsatzes in Berlin oder in den besetzten Gebieten aus.[4] Der Generaldirektor der Nationalbank ließ sie rufen und versprach den jungen Mädchen, ihnen einen Posten in einer hiesigen Bibliothek zu verschaffen, unter der Voraussetzung, dass er alle Noten um einen Grad heruntersetzte, um die Qualifizierung der Absolventinnen weniger attraktiv erscheinen zu lassen. F. L. bot er einen Posten in einer winzigen Bibliothek in Wien an, die zu einer als kriegswichtig eingestuften Behörde, der sogenannten „Wasserstraßendirektion“, gehörte.

Eine der Fragen, die mich beschäftigte, und die ich im Laufe des Gespräches auch an F. L. stelle, war die, ob sie und ihre Umgebung von Anfang an der Meinung gewesen seien, der Nationalsozialismus würde sich nicht lange halten können. Frau F. L. antwortet darauf: „Zuerst haben wir es gehofft und dann haben wir es gewusst.“ Die Geschichte ihres ersten Po-stens als Bibliothekarin wirft ein Licht darauf:

„Und dann hat er (der Generaldirektor) uns rufen lassen und hat mir angeboten eine kleine Bibliothek, ich soll gehen und schauen (lacht), das ist eine kleine Bibliothek, eine Behördenbibliothek, die schon seit einem halben Jahr eine Bibliothekarin anfordert und noch keine bekommen hat. Hat geheißen ‚Wasserstraßendirektion’, und ich habe bei mir gedacht: dort bin ich, dort bleibe ich, das weiß ich jetzt schon, die Bibliothek kann ausschauen, wie sie will, das ist mir ganz egal, dort verbring’ ich meine weiteren Jahre. Ich bin hingegangen, das war eine..., eine..., Wasserstraßendirektion hat sie geheißen, das war die Schifffahrtsverwaltung der Donau, dann war noch von einem Elbekanal – von einem Donau-Elbe-Kanal – die Rede und so weiter und so weiter. Die ganze Bibliothek hat etwa, wenn’s viel waren, sechs- bis achttausend Bände gehabt. Und ich hab’ dort meine Jahre verbracht in der Bibliothek, bis es dann wieder aus war, ja.

Auch wenn die berufliche Mobilität in der Mitte des Jahrhunderts noch viel geringer war als heute, so wäre doch eine solche Einstellung – die mir nicht als nachträgliche Rationalisierung erscheint, vor allem wegen der Lebendigkeit der Schilderung – bei einem jungen Menschen ohne Berücksichtigung des Kontexts sehr ungewöhnlich. Verständlich wird sie aus der Haltung des „Überwinterns“, des Durchhaltens unter Bewahrung der inneren Einstellung, wie sie in katholischen Kreisen nicht ungewöhnlich gewesen sein dürfte.[5]

„dass das nicht in Frage kommt, und dass ich so was nicht mach’“
Kompromisslosigkeit und Kompromisse

Politisch habe es in ihrer Klasse zwei Gruppen gegeben, sagt Frau F. L.; man habe genau ge-wusst, wer wohin tendierte. Die eigene Gruppe charakterisiert sie als die „Katholischen“, die „österreichisch Eingestellten“, die „Schwarzen“, in scharfer Abgrenzung zu den Nationalso-zialisten. Den Unterschied sieht sie im „Glaubensmäßigen“.

Ausdruck findet dieser Unterschied vor allem in der Kompromisslosigkeit, wenn es um die Vorschriften der katholischen Kirche geht, z. B. den sonntäglichen Messbesuch oder kirchliche Moralvorstellungen.[6] Dies scheint nicht nur für die Aufrechterhaltung eines Gruppengefühls wichtig. Es ist auch der Ort, wo sie sich wehren zu müssen glaubt. Frau F. L. riskiert dafür auch Nachteile. Die BDM-Führerin, der sie den Messbesuch abtrotzte, habe sie nachher „zur Sau gemacht“, erzählt sie, und führt auch die Ablehnung bei der Aufnahmsprüfung auf diese Begebenheit zurück.

Den Gruppenzusammenhalt – diesmal ohne besonderes Risiko, außer jenem, eventuell verspottet zu werden – zeigt eine andere Geschichte. Bei einer Schulaufführung sollte F. in einer Bekleidung auftreten, die sie als ungehörig empfand:

„Sie haben z. B. von mir haben wollen, und das war mehr das Glaubensmäßige, damals ja... Und da wollten sie von mir, dass ich einen roten Badeanzug anziehe unten, und drüber nur so ein Flitterkleidchen, ja. Na, und ich habe mich natürlich gleich gewehrt, das war ja damals undenkbar so was, eine Achtzehnjährige, Siebzehnjährige, so auf die Bühne zu gehen. Na, und meine..., und die .., die Katholischen, sage ich, oder die Schwarzen, haben sich gleich um mich geschart und da haben wir heftigst gestritten, auf meiner Seite, dass das nicht in Frage kommt, und dass ich so was nicht mach’ und dass ich so nicht auf die Bühne gehe dorthin, ja. Na so, weißt du, das war schon so, Gruppen waren es schon, ja.“

Später, in der Bibliothek, hielt dann F. L. antireligiöse Literatur unter einem Vorwand zurück und lieh sie nicht an die Interessenten aus.

Bei der Mitgliedschaft beim BDM macht F. L. – oder ihr Vater – eher Kompromisse. Man „sollte dort natürlich sein“ und sei „halt hingegangen und hat sich das angehört“. Als Erwachsene wehrt sich F. L. aber dann entschieden gegen den Beitritt zur NS-Frauenschaft. In bezug auf den BDM äußert sich die Abwehr eher in Tricks zur Umgehung von Vorschriften oder in abfälligen Bemerkungen im eigenen Kreis. F.s um vier Jahre jüngere Schwester wendet dieselbe Taktik in bezug auf ideologische Anforderungen in der Schule an: sie mokiert sich zu Hause über die „Sprüche“ der Lehrerin; sie schreibt zwar auf Aufforderung an einen Soldaten, nimmt aber die Sache nicht ernst.

Scharf beobachtet wurden die Lehrer, insbesondere ihre Haltung unmittelbar nach dem „An-schluss“. Manche hätten sich „ganz schäbig“ benommen; von einer älteren Lehrerin, die sich mit der Begründung, sie müsse das neue System erst prüfen, weigert, mit „Heil Hitler“ zu grüßen, spricht F. mit großer Bewunderung.

Wo das ideologische Konzept des Nationalsozialismus jedoch mit der eigenen Auffassung übereinzustimmen scheint, vollzieht F. L. keine Abgrenzung:

„Damals ist ja Gemeinschaft ungeheuer hoch gehalten worden. Wir haben z. B. ein Thema in Deutsch gehabt: ‚Mein Weg in die Gemeinschaft’, das war ein Thema, und zwei andere, und ich habe das gewählt, weil ich das sehr gerne gehabt habe und viel schreiben habe können drüber, weil mich also Gemeinschaft immer sehr fasziniert hat, das hat mir immer Spaß gemacht.“

Über Unterschiede zwischen dem Gemeinschaftsbegriff des Nationalsozialismus und dem eigenen ist hier keine Reflexion ersichtlich.

Wiederholt bringt F. ihre Erfahrung zum Ausdruck, im Laufe der Zeit sei „das Politische“ immer mehr in den Hintergrund getreten. Die Ursache dafür sieht sie einerseits in ihrem Eintritt in das Berufsleben und damit auch in eine Altersstufe, die für die Nationalsozialisten nicht mehr so interessant war wie die Jugend. Andererseits sei man gegen Ende des Krieges sehr mit den täglichen Sorgen und Ängsten beschäftigt gewesen. Was F. meiner Ansicht nach mit dem „Politischen“ meint, dürfte die Präsenz des ideologischen Drucks bzw. unterschwelliger ideologischer Differenzen im Alltagsleben sein. Die „Volkswut“ sei zur Zeit der Bombardements schon sehr gestiegen gewesen, äußert sie einmal. Ich bin dieser Frage nach der „Abflachung des Politischen“ leider im Interview nicht weiter nachgegangen.

„Mein Vater hat sie nie aus den Augen gelassen“
Eine „vulnerable family“

Nur – du weißt ja, meine Schwester, die war ja schwer körperbehindert. Und da hat mein Vater immer Angst gehabt, dass sie unter die... – nicht lebensfähiges? Wie hat das damals geheißen? Nicht lebenswertes Leben, fällt, und dass da irgend etwas passiert... Mein Vater hat sie nie aus den Augen gelassen...

Bemerkenswert ist, an welcher Stelle im Gespräch F. L. – scheinbar unvermittelt – diese Aussage macht. Ich habe sie vorher nach Jüdinnen in ihrer Klasse gefragt. F. antwortet: ja, es habe Jüdinnen in ihrer Klasse gegeben, man habe ihnen gesagt, sie kämen in eine eigene Schule zusammen, dann hätten sie nie mehr etwas von ihnen gehört. Vor einigen Jahren sei aber eine von ihnen, die jetzt in Amerika lebt, zweimal in Wien gewesen und habe Kontakt mit den früheren Klassenkameradinnen gesucht, sie wolle „wissen, wie’s da ist und wie’s da war.“ Eine andere käme aus England immer wieder zu den Klassentreffen. Von anderen aber habe sie nie wieder etwas gehört. Ich frage F. L., ob die Mädchen „das mit der eigenen Schule“ geglaubt hätten. Es kommt zu einem Dialog:

F: „Ja, wir haben das geglaubt, sie werden halt dort separat unterrichtet, das haben wir natürlich schon angenommen. Es war ja, dieses ganze..., wie soll ich sagen, damals, für uns war’s wie ein Gerücht über die Konzentrationslager... Wir haben natürlich gesehen, was man sehen konnte, auf der Straße, ja. Mehr haben wir ...

I: Was habt ihr auf der Straße gesehen?

F: Na ja, dass sie Boden reiben mussten und diese...

I: Das hat man gesehen?

F: Ja, das hat man schon gesehen, ja. Und angezündet haben sie da das Bethaus in der Hubergasse, und eingeschlagene Fenster, eingeschlagen und so weiter. Und randalierend durch Wien gezogen sind und so weiter. Das hat man natürlich schon mitgekriegt.

I: Ja.

Unmittelbar darauf macht F. L. die zu Beginn dieses Kapitels angeführte Aussage.

In welchem Zusammenhang die beiden Themen für Frau F. L. stehen, spricht sie nicht deutlich aus. Die Hauptbedeutung soll wohl die sein: Die Angst vor Folgen für die jüngere Schwe-ster ist ein oder der Grund dafür, dass die Familie nicht besser informiert war. An anderer Stelle sagt F. L., ihr Vater habe sich aus Angst um die Tochter nicht getraut, einen Radioapparat zum „Schwarzhören“ zu besitzen, man war auf das angewiesen, was andere erzählten. Aber es könnten auch andere Bedeutungen mitschwingen, z. B., dass die Familie auch in ihren Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt war und es noch schwieriger war, für Unterdrückte einzutreten. Einmal äußert Frau F. L., sie danke Gott, dass sie nicht in die konkrete Situation gekommen ist, vor der Frage zu stehen, ob sie jemanden verstecken solle:

„... dass sie haben fliehen können oder so irgend etwas zu essen gebracht haben oder zu essen gegeben haben oder so. Aber das waren mutige Leute, weil jemand zu verstecken oder..., das war das eigene Todesurteil. Ich danke Gott, dass ich in die Situation nicht gekommen bin, nicht.“

Ein dritter Zusammenhang wäre der, dass die Familie – in ähnlicher, wenn auch nicht in gleicher Weise wie die jüdischen Mitbürger – selbst gefährdet war – was ich hier mit „vulnerable“ bezeichne. Diese Befürchtungen waren wohl nicht ganz unbegründet und das Bemühen, nicht zu sehr aufzufallen, ist zu verstehen. F. L. berichtet auch von der Drohung eines Briefträgers, er würde den Vater „bei der Partei anzeigen“, wenn er nicht mit „Heil Hitler“ grüße, was die Familie offensichtlich beunruhigte.

„für uns war’s wie ein Gerücht über die Konzentrationslager“
Zwischen Nichtwissen und Wissen

Zweimal im Laufe des Interviews kommt das Gespräch auf die Konzentrationslager. Beim zweiten Mal, als ich davon anfange – F. hat gerade erzählt, man habe sich auch vor Freunden kaum offen zu sprechen getraut, und ich habe gefragt: „Und vom KZ und so?“ antwortet sie:

„Du, ich hab’ vom KZ nichts gewusst und mein Vater hat auch nichts gewusst vom KZ. Das glaubt einem heute niemand mehr, aber es war so. Wahrscheinlich, ich hab’ mir das eh’ schon überlegt, wahrscheinlich war das deshalb, weil mein Vater geschaut hat, dass wir ab..., wie soll ich sagen, einen Auslandsender haben wir nicht gehört, daher haben wir’s in dem Fall nicht gehört. Das kleine Kastel hat uns das natürlich nicht gesagt. Zeitung hat’s damals, die haben ja das natürlich auch nicht geschrieben, nicht. Also ich mein’, dass sie die Juden drangsaliert haben, haben wir gewusst, weil sie das in der Stadt gemacht haben, weil sie ihnen die Geschäfte weggenommen haben, das haben wir gewusst, ja. Und wir haben gehofft, dass recht viele weggekommen sind, und meine Freundinnen (...), aber echt nicht, echt nicht.“

In diesem Zusammenhang konnte ich wohl keine andere Antwort bekommen als „wir haben nichts davon gewusst“. Im Rückblick bin ich der Meinung, dass die Frage nach dem „Wissen“ in dieser globalen Form keine gute Frage ist. Sie lässt das breite Spektrum unberücksichtigt, das von „keine Ahnung haben“ am einen Ende über alle Zwischentöne wie ahnen, fürchten, hoffen, dass etwas nicht wahr ist, zweifeln usw. bis zu „eindeutig wissen“ am anderen Ende reicht. Etwas zu wissen und es zu verdrängen ist nur eine von verschiedenen Möglichkeiten.

[...]


[1] Vgl. Ch. Zentner, 1995, S.424-425

[2] vgl. M. Kohli, 1980, S.507

[3] vgl. a.a.O., S.513-514

[4] Die „Dienstverpflichtung“ wurde in der „Ostmark“ wesentlich strenger gehandhabt als im „Altreich“ – vgl. M. Pichler, 1988, S.79

[5] So berichtet z. B. E. Seidl, 1998, S.157, von der Oberin einer weltlichen Schwesternschaft in Wien, die Stoffballen für die ursprüngliche Schwesterntracht versteckt hatte, um sie „nachher“ wieder bei der Hand zu haben. – Dem einzelnen Gläubigen kann man diese Haltung wohl nicht vorwerfen. Dass jedoch auch die offizielle Kirche im allgemeinen glaubte, damit genug zu tun, und dies auch noch nach 1945 verteidigte (vgl. z. B. K. Rudolf, 1947, S.11-12, oder J. Fried, 1947, S.7-8), ist erschreckend.

[6] Vgl. den Abschnitt „Milieukatholische Resistenz“, W. Saurer, 1988, S.532-533, der sich allerdings auf den ländlichen Raum bezieht.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Eine 'vulnerable family' in Wien zur Zeit des Nationalsozialismus
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Geschichte)
Veranstaltung
Autobiographien und Oral History im 20. Jahrhundert
Note
1
Autor
Jahr
2001
Seiten
19
Katalognummer
V17781
ISBN (eBook)
9783638222655
ISBN (Buch)
9783638801782
Dateigröße
529 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Dichter Text - einzeiliger Zeilenabstand. Entspricht 27 Seiten bei normaler Formatierung.
Schlagworte
Eine, Wien, Zeit, Nationalsozialismus, Autobiographien, Oral, History, Jahrhundert
Arbeit zitieren
Ilsemarie Walter (Autor:in), 2001, Eine 'vulnerable family' in Wien zur Zeit des Nationalsozialismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17781

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