Leseprobe
INHALTSVERZEICHIS
1. Einleitung
2. Was ist Suizid? - Eine Definition
3. Suizid und Schule
3.1 Die Schule als Sozialisationsinstanz
3.2 Faktoren, die einen Suizidversuch auslösen können
4. Umgang mit Suizid in der Schule
4.1 Prävention
4.1.1 Typische Alarmsignale
4.2 Intervention und Postvention
4.3 Das Thema Suizid im Unterricht
4.4 Unterrichtseinheit
4.4.1 Erste Stundeneinheit: „Lasst uns darüber nachdenken!“
4.4.2 Zweite Stundeneinheit: „Vorurteile und Tatsachen“
4.4.3 Dritte bis fünfte Unterrichtseinheit
5. Schlussbetrachtung
6. Literaturverzeichnis
6.1 Monographien
6.2 Aufsätze
7. Anhang
1. Einleitung
Das Thema „Suizid und Suizidversuch bei Kindern und Jugendlichen in der Schule“ ist immer noch weitestgehend ein Tabuthema - man spricht nicht darüber. Und weil man nicht darüber spricht, fühlen sich viele Gefährdete von ihrer Umwelt allein gelassen. Dies macht ihre Situation in der Regel noch schlimmer. Ob in der Schule oder in der Familie verübt, jeder Suizidversuch oder Suizid löst bei allen Be- troffenen einen Schock aus. Häufig wird dieses Ereignis mit quälenden Schuldgefüh- len verbunden: „Warum habe ich nichts bemerkt?“, „Wie konnte das passieren?“ Ne- ben dem Mitgefühl für die Angehörigen, Freunde und Bekannten des Toten befürch- ten Schulleiter, dass das Image ihrer Schule leiden und dass Vorwürfe auf sie zu- kommen könnten. Viele fühlen sich angesichts eines solchen Geschehens hilflos und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Einige verdrängen das Geschehen und vermeiden es, sich mit dem Thema Suizid und Tod auseinanderzusetzen. Andere wie- derum hoffen, dass ein Suizid nicht an ihrer Schule passiert und ignorieren daher das Thema.1 „Doch genau dieses Verhalten verstärkt die Tabuisierung und negiert die prä- und interventiven Hilfsangebote, die Lehrer ihren Schülern geben können, und zwar sowohl denjenigen, die in psychischer Not sind und sich mit dem Gedanken tragen, sich das Leben zu nehmen, als auch denjenigen, die nach einem erfolgten Sui- zid eines Klassenkameraden weiterleben und sich mit Schuldvorwürfen quälen.“2
In dieser Arbeit wird der Schwerpunkt auf Suizid in der Schule und dem Um- gang mit diesem in der Schule gelegt. Bevor auf ein Schwerpunktthema „Suizid und Schule“ eingegangen wird, wird eine mögliche Definition „Was ist Suizid?“ gegeben. In dem Kapitel „Suizid und Schule“ soll der Suizid im Zusammenhang mit der Schule erörtert werden. Wie hängen schulische Belastung, Stress mit den Eltern und ein Sui- zidversuch zusammen? Im nächsten Kapitel „Umgang mit Suizid in der Schule“ wird auf die Prävention, Intervention und Postvention eingegangen. Ebenso wird das The- ma Suizid im Unterricht behandelt werden. Abschließend wird in dem Kapitel eine Unterrichtseinheit vorgestellt, in der versucht wird, das Thema Suizid in den Unter- richt einzubinden. Es soll in dieser Arbeit nicht auf Theorien und Erklärungsansätze zur Entwicklung von Suizidalität (z.B. soziologische Erklärungsansätze, tiefenpsy- chologische Theorien oder soziodemografische Risikofaktoren)3 eingegangen werden. Auch die Risikofaktoren für die Entwicklung von Suizidalität sollen nur am Rande erläutert werden. Es geht vielmehr um die Praxis und um die Anwendung des Themas in den Unterricht. In der abschließenden Schlussbetrachtung werden die Einsatzme- thoden von Unterrichtseinheiten und Notfallplänen auf ihre Umsetzbarkeit reflektiert.
2. Was ist Suizid? - Eine Definition
„Unter Suizid, häufig auch als Selbsttötung, Selbstmord oder Freitod bezeichnet, wird eine bewusste und selbst herbeigeführte Handlung verstanden, mit der das eigene Leben freiwillig beendet wird.“4
Mit einem Selbstmord möchte der Mensch sein bisheriges Leben beenden, weil er meint, es nicht mehr ertragen zu können, und dass es keine Alternative gäbe. „In der Verzweiflung über die Ausweglosigkeit scheint nur noch der Selbstmord als Ausweg zu bleiben. Diesem Menschen fehlt die Fähigkeit, einen neuen Weg sehen und beginnen zu können.“5 In den meisten Fällen sind suizidale Menschen „in der Wahrnehmung von Handlungsalternativen und Auswegen so sehr eingeschränkt, dass sie nicht mehr in der Lage sind, Alternativen zum Suizid zu erkennen“6. Primär ist das Ziel nicht die unmittelbare Selbsttötung, sondern der Wunsch, emotionale Schmerzen zu beenden und die momentane Situation zu verändern.
Welche Lebensstile und Verhaltensmuster stehen im Zusammenhang mit Suizid bei Jugendlichen? Bei den Jungen tritt Suizid dann am häufigsten auf, wenn Verhaltens- störungen - z.B. aggressives, gewalttätiges oder unruhiges Verhalten - und Drogen- missbrauch zusammentreffen. „Die zweithöchste Suizidrate ist bei den übertrieben ehrgeizigen männlichen Perfektionisten zu finden, die sozial gehemmt und bei vielen sozialen oder beruflichen Herausforderungen überängstlich sind.“7 Bei den Mädchen ist nicht nur die Depression, sondern auch der Liebeskummer, wichtige Risikofakto- ren für Suizide im Jugendalter. Diese Symptome spiegeln ernsthafte emotionale Stö- rungen im Leben der selbstmordgefährdeten Jugendlichen wieder, die oft unentdeckt oder unbehandelt bleiben. Der Selbstmord bei Jugendlichen ist kein impulsiver, plötzlicher Akt. Vielmehr tritt er als letzte Stufe einer Phase inneren Aufruhrs und äußerer Not auf.8 Verschiedene Studien zeigen, dass die suizidale Entwicklung meist über einen längeren Zeitraum und in drei Phasen verläuft:
Phase 1: Suizid wird als Problemlösung erwogen.
Phase 2: Ambivalenz zwischen lebensbejahenden und lebensverneinenden Gedanken.
Phase 3: Anhaltende Belastung verdichtet sich und konkretisiert den Ent- schluss.
Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen haben sich über einen möglichen Suizid geäußert. Daher sollten Äußerungen immer ernst genommen werden.9
Aus Gründen des Datenschutzes werden Suizidversuche nicht oder nur unzu- reichend erfasst. Da Suizidversuche gesellschaftlich immer noch in hohem Maße ta- buisiert sind und Eltern die öffentliche Stigmatisierung fürchten, werden sie häufig als Unfälle oder Verletzungen bezeichnet. „Suizide sind in der Altersgruppe der 15- bis 24-jährigen nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache.“10 Bei den Suiziden liegt der Anteil der Jungen über dem der Mädchen. Betrachtet man allerdings die Suizid- versuche, dreht sich das Geschlechterverhältnis um.11 Viele gefährdete Menschen scheint mangelndes Wissen der unterschiedlichen Todespotentiale verschiedener Me- thoden vor dem Tod zu schützen. Dieser - möglicherweise unbeabsichtigte - Schutz sollte auf jeden Fall aufrechterhalten werden. Daher sollten keine Gespräche in der Schule und im Unterricht über die Erfolgswahrscheinlichkeiten bestimmter Methoden geführt werden.
3. Suizid und Schule
3.1 Die Schule als Sozialisationsinstanz
Jährlich nehmen sich über 100 Kinder und Jugendliche das Leben und die Anzahl der Suizidversuche ist zehnmal so hoch12. Die Dunkelziffer fließt hierbei nicht mit ein. Bei den betroffenen Eltern, Geschwistern, Freunden, Klassenkameraden und Lehrern löst solch ein Versuch einen Schock aus, und jeder macht sich große Schuldvorwürfe. „Die Schule stellt eine dominierende Sozialisationsinstanz im Leben der Jugendlichen dar und gehört neben der Familie zu ihren wichtigsten Lebensbereichen. Gleichzeitig vereint die Schule eine Reihe von Belastungsfaktoren für den Jugendlichen.“13 Belas- tungsfaktoren können Leistungsdruck aufgrund von überfrachteten Lehrplänen und damit verbundene Versagensängste sein. Da die Kinder und Jugendlichen die meiste Zeit in der Schule sind, stehen die Probleme, die mit der Schule einhergehen, an der Spitze. Solche Probleme können außerdem noch schlechte Zensuren und Zeugnisse, sowie Nichtversetzung, Schulwechsel und Disziplinarmaßnahmen sein. Häufig üben auch Eltern einen zusätzlichen Druck auf ihre Kinder aus, indem sie - mit Blick auf die Karriereerwartungen der Kinder - einen guten Schulabschluss erwarten. Diese Probleme lösen aber allein noch keinen Suizid oder Suizidversuch aus. In der Regel werden die vorangegangenen genannten Ereignisse, wie Schulwechsel, schlechte No- ten oder schlechte Zeugnisse, von Schülerinnen und Schülern14 bewältigt, ohne dass es dabei zu einem Suizidgeschehen kommt. Allerdings können diese Anlässe eine solche Handlung schlagartig und spontan auslösen, wobei die Ausführung schon lan- ge vorher geplant worden ist. Eine große Rolle spielen die elterlichen Sanktionen. Auch Angst vor Liebesentzug, die eine Folge der schulischen Ereignisse sein könnte, ist entscheidend. Wenn dann noch ein gewisser Schulstress oder Überforderung hin- zukommen, kann das die Schüler zu einem Suizidversuch veranlassen. Es müssen also immer die ungünstigen Gesamtentwicklungen betrachtet werden, die zu einem Sui- zidversuch führen können. Hierbei kann die Schule mitverantwortlich sein, dass das Geschehen ausgelöst werden könnte.
3.2 Faktoren, die einen Suizidversuch auslösen können
Nach Bründel gibt es in der Schule viele erschwerende Faktoren, wie Anonymität, hohe Schülerzahl, starke Klassenfrequenz, unübersichtliche Schul- und Unterrichtsor- ganisation, überladene Stoffpläne, rigide Leistungsanforderungen und -beurteilungen sowie unpädagogisch handelnde, unpersönlich wirkende und schlecht vorbereitete Lehrerinnen und Lehrer15. Viele Schüler fühlen sich daher von ihren Lehrern allein gelassen und enttäuscht. Daher sollte im und am Miteinander zwischen Lehrer und Schüler gearbeitet werden.
Schule wird immer eine Belastung für Kinder und Jugendliche sein und bietet für diese eine Fülle an möglichen Versagens-, Misserfolgserlebnissen und Überforde- rungssituationen. Wenn die Erziehung der Kinder und Jugendlichen zu den Hauptauf- gaben der Schule gehört und sie eine belastende Rolle für die Schüler spielt, dann sollte die Schule reagieren und Alternativen für die Gefährdeten zur Verfügung stel- len bzw. die Möglichkeit bieten, Hilfe herbeizuholen. Die Suizidprävention zählt da- her nach Bründel zu den Teilaufgaben der Schule, der Erziehung zur Lebensbewälti- gung. Verschiedene Studien zeigen, dass eine positive Bindung zur Schule ein starker Schutzfaktor sein kann, insbesondere dann, wenn die Verbundenheit zur Familie eher schwach ist. Die Verbundenheit mit einer einzelnen Lehrperson hat sich dabei als wirksamer Schutzfaktor herausgestellt.16 „Verbundenheit zu stärken ist eine der bes- ten Möglichkeiten der Schule, effektive Suizidprävention zu leisten.“17 Lehrer sind wichtige Multiplikatoren, sie werden mit vielfältigen Verhaltensweisen ihrer Schüler konfrontiert, werden von ihnen angesprochen und müssen reagieren. Trotz der häufig starken Verbundenheit mit Lehrern wäre es eine Überlastung und Überforderung, von den Lehrern zu erwarten, therapeutische Funktionen zu übernehmen. Sie können die Probleme suizidgefährdeter Kinder und Jugendlichen nicht lösen, aber sie können oftmals Entlastungen schaffen (z.B. durch Zuhören) und Hilfsmaßnahmen in die We- ge leiten. Es geht darum, die Probleme der Schüler wahrzunehmen und die soziale Kompetenz der Schüler zu stärken.
So ambivalent die Motive sind, so ambivalent ist oft auch die psychische Situation der Jugendlichen. Pubertät und Adoleszenz sind untrennbar mit Krisen, Trennungen, Veränderungen sowie körperlichen Veränderungen verbunden, welche Unsicherheit auslösen. Auf der einen Seite wollen die Jugendlichen ihr Leben genießen, auf der anderen Seite empfinden sie oft eine große Langeweile und Leere in ihrem Leben. Wünsche nach Unabhängigkeit einerseits, nach Nähe und Geborgenheit andererseits, bedeuten für die Heranwachsenden ein Wechselbad der Gefühle. Der Wert der eigenen Person und der Sinn des Lebens werden hinterfragt. Gedanken an Suizid lassen sich folglich auch als Hilfeschrei verstehen. In der Regel haben Suizide und Suizidgedanken jedoch eine lange Entwicklungsgeschichte.
4. Umgang mit Suizid in der Schule
In deutschen Schulen ist das Thema Suizid leider weitestgehend immer noch ein Tabuthema. In den USA und Kanada sind Präventionsprogramme in den Schulen fester Bestandteil, in Deutschland nicht. Aber gerade in der Schule existiert eine gute Möglichkeit, Suizidprävention wirkungsvoll durchzuführen, da die Schüler die meiste Zeit des Tages in der Schule verbringen. Häufig werden Alarmsignale und Hilferufe in der Schule gesendet und könnten dort wahrgenommen werden. „90% aller Suizid- gefährdeten sprechen ihre Gedanken direkt oder indirekt und mehr oder weniger ver- steckt aus.“18 Bei einem geschehenen Suizid bzw. Suizidversuch ist die nachahmende Wirkung sehr hoch. Präventionsprogramme erlauben dieser Nachahmung vorzubeu- gen und verringern die Suizidhäufigkeit. Solche Programme sind aber keine diagnos- tischen Instrumentarien und können keine therapeutischen Programme sein, da dies die Lehrer und Schüler überfordern würde. „Der Sinn von Suizidprävention ist die Vorsorge, d.h. dafür zu sorgen, dass Gefährdungen erkannt werden, um handeln, hel- fen und unterstützen zu können. (…) Voraussetzung für die Durchführung ist die gründliche Auseinandersetzung der Lehrer mit dem Thema.“19 Eine der wichtigsten Grundlagen effektiver Suizidprävention ist das Wissen der Lehrkräfte zu diesem Thema. Sie müssen sensibilisiert werden, um einen möglichen Suizid wahrzunehmen und rechtzeitig handeln zu können.
[...]
1 Vgl. Bründel: Schülersuizid, S. 2.
2 Ebd.
3 Vgl. Wunderlich: Suizidales Verhalten im Jugendalter, S. 5f.
4 LifeMatters: Leitfaden zur Prävention von Selbstverletzungen und Suizid in der Schule, S. 14.
5 Dickhaut: Selbstmord bei Kindern und Jugendlichen, S. 31.
6 LifeMatters: Leitfaden zur Prävention von Selbstverletzungen und Suizid in der Schule, S. 14.
7 Zimbardo / Gerrig: Psychologie, S. 620.
8 Vgl. Zimbardo / Gerrig: Psychologie, S. 620.
9 Wie sich Lehrer, Eltern und Mitschüler verhalten sollten, wird im Verlaufe der Arbeit erläutert.
10 Robert Koch Institut: Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, S. 132.
11 Vgl. Ebd.
12 Vgl. Fiedler: Suizide, Suizidversuche und Suizidalität in Deutschland. Daten und Fakten 2005.
13 Wunderlich: Suizidales Verhalten im Jugendalter, S. 45.
14 Im weiteren Verlauf der Arbeit wird zur Vereinfachung und besseren Lesbarkeit jeweils nur die männliche Form gewählt, selbstverständlich ist aber auch die weibliche Form gemeint.
15 Im weiteren Verlauf der Arbeit wird zur Vereinfachung und besseren Lesbarkeit jeweils nur die männliche Form gewählt, selbstverständlich ist aber auch die weibliche Form gemeint.
16 Vgl. LifeMatters: Leitfaden zur Prävention von Selbstverletzungen und Suizid in der Schule, S. 29.
17 Ebd.
18 Bründel: Schülersuizid, S. 19.
19 Ebd., S. 13.