Leseprobe
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Hintergründe zur Konzeption der Arbeit
1.2 Klärung zentraler Begriffe
1.2.1 Neue Musik
1.2.2 Klassik/klassische Musik und Kunstmusik
1.2.3 Popularmusik und Gebrauchsmusik
1.2.4 Musikvermittlung
1.3 Betrachtungen zur Musikvermittlung
1.3.1 Gründe für die Notwendigkeit von Musikvermittlung
1.3.2 Ziele der Musikvermittlung (Audience Development und Ästhetische Bildung)
1.3.3 Gründe für die Förderung und Vermittlung von klassischer Musik
1.3.4 Neue Musik als Objekt der Musikvermittlung
1.3.5 Gründe für die Förderung und Vermittlung von Neuer Musik
2. Entwicklung der konzertpädagogischen Ansätze und Methoden meines Vermittlungsprojektes
2.1 Leitziel des Projektes und Ausdifferenzierung in Ansätze
2.1.1 ErsterAnsatz: Distanzabbau
2.1.2 Zweiter Ansatz: Erzeugung und Steigerung von Aufmerksamkeit
2.1.3 Dritter Ansatz: Zielgruppenorientierung
2.2 Zielgruppenanalyse
2.2.1 Entwicklungspsychologische Faktoren
2.2.2 Bedeutung des Bildungsniveaus
2.2.3 Motivation und Motive
2.2.4 Freizeitgestaltung
2.2.5 Markenverhalten
2.2.6 Kulturverhalten
2.3 Methoden
2.3.1 Variation der Form
2.3.2 Informationsvermittlung
2.3.3 Auratisierung
2.3.4 Auswahl der Kompositionen
2.3.5 Gezielter Einsatz visueller Reize
2.3.6 Publikumseinbindung
2.3.7 Verbindung mit anderen Stilistiken
2.3.8 Etablierung einer Marke — Corporate Identity und Corporate Design
2.4 Zusammenfassung
3. Konzeption und Durchführung des Konzertes
3.1 Zustandekommen und Vorstellung des Konzertprogramms
3.1.1 Gewinnung der Interpreten
3.1.2 Kurzbeschreibung der aufgeführten Werke
3.2 Marketing und Markenbildung
3.2.1 Corporate Identity des Projektes
3.2.2 Corporate Design des Projektes
3.3 Komponenten des Konzertes
3.3.1 Raumauswahl und Raumgestaltung
3.3.2 Audio-Collage zur Eröffnung (Opener)
3.3.3 Programminformationen
3.3.4 Video-Interviews
3.3.5 Moderator und Moderation
3.3.6 One
3.3.7 Abfilmen der Interpreten
3.3.8 Texteinblendung zu ,Früher oder später’
3.3.9 Erklärung durch den Komponisten
3.3.10 Verabschiedung und Outro
3.4 Begründung der Programmanordnung
4. Evaluation des Konzertes
4.1 Auswahl der Evaluationsmethoden
4.2 Qualität in der Musikvermittlung
4.2.1 Qualitätskriterien und Bedingungen für Qualität
4.2.2 Strukturqualität, Prozessqualität, Produktqualität
4.3 Persönliche Beobachtungen des Musikvermittlers
4.3.1 Projektplanung und Vorbereitung
4.3.2 Erfahrungsbericht vom Konzert
4.4 Erstellung des Fragebogens
4.5 Darstellung und Auswertung der Ergebnisse
4.6 Zusammenfassung der Ergebnisse
5. Fazit und Ausblick
6. Quellenverzeichnis
6.1 Literatur
6.2 Internetquellen
6.3 Audioquellen
Zusammenfassung
Vorwort
Das Thema der vorliegenden Arbeit führt zwei Interessengebiete zusammen, die mein Studium an der Hochschule für Musik Würzburg geprägt haben.
Durch Kontakte zu Kollegen an verschiedenen Hochschulen kam ich schon früh mit unterschiedlichen Formen der Musikvermittlung in Berührung, was nachhaltig mein Bild von musikpädagogischer Arbeit beeinflusste. Erweitert und vertieft wurden diese Eindrücke durch die Lehrveranstaltung ,Achtung Auftritt! Einführung in die Konzertpädagogik’ bei Prof. Dr. Barbara Busch, welche ich im Sommersemester 2009 besuchte. Hier entstand der Wunsch, konzertpädagogische Tätigkeiten in meine weitere berufliche Laufbahn zu integrieren, weshalb ich mich für eine nähere Untersuchung des Praxisfeldes im Rahmen meiner Diplomarbeit entschied. In Bezug auf die Themenfindung wurde ich von der Beobachtung geleitet, dass eine große Anzahl von Vermittlungsprojekten für Kinder existiert, das Angebot für Jugendliche jedoch bislang vergleichsweise gering ausfällt. Erfahrungen aus meiner Unterrichtstätigkeit legten den Schluss nahe, dass Jugendliche Musik im Allgemein zwar sehr schätzen, sich jedoch nur schwer für klassische Musik begeistern lassen. Dies reizte mich, anhand der Durchführung eines konzertpädagogischen Vermittlungsprojektes festzustellen, ob durch bestimmte Bedingungen die Akzeptanz gegenüber klassischer Musik erhöht werden kann.
Die Eingrenzung auf Neue Musik geschah aufgrund meiner Ansicht, dass ihre Aktualität und damit ihr Bezug zur Gegenwart gerade jungen Menschen neue Perspektiven auf ihre Umwelt erschließen kann. Im Rahmen meines künstlerischen Studiums im Hauptfach Schlagwerk habe ich die Neue Musik aber vor allem auch wegen ihrer Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten schätzen gelernt, die mich sowohl als Interpret als auch als Komponist nach wie vor fasziniert. Diese Faszination weiter zu tragen ist mir ein persönliches Anliegen, besonders da die Neue Musik im Schulunterricht oder im Konzertwesen bislang eher wenig Beachtung findet.
Mein herzlicher Dank geht an Prof. Dr. Barbara Busch für wertvolle Anregungen und die stets freundliche Beratung bei der Erstellung dieser Arbeit, sowie an Prof. Barbara Metzger für praktische Hinweise bei der Planung des Konzertes. Meiner Frau Barbara danke ich für die vielen kritischen Rückfragen und Diskussionen, meinen Eltern für die fortwährende Unterstützung meiner musikalischen Tätigkeiten.
Zur besseren Lesbarkeit wurde in der vorliegenden Arbeit für personenbezogene Bezeichnungen durchgehend die maskuline Form gewählt. Diese wird vorwiegend in Bezug auf die typologisch gedachten Funktionsträger (Schüler, Vermittler, Teilnehmer) angewendet und ist daher geschlechtsneutral zu verstehen.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Generationsspezifische Verteilung unterschiedlicher Kohorten in Klassik-Konzerten (aus: Tröndle 2009, 67)
Abb. 2: Erwartungen an einen Kulturbesuch (aus: Keuchel/Wiesand 2006, 120)
Abb. 3: Notwendige Maßnahmen zur Steigerung der eigenen kulturellen Partizipation, nach Angabe wenig kulturinteressierter Jugendlicher (aus: Keuchel/Wiesand 2006, 122)
Abb. 4: Beim Projekt verwendete Schriftarten
Abb. 5: Logo Klangstreckenlauf
Abb. 6: Bestuhlungsplan des Veranstaltungsortes mit eingezeichneter Bühnenaufteilung
Abb. 7 und 8: Foto Bühne und Zuschauerraum
Abb. 8: Lieblingsstück (Diagramm)
Abb. 9: Meinung zu One (Diagramm)
Abb. 10: Meinung zur Konzertdauer (Diagramm)
Abb. 11: Meinung zur Menge von Medien und anderen Zusätzen (Diagramm)
Abb. 12: Bekanntheit von Neuer Musik (Diagramm)
Abb. 13: Meinung zu Neuer Musik vor dem Konzert (Diagramm)
Abb. 14: Meinung zu den Texteinblendungen (Diagramm)
Abb. 15: Meinung zum Abfilmen der Spieler (Diagramm)
Abb. 16: Einstellung zu Klassik-Konzerten (Diagramm)
Abb. 17: Aktuelle Einstellung zu Neuer Musik (Diagramm)
Abb. 18: Einstellung zu erweiterten Veranstaltungsformaten (Diagramm)
Abb. 19: Persönlicher Stellenwert von Musik (Diagramm)
Abb. 20: Konzertbesuche (Diagramm)
Abb. 21: Gespielte Instrumente (Diagramm)
Abb. 22: Flyer ’Alles glänzt...so schön neu!’
Abb. 23: Plakat ’Alles glänzt...so schön neu!’
Abb. 24: Rundschreiben an die Instrumentaldozenten
Abb. 25: Brief an die Lehrkräfte der Würzburger Gymnasien
Abb. 26: Fragebogen mit Einleitung
Abb. 27: Ausgefüllter Fragebogen, Beispiel 1a
Abb. 28: Ausgefüllter Fragebogen, Beispiel 1b
Abb. 29: Ausgefüllter Fragebogen, Beispiel 2a
Abb. 30: Ausgefüllter Fragebogen, Beispiel 2b
Abb. 31: Ausgefüllter Fragebogen, Beispiel 3a
Abb. 32: Ausgefüllter Fragebogen, Beispiel 3b
Abb. 33: Ausgefüllter Fragebogen, Beispiel 4a.. Abb. 34: Ausgefüllter Fragebogen, Beispiel 4b
Abb. 35: Ausgefüllter Fragebogen, Beispiel 5a
Abb. 36: Ausgefüllter Fragebogen, Beispiel 5b.
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Arten der musikalischen Vermittlung (vgl. Hüttmann 2009, 31ff.)
Tabelle 2: Dimensionen der Ästhetischen Bildung
Tabelle 3: Motivationsarten
Tabelle 4: Best-Practice-Modelle nach Sandra Nuy (vgl. Nuy 2006, 11)
Tabelle 5: Schema zur Werkbeschreibung
Tabelle 6: Übersicht Flyerkonzeption
Tabelle 7: Wirkung der Interpreten in den Videos
Tabelle 8: Ablauf One
Tabelle 9: Benotung Konzert-Komponenten
Tabelle 10: Konzertablauf
1. Einleitung
1.1 Hintergründe zur Konzeption der Arbeit
Jugendliche bringen klassischer Musik im Vergleich zu anderen Stilistiken nur geringes Interesse entgegen (vgl. Keuchel 2009, 86). Dies gilt besonders für so genannte Neue Musik, weil diese in der Alltagswelt junger Menschen entweder keinen wesentlichen Faktor darstellt oder sogar völlig unbekannt ist. Da die musikalische Sozialisation über die Medien vom popularmusikalischen Mainstream dominiert wird, entstehen immer seltener prägende Begegnungen mit klassischer Musik, welche zu einer Annäherung beitragen könnten. Im Fall der Neuen Musik wird diese Kluft durch ästhetische Diskrepanzen zu den Hörgewohnheiten des Publikums zusätzlich verbreitert: Unsere musikalische Kulturlandschaft ist durch tradierte und etablierte Normen wie die Dur-/Moll-Tonalität und eine eher simple Rhythmik geprägt, wogegen die ungewohnten Klänge und Ausdrucksformen in der Neuen Musik vielfach verstoßen.
Hat sich also die Neue Musik von ihren Zuhörern entfremdet? Ist klassische Musik nicht mehr aktuell? Vieles spricht dafür, aber es gibt auch Punkte, die dies widerlegen: Die Inhalte von klassischen Opern, Liedern oder Orchesterwerken kreisen oftmals um universelle menschliche Gefühle oder Bedürfnisse. Gerade die Neue Musik setzt sich umfassend mit den Themen unserer Zeit auseinander. Innerhalb des Mainstream wird in Form von Covern, Remixes oder Samples regelmäßig auf einzelne Werke der Kunstmusik zurückgegriffen. Und schlussendlich gibt es trotz der Omnipräsenz der Popkultur nach wie vor junge Menschen, die klassische Musik präferieren. Dies zeigt meiner Ansicht nach, dass der Grund für das abnehmende Interesse an klassischer Musik teilweise auch in Faktoren abseits der Musik zu suchen ist. Stimmt man dieser Hypothese zu, lässt sich daraus aber auch ableiten, dass dem entgegen gewirkt werden kann.
Eine mögliche Umgangsweise mit dieser Annahme zeigt sich in der wachsenden Zahl musikalischer Vermittlungsprojekte. Uber Workshops oder neue Konzertformen versuchen Musikvermittler, „Räume für ästhetische Erfahrungen“ (Wimmer 2010, 55) zu öffnen. Die Konzeption orientiert sich hierbei meist an den Teilnehmern bzw. am Publikum, um barrierefreie Berührungen zwischen Mensch und Musik zu ermöglichen. Während jedoch längerfristige Projekte an Schulen relativ gleichmäßig für alle Altersgruppen durchgeführt werden, konzentriert sich das Angebot an Konzertveranstaltungen bisher vor allem auf Kinder.
Aus diesem Grund gehe ich in dieser Arbeit der Forschungsfrage nach, wie ein konzertpädagogisches Vermittlungsprojekt für Jugendliche beschaffen sein muss, um Interesse für Neue Musik zu wecken. Ausgehend von der Annahme, dass sich die Darbietungsform den speziellen Bedürfnissen der jeweiligen Zielgruppe unterordnen sollte, untersuche ich hierzu die Lebenswelt von Jugendlichen und die Möglichkeiten konzertpädagogischen Handels, um auf der Basis dieser Betrachtungen passende Vermittlungsmethoden für ein Konzertprojekt aufzustellen. Um hierbei konkretere Aussagen machen zu können, wurde die Zielgruppe exemplarisch auf die Klassenstufen 9 bis 11 des Gymnasiums eingeschränkt. Da in diesen Klassen Neue Musik auf dem Lehrplan steht (vgl. ISB 2004), bot sich hier ein guter Anknüpfungspunkt zur Zusammenarbeit mit allgemeinbildenden Schulen. Die Festlegung auf diese Zielgruppe legte es nahe, die Konzertform anderen Arten der Vermittlung vorzuziehen, da die Strukturen an Gymnasien Einzelveranstaltungen begünstigen, wogegen langfristige Projekte aus organisatorischen Gründen schwieriger umzusetzen sind (vgl. Wimmer 2010, 92). Um mein Konzept erproben zu können, wurde das entwickelte Vermittlungsprojekt unter dem Titel ,Alles glänzt ... so schön neu! Neue Musik, auf Hochglanz poliert’ am 18. Juni 2010 an der HfM Würzburg durchgeführt und anschließend von den Teilnehmern evaluiert. Dennoch handelt es sich um keine empirische Forschungsarbeit, sondern um eine systematische Zusammenstellung und Weiterentwicklung didaktischer Überlegungen für die konzertpädagogische Praxis mit Jugendlichen. Die Ergebnisse können als Indikator für die Qualität der Umsetzung einzelner Methoden und deren Zusammenführung dienen. Aussagen über die langfristige und komplexe Wirkung auf die Teilnehmer sind dagegen nicht möglich.
Die bisherige Fokussierung der Musikvermittlung auf Kinder spiegelt sich auch in der Forschung wieder. Meines Wissens existiert keine eigenständige Literatur, die sich ausschließlich mit Konzertvermittlung für jugendliche beschäftigt. Barbara Stillers ,Erlebnisraum Konzert: Prozesse der Musikvermittlung in Konzerten für Kinder’ sowie ,Spielräume Musikvermittlung. Konzerte für Kinder entwickeln, gestalten, erleben’ von Barbara Stiller, Constanze Wimmer und Ernst Klaus Schneider betrachten eine jüngere Zielgruppe. Anke Eberwein beschreibt in ,Konzertpädagogik: Konzeptionen von Konzerten für Kinder und Jugendliche’ überwiegend durchgeführte Vermittlungsprojekte, eine Vorgehensweise, die einen Großteil der Publikationen zu diesem Thema prägt. Auch Christine Mast und Catherine Milliken (in ,Zukunft@BPhil: Die Education-Projekte der Berliner Philharmoniker. Unterrichtsmodelle für die Praxis’) oder Constanze Wimmer (in ,Musikvermittlung im Kontext: Impulse — Strategien — Berufsfelder’) verfahren auf diese Art.
Allgemeinere Überlegungen ohne speziellen Zielgruppenbezug finden sich in Rebekka Hüttmanns ,Wege der Vermittlung von Musik: Ein Konzept auf der Grundlage allgemeiner Gestaltungsprinzipien’ sowie im von Martin Tröndle herausgegebenen ,Das Konzert: Neue Aufführungskonzepte für eine klassische Form’. Beide Werke haben ebenfalls einen starken Praxisbezug. Eine aktuelle Studie von Constanze Wimmer (,Exchange. Die Kunst, Musik zu vermitteln’) befasst sich mit Qualitäten in der Musikvermittlung und Konzertpädagogik.
Das Kulturverhalten Jugendlicher wird durch verschiedene Studien dokumentiert. Neben der allgemeinen, regelmäßig neu aufgelegten „Shell Jugendstudie“ ist für diese Arbeit vor allem „Das 1. Jugend-KulturBarometer: Zwischen Eminem und Picasso...“ von Susanne Keuchel und Andreas johannes Wiesand aufschlussreich.
Im weiteren Verlauf des ersten Kapitels erläutere ich zunächst einige für die Arbeit relevante Fachbegriffe wie ,Neue Musik’ oder ,Musikvermittlung’. Danach folgt ein Überblick über die Hintergründe und Ziele der Musikvermittlung, der auch die speziellen Vermittlungsbedürfnisse der Neuen Musik umfasst. Hier wird auch geklärt werden, warum sich die Musikvermittlung auf klassische Musik konzentriert und welche Gründe für die Erhaltung und Förderung von Klassik und Neuer Musik angeführt werden können.
Zur Entwicklung der konzertpädagogischen Methoden definiere ich im zweiten Kapitel zuerst das Leitziel meines Vermittlungsprojektes und differenziere dieses in verschiedene Ansätze. Darauf folgt eine nähere Analyse der Zielgruppe, bei der ich nicht nur einen Einblick in ihr Freizeit- und Kulturverhalten gebe, sondern auch einen Überblick über die Vorraussetzungen, unter denen Jugendliche für klassische Musik interessiert werden können. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden anschließend unter Berücksichtigung der Ansätze systematisch in verschiedene handlungsweisende Methoden überführt. Die Variation der Darbietungsform wird dabei am ausführlichsten betrachtet, weil sie den Ausgangspunkt weiterer konzertpädagogischer Maßnahmen darstellt.
Das nachfolgende dritte Kapitel dokumentiert Schritt für Schritt, wie die Ansätze und Methoden bei der Konzeption des Konzertes umgesetzt wurden. Die Darstellungsreihenfolge der einzelnen Konzertkomponenten orientiert sich daran, wie sie in der Wahrnehmung der Konzertbesucher in Erscheinung getreten sind. Dies verdeutlicht die Ausrichtung der Veranstaltung auf die Zielgruppe, Ausnahmen treten nur dort auf, wo sie Zusammenhänge besser veranschaulichen. Zuerst wende ich mich den Interpreten und Werken zu, bevor ich näher auf die konzertpädagogisch angewandeten Marketingstrategien des Projektes eingehe. Anschließend folgen die einzelnen Komponenten des Konzertprogramms. Hier hebe ich vor allem den Einsatz visueller Medien hervor, der besonders in Form von Video-Interviews mit den Interpreten das Bild der Veranstaltung geprägt hat. Rückbezogen erörtere ich am Schluss des Kapitels die Dramaturgie der Programmanordnung, da für ihr Verständnis die Kenntnis aller Programmpunkte nötig ist.
Im vierten Kapitel untersuche ich, ob und in wie weit die Ziele des Projektes erreicht wurden. Dazu bediene ich mich zweier Evaluationsformen, die ich an dieser Stelle kurz vorstellen und begründen werde: Zum einen die Betrachtung meiner persönlichen Beobachtungen, zum anderen ein Fragebogen, den die Schüler in der Woche nach dem Konzert ausgefüllt haben. Danach führe ich Qualitätskriterien in der Musikvermittlung an, die Merkmale einer ,good practice’ anzeigen und somit als Leitlinien für die Evaluation dienen können. Daraufhin schildere ich meine Eindrücke vom Verlauf des Projektes. Es folgen Hintergrundinformationen zur Erstellung des Fragebogens. Mit der Auswertung der Ergebnisse meiner Befragung endet die Darstellung des Vermittlungsprojekts.
Im abschließenden Fazit und Ausblick lege ich zusammenfassend meine Gedanken zur Beantwortung der Forschungsfrage dieser Arbeit und zu möglichen Folgeprojekten dar.
1.2 Klärung zentraler Begriffe
1.2.1 Neue Musik
Der 1919 von Paul Bekker geprägte Begriff Neue Musik (vgl. Bekker 1919) bezeichnet zusammenfassend unterschiedliche Kompositionsrichtungen der Kunstmusik des 20. und 21. Jahrhunderts (vgl. Sikorski 1997, 35). Für diese Arbeit greife ich auf die Definition der MGG zurück, die Neue Musik „[...] als eine historische Grundkategorie [bezeichnet], bei der alle namhaften Innovationen der Musik des 20. Jh. [...] Berücksichtigung finden.“ (Finscher 1997, 76) Der Begriff weist eine beträchtliche Unschärfe auf, da sich jede nähere terminologische Einzelbestimmung stets als zumindest teilweise unzureichend erweist. Trotz der Pluralität der darin versammelten Stilistiken wird die Neue Musik üblicherweise durch Faktoren wie kompositorische Neuerungen, Entgrenzung eines bestehenden Musikbegriffs, Beteiligung des Publikums oder Einführung neuer Spiel- und Gesangsweisen charakterisiert (vgl. Finscher 1997, 75).
Der oft synonym dazu verwendete Terminus ,Zeitgenössische Musik’ betont die Gegenwärtigkeit der Musik (vgl. Zehme 2005, 13), weshalb ich ihn als nicht umfassend genug ablehne. Wörtlich verstanden grenzt diese Bezeichnung bereits verstorbene Komponisten aus, analog dazu meint ,contemporary classical music’ im englischen Sprachgebrauch Werke frühestens nach 1945 (vgl. Wikipedia: Contemporary classical music).
1.2.2 Klassik/klassische Musik und Kunstmusik
Obwohl sich der Begriff ursprünglich aus der ,Wiener Klassik’ zwischen 1780 und 1830 ableitet, wird heutzutage, besonders im alltäglichen Sprachgebrauch, meist die gesamte E-Musik[1] als klassische Musik bezeichnet (vgl. Gaiser 2006, 255). Julian Johnson versteht lediglich diejenige Musik als ,classical music’, welche im Gegensatz zu Gebrauchsmusik als Kunst fungiert (vgl. Johnson 2002, 6). Diese radikalere Definition deckt sich im deutschen Sprachraum mit der Bedeutung des Begriffes ,Kunstmusik’ (vgl. Wikipedia: Kunstmusik). Ich verwende den Begriff Klassik in Anlehnung an Sigrid Gaiser allgemein für die „genuin europäische Musiktradition“ (Wikipedia: Klassische Musik), was im Gegensatz zu Johnson auch Werke der E-Musik einschließt, die zu ihrer Entstehungszeit der Unterhaltungsmusik oder Gebrauchsmusik zugerechnet wurden. Die Neue Musik ist nach dieser Betrachtungsweise ebenfalls ein Bestandteil der klassischen Musik. Immer wenn in dieser Arbeit von Klassik gesprochen wird, ist explizit auch die Neue Musik gemeint.
1.2.3 Popularmusik und Gebrauchsmusik
,Popularmusik’ (auch ,populäre Musik’) stellt „seit dem Mittelalter ein[en] integrierenden Bestandteil der europäisch-abendländischen Musikentwicklung [dar]“ (Wikipedia: Popmusik) und bezeichnet allgemein Unterhaltungsmusik. Sie ist nicht deckungsgleich mit der sog. ,Popmusik’, eine Sammelbezeichnung für die ursprünglich aus dem Amerikanischen stammenden populären Musikformen des 20. und 21. Jhs., die einen Teil der Popularmusik darstellt. Es bestehen Überschneidungen mit der sog. ,Gebrauchsmusik’ (auch ,funktionale Musik’), bei der es sich um zweckgebundene Musik handelt, die sich einem bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang unterordnet (vgl. Wikipedia: Gebrauchsmusik). Beispiele hierfür sind Kirchenmusik, Filmmusik, Muzak (Kaufhausmusik’), Tanzmusik oder Bühnenmusik. Damit steht sie im Gegensatz zu autonomer Musik oder Kunstmusik (vgl. Wikipedia: Autonome Musik), was keinesfalls bedeutet, dass Gebrauchsmusik nicht auch kunstvoll komponiert sein kann.
1.2.4 Musikvermittlung
Rebekka Hüttmann unterscheidet vier verschiedene Arten der Vermittlung im musikalischen Kontext, die in der folgenden Tabelle zusammenfassend dargestellt sind (vgl. Hüttmann 2009, 31ff.):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Arten der musikalischen Vermittlung (vgl. Hüttmann 2009, 31ff.)
Um dem Begriff der Vermittlung selbst mehr Plastizität zu verleihen erläutert Hüttmann darüber hinaus detailliert seine etymologische Herkunft (vgl. a. a. O., 15f.): Die Worte Mitte und Mittel leiten sich beide vom lateinischen Medium ab. Die Mitte bezeichnet eine Instanz oder Stelle, die gleich weit von mindestens zwei Äußersten entfernt liegt. Diese zunächst räumliche Vorstellung findet sich laut Hüttmann jedoch schon seit der Antike in ihrer ethisch-moralischen Übertragung auf das Ideale, das Maßhalten zwischen zu viel und zu wenig. Wie Hüttmann feststellt weist das Mittel laut dem Grimm’schen Wörterbuch teilweise Überschneidungen mit der räumlichen Bedeutung des Wortes Mitte auf. Durchgesetzt hat sich jedoch die Bedeutung Hilfsmittel, welches eingesetzt wird, um von einem Anfang zu einem Ziel zu kommen. Dies kann als Handlung oder Werkzeug verstanden werden. Ein Mittel steht zwischen Vorhaben und Erfüllung, also ebenfalls in der Mitte.
Die Vermittlung schließlich gehört zum gleichen Wortfeld. All diese Wörter beschäftigen sich mit dreiteiligen Strukturen: Zwei getrennte Pole und ein Bindeglied bilden darin einen Sinnkomplex, der sich im Fall der Musikvermittlung aus Zuhörer, Vermittler und Musik zusammensetzt. Dieses kulturelle Praxisfeld will vielfältige Bezüge zwischen Musik und Publikum herstellen (vgl. Wimmer 2010, 59). Zu diesem Zweck wird meist gezielt einer bestimmten Personengruppe die Möglichkeit eröffnet, über verschiedene Arten der Kommunikation im Rahmen von Workshops oder Kulturveranstaltungen individuelle Erfahrungen mit vornehmlich klassischer Musik zu machen. Oft geschieht dies in Verbindung mit anderen Kunstformen. Dabei konzentriert sich das Vermittlungsangebot auf Zielgruppen, die nicht dem traditionellen Konzertbesucher entsprechen: Kinder, Jugendliche, Menschen mit Behinderung, bildungsferne und sozial schwache Milieus oder Menschen mit Migrationshintergrund. Hierbei steht besonders die Entwicklung zielgruppenrelevanter Verknüpfungen im Vordergrund: „Das zentrale Thema der Musikvermittlung ist die formale und inhaltliche Anschlussfähigkeit des Angebots an die soziale Lebenswirklichkeit der potentiellen Zuhörer.“ (Tröndle 2009, 169) Der oft synonym gebrauchte Ausdruck ,Konzertpädagogik’ beschreibt laut Constanze Wimmer eigentlich „das pädagogische Handeln in der Musikvermittlung“ (Wimmer 2010, 59), speziell in Verbindung mit der Form des Konzertes. Da ich diese Veranstaltungsform für mein Vermittlungsprojekt gewählt habe, beschäftige ich mich in dieser Arbeit vordergründig mit konzertpädagogischen Methoden der Musikvermittlung.
Grundsätzlich besteht laut Hüttmann ein fundamentaler Unterschied zwischen der Vermittlung von und der Vermittlung gwischen etwas (vgl. Hüttmann 2009, 37f.). Während im ersten Fall häufig ein bestimmter inhaltlicher Stoff an jemanden weitergegeben wird, betrifft der zweite Prozess die Herstellung von Kontakt zwischen zwei gleichberechtigten Seiten (vgl. Hüttmann 2009, 38). Der Vermittler stellt dabei die Verbindung her, gehört also idealerweise keiner dieser Parteien an. Dennoch muss er beide Seiten gut genug kennen, um Verbindungspunkte zu schaffen, wozu er sich zusätzlicher Mittel bedienen kann. Die Vermittlung ^wischen Publikum und Musik ist für den Aufbau eines langfristigen positiven Verhältnisses von großer Bedeutung, da sie die Bildung emotionaler Bindungen fördert, so die Autorin. Aber auch die Vermittlung von Wissen und Können trägt zu einem lebendigen Umgang mit der Musik bei, so dass sich die beiden Herangehensweisen in der Praxis häufig verschränken (vgl. a. a. O., 59).
1.3 Betrachtungen zur Musikvermittlung
1.3.1 Gründe für die Notwendigkeit von Musikvermittlung
In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Zahl der musikalischen Vermittlungsprojekte in Deutschland deutlich zugenommen (vgl. Wimmer 2010, 17). In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit fand diese Entwicklung im Kinofilm ,Rhythm Is It!’ der Berliner Philharmoniker ihren vorläufigen Höhepunkt, in dem Igor Stravinskis Ballett ,Le sacre du printemps’ als musikalischer Dreh- und Angelpunkt für ein persönlichkeitsbildendes Tanzprojekt mit Schülern fungierte. Mittlerweile unterhalten viele professionelle Orchester eigene ,Education Departments’, die sich um die Entwicklung und Durchführung neuer Vermittlungskonzepte bemühen. Auch Solisten und Ensembles engagieren sich mittlerweile verstärkt in konzertpädagogischen Projekten.
Der maßgebliche Auslöser, der dieses rapide Wachstum aus Sicht von Interpreten, Veranstaltern und Pädagogen nötig gemacht hat, lässt sich eindeutig benennen: Immer mehr Menschen, besonders jüngere Generationen, verlieren den Kontakt zu klassischer Musik und bleiben vermehrt auch Konzerten fern. Die Allensbach-Studie von 2009 zeigt, dass nur knapp 12 % der Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren gerne Klassik hören (vgl. Deutscher Musikrat 2010). Aus einem Dokument des Deutschen Musikrates geht hervor, dass 57 % der befragten 14- bis 24-Jährigen keine klassischen Konzerte besuchen, nur 15 % nutzen entsprechende Angebote öfter als einmal pro Jahr (vgl. Deutscher Musikrat 2008).[3] Weiterhin wird darin aufgezeigt, dass trotz eines außerordentlich hohen Musikkonsums nur ein kleiner Prozentsatz der Befragten in der Freizeit regelmäßig selbst musiziert. Lediglich 15 % der 14- bis 24-Jährigen gaben eine Häufigkeit von „mehrmals im Monat“ an. Eine Erhebung des ,Sociaal en Cultureel Socialbureau’ der Niederlande verdeutlicht die längerfristige Entwicklung: Bei der Zahl der Konzertbesucher im Alter zwischen 22 und 29Jahren ist von 1987 auf 2003 ein deutlicher Einbruch von 11 % auf 7,7 % festzustellen (vgl. Tröndle 2009, 67). Für den vergleichsweise geringen Rückgang von 6 % auf 5,7 % bei den 14- bis 21-Jährigen ist möglicherweise eine niedrigere Selbstbestimmung der Altersgruppe verantwortlich, da viele Jugendliche vor allem mit der Schule oder den Eltern Konzerte besuchen. Diese Zahlen deuten auf eine kontinuierliche Entfremdung von Musik als aktives Erlebnis hin, sowohl seitens des Musik-Machens als auch des Musik-Hörens. Musik wird in unserer Gesellschaft zunehmend nur noch als Hintergrundgeräusch wahrgenommen (vgl. Münch 2008, 271), „die allgegenwärtige Verfügbarkeit von Musik erdrückt das Musikerlebnis.“ (Schulze 2009, 49) Die Erfahrung, den Moment der Musikentstehung unmittelbar zu erleben, geht ebenfalls zusehends verloren. Hans-Joachim Maempel bemerkt hierzu: „Dass aufgeführte Musik auf direktem Weg zum Ohr des Hörers gelangt, ist heute die Ausnahme.“ (Maempel 2008, 231)
Die beschriebene Entwicklung beschränkt sich jedoch nicht nur auf Kinder undjugendliche. Die folgende Grafik offenbart, dass es kein konstantes Durchschnittsalter für eine Klassik-Präferenz gibt, sondern dass diese vor allem an Geburtenjahrgänge gekoppelt ist:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Generationsspezifische Verteilung unterschiedlicher Kohorten in Klassik-Konzerten (aus: Tröndle 2009, 67)
Eindeutig lässt sich hier ein sog. Kohorten-Effekt erkennen: Die bei einer Erhebung aus dem Jahr 2003 am stärksten vertretenen Geburtenjahrgänge 1942 bis 1949 bildeten schon in den Jahren 1995 und 1987 die größte Gruppe der Klassikliebhaber. Die umliegenden Altersstufen verschieben sich analog dazu in einer Art Wellenbewegung, wobei die Besucherzahlen bei den neu dazukommenden Jahrgängen immer weiter abnehmen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Geburtenjahrgänge, die in ihrer Jugend noch keine Popmusik kannten, zwangsläufig stärker mit klassischer Musik sozialisiert wurden (Gembris 2009, 67). Die Bildung und der Erhalt einer entsprechende Präferenz im weiteren Lebensverlauf ist dadurch wahrscheinlicher als z.B. bei späteren Jahrgängen, in denen erstarkende Jugendkulturen auch ihre eigene Musik durchgesetzt haben (vgl. Kalies/Lehmann/Kopiez 2008, 304 sowie Keuchel 2009, 87). Diese Altersgruppen bewahren sich entsprechend ihre Präferenz für Pop- und Rockmusik (vgl. Keuchel 2009, 87 sowie Gembris 2009, 66), was zur in der Grafik sichtbaren Altersverschiebung führt. Eine Zuwendung zu klassischer Musik mit zunehmendem Alter, wie sie im ,lebenszyklischen Modell’ angenommen wird (vgl. Kalies/Lehmann/Kopiez 2008, 304), streite ich damit nicht ab. Diese Theorie kann jedoch nicht den Kohorten-Effekt erklären, weshalb ich ein Zusammenwirken beider Ursachen als Grund für das hohe Durchschnittsalter des Klassik-Publikums zwischen 55 und 60Jahren (vgl. Gembris 2009, 66) für plausibel halte.
1.3.2 Ziele der Musikvermittlung (Audience Development und Ästhetische Bildung)
Die Musikvermittlung soll der beschriebenen Entwicklung entgegenwirken, wobei sich zwei Motivationen voneinander abgrenzen lassen: Audience Development und Ästhetische Bildung.
Das Audience Development „bezeichnet ein Feld des Kulturmanagements, das in Form von flexiblen und vielschichtigen Programmgestaltungen unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Szenen erreichen möchte und in Verbindung mit Maßnahmen der Besucherbildung Projekte der Musikvermittlung und Konzertpädagogik befördert.“ (Wimmer 2010, 59) Das potentielle Konzertpublikum kann heute aus einer Vielzahl von möglichen Freizeit- und Kulturangeboten wählen. Um zu verhindern, dass in Zukunft nur noch eine kleine kulturbegeisterte Schicht die Konzerte der klassischen Musik besucht, müssen in diesem Zusammenhang vor allem Gefühlsbarrieren überwunden werden (vgl. Wimmer 2010, 57). Hierbei ist sowohl eine frühe Heranführung in der Kindheit (vgl. Oskala u. a. 2009, 5) als auch der Aufbau nachhaltiger Beziehungen zu Musik und Kulturinstitutionen ausschlaggebend (vgl. Wimmer 2010, 57).
Das britische Arts Council hat folgende Ziele des Audience Development formuliert (vgl. Siebenhaar 2009, 11ff.):
- Alle Bevölkerungsgruppen sollen Zugang zu Kultur erhalten
- Weiterentwicklung des Bildungspotentials der Bevölkerung
- Erhöhung der Standards von Kultureller Bildung und Kulturvermittlung
- Uneingeschränkte künstlerische Entfaltung des Einzelnen soll ermöglicht werden
- Kunst und Kultur sollen dazu beitragen, soziales Ungleichgewicht zu verringern
Die Ästhetische Bildung hingegen soll Möglichkeiten für ästhetische Erfahrungen eröffnen (vgl. Wimmer 2010, 55). Dabei wird nach „Orten, Räumen und persönlichen Begegnungen zwischen Künstlern und Publikum [gesucht], die diese Auseinandersetzung ermöglichen.“ (Wimmer 2010, 59) Annette Mende und Ulrich Neuwöhner bemerken hierzu: „Für die Herausbildung manifester musikalischer Interessen ist [...] insbesondere das subjektive Erleben der verschiedenen Faktoren entscheidend.“ (Mende/Neuwöhner 2006, 248) Neue Konzertformate und Workshops[4] sind die üblichen Vermittlungswege, um Menschen dieses subjektive Erleben zu ermöglichen. Zwei Ziele stehen dabei im Vordergrund: Die Stärkung von künstlerischen Schlüsselkompetenzen sowie die Förderung von außerhäuslichen Kulturaktivitäten für Kinder und Jugendliche (vgl. Wimmer 2010, 32). Letzteres soll vor allem dem abnehmenden Interesse an Kultur und Kunst entgegen wirken, dessen Ursprung in dem breiten Angebot leicht zugänglicher, vor allem medialer Freizeitangebote gesehen wird. Dabei handelt es sich mitnichten um manipulative Handlungen, die zielgerichtet auf die junge Generation einwirken sollen. In der Musikvermittlung wird auf ein offenes Erfahrungslernen gesetzt (vgl. Wimmer 2010, 56).
Constanze Wimmer benennt vier Dimensionen der Ästhetischen Bildung, die in jedem musikalischen Vermittlungsprojekt vertreten sein sollten:
Tabelle 2: Dimensionen der Ästhetischen Bildung
Audience Development und Ästhetische Bildung formen in der Praxis eine Einheit. Sie verfolgen das Ziel, dem Desinteresse an klassischer Musik und damit auch dem Publikumsschwund entgegenzuwirken, aus unterschiedlichen Richtungen: zum einen aus den Interessen des Anbieters, zum anderen aus denen des Publikums heraus (vgl. Wimmer 2010, 58). Dabei gibt die Ästhetische Bildung die inhaltlichen Linien der Vermittlung vor, während das Audience Development den Rahmen hierfür schafft. Hüttmans Aspekte der Vermittlung von und der Vermittlung gwischen (vgl. Kap. 1.2) manifestieren sich in den beiden Motivationen unterschiedlich stark: Während das Audience Development eher an der Vermittlung zwischen der Musik und den Zuhörern ansetzt, steht bei der Ästhetischen Bildung meist die Vermittlung eines bestimmten Inhaltes im Vordergrund. Beide Vorgehensweisen hängen jedoch oft zusammen und treten selten getrennt voneinander auf.
1.3.3 Gründe für die Förderung und Vermittlung von klassischer Musik
Die beschriebene Kernaufgabe der Musikvermittlung stützt sich auf die oft als selbstverständlich angesehene These, dass klassische Musik in besonderem Maß gefördert werden muss. Dass die Beschäftigung mit Musik im Allgemeinen positive Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft entfaltet, wurde schon vielfach nachgewiesen.[5] Warum aber soll speziell die Klassik gefördert werden, wenn sie sich doch immer geringerer Beliebtheit erfreut?
Am unmittelbarsten wird das Subventionsbedürfnis der klassischen Musik auf wirtschaftlicher Ebene sichtbar. Innerhalb der Branche sind weiter rückläufige Besucherzahlen und damit schwindende Einnahmen zu erwarten, Thomas K. Hamann sagt hier innerhalb der nächsten 30 Jahre einen Rückgang von 36% voraus (Hamann 2005, zit. n. Gembris 2009, 66). Doch auch wenn die Erschließung neuer Besuchergruppen mittels Audience Development eine wichtige Motivation der Musikvermittlung darstellt, reicht die Sorge um die wirtschaftliche Situation als Begründung für die Förderung klassischer Musik nicht aus. Ausfallende Gewinne würden mit hoher Wahrscheinlichkeit in andere Musik- oder Kultursparten fließen, weshalb sich dieses Argument mit dem Hinweis entkräften lässt, in anderen Wirtschaftsbereichen müsse auch flexibel auf die Nachfrage des Marktes reagiert werden.
Das meiner Ansicht nach wichtigste Argument für die Erhaltung und Vermittlung der Klassik ist ihre kulturelle Bedeutung. Die klassische Musik umfasst die hochwertigsten, einflussreichsten oder emotional berührendsten Werke aller vorangegangenen Epochen, sofern sie überliefert sind.
Sie stellt den musikalischen Kulturschatz der westlichen Welt dar, gewissermaßen das Ergebnis einer ästhetischen Auslese.[6] Helmut Plessner beschreibt die Entwicklung und Überlieferung von Kultur in seinen ,Anthropologischen Grundgesetzen’ als ein Grundbedürfnis der menschlichen Existenz (vgl. Plessner 1928, 311f.). Auch in der Bevölkerung herrscht ein allgemeiner Konsens darüber, dass die klassische Musik als Kulturgut bewahrt werden sollte (vgl. Bertelsmann Stiftung 2010). Dies begründet sich meiner Meinung nach durch die erhebliche Bedeutung der Klassik für unsere heutige Zeit. Ein großer Teil unserer Musiktradition geht auf sie zurück oder wurde von ihr beeinflusst. Wie in allen Bereichen der Wissenschaft und Kultur bauen wir auf dem Wissen und den Errungenschaften vorangegangener Generationen auf. Viele musikalische Parameter wie Metrum, Tonalität oder Harmonik wurden und werden in der Popularmusik weitergeführt. Wer heutige Musik tiefergehend begreifen möchte, muss um ihre Entstehungsgeschichte wissen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kann auch Identität stiften, indem sie uns dazu anregt, über unsere eigene Gesellschaft und Existenz zu reflektieren. Darum formuliert das Projekt ,Kulturgutschutz Deutschland’ auf seiner Homepage: „Kulturgüter müssen geschützt werden, denn sie sind für Menschen und Nationen identitätsstiftend. Wichtige Zeugnisse der Menschheitsgeschichte sollen für die nachfolgenden Generationen erhalten bleiben und der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden.“ (Kulturgutschutz Deutschland 2010)
In der Musikvermittlung wird diese Erhaltung nicht durch Konservierung oder Ausstellung praktiziert, sondern indem die Relevanz und Aktualität der Musik erfahrbar gemacht wird (vgl. Kap. 1.3.2). Unabhängig von ihrer Entstehungszeit lassen sich vielfältige Bezüge zwischen klassischen Werken und unserer Lebenswelt herstellen. Dies gelingt, weil Kunst universelle Gefühle oder Bedürfnisse anspricht. Die anhaltende Bedeutsamkeit für den Zuhörer ist ein weiterer Grund für die Erhaltung klassischer Musik. Bedeutung und Wirkung eines Musikstückes wandeln sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen, aber dies ist ein lebendiger Prozess: So wie Shakespeare zeitgenössisch verfilmt wird oder Bildende Künstler alte Meisterwerke bearbeiten, kann auch die klassische Musik den inhaltlichen Dialog mit uns aufnehmen, weil ihre Aussagen übertragen werden können. Schon lange ist es beispielsweise üblich, Opern nicht nur historisch zu inszenieren, sondern ihren Inhalt zeitgenössisch zu interpretieren. Einen ähnlichen Weg gehen Vermittlungsprojekte wie ,Tschaikowsky’s Last Waltz’ (vgl. Wimmer 2010, 141), bei welchem Jugendliche eine sowohl inhaltlich als auch künstlerisch zeitgemäße Konzerteinführung zu Tschaikowskys 6. Symphonie erarbeitet hatten.
Hierbei möchte ich betonen, dass ich nicht nur Werke der so genannten Kunstmusik als kulturell bedeutsam erachte. Eine solche Vorstellung wird besonders innerhalb der Hochkultur durch die nicht unproblematische begriffliche Abgrenzung zwischen ,Unterhaltungsmusik’ und subventionierter ,Ernster Musik’ suggeriert. Historisch betrachtet geht diese Trennung auf § 7 des Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes von 1965 zurück, welcher besagt „[...] daß kulturell bedeutende Werke und Leistungen [durch die Verwertungsgesellschaften] zu fördern sind.“ (Urheberrechtswahrnehmungsgesetz 2007, 3) Mittlerweile profitiert neben der Klassik allgemein Musik von dieser Bestimmung, die sich wirtschaftlich nicht trägt, aber von einer größeren Hörerschaft als interessant oder erhaltenswert eingestuft wird. Dies bedeutet allerdings im Umkehrschluss nicht, dass Werke oder Stilistiken, die dieser Förderung nicht bedürfen, automatisch kulturell weniger wertvoll sind. Die wirtschaftlich erfolgreiche Popularmusik etwa bringt ebenfalls bedeutende Werke hervor, auch wenn ihr von Musikästheten wie Adorno oder Hanslick mangelnde Tiefe oder Komplexität attestiert wurde.[7] Die Qualität von Musik kann sich jedoch auf verschiedenen Ebenen manifestieren, ihr Wert ergibt sich für den Hörer aus einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren. Indes: „Die generelle Frage nach dem Wert einer Musik ist problematisch und gehört in den Bereich der Musikästhetik“ (Kalies/Lehmann/Kopiez 2008, 310), eine eingehende Betrachtung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Trotzdem möchte ich festhalten, dass die Erhaltung der klassischen Musik der Bewahrung einer vielfältigen Musiklandschaft (vgl. Tröndle 2009, 78) dient, in welcher der Hörer sich und seine Wahrnehmung der Wirklichkeit wieder finden kann. Ihre Förderung hat nicht die Verdrängung anderer Stilistiken zum Ziel.
Zusammengefasst qualifiziert sich die klassische Musik aus folgenden Gründen zum hauptsächlichen Gegenstand der Musikvermittlung:
- Die klassische Musik bedarf der Vermittlung, weil sie kein Teil des Mainstream mehr ist. Damit ist sie für viele Menschen ungreifbar geworden.
- Die klassische Musik sollte vermittelt werden, da sie aufgrund von Selektions-Prozessen vornehmlich die herausragendsten Werke vergangener Epochen umfasst.
- Die klassische Musik muss vermittelt werden, um dieses kulturelles Erbe in der Gesellschaft lebendig zu halten und dessen Relevanz aufzuzeigen.
1.3.4 Neue Musik als Objekt der Musikvermittlung
Die Neue Musik ist aus verschiedenen Gründen ganz besonders auf die Musikvermittlung angewiesen, wenn sie sich einem breiteren Publikum erschließen soll.
Die Neue Musik ist besonders stark von den negativen Auswirkungen des Konzertbesucherrückgangs und der steigenden Bedeutung der Massenmedien betroffen. Die übliche Form der Rezeption Neuer Musik ist das Konzert, da viele Konzept-Kunstwerke mit visueller Komponente, spezielle Instrumente oder Spieltechniken ohne die räumliche oder visuelle Dimension erheblich an Wirkung verlieren. Tonträger und Aufnahmen sind infolgedessen hauptsächlich für wirkliche Liebhaber von Bedeutung, weshalb sie in den Massenmedien kaum Beachtung finden. Deshalb stellt der Bedeutungsverlust von Livekonzerten ein Problem für die Rezeption, aber vor allem auch für die Verbreitung der Neuen Musik dar.
Noch ausgeprägter als bei sonstiger klassischer Musik besteht eine erhebliche Diskrepanz zwischen heutigen Hörgewohnheiten und Neuer Musik (vgl. Zehme 2005, 15), so dass diese von der Mehrheit der Bevölkerung als befremdlich und nicht nachvollziehbar abgelehnt wird. Ähnlich verhält es sich innerhalb der Szene: Während sehr viele Hörer der Neuen Musik auch allgemein der Klassik zugetan sind (vgl. Zehme 2005, 132), ist dies umgekehrt nicht der Fall (vgl. Keuchel 2009, 86). Dies ist auf ihre Untauglichkeit als Gebrauchsmusik zurückzuführen, welche auch ihren wirtschaftlichen Erfolg und damit eine großflächige Verbreitung verhindert. Dies begründet sich maßgeblich in der Abkehr von allgemein als ,schön’ anerkannten Idealen: „In progressiver Musik pflegt des Öfteren die Inversion des mehrheitlich für schön Befundenen das Schöne zu sein. Derartige Musik verstößt damit — meist auf Kosten der Mehrheitsfähigkeit — gegen die universell-anthropologische Sicht des Schönen.“ (Rösing 2005, 205f.) Die Einführung der Atonalität und damit die radikale Emanzipation der 12 Töne unseres Tonsystems ist nur ein Beispiel für diese Entfremdung (vgl. Zehme 2005, 14).
Eine weitere stilprägende Eigenart ist die Unausgewogenheit von Allgemeinem und Besonderem. Gemeint ist hiermit das vielschichtige Verhältnis zwischen Gewohntem (z.B. konventionelle Kadenzen oder Klangfarben) und dessen Unterbrechung durch Ungewohntes (z. B. Dissonanzen oder überraschende Wendungen, auch formaler Art). Während in Musik früherer Epochen das Musikalisch-Allgemeine dominierte und die Verarbeitung des thematischen Materials im Vordergrund stand, zehrt in der Neuen Musik das Besondere das Allgemeine auf (vgl. Zehme 2005, 16). Aufgrund der daraus resultierenden hohen Komplexität lassen sich viele Werke ohne ein hohes Maß an kultureller Bildung und Abstraktionsvermögen nur schwer nachvollziehen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Musik solange eine Universalie ist, wie man in ihr Regeln und Strukturen erkennen kann, wogegen die Neue Musik häufig verstößt (vgl. Oerter/Lehmann 2008, 89). Obwohl verschiedene Strömungen der Postmoderne diese Entwicklung durch die erneute Hinwendung zur Tonalität relativierten (vgl. Zehme 2005, 11), hat sich an der grundlegenden Problematik wenig geändert. Auch das Bild der Neuen Musik in der Öffentlichkeit ist dasselbe geblieben. Dieser Status Quo spiegelt sich im Kulturbetrieb wieder: Nur 5 % der aufgeführten klassischen Musik ist zeitgenössisch (vgl. Kellersmann 2009, 197). Die Vermittlung von klassischer Musik führt jedoch immer auch zu einer Gewöhnung des Publikums an gemeinsame Merkmale, die sich in der Neuen Musik wieder finden lassen. Hierzu zählen z.B. eine vergleichsweise hohe Komplexität, das verwendete Instrumentarium, der Aufführungsrahmen, die Auswahl der Stoffe oder der Rückgriff auf ältere Formen und Gattungen. Die klassische Musik kann deshalb als vermittelndes Bindeglied, als langsame Annäherung fungieren, so dass die wachsende Vertrautheit nach und nach zu erhöhter Beliebtheit führen kann (vgl. Münch 2008, 274). Zudem ist auch für ein tieferes Verstehen der Neuen Musik die Kenntnis von Herkunft und Entwicklung ihrer Tonsprache wichtig.
Aufgaben des Audience Development und der Ästhethischen Bildung bei der Vermittlung von Neuer Musik Henriette Zehme stellt als Basis für die Rezeption Neuer Musik „kulturelle[s] Kapital [...] und musikalische Vorbildung“ fest (Zehme 2005, 11). Dazu Beatrix Borchard: „Je mehr man über die inneren Gesetzmäßigkeiten von Musik weiß, desto differenzierter kann man musikalische Strukturen wahrnehmen.“ (Borchard 2009, 220) Die Musikvermittlung kann diese Grundlagen schaffen, indem das Verständnis für Neue Musik gefördert wird und Berührungsängste abgebaut werden. Hierbei zeigt sich beispielhaft die notwendige Verflechtung von Ästhetischer Bildung und Audience Development.
Die Aufgabe der Ästhetischen Bildung besteht darin, dem Publikum Tonsprache, Inhalte und Hintergründe der Neuen Musik auf ansprechende Art zugänglich zu machen. Dies geschieht in Hinblick auf die genannten vier Dimensionen (vgl. Kap. 1.3.2), indem ein begleiteter Rahmen des aktiven Zuhörens geschaffen wird, wobei die direkte Partizipation der Anwesenden am musikalischen Geschehen die persönliche Erfahrung verstärkt. Auch wenn hierbei langfristig eine allgemeine musikalische Bildung des Publikums angestrebt wird, sollte heute jedes Werk im Konzert so präsentiert werden, dass es sich den Zuhörern zumindest grundlegend auch ohne Vorbildung erschließt.
Dem Audience Development kommt die Aufgabe zu, die vorhandenen Berührungsängste und Vorbehalte abzubauen, indem Formate entwickelt werden, welche neue Publikumsschichten ansprechen. Noch mehr als ältere klassische Musik ist die Neue Musik eine Domäne der Bildungselite. Eine Besucherbefragung bei den Dresdner Tagen der Neuen Musik 1999 ergab, dass 70,1 % der Stammhörer einen Hochschulabschluss vorweisen konnten (vgl. Zehme 2005, 109f.). Der Anteil der höher gebildeten (Abitur oder Fachabitur) am Gesamtpublikum betrug 79,2 %. Insgesamt interessieren sich nur knapp 8 % der deutschen Bevölkerung für Neue Musik (vgl. Keuchel 2009, 86), deren Zugehörigkeit zu gebildeten Milieus ebenfalls wahrscheinlich ist. Aufgrund der niedrigen Bekanntheit von Neuer Musik ist es deshalb zum Zweck ihrer Vermittlung von zentraler Bedeutung, sie ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zu rücken und dort zu verankern, damit überhaupt Interesse und damit die Vorraussetzungen für eine Präferenzbildung entstehen können.
1.3.5 Gründe für die Förderung und Vermittlung von Neuer Musik
Im aktuellen Diskurs über die Förderung klassischer Musik wird immer wieder herausgestellt, dass die Neue Musik ganz besonders der Förderung bedarf. Hierüber sind sich nicht nur zahlreiche Fördervereine, Gesellschaften oder Interessenverbände einig, sondern auch Stellen wie die Kultusministerkonferenz oder der Verband deutscher Musikschulen (vgl. Kulturausschuss 1996, 3 sowie Aly 2007, 5). Argumente hierfür in Erfahrung zu bringen gestaltet sich allerdings überraschend schwierig. Keine einzige der weltweit wichtigsten Gesellschaften für Neue Musik klärt auf ihrer Internetpräsenz den Interessierten über Relevanz, Ziele oder Hintergründe der Neuen Musik auf. Da gerade hinsichtlich ihrer kulturellen Bedeutung einige Unterschiede zu älterer Klassik bestehen, werde ich selbst einige Gründe für die Förderung der Neuen Musik herausstellen.
Grundlegendster Unterschied ist die Aktualität der Neuen Musik. Die Neue Musik kann bisher nur wenige Werke vorweisen, die größeren Einfluss auf Kunst und Kultur entfaltet haben[8], darum gilt der Förderungsauftrag der Verwertungsgesellschaften nur eingeschränkt. Ihre kulturelle Bedeutung manifestiert sich vorwiegend darin, dass sie die Kunstmusik unserer Zeit ist. Wie jede autonome Kunst hat sie die kritische Auseinandersetzung des Rezipienten mit ihrem Inhalt zum Ziel: „Kunst und Kultur [...] bieten Reibungsflächen zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit [...].“ (Deutscher Kulturrat 2010, 1) In diesem Zusammenhang stellt sie ein Mittel der Kulturellen Bildung dar, indem sie durch die Auseinandersetzung mit Themen aus Gesellschaft, Religion oder Philosophie zum Nachdenken anregt sowie neue Blickwinkel auf unsere Zeit eröffnet. Julian Johnson hält in diesem Zusammenhang fest: „[Art] takes aspects of our immediate experience and reworks them, reflecting them back in altered form.”[9] (Johnson 2002, 5) Dadurch unterscheidet sich die Neue Musik auch von denjenigen aktuellen Stilistiken, welche größtenteils unterhaltende oder funktionale Musik hervorbringen.
Darüber hinaus leistet die Neue Musik einen Beitrag zum in Kapitel 1.3.3 geforderten Erhalt der Lebendigkeit unseres kulturellen Erbes. Nicht nur weist sie durch ihre direkte Nachfolge nach wie vor enge Verbindungen zu früheren Stilistiken auf, viele Komponisten stellen hier auch ganz konkret Bezüge her. Immer wenn auf alte Formen, Werke oder andere Vorlagen zurückgegriffen wird, geschieht dies mit dem Blick unserer Zeit (vgl. die Kompositionen von Zimmermann, Schnittke, Berio, Ligeti, Ajax). Musikalische Einflüsse der Popularmusik sowie Kooperationen mit anderen Kunstformen verstärken diese Lebendigkeit.
Ihre hauptsächliche Bedeutung erhält die Neue Musik aus ihrer völligen musikalischen Freiheit, welche sie zu einer innovativen Kraft macht. Dies ist ein zentrales Element der Neuen Musik, was die Kultusministerkonferenz in einer Empfehlung zur Förderung derselben andeutet: „Mit ihrer Hinwendung zu neuen Ausdrucksformen und Tonsprachen konnte die zeitgenössische Musik [...] neue, bislang ungeahnte Klangwelten und Erlebnisräume öffnen“ (Kultusministerkonferenz 1996, 2). Welche Bedeutung diese Innovationen für unsere kulturelle Vielfalt haben, wird im folgenden Zitat vonjulianjohnson deutlich: “Because in art, and music most of all, what is said is inseparable from how it is said. [...] Beethoven’s Pastoral Symphony doesn’t tell us anything about nature; it tells us about a particular way of being human, in part defined by how we construct ourselves in relation to our experience of nature. So when Debussy or Webern or Birtwistle write in a different way, they are not simply dealing with nature in different musical styles; they are offering us different insights into our collective understanding of what it is to be human in a different historical context.”[10] (Johnson 2002, 104) Die Neue Musik formuliert also nicht nur anders, auch die Botschaft unterscheidet sich, neue Klangwelten bedeuten auch neue Arten der Betrachtung. Durch ihre radikale Offenheit kann sie sich vielschichtiger, ungebundener und umfassender mit unserer Wirklichkeit auseinandersetzen als jede andere aktuelle Stilistik. Meiner Ansicht nach vereint sie darum auf ideale Weise den kulturellen Auftrag der Kunstmusik mit der inhaltlichen Aktualität der Popularmusik.
Diese Flexibilität erweist sich auch im pädagogischen Kontext als nützlich. Die Neue Musik lässt sich fast beliebig in verschiedenste Veranstaltungsformate einbinden und wenn nötig auch im positiven Sinn ^instrumentalisieren’, um außermusikalische Ziele zu erreichen. Dabei kann sie sowohl Gegenstand der Vermittlung als auch Medium sein, um beispielsweise Partizipationsmöglichkeiten zu bieten (improvisatorisch, kompositorisch oder reproduzierend) oder kreative Prozesse innerhalb anderer Kunstformen anzuregen. Ebenso vermag sie überkulturell Brücken zu schlagen, da sich in der Neuen Musik Einflüsse aus den unterschiedlichsten Musiktraditionen zusammenfinden, die in unserem globalisierten Zeitalter völkerverbindende Aussagen annehmen können.
In Anlehnung an die Begründungen zur Klassik-Förderung fasse ich in Bezug auf die Neue Musik zusammen:
- Durch ihre Flexibilität lässt sie sich leicht mit verschiedenen pädagogischen Anliegen in Einklang bringen.
- Sie führt unser kulturelles Erbe aktiv weiter und hält es so lebendig, was darüber hinaus zu kultureller Vielfalt beiträgt.
- Besonders hochwertige oder einflussreiche Werke der Neuen Musik müssen aufgrund ihrer kulturellen Bedeutung erhalten werden.
- Ihre Innovativität eröffnet neue Erlebnisräume und Betrachtungsweisen.
- Sie greift das aktuelle Zeitgeschehen auf und trägt so zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit unserer Lebenswelt bei.
2. Entwicklung der konzertpädagogischen Ansätze und Methoden meines Vermittlungsprojektes
2.1 Leitziel des Projektes und Ausdifferenzierung in Ansätze
Die Aufstellung von Leitzielen stellt einen wichtigen Schritt bei der Konzeption von Vermittlungsprojekten dar, da sie die Basis für eine zielorientierte und damit planvolle Umsetzung bilden (vgl. Wimmer 2010, 91). Sie spielen ebenfalls bei der Evaluation eine wichtige Rolle: „Um Feedbacks sinnvoll einholen und den Erfolg von Projekten richtig evaluieren zu können, bedarf es bereits bei der Projektentwicklung einer gründlichen Definition der Ziele [...] des Vermittlungsansatzes.“ (Wimmer 2010, 93) Diese können sich in der Musikvermittlung auf so unterschiedliche Bereiche wie die grundlegende pädagogische Arbeit, das Setzen gesellschaftlicher Impulse oder die Erschließung neuer Publikumsgruppen beziehen (vgl. Wimmer 2010, 10). Das Leitziel meines Vermittlungsprojektes ergibt sich unmittelbar aus der Forschungsfrage dieser Arbeit:
Leitziel des Projektes ,Alles glänzt...so schön neu!’
Ziel meines Projektes ist die Konzeption eines Konzertes für jugendliche (Klasse 9 bis 11 des Gymnasiums), welches bei diesen Interesse für Neue Musik wecken soll, indem sie auf vielfältige Arten mit der Musik bekannt gemacht werden.
Als Interesse bezeichnet Wikipedia sowohl die kognitive als auch emotionale Anteilnahme, welche eine Person einer Sache entgegenbringt (vgl. Wikipedia: Interesse). Die Arten der Heranführung an Neue Musik, meine Vermittlungsmethoden, sollen den Grad dieser Anteilnahme maximieren. Ich ergänze darüber hinaus diese Definition um einen Aspekt, der für die Vermittlung von Bedeutung ist: Interesse ist ebenfalls die Bereitschaft, sich mit einer Sache weiterführend zu beschäftigen. Das Konzert soll nicht nur für die Dauer der Veranstaltung, sondern möglichst langfristig anhaltendes Interesse wecken.
Das Leitziel lässt sich in drei Teilziele ausdifferenzieren, die ich Ansätze nenne. Als Ansatz bezeichne ich eine leitende Denkrichtung, eine bestimmte Herangehensweise an das Leitziel des Projektes, welche dieses für die Auswahl und Umsetzung der Methoden konkretisiert. Obwohl es inhaltlich dabei teilweise zu Berührungen und Überschneidungen kommt, lassen sich die verschiedenen Ansätze in ihrem Kern klar voneinander abgrenzen. Zuerst befasse ich mich mit dem Distangabbau sowie der Erzeugung und Steigerung von Aufmerksamkeit. Über diese beiden Ansätze nähere ich mich an meinen wichtigsten Ansatz, die Orientierung an der Zielgruppe, an.
2.1.1 Erster Ansatz: Distanzabbau
Die Betrachtungen in Kapitel 1.3.1 haben gezeigt, dass ein Kernproblem bei der Vermittlung klassischer Musik ihre große Distanz zu den Zuhörern ist. Heiner Gembris stellt dazu zusammenfassend fest, „[...] dass mangelnde Vertrautheit und eine klassikferne musikalische Sozialisation, das Fehlen subjektiv positiver Erfahrungen bzw. negative Erfahrungen mit klassischer Musik, Informationsmangel, eine Lebenswelt, in der klassische Musik kaum eine Rolle spielt, mangelnde gefühlsmäßige Ansprache und das (Negativ-) Image klassischer Musik zu den wichtigsten Faktoren zählen, die zu Distanz und Desinteresse an klassischer Musik führen.“ (Gembris 2009, 76) Der von mir gewählte Oberbegriff der Distanz umfasst dabei alle Aspekte dieser Entfernung und Entfremdung, seien sie sozialer, ästhetischer oder kognitiver Natur. Die etymologische Bedeutung der Vermittlung als Bindeglied zwischen zwei Parteien offenbart bildlich verstanden, dass ohne unmittelbaren Kontakt keine Beziehungen zwischen diesen geknüpft werden können. Weitere typische Begrifflichkeiten aus dem Arbeitsfeld wie ,heranführen’, ,Begegnungen schaffen’ oder das ,Erreichen gesellschaftlicher Gruppen’ (vgl. Kap. 1.3.2) unterstreichen dieses Vorhandensein von Distanz. Um die notwendige Anschlussfähigkeit an die Lebenswirklichkeit des Publikums zu sichern und damit die Vorraussetzung für Interesse zu schaffen, muss diese Distanz abgebaut werden.
Eine gelungene Vermittlung zeichnet sich in diesem Zusammenhang durch die Herstellung von Gemeinsamkeiten zwischen Musik und Publikum aus (vgl. Wimmer 2010, 62). Dabei werden die bisherige musikalische Sozialisation sowie das Freizeitverhalten meiner Zielgruppe eine tragende Rolle spielen: „Die Lebenswelt, aus der die Musik erwachsen ist, [soll] sich mit der Alltagswelt der Jugendlichen verbinden, ohne darin aufzugehen.“ (Wimmer 2010, 110) Um dies zu erreichen müssen Anknüpfungspunkte geschaffen werden, die Offenheit und ein Interesse an den Jugendlichen als Beziehungspartner signalisieren (vgl. Hüttmann 2009, 64f.). Dies geschieht nicht nur durch eine begleitende Heranführung an die Musik und die Begegnung mit den Interpreten, sondern auch durch den Abbau von Vorbehalten im Vorfeld der Veranstaltung. Die bereits angeführten vier Dimensionen der Ästhetischen Bildung (vgl. Kap. 1.3.2) stellen Wege dar, um das Ziel der Distanzverringerung zu erreichen. Die Berücksichtigung dieses Ansatzes ist notwendig, damit die Vermittlungsinhalte für die Jugendlichen persönlich bedeutsam werden können: „Im Dialog zwischen der Musik und dem Publikum kann die Ausdrucksbreite der Musik für den Einzelnen spürbar und ihr Sinn als Spiegel des Lebens nachvollziehbar werden.“ (Wimmer 2010, 110)
2.1.2 Zweiter Ansatz: Erzeugung und Steigerung von Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit bezeichnet in der Psychologie die Zuweisung der limitierten Bewusstseinsressourcen auf Bewusstseinsinhalte wie die Wahrnehmung der Umwelt (vgl. Wikipedia: Aufmerksamkeit). Dies ist ein selektiver Prozess, der bestimmt, welche Sinneseindrücke im Gehirn weiterverarbeitet und gespeichert werden. Das Wecken und die Konzentration von Aufmerksamkeit stellt laut den ,Nine Events of Instruction’ von Robert Gagné den ersten Schritt auf dem Weg zu einem Lernziel dar (vgl. Wikipedia: Robert Gagné). Übertragen bildet das Erzeugen von Aufmerksamkeit somit die Grundlage jeder Vermittlung.
Herkömmliche Konzertveranstaltungen setzen voraus, dass das anwesende Publikum prinzipiell an den dargebotenen Inhalten interessiert und deshalb aufmerksam ist. Vermittlungsprojekte wenden sich jedoch oft an Publikumsschichten, die erst für die Musik begeistert werden müssen. Deshalb sollten die verwendeten Methoden und ihre Umsetzung so auf die Zielgruppe abgestimmt sein, dass sie deren Aufmerksamkeit erregen. Die hierfür zur Verfügung stehenden Mittel sind mannigfaltig und können Abwechslungsreichtum, Wiedererkennungseffekte und Bezüge zur Lebenswelt ebenso umfassen wie das Aufgreifen und die Weiterführung von vorhandenem Wissen, was von Gagné als ,stimulate recall’ bezeichnet wird. Bezogen auf mein Leitziel verfolgen diese Mittel den Zweck, die Entwicklung von Verständnis, Akzeptanz und Präferenz (vgl. Banse/Schmidt-Banse 2009, 243) für die Neue Musik zu fördern.
Diese Vorgehensweise birgt jedoch auch die Gefahr, den Vermittlungsinhalt zu banalisieren oder in einen Aktionismus abzugleiten (vgl. Koch 2010, 1), der die Präsentation und die Anhäufung von Reizen über die Qualität der Vermittlung stellt. Der Ansatz soll nicht dazu führen, dass dem Publikum durch überflüssige Schlaglichter inhaltliche Tiefe vorgetäuscht wird, sondern er soll Vorhandenes bewusst und somit erlebbar machen. Gerade ein Zuhörer ohne Vorbildung kann seine Aufmerksamkeit besser lenken, wenn er Orientierungshilfen angeboten bekommt. Ich bin überzeugt, dass der Ansatz der Aufmerksamkeitssteigerung jeden Aspekt eines Vermittlungsprojektes durchdringen sollte, wenn er nicht als Effekthascherei, sondern als Stimulus für Interesse oder Konzentration verstanden wird. Ohne die Aufmerksamkeit des Publikums lassen sich auch die vier Dimensionen der Ästhetischen Bildung (vgl. Kap. 1.3.2) nicht verwirklichen.
2.1.3 Dritter Ansatz: Zielgruppenorientierung
Aus den bisher aufgestellten Ansätzen wird deutlich, dass der Orientierung an der Zielgruppe eine zentrale Bedeutung bei der Planung eines Vermittlungsprojektes zukommt (vgl. Wimmer 2010, 93 und 111). Der Versuch einer Herstellung von Gemeinsamkeiten und Anknüpfungspunkten zwischen Musik und Zuhörer zur Distanzverringerung führt zu der Frage, wo überhaupt diese Gemeinsamkeiten liegen. Den Zusammenhang zur Aufmerksamkeitssteigerung verdeutlicht die Auffassung von Georg Franck, der Aufmerksamkeit als subjektives Erleben mit sinnlichen Qualitäten definiert (vgl. Franck 1998, 16). Die stattfindende Selektion ist also individuell verschieden, wobei angenommen werden kann, dass ein vergleichsweise homogenes Publikum auch eine ähnliche Wahrnehmung und ähnliche Interessen teilt. Um also Aufmerksamkeit zu erregen und die Distanz, die konträr zum Ziel der Vermittlung steht, zu überbrücken, muss vor allem auf eine an der Zielgruppe ausgerichtete Projektkonzeption geachtet werden (vgl. Wimmer 2010, 110).
Der Ansatz der Zielgruppenorientierung basiert auf den Unterrichtsprinzipen der Schülerorientierung und der Differenzierung (vgl. Wikipedia: Unterrichtsprinzipien). Diese stellen die Individualität des Lernenden in den Vordergrund und knüpfen gezielt an dessen Vorerfahrung und Lebenssituation an, um darauf aufbauend neue Lerninhalte zu vermitteln. Hierbei sollten das Milieu, die Lebensumstände, die Vorbildung, die Hörgewohnheiten, das Kulturverhalten sowie die Erwartungen und Bedürfnisse der Zielgruppe ebenso beachtet werden wie mögliche Abgrenzungsreaktionen zu ästhetischen Codes[11] anderer Publikumsgruppen. In diesem Punkt wird im traditionellen Konzertwesen abseits der Musik oft unbewusst eine unnötige Distanz zu vielen Milieus erzeugt, indem Codes hochkultureller Milieus von den Veranstaltern als neutral missverstanden und verwendet werden. Volker Kirchberg fordert in diesem Zusammenhang, der Besuch einer Konzertveranstaltung müsse auf sozialer Ebene ähnlich barrierefrei sein wie ein Kinobesuch (vgl. Kirchberg 2009, 159).
Die Orientierung an der Zielgruppe beeinflusst maßgeblich die Wahl und die Durchführung der verwendeten Methoden. Nur in Verbindung mit diesem Ansatz können die beiden zuvor genannten Ansätze ihre volle Wirksamkeit entfalten. Gleichzeitig wird dadurch eine genauere Untersuchung der Zielgruppe nötig (vgl. Wimmer 2010, 111), um bestimmen zu können, welche Motive, Interessen, Vorerfahrungen oder Verhaltensweisen aufgegriffen werden können.
2.2 Zielgruppenanalyse
Die genaue Kenntnis der Bedürfnisse und Wahrnehmungsarten der Zielgruppe ist ein grundsätzliches Qualitätsmerkmal von Vermittlungsarbeit (vgl. Wimmer 2010, 93). Für das Projektkonzert habe ich Jugendliche der Klassenstufen 9 bis 11 der Würzburger Gymnasien als Zielgruppe ausgewählt und eingeladen. Diese sind in der Regel zwischen 14 und 17 Jahre alt. Da sich keine 9. Klasse angemeldet hatte, konnte hier bei der Planung noch näher eingegrenzt werden. Trotz dieses engen Rahmens ist die Zielgruppe nur begrenzt homogen (vgl. de la MotteHaber/Neuhoff 2007, 456). Freizeitverhalten, Musikpräferenzen, soziale und kulturelle Herkunft sowie die damit einhergehende Weltsicht können erheblich voneinander abweichen. Die vorliegenden Informationen lassen dennoch auf einige Gemeinsamkeiten schließen, die als vergleichbar angenommen werden können:
- Bildungsniveau (gleiche Schulart)
- PersönlicheEntwicklungsstufe (ähnliches/gleiches Alter)
- Musikalische Sozialisation und Medieneinfluss (Heranwachsen in derselben Gesellschaft)
Auf der Basis verschiedener Untersuchungen lassen sich dazu und darüber hinaus weitere Vermutungen in Bezug auf meine Zielgruppe anstellen. Diese habe ich im Hinblick auf Relevanz für meine Arbeit selektiert und im Folgenden thematisch geordnet.
2.2.1 Entwicklungspsychologische Faktoren
Meine Zielgruppe befindet sich in der Lebensphase der Adoleszenz (vgl. Berk 2005, 502). Diese beginnt in der Regel mit dem Einsetzen der Pubertät und kann sich heutzutage aufgrund längerer Ausbildungszeiten vor dem Eintritt ins Berufsleben bis Ende zwanzig erstrecken (vgl. de la Motte-Haber/Neuhoff 2007, 457 sowie Shell 2006, 33). Die darin häufig auftretende Identitätskrise, Ausdruck von körperlichen und kognitiven Veränderungen, wird von den Teilnehmern entweder gerade durchlebt oder wurde schon überwunden (vgl. Petrat 2001, 64f.). Nach Piagets Entwicklungsmodell befinden sie sich in der formal-operationalen Stufe (vgl. Berk 2005, 502): Sie sind in der Lage, mit „Operationen zu operieren“ (ebd.), also abstrakte Gedanken abseits von Realitätsbeobachtungen zu denken. Damit können auch komplexe Werke der Neuen Musik nicht nur auf emotionaler Ebene erlebt, sondern auch kognitiv analysiert und durchdrungen werden.
Die Rezeptionsbereitschaft gegenüber unbekannten musikalischen Eindrücken nimmt hingegen mit steigendem Alter kontinuierlich ab; „so kann man noch bei den 11-Jährigen eine grundsätzliche Offenheit erkennen, die aber schon bei den 13-Jährigen stark zurückgegangen ist.“
(Behne 1996; zit. n. Bäßler/Nimczik/Schatt 2004, 9) Der Umstand, dass der überwiegende Teil der Vermittlungsangebote in unserer Kulturlandschaft auf Kinder ausgerichtet ist, spiegelt dies wieder. Allerdings rücken mögliche positive Begegnungen dieser Art im Lauf der Zeit wieder in den Hintergrund, wenn nicht kontinuierlich mit den Heranwachsenden an diese Erlebnisse angeknüpft wird, da sie von dominanteren Eindrücken verdrängt werden. Gerade im Lebensabschnitt der Jugend, der durch die Suche nach Orientierung und die Ausprägung der Persönlichkeit gekennzeichnet ist und damit geschmacksbildnerisch für das weitere Leben prägend wird (vgl. Kleinen 2008, 46 sowie Bahmert/Oggenfuss 2005, 1), sind junge Menschen vielen konkurrierenden Einflüssen ausgesetzt. Präferenzen, welche diesen Lebensabschnitt überstehen, bleiben auch im Erwachsenenalter bedeutsam, wohingegen weniger durchsetzungsfähige Präferenzen aus dem Kindesalter aussortiert und abgelegt werden (vgl. Bauer Media 2009, 39 und 43).
2.2.2 Bedeutung des Bildungsniveaus
Aufgrund des hohen Bildungsniveaus meiner Zielgruppe kann von einer überdurchschnittlichen musikalischen Vorbildung ausgegangen werden, auch Erfahrungen mit klassischer Musik im gymnasialen Musikunterricht sind zu erwarten. Es ist ebenfalls davon auszugehen, dass sich überdurchschnittlich viele Freizeitmusiker oder -künstler im Publikum befinden und Kunst insgesamt einen höheren Stellenwert einnimmt (vgl. Zehme 2005, 164). Auch die Häufigkeit von Konzertbesuchen korreliert stark mit der Schulbildung, so dass viele schon mindestens einmal ein Klassik-Konzert besucht haben dürften (vgl. Wimmer 2010, 40 sowie Keuchel/Wiesand 2006, 215). Aufgrund dieser Punkte ähneln Gymnasiasten verglichen mit anderen Gleichaltrigen noch am ehesten dem typischen Publikum für Neue Musik (vgl. Zehme 2005, 185/186). Da allerdings Neue Musik erst in diesen Klassenstufen im Lehrplan vorgesehen ist und möglicherweise noch gar nicht behandelt wurde, sind hier allenfalls rudimentäre Kenntnisse zu erwarten.[12]
2.2.3 Motivation und Motive
Als Motivation werden in der Psychologie grundsätzlich alle individuellen Bedingungen und Beweggründe, welche die Aktivität eines Menschen antreiben, bezeichnet (vgl. Petrat 2000, 180). Die Basis der Motivationstheorie ist das Motiv, eine zeitlich relativ stabile Disposition, die beschreibt, „wie wichtig einer Person eine bestimmte Art von Zielen ist.“ (Wikipedia: Motiv) Dagegen ist die Motivation die variable Handlungsbereitschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt, ein Zusammenwirken aus Motiv und Situation (vgl. Abel-Struth 2005, 187 sowie Wikipedia: Motivation).
Die verhaltensbiologischen Auslöser für jede Motivation sind der menschliche Selbsterhaltungstrieb, ein grundlegendes Sicherheitsbedürfnis und das Verlangen nach einem stabilen Selbstkonzept (vgl. Petrat 2000, 183). Motivationen lassen sich grundsätzlich in zwei Gruppen einteilen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 3: Motivationsarten
Die extrinsische Motivation wird in der Pädagogik hauptsächlich als Mittel zur Anregung von intrinsischer Motivation angewandt, da sie sich nicht dauerhaft von selbst aufrecht erhält (vgl. Petrat 2000, 185f.). Im Umgang mit Musik ist die intrinsische Motivation von größerer Bedeutung, da Präferenzbildungen vornehmlich durch persönliches Interesse zustande kommen. So ist auch bei meinem Projekt das Ziel der extrinsischen Motivation (Schulveranstaltung), eine intrinsische Motivation für die Beschäftigung mit Neuer Musik auszulösen.
Um meine Zielgruppe zu aufmerksamer Teilnahme am Konzert zu motivieren, können folgenden Motive angesprochen werden:
Neugier (nach Steven Reiss, vgl. Wikipedia: Motivation)
Intrinsische Motivation ist allgemein durch „Neugier [...], Exploration und Interesse an den unmittelbaren Gegebenheiten der Umwelt“ (ebd.) gekennzeichnet. Als Motiv meint Neugier das Bedürfnis nach Kognition, das natürliche Verlangen, sich Wissen anzueignen und Neues kennen zu lernen: „Wir fühlen uns motiviert, wenn wir von Neugier gepackt werden [...].“ (Mast/Milliken 2008, 12) Neugier kann allerdings nur dann ein starkes Motiv werden, wenn das Objekt der Neugier vom Betrachter als relevant eingestuft wird. Dies kann innerhalb meines Konzertes dann erreicht werden, wenn die Neue Musik nicht nur abwechslungsreich und auf ungewöhnliche Art, sondern auch mit Bezug zur Zielgruppe präsentiert wird.
Ordnung (nach Steven Reiss, vgl. Wikipedia: Motivation)
Das Motiv der Ordnung entspricht dem Bedürfnis nach Struktur: Der Mensch ordnet die Realität, um sie besser verstehen zu können und versieht sie mit Bedeutung, um ein Gefühl von Sicherheit zu erhalten. Nicolai Petrat bezeichnet dieses Motiv in Bezug auf Musik auch als Motiv des Zurechthöörens (vgl. Petrat 2000, 192). Im Konzert kann dieser Prozess durch eine begleitende Erklärung der unbekannten Musik gefördert werden und so zu gesteigertem Interesse führen. Dies soll die Zuhörer außerdem dazu befähigen, die Musik in eigenständiger Leistung strukturieren zu können, um durch dieses Erfolgserlebnis zusätzlich zu motivieren.
Entspannung und Aktivierung (vgl. Schramm/Kopiez 2008, 257)
Ein zentrales Motiv in Zusammenhang mit der Rezeption von Musik ist das Bedürfnis nach 'Entspannung, welches durch ein negatives Gefühl von Anspannung aufgrund von Stress, Versagensängsten oder schwierigen Lebenssituationen ausgelöst wird. Bei unerwünschter Energielosigkeit kommt hingegen das Motiv der Aktivierung zum Tragen. Hier soll die Musik z.B. vor Sportwettkämpfen oder Rockkonzerten, bei Disco-Besuchen oder beim Autofahren eine stimulierende Wirkung entfalten.
Beiden Motiven ist gemein, dass sie vor allem die selbstbestimmte Musikauswahl durch den Rezipienten beeinflussen, der je nach persönlicher Stimmung von einem der beiden Motive geleitet werden kann. Bei der Konzertplanung können sie dennoch in so fern Bedeutung erlangen, als dass durch eine gemischte Programmauswahl eine größere Bandbreite an Rezeptionsbedürfnissen abgedeckt werden kann. Während der Aspekt der Entspannung darüber hinaus vor allem bei der Gestaltung der Konzertatmosphäre bedeutsam wird, stellt die Aktivierung ein wichtiges Motiv für die Teilnahme an partizipativen Ansätzen dar.
Emotionales, assoziatives und kognitives Involvement (vgl. Schramm/ Kopiez 2008, 257f.)
Der Begriff Involvement meint eine starke Hingabe oder persönliche Beteiligung und ist ein häufiger Grund für „das bewusste Zuwenden zu spezifischer Musik“ (ebd.).
Die drei Arten der Hinwendung sind:
[...]
[1] Ernste Musik
[2] Im Gegensatz zur hermeneutischen Interpretation, der Analyse und Deutung musikalischer Werke.
[3] Zum Vergleich: Bei popularmusikalischen Konzerten liegt die Zahl der mehrfachen Besuche pro Jahr bei 26 %, wobei davon auszugehen ist, dass aufgrund des Jugendschutzgesetzes dieser Wert für die Gruppe der unter 18Jährigen niedriger anzusiedeln ist.
[4] Diese sog. Education-Projekte werden im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter berücksichtigt, da sie ein eigenes, komplexes Feld darstellen.
[5] Treffend wird dies in der „Stellungnahme des Deutschen Kulturrates zur Kulturfinanzierung“ vom 8. 10. 2010 dargestellt (vgl. Deutscher Kulturrat 2010).
[6] Die Neue Musik, auf die später noch gesondert eingegangen wird, bildet hierbei eine Ausnahme innerhalb der Klassik, da sie größtenteils noch nicht den Prozess der Selektion durchlaufen hat.
[7] Dazu muss ergänzt werden, dass Adorno auch viele Werke der Klassik zur ,niederen Musik’ rechnete, sofern sie primär dem unreflektierten Konsum dienen und der Gewinnsteigerung entsprechend vermarktet werden.
[8] Ein Beispiel für ein Werk mit andauernder Bedeutung ist die Komposition 4’33” von John Cage als Infragestellung des Musikbegriffes.
[9] Die Kunst verarbeitet Aspekte unserer unmittelbaren Erfahrungen und gibt diese in veränderter Form wieder. [D.E.]
[10] Denn in der Kunst, besonders in der Musik, lässt sich eine Aussage nicht davon trennen, wie sie artikuliert wird. Beethovens ,Pastorale’ erzählt uns nichts über die Natur; sie erzählt von einer bestimmten Art des Menschseins, die teils darüber definiert wird, wie wir uns im Verhältnis zu unseren Erfahrungen mit der Natur sehen. Wenn also Debussy oder Webern oder Birtwistle auf andere Art komponieren, verarbeiten sie ihre Natureindrücke nicht nur in verschiedenen musikalischen Stilen. Sie eröffnen uns Einsichten in unser kollektives Verständnis des Menschseins in verschiedenen historischen Zusammenhängen. [D.E.]
[11] Ästhetisches Selbstverständnis einer Gruppe, nach außen angezeigt durch ein bewusst ausgewähltes Konsumgütersortiment und bestimmte Verhaltensweisen (vgl. Schneidewind/Tröndle 2003, 35f.).
[12] Diese Vermutung bestätigte sich durch die Ergebnisse der Evaluation (vgl. Kap. 4.5).