Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Begriffe
2.1 Migrationshintergrund
2.2 Bildung, Bildungserfolg
2.3 Bildungsbenachteiligung, Bildungsungleichheit
3 Repräsentationen von Bildungsungleichheit
4 Ursachen der Bildungsungleichheit
4.1 Institutionelle Benachteiligung
4.2 Auf Herkunft basierende Bildungsbenachteiligung
4.2.1 Migrationshintergund vs. soziale Herkunft
4.2.2 Repräsentationen von Bildungsbenachteiligung aufgrund der Herkunft
5 Perspektiven - statt eines Schlusses
6 Literatur
1 Einleitung
Das Seminar widmete sich einem Thema, dessen Breite - zumindest für einen Nicht-Soziologen wie mich - erst bei genauerer Betrachtung deutlich wurde. Bereits im Titel eröffneten sich Subthemenkreise, die, für sich genommen, während des gesamten Seminars für anregende Diskussionen sorgten. Hierbei stach hervor, dass insbesondere eine möglichst genaue Definition der verwendeten Begriffe von Nöten ist, um sich einerseits ein Urteil über die Ist-Situation bilden zu können und sich andererseits argumentativ gestützt einer Handlungsperspektive anschließen zu können.
Insofern nehme ich diese Arbeit als willkommenen Anlass, mir selbst einen Weg durch den Dschungel der Thematik zu schlagen, der auch auf der Ebene des Forschungsstandes viele Verästelungen aufweist und das nicht nur vor dem Hintergrund der zeitlichen Abfolge seines Entstehens. Gleichwohl scheint sich in der Forschung ein Weg oder eher ein Wegweiser abzuzeichnen, der - auch für mich als Lehramtskandidaten - einen nicht nur bewusstseinsschärfenden, sondern darüber hinaus handlungsorientierenden Effekt haben sollte. Von Interesse ist für mich dabei auch die Tauglichkeit des Begriffs „Migrationshintergrund“ in der Debatte um Bildungsungleichheit.
Dazu bedarf es zunächst einer Klärung der wichtigsten Begriffe und der Beleuchtung der Verknüpfungen zwischen diesen Begriffen. Basierend auf der Vorstellung der Ursachen der Bildungsungleichheit werde ich meinen Blick auf die Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Akteure werfen.
2 Begriffe
2.1 Migrationshintergrund
Die Herausbildung des Begriffs ist eng verknüpft mit der Geschichte der Zuwanderung nach Deutschland.[1] Das wird schnell deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass mehrere Begriffe in der Diskussion nicht nur um Bildungsungleichheit verwendet werden. So finden sich neben der Zuschreibung „Migrationshintergrund“ auch „Gastarbeiter“, „Ausländer“, „Menschen mit nichtdeutscher Herkunftssprache“, „Asylanten“, „Flüchtlinge“, „Aussiedler“ etc. als Bezeichnungen für Menschen, die aus den verschiedensten Gründen und aus verschiedenen Ländern nach Deutschland kamen und kommen. Offenbar bestand auf der Seite der Aufnahmegesellschaft das Bedürfnis einer sprachlichen Regelung, sei es, um verwaltungsmäßige Klarheit zu schaffen, sei es, um Probleme benennen zu können, die sich im Verhältnis zwischen Deutschen und Zugewanderten herausbildeten, sei es, um die Zielgruppe(n) für den erst spät einsetzenden politischen Integrationswillen fassbar zu machen, sei es, um politisch korrekte Begriffe zur Hand zu haben, wenn es um Bildungsbeteiligung im weitesten Sinne ging und geht.
Das Statistische Bundesamt definiert Personen mit Migrationshintergrund folgendermaßen als: „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“.[2] Diese Definition umfasst schon sehr viele Personen, um die es im Rahmen der Untersuchungen zur Bildungsungleichheit geht, jedoch nicht alle, wie bspw. die 3. Generation türkischer Einwanderer. Darüber hinaus entsteht durch diese Definition der Eindruck, dass man sich einer recht homogenen Personengruppe gegenübersieht, was deren Herkunft angeht.[3] Auch könnte man eine durchschnittliche Gleichverteilung über das Bundesgebiet vermuten, was die Realität genauso wenig trifft. Wie später noch gezeigt wird, sind teilweise auch die Differenzen zwischen den verschiedenen Einwanderergruppen Gegenstand der Untersuchungen zur Bildungsungleichheit. Als relevant bzw. untersuchenswert vor diesem Hintergrund gelten auch räumliche Häufungen bestimmter Ethnien.
Es überrascht daher nicht, dass beinahe jede Studie über die Bildungsbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund zunächst die Untersuchungsgruppe definiert und jenseits der statistisch notwendigen Modellierung häufig auf Probleme mit derlei Definitionen hinweist. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, inwiefern der Begriff „Migrationshintergrund“ überhaupt tragfähig ist, um an ihm Bildungserfolg bzw. –ungleichheit festzumachen.
Für die vorliegende Arbeit werde ich der Einfachheit halber lediglich eine Unterscheidung in allochthone vs. autochthone Bevölkerung vornehmen, wobei allochthone Bevölkerung die Menschen mit Migrationshintergrund meint und darüber hinaus diejenigen, die aufgrund familiärer Migrationserfahrungen auch zum Untersuchungsgegenstand der Studien zur Bildungsungleichheit gerechnet werden können. Im Einzelnen werde ich das Merkmal allochthon jedoch genauer, d.h. wie in der jeweils vorgestellten Studie, definieren. Verwende ich andere Begriffe, dann liegen ihnen die jeweiligen Definitionen der Untersuchenden zu Grunde.
2.2 Bildung, Bildungserfolg
Wie Heike Solga konstatiert, bemisst sich in Deutschland der individuelle Erfolg im Bildungssystem anhand erreichter Bildungslaufbahnen und dem Erlangen von Bildungszertifikaten. Diese gelten als akzeptierte Grundlage der Verteilung von Lebenschancen hinsichtlich ökonomischer und sozialer Teilhabe an der Gesellschaft.[4] In einer Gesellschaft, die grundsätzlich allen Mitgliedern unabhängig von ihrer Herkunft gleiche Chancen zur Bildungsteilhabe einräumen will, muss daher geprüft werden, inwiefern Chancengleichheit tatsächlich gegeben ist. Das beginnt beim Bildungsbegriff, den Tanja Betz mit Blick auf Kinder mit Migrationshintergund einer kritischen Betrachtung unterwirft.[5] Ausgehend von der Feststellung, dass Kinder mit Migrationshintergund von einer benachteiligten Ausgangssituation aus operieren, schlägt sie vor, den institutionellen Bildungsbegriff dahin gehend zu erweitern, dass Bildungserfolg, der vom Ergebnis her immer mit Schulerfolg gleichgesetzt wird, um die Berücksichtigung lebensweltlicher Bildungsprozesse ergänzt wird.
Obwohl ein weiterer Fokus auf den Begriff Bildung sicher zu einer Abkehr von primär defizitorientierter Betrachtung der allochthonen Kinder und Jugendlichen führen könnte und Tanja Betz auch Vorschläge unterbreitet, wie außerschulische Bildungsprozesse sich empirisch verwerten ließen, gehe ich vom institutionalisierten Bildungsbegriff aus. Dies tue ich nicht zuletzt, weil sich die im Rahmen der großen Bildungsstudien erhobenen Daten sowie die Auswertungen dazu auf messbare Schulerfolge beziehen.
Bildungserfolg als absolutes Maß für institutionelle Bildung definiert sich also durch das Erlangen bzw. Nichterlangen von Bildungszertifikaten. Hinzu tritt die Bildungsteilhabe, die – i.d.R. vermittelt über Bildungszertifikate – den Zugang zu den verschiedenen Bildungsformen abbildet, also bspw. den Zugang zu verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I.
2.3 Bildungsbenachteiligung, Bildungsungleichheit
Die postulierte Chancengleichheit für Teilnehmer des deutschen Bildungssystems erwies sich im Rahmen der Evaluationen des Bildungsbereichs spätestens seit dem Jahr 2000 als frommer Wunsch mit mangelhafter Umsetzung. So konstatierte die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU), dass Schüler mit Migrationshintergrund nicht angemessen gefördert wurden.[6] Auch die PISA-Studie, die sich im Jahr 2000 der Untersuchung der Lesekompetenz widmete, wies für Jugendliche mit Migrationshintergrund Defizite hinsichtlich der Bildungskompetenz und der Bildungsbeteiligung gegenüber autochthonen Jugendlichen nach.[7]
Bildungsungleichheit wird also verstanden als Ergebnisunterschied im Erreichen von Bildungserfolg, der sich signifikant auf Merkmale zurückführen lässt, die einen Teil der Studienteilnehmer als Gruppe ausweisen. Unter Bildungsbenachteiligung verstehe ich die regelmäßige Wiederkehr von Bildungsungleichheit, gemessen an jeweils definierten Gruppen, hier also allochthone Kinder und Jugendliche.
Im Zuge des so genannten PISA-Schocks, ausgelöst durch den Nachweis, dass in Deutschland eine ungewöhnlich starke Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg bestand, erfuhr das Thema der Bildungsbenachteiligung sowohl ein stärkeres öffentliches Interesse, als auch stärkere Beachtung im wissenschaftlichen Betrieb. Gerade die Regelmäßigkeit von Bildungsungleichheit und deren Ursachen rückten nun verstärkt als Untersuchungsgegenstand in den Mittelpunkt soziologischer und erziehungswissenschaftlicher Studien.[8]
3 Repräsentationen von Bildungsungleichheit
Bildungsungleichheit repräsentiert sich, wie oben angedeutet, einerseits in der Teilhabe an verschiedenen Bildungsgängen und andererseits im Erlangen von Bildungszertifikaten. Für beide Teilaspekte existieren zahlreiche Beispiele, die ein durchschnittlich schlechteres Abschneiden allochthoner Schüler im deutschen Bildungssystem belegen.
Gomolla und Radtke weisen zudem darauf hin, dass große Unterschiede hinsichtlich der Bildungsbeteiligung nicht nur zwischen den nationalen Gruppen zu beobachten sind, sondern auch zwischen den Bundesländern und sogar innerhalb von Städten erhebliche Disparitäten bestehen.[9] Beispielsweise unterschieden sich die Quoten der Überweisungen auf Sonderschulen für Lernbehinderte 1994 zwischen alten und neuen Bundesländern um den Faktor 3,5. Innerhalb des Zeitraums 1991-2004 wechselten 40% der autochthonen Kinder auf das Gymnasium, jedoch nur etwa 20% der allochthonen Kinder.[10] Auch Lehmann weist auf ein Leistungsgefälle zwischen Deutschen und Migrantenkindern hin.[11] Kristen verdeutlicht die Ungleichverteilung von deutschen Kindern und Migrantenkindern auf die unterschiedlichen Bildungsabschlüsse anhand von Daten des Statistischen Bundesamtes über die Schulabsolventen von 2000/2001.[12] So verlassen Migrantenkinder zu 20% die Schule ohne Abschluss im Gegensatz zu deutschen Kindern, die nur zu 8% die Schule ohne Abschluss verlassen. Unter den Hauptschulabsolventen findet sich mit 40% Migrantenkindern gegenüber ca. 23% deutschen Kindern diese Ungleichverteilung wieder. Beinahe spiegelbildlich verhält es sich demgegenüber bei den Realschulabsolventen. Erwartungsgemäß sind Migrantenkinder bei der Erlangung der Hochschulreife mit ca. 18% gegenüber ca. 27% deutschen Kindern unterrepräsentiert.
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[1] Bspw. Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland (=Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 410). Bonn 2003.
[2] Statistisches Bundesamt: Ergebnisse des Mikrozensus 2005. Fachserie 1 Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Reihe 2.2 Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Wiesbaden 2007.
[3] Heike Diefenbach: Stichwort: Familienstruktur und Bildung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Heft 2/2000; S.169f.
[4] Heike Solga: Meritokratie – die moderne Legitimation ungleicher Bildungschancen. In: Peter A. Berger/Heike Kahlert (Hg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Weinheim/München ²2008; S.19.
[5] Tanja Betz: Bildung und soziale Ungleichheit: Lebensweltliche Bildung in Migrantenmillieus, Arbeitspapier II; Juli 2004.
[6] Karim Fereidooni: Schule – Migration – Diskriminierung. Ursachen der Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulwesen; Wiesbaden 2011; S.53.
[7] Karim Fereidooni: Schule – Migration – Diskriminierung. Ursachen der Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulwesen; Wiesbaden 2011; S.66.
[8] Hartmut Ditton: Wieviel Ungleichheit durch Bildung verträgt eine Demokratie? In: Christina Allemann-Ghionda u.a. (Hg.): Zeitschrift für Pädagogik, Heft 1/2010; Weinheim/Basel 2010; S.57f.
[9] Mechtild Gomolla/Frank-Olaf Radtke: Mechanismen institutionalisierter Diskriminierung in der Schule. In: Ingrid Gogolin/Bernhard Nauck (Hg.): Migration, gesellschaftliche Differenzierung und Bildung: Resultate des Forschungsschwerpunktprogramms FABER. Opladen 2000; S.321f.
[10] Karim Fereidooni: Schule – Migration – Diskriminierung. Ursachen der Benachteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulwesen; Wiesbaden 2011; S.66.
[11] Lehmann, Rainer H., Rainer Peek, Rüdiger Gänsfuß und Vaer Husfeldt, 2002: Aspekte der Lernausgangslage und der Lernentwicklung – Klassenstufe 9 – Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung in Hamburg. Hamburg: Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Bildung und Sport, Amt für Schule.
[12] Cornelia Kristen: Ethnische Unterschiede im deutschen Schulsystem. In: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.): Aus Politik und Zeitgeschichte B 21-22/2003 (=Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 26.03.2003). Bonn 2003; S.26f.