Leseprobe
Über 1.400 Besucher/-innen folgten der Einladung der Serviceagentur „Ganztägig lernen in Nordrhein-Westfalen“ und besuchten die Praxismesse „Qualität im offenen Ganztag“, die am 18. April 2007 ihre Pforten öffnete. Aus ganz NRW kamen Interessierte nach Hamm und nutzten den Tag, um sich an den Messeständen sowie in den zahlreichen Foren und bei Präsentationen zu informieren und auszutauschen. Diese große Resonanz machte deutlich: Die Messe hat mit ihrem Motto „Qualität im offenen Ganztag“ ein zentrales Thema aufgegriffen. Darüber hinaus spiegele sich in dem Motto auch ein gewachsenes Selbstvertrauen aller an der offenen Ganztagsgrundschule Beteiligten, denn es gehe beim Thema OGS nun „nicht mehr um das OB, sondern um das WIE“, so Dr. Erwin Jordan vom Institut für soziale Arbeit e. V. bei der Eröffnung der Messe. Dies scheinen auch die aktuellen Zahlen zu belegen, die Ministerin Barbara Sommer (MSW) und Minister Armin Laschet (MGFFI) zur Messeröffnung mitbrachten: 375 von 396 Gemeinden in NRW haben offene Ganztagsschulen im Primarbereich, 164.500 Plätze in 2.881 Schulen sind eingerichtet. Die Frage nach dem „ob“ verliert somit an Bedeutung, doch die Frage nach dem „wie“ ist oft gar nicht so leicht zu beantworten. Da die Schulen individuell seien, könne es keine einheitlichen Vorgaben geben, so Ministerin Sommer bei der Eröffnung der Messe. Jede Schule müsse ihre eigene Qualität entwickeln, passgenau zu den Bedingungen vor Ort und abgestimmt auf ihre einzigartige Schülerschaft, denn „der Charme des Ganzen ist ja, dass so viele bunte Blumen blühen dürfen.“ Die Marschrichtung jedoch ist klar: „Das Kind in einen ganzheitlichen Blick zu nehmen den ganzen Tag, das ist etwas, was in der offenen Ganztagsschule ganz besonders gelingt“, machte Minister Laschet deutlich. Er regte an, die Kooperation von Jugendhilfe und Schule auszubauen und auch auf andere Bereiche auszuweiten, denn das komme den Kindern zugute.
Das läuft schon richtig gut!
Ob an den Ständen, in Foren oder beim Mittagessen, überall kamen die unterschiedlichsten Menschen miteinander ins Gespräch, und schon bald erweckte die Messehalle den Eindruck, ein riesiger, brummender Bienenstock zu sein. „Was läuft denn bei euch so richtig gut?“ war eine oft gestellte Frage, auf die jeder und jede eine eigene Antwort hatte: Richtig gut läuft an unseren Schulen „die Entwicklung, dass Jugendhilfe und Schule sich aufeinander zu bewegen. Und dass da, wo beide Seiten bereit sind zusammenzuarbeiten, auch was richtig Gutes entsteht, wo man das Gefühl hat: Das ist mehr als eine reine Betreuung oder Kinderverwahrung, hier kommt ein qualitativer Aspekt zum tragen, der deutlich über das hinausgeht, was Schule alleine oder Jugendhilfe alleine jemals leisten könnten“, erzählte ein Trägervertreter. (Hinweis: Bei den Zitaten in diesem Beitrag handelt es sich um sprachlich leicht überarbeitete Aussagen aus acht Interviews, die ich während der Messe geführt habe.) „Richtig vorbildlich finde ich die Zusammenarbeit zwischen der Schulleitung und mir als Vertreterin des Teams des offenen Ganztages. Da ist ganz viel Informationsfluss gegeben“, berichtete eine pädagogische Leiterin. „Wir ziehen in ein gemeinsames Haus ein. Es entsteht ein Neubau mit fünf neuen Gruppenräumen, den wir gemeinsam planen, so dass wir wirklich in ein Haus einziehen, das gemeinsam gedacht, entwickelt und mit Leben gefüllt wird. Das ist was anderes, als wenn wir da hinein platziert werden und gesagt wird: ‚So, jetzt belegt es mal’.“ Auch die Kooperation zwischen dem Ganztagsteam und dem Lehrerkollegium ist an dieser Schule nach ihren Worten auf einem guten Weg: „Es entsteht. Es ist einfach auch schön zu beobachten. Ein großer Vorteil ist, dass ich sehr präsent bin“, erzählte die pädagogische Leiterin weiter. „Dadurch, dass ich täglich sichtbar bin für die Lehrerinnen, sinkt die Schwelle. Das heißt, es finden immer Gespräche über einzelne Kinder, über Fragen, Ideen und Vorschläge statt. Es ist ein stetiger Austausch gewährleistet. Ein weiterer Punkt sind gemeinsame Fortbildungen, die besucht werden – und dass in einer Evaluation wirklich ganz klar gesagt wird, dass es schön ist, in den Schuhen des anderen zu gehen, dass Sachen, von denen man gedacht hat, dass sie am Vormittag ganz anders sind, entweder ganz genauso sind oder halt doch wirklich ganz anders.“ „Was richtig gut läuft ist, dass die Stimmung in den Gruppen für die Kinder sehr gut ist. Was gemacht wird, hat Hand und Fuß, man kann immer was verbessern, das ist klar. Aber die Leute haben in der Regel ein hohes Engagement“, berichtete ein Schulleiter, der darüber hinaus Berater im Ganztag und Vorsitzender eines Trägervereins ist. „Was auch gut läuft an vielen Schulen ist der Versuch Eltern einzubinden. Das kann noch ausgeweitet werden, aber das ist ein generelles Thema von Schule.“ Eine Schulleiterin erzählte: „Wir haben einen Elternabend angeboten für die Ganztagseltern. Da waren drei Eltern da und da schließen wir draus, dass die Eltern ganz zufrieden sind mit dem was wir machen, denn sonst wären sie gekommen und hätten geschimpft. Das zeigt die Resonanz, wenn Eltern die Kinder abholen, persönliche Gespräche; sie sagen uns auch sofort, wenn sie meinen, etwas müsste anders sein und fragen uns, warum wir das so und nicht anders machen. Ich glaube, die Eltern sind damit zufrieden. Ihre Kinder sind zufrieden, sind ausgeglichen und kommen in der Schule gut zurecht. Damit haben wir sie überzeugt, dass das der richtige Weg ist. Und ich denke, gerade von Seiten der Jugendhilfe ist das der richtige Weg – es geht eben nicht darum nachmittags Schule zu machen. Und das haben wir als Schule gelernt von der Jugendhilfe.“ „Das wird super von den Eltern angenommen, weil die ihre Kinder da gut betreut wissen“, schilderte eine Beraterin im Ganztag die Situation an den von ihr betreuten Schulen. „Auch schon vor der Schule, weil sie dann eben problemloser arbeiten gehen können und zum Teil auch, weil sie sich selbst nicht so kompetent fühlen. Ich hab ein paar Brennpunktschulen in der Beratung und da ist eben das Kompetenzproblem der Eltern oft ein Grund, warum das Angebot gut angenommen wird.“ Eine andere Beraterin im Ganztag ergänzte: „Das kann ich auch für die Hauptschule bestätigen. Wir haben oft Kinder aus Brennpunktfamilien. Bei uns wird die ganze Versorgung sehr gut angenommen, das Losgelöstsein von zu Hause und so weiter.“ Die Kinder „kommen gerne. Wenn sie einmal angemeldet sind, bleiben sie“, erzählte eine Schulleiterin. „Sie kommen auch in die Ferienbetreuung gerne und nehmen immer mal einen Freund mit, der nicht angemeldet ist. Der soll dann mal mitgehen nachmittags und deshalb denke ich, dass ihnen das gut gefällt. Aber ich glaube, es gefällt ihnen auch deshalb gut, weil wir halt den Nachmittag so gestalten, wie die Kinder ihn eigentlich zu Hause haben sollten. Nämlich viel Spielzeit, viel Freizeit und keinen Nachmittag, der durchgeplant ist wie der Vormittag. Uns ist wichtig, dass die Kinder nachmittags sehr viel eigenen Spielraum haben und ihre Zeit selbst bestimmt verwalten können.“ Bei uns werden die Hausaufgaben „von den Mitarbeiterinnen betreut, die die Kinder den ganzen Nachmittag begleiten“, berichtete eine pädagogische Leiterin, denn „das ist ein ganz wichtiger Punkt, der die Kinder gerne im offenen Ganztag bleiben lässt: die Bezugspersonen, die sozialen Beziehungen und ihre Freunde, die da sind.“
Entwicklungsbedarfe
In vielen Punkten und an vielen Orten läuft es schon richtig gut, doch wo sind Bereiche, in denen es noch nicht rund läuft? Oder wo es vielleicht sogar richtig knirscht? Auch für die Erörterung und Beratung dieser Fragen bot die Messe reichlich Raum und Gelegenheit: „Im Primarbereich ist immer die Hausaufgabenhilfe ein Problem und der Wunsch nach einer anderen Strukturierung des Ganztages. Und da haben eben viele Schulen das Problem, dass keine ganzen Klassen mit Ganztagskindern gebildet werden können und deshalb die Rhythmisierung problematisch bleibt“, erläuterte eine Beraterin im Ganztag. Und ihre Kollegin aus der Sek. I fügte hinzu: „Unser großes Manko ist: Wir würden gerne kapitalisieren und durften bisher nicht, weil die Hauptschulen relativ gut besetzt sind mit Lehrern. Aber wir brauchen das andere fremde Angebot unbedingt. AGs oder irgendwelche Mittagsveranstaltungen durch Lehrer finden Kinder total langweilig, wenn sie jeden Tag bis 16 Uhr die gleichen Gesichter sehen. Andere Professionen bringen andere Fähigkeiten ein, das müssten wir unbedingt haben.“ „Was bei uns noch gar nicht rund läuft oder noch ziemlich in den Kinderschuhen steckt, ist die Verzahnung zwischen Vormittag und Nachmittag“, erzählte eine pädagogische Leiterin. Ein Problem sei z. B. „eine Bewusstseinsveränderung zu erreichen, dass sich der Lehrerberuf verändert, sobald man an einer OGS beschäftigt ist, dass – wie es der Name sagt – die Schule auch am Nachmittag stattfinden kann und dort nicht nur angedockt wird, sondern dann auch konzeptionell etwas mit eingebracht wird.“ „Die Kooperation, die erwartet wird von Vormittag und Nachmittag in Schulen, die muss natürlich auch klappen zwischen Träger und Schule“, betonte eine Schulleiterin. „Wenn da gegeneinander gearbeitet wird, geht das nicht. Es ist schon so, dass das ein großes Team sein muss. Die, die an einer Schule was zu sagen haben, müssen zusammenarbeiten. Dann kommt man ein Stückchen weiter.“ Darüber hinaus sah sie den „Entwicklungsbedarf, dass die Angebote am Nachmittag weiter qualifiziert werden sollten; dass die Qualität weiter gesteigert werden sollte durch Fortbildungsveranstaltungen für das Betreuungspersonal, gemeinsam mit Schule oder alleine, bezogen auf das, was auf jemanden zukommt, der im Ganztag arbeitet.“ „Ich bin zuständig für die Beratung der Mitarbeitenden“, erzählte ein Trägervertreter. „Die sagen – übereinstimmend mit einer Studie, in der es um Struktur- und Personalfragen geht –, dass es schwierig ist, was die Auffälligkeiten von Kindern angeht. Das belastet teilweise sehr. Es geht nicht darum, dass die Hälfte aller Kinder auffällig ist, aber ein, zwei in der Gruppe machen schon Dinge wieder anders. Das ist ein großer Bereich, von dem wir immer wieder hören. Auch der besondere Förderbedarf von Kindern gerade aus Migrantenfamilien – Stichwort deutsche Sprache, Stichwort Hausaufgaben, Stichwort hohe Zeitbedarfe für diese Dinge – ist ein Riesenthema. Natürlich, die Belastung ist hoch. Aber es ist nicht unbedingt die Belastung an sich, es ist insgesamt zu viel. ‚Wir sind Frauen und Männer für Alles’, sagen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ‚wir müssen im Grunde alles regeln, wir müssen Organisationstalent haben, wir müssen mit den Kindern spielen, wir müssen uns immer was Neues einfallen lassen, wir müssen die Listen planen, die Finanzen im Blick behalten.’ Das ist ein ganz multifunktionaler Aufgabenbereich. Das, glaube ich, ist eine ganz hohe Belastungsquote, gerade für die Leute, die so etwas wie eine Teamverantwortung haben, also die so einen Bereich in der Hauptsache bedienen.“ Auch beim Thema Öffnung der Schule und Transparenz bestehe viel Entwicklungsbedarf, berichtete eine pädagogische Leiterin, gerade für die „Eltern, die bislang ihre Kinder im Hort hatten. Der Hort ist seit Jahren bekannt, steht für Qualität, das ist automatisch damit verbunden und ich glaube, die OGS wird noch sehr kritisch beäugt. Um dem entgegenzuwirken, müssen wir gucken, welche Wege sich dafür eignen Eltern zu zeigen: Was passiert da eigentlich bis 16 Uhr? Was macht mein Kind da? Wann macht es was? Was steht dahinter? An wen kann ich mich wenden? Wer ist wofür zuständig? Die Spannbreite der Erwartungen reicht von Eltern, die wir eigentlich gar nicht kennen, bis hin zu Eltern, die ein sehr starkes Informationsbedürfnis haben. Die Anforderung ist zu gucken, wie kriegt man eine gute Form hin, um das, was man macht, transparent zu machen.“ „Also Entwicklungsbedarf besteht in ganz vielen verschiedenen Bereichen“, erläuterte ein Schulleiter, der als Vorsitzender eines Trägervereins und als Berater im Ganztag fungiert. „Unser Anliegen ist die Vernetzung von Regelunterricht und Ganztag generell. Das heißt, dass die Teams in den Schulen besser zusammenkommen. Und das ist schwierig, das ist ein mühseliger schwieriger Prozess. Man muss halt mit Geduld und manchmal mit Raffinesse daran arbeiten, dass die Kontakte sich ausweiten. Ein Dauerthema ist natürlich – auf der Messe und auch sonst – das Thema Bezahlung und überhaupt alles, was mit Ressourcen zusammenhängt. Was im Moment viele Schulen zudem beschäftigt, ist die Frage des Essensgeldes, das heißt die Frage, wie die Teilnahme am Ganztag für Kinder ermöglicht werden kann, deren Eltern das Essensgeld nicht bezahlen können.“
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