Volk, Nation, Minderheit: im Dickicht der Definitionen läßt sich so leicht kein passendes Etikett für die offiziell anerkannte Volksgruppe der Sorben in Deutschland finden. Diese Arbeit setzt sich mit ethnologischen Konzepten von Ethnizität und ethnischer Identität auseinander, und versteht sich nicht in erster Linie als Beitrag zur empirischen Forschung über die Sorben. Die theoretische Auseinandersetzung findet gleichwohl anhand des Beispiels der Sorben statt, und stützt sich dabei sowohl auf Literatur wie auch auf eigene Beobachtungen. Das Ziel ist dabei nicht, eine vollständige Analyse sorbischer ethnischer Identität zu versuchen, sondern anhand einzelner Zusammenhänge – der Entstehung eines sorbischen Nationalismus, der Rolle der Sorben in der DDR und der politischen Auseinandersetzung um das von der Umsiedlung bedrohte Dorf Horno in Brandenburg - die kontextabhängige und diskursive Herausbildung spezifischer Ethnizitätskonzepte aufzuzeigen, um damit die sorbische Ethnizität als Diskurs, der nur unter Bezugnahme auf andere, umgebende Diskurse verstanden werden kann, zu begreifen.
Inhalt
1. Vorbemerkung
1.1. Eine sehr kurze Geschichte der Sorben
1.2. Eine knappe Skizze der heutigen Situation
2. Einleitung und Fragestellung
3. Begriffsbestimmung
3.1. Ethnie, Ethnizität, ethnische Identität
3.2. Suche nach objektivem Sorbisch-Sein
3.3. Ethnizität ohne ethnische Gruppe?
3.3.1. Das Verschwinden der Sorben - die essentialistische Erklärung
3.3.2. Die konstruktivistische Erklärung
3.3.3. Ethnizität als essentielle Qualität
3.3.2.1. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
3.3.2.2. Multikulturalismus
3.4. Diskurs
3.4.1. Ethnische Identität als Diskurs
3.4.2. Zwei Möglichkeiten: Mikro- oder Makroebene?
4. Drei sorbische Ethnizitätsdiskurse
4.1. Die sorbische Nation
4.1.1. Erfundene Nationen
4.1.2. Wie entsteht eine Nation?
4.1.3. Vor dem Erwachen
4.1.4. Die sorbische Wiedergeburt
4.2. Die Sorben in der DDR
4.2.1. Wertungen und Widersprüche
4.2.2. Geschichtsbild und Ziele der Nationalitätenpolitik
4.2.3. Integration statt Unterschied
4.2.3.1. Verordnete Integration
4.2.3.2. Probleme der Integration
4.2.3.3. Chancen der Integration
4.3. Einschub: Wendezeiten
4.4. Horno
4.4.1. Der Kontext
4.4.2. Instrumentalisierte und authentische Identität
4.4.3. Was bedeutet „Sorbisch“ in Horno?
4.4.4. Das sorbische Siedlungsgebiet
4.4.5. Gegenargumente
4.4.6. Schlußfolgerungen
5. Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
1. Vorbemerkung
„Hand auf’s Herz: wußten Sie, daß in Ostsachsen, in der Oberlausitz, und im südlichen Brandenburg, also der Niederlausitz, ein kleines slawisches Volk zu Hause ist? Daß auf einem Gebiet von etwa 100 km Länge und 40 km Breite, zu beiden Seiten der Spree, bis heute die Sorben leben? Ihre Heimat ist seit rund 1500 Jahren die Lausitz - auf sorbisch Łužica, was soviel wie „Sumpfland“ bedeutet.“ (Die Sorben in Deutschland 1997: 5)
„Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahre 1990 gehört eine weitere ethnische Minderheit, die Sorben, zur Bundesrepublik. In der „alten Bundesrepublik“ ist die Kenntnis über diese Gruppe bislang recht bruchstückhaft und vorläufig. Die Sorben leben im Osten der beiden neuen Bundesländer Brandenburg und Sachsen. Man kann sie als regionale Minderheit bezeichnen, da es nicht zu einer nationalstaatlichen Eigenentwicklung unter ihnen gekommen ist.“ (Heckmann 1992: 26)
„Unter den ethnischen Minderheiten nimmt das sorbische Volk eine besondere Stellung ein. Es gehört zu den autochtonen Minderheiten, d.h. zu den alteingesessenen, einheimischen Minderheiten, und lebt seit Jahrhunderten im östlichen Teil der heutigen Bundesrepublik. Es unterscheidet sich von der autochtonen dänischen Minderheit darin, daß es nie einen eigenen Staat hatte.“ (Elle 1995a: 454)
„Wo eine Minderheit ist, müßte es auch eine Mehrheit geben. Wo aber befindet sich die Mehrheit der Sorben? Es gibt sie nicht, weil die Slawen in der Lausitz nicht eine „Minderheit“ eines größeren Volkes sind (wie etwa die Dänen in Schleswig-Holstein), auch nicht ein über mehrere Staaten verteiltes Volk (wie die Kurden). Sondern sie sind eine eigene, autonome, unwiederholte slawische Nation, die es nur innerhalb deutscher Grenzen gibt (sagt Vladimir Klemencic von der Universität Ljubljana, einer der besten Kenner europäischer Minderheitenprobleme). Sie sind qualitativ absolut gleichwertig mit Polen, Tschechen, Russen und anderen. Was die (wohlwollend gezählt) 80.000 Sorben von den 140.000.000 Russen unterscheidet, ist zunächst einmal nur ein quantitativer Unterschied - es gibt mehr Russen als Sorben.“ (Oschlies 1991: 4)
Volk, Nation, Minderheit: im Dickicht der Definitionen läßt sich so leicht kein passendes Etikett für die Sorben[1] finden. Da dies in erster Linie auf die Unzulänglichkeit eindeutiger Definitionen für vielschichtige Phänomene hinweist, soll hier darauf verzichtet werden, den oben angeführten Beispielen (die Liste ließe sich beliebig fortsetzen), einen weiteren, eigenen Definitionsversuch hinzuzufügen.
In dieser Arbeit möchte ich mich mit ethnologischen Konzepten von Ethnizität und ethnischer Identität auseinandersetzen, und verstehe sie nicht als einen Beitrag zur empirischen Forschung über die Sorben. Die theoretische Auseinandersetzung findet gleichwohl anhand des Beispiels der Sorben statt, und stützt sich dabei sowohl auf Literatur wie auch auf eigene Beobachtungen. Das Ziel ist dabei nicht, eine vollständige Analyse sorbischer ethnischer Identität zu versuchen, sondern anhand einzelner Zusammenhänge die kontextabhängige und diskursive Herausbildung spezifischer Ethnizitätskonzepte aufzuzeigen, um damit sorbische Ethnizität als Diskurs, der nur unter Bezugnahme auf andere, umgebende Diskurse, und nicht unter Bezug auf die Sorben als ethnische Gruppe, verstanden werden kann, zu identifizieren.
Da der Gegenstand dieser Arbeit nicht die Darstellung der Sorben, sondern die Darstellung von Diskursen über das Konzept „Sorbisch“ ist, bleibt die Darstellung des sorbischen Volkes, der sorbischen Minderheit, der sorbischen Nation im Hauptteil der Arbeit bruchstückhaft. Dies entspricht zwar dem Ansatz und der Fragestellung dieser Arbeit, macht aber ein Einordnen, Kritisieren und Weiterdenken meiner Interpretationen einzelner Kontexte schwierig. Deshalb stelle ich der eigentlichen Einleitung einen kurzen Überblick über Geschichte und Gegenwart der Sorben voran. Oder, um in der Begrifflichkeit dieser Arbeit zu bleiben: eine Zusammenfassung des aktuell allgemein akzeptierten und in den einschlägigen Publikationen reproduzierten Diskurses über die sorbische Geschichte und Gegenwart.
1.1. Eine sehr kurze Geschichte der Sorben
Die Sorben oder Wenden gelten als Nachfahren[2] der elbslawischen Stämme, die vor etwa 1400 Jahren das Gebiet zwischen Ostsee und Erzgebirge besiedelten. Im 10. Jahrhundert gerieten sie unter deutsche Herrschaft und wurden christianisiert. In den westlicheren Siedlungsgebieten ging die slawische Bevölkerung im Mittelalter in der zahlenmäßig überlegenen deutschen Bevölkerung auf, nur in der Lausitz blieb die Eigenart der sorbischen Stämme erhalten.
Mit der Reformation entstand erstmals eine klerikale sorbische Schriftsprache, eine kleine Schicht sorbischer Gelehrter, v.a. Lehrer und Pfarrer, bildete sich. Seit dem 18. Jahrhundert entwickelte sich eine institutionalisierte Kulturpflege. So entstand 1706 das wendische Seminar in Prag, für die folgenden zwei Jahrhunderte die Hauptausbildungsstätte katholischer sorbischer Priester. Für die Ausbildung evangelischer Geistlicher entstand 1716 das wendische Predigerkollegium in Leipzig, 1746 in Wittenberg die Wendische Predigergesellschaft. Die wissenschaftliche Erforschung sorbischer Sprache und Kultur wurde von sorbischen und deutschen Aufklärern begonnen, die 1779 in Görlitz gegründete Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften wurde Zentrum der Forschungen.
Die bürgerlich-demokratische Entwicklung im 19. Jahrhundert und die nationale Wiedergeburt bei den slawischen Völkern inspirierte die sorbische Entwicklung wesentlich. Im Zuge der „sorbischen nationalen Wiedergeburt“ ab den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Vereine gegründet, die wissenschaftliche Beschäftigung mit der sorbischen Sprache vorangetrieben, sorbisches Liedgut und Brauchtum gesammelt und dokumentiert und Zeitungen in sorbischer Sprache herausgegeben. 1847 wurde die sorbische Gesellschaft für Wissenschaft und Volksbildung, die Maćica Serbska, gegründet.
Nach dem Wiener Kongreß 1815 verlor Sachsen mehr als die Hälfte seines Territoriums. Ein Großteil des sorbischen Siedlungsgebietes fiel dadurch an Preußen. Während in Sachsen eine tolerante Sprachenpolitik ausgeübt und beispielsweise sorbischer Schulunterricht gestattet wurde, verfolgte Preußen einen Weg der Verdrängung der sorbischen Sprache aus Schulen und Kirchen.
Mit der Reichsgründung 1871 ging ein verschärfter antisorbischer Kurs der deutschen Obrigkeit einher, sorbischer Schulunterricht wurde verboten. Auch die rasche Industrialisierung der Lausitz führte zu tiefgreifenden Veränderungen: bäuerliche Lebensstrukturen wandelten sich, es kam zu massivem Zuzug von deutschen Arbeitern wie auch zur Abwanderung der sorbischen Bevölkerung in die Städte.
Der zunehmenden Germanisierung setzten sorbische Intellektuelle verstärkte Bemühungen um sorbische Sprache und Kultur entgegen. Eine Welle von Vereinsgründungen Anfang des 20. Jahrhunderts fand in der Gründung der Domowina (Heimat) als Dachorganisation ihren Höhepunkt.
Nach dem ersten Weltkrieg sicherte die Verfassung der Weimarer Republik den „fremdsprachigen Volksteilen des Reiches“ zu, sie nicht „in ihrer freien volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht sowie bei der inneren Verwaltung und Rechtspflege“ zu beeinträchtigen (Kunze 1997: 59). Ausführungsgesetze wurden jedoch nicht verabschiedet, die Verfassungsgarantie blieb weitgehend ohne Umsetzung. Die intellektuelle Führungsschicht der Sorben forderte nach dem ersten Weltkrieg einen selbständigen sorbischen Staat oder aber den Anschluß der Lausitz an die Tschechoslowakei. Diese gescheiterten Autonomiebestrebungen und der Vorwurf des Panslawismus führten zu antisorbischer Politik in Deutschland. 1920 wurde die sogenannte „Wendenabteilung“, ein zentrales staatliches Überwachungsorgan, gegründet, die bis 1945 bestand und deren Hauptaufgaben in der „Stärkung der Deutschtumsarbeit in den wendischen Gebieten“, der Förderung einer breiten Aufklärung über den hochverräterischen Charakter jeglicher wendischer Nationalbestrebungen“ und in der „Aufdeckung jedes wendischen Nationalbewußtseins als reichsfeindlich“ bestanden (Kunze 1997: 57f.).
Trotz einer spürbar restriktiven Politik gegenüber dem Sorbentum kam es in den zwanziger Jahren zu weiteren Vereinsgründungen und einer Vielzahl sorbischer kultureller Aktivitäten. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurden sorbische Vereine und Publikationen verboten oder gleichgeschaltet. Wichtige Persönlichkeiten des sorbischen politischen und kulturellen Lebens, sorbische Lehrer und Geistliche wurden verhaftet oder zwangsumgesiedelt. 1937 wurde die Domowina, die sich der Gleichschaltung widersetzte, in einer erneuten politischen Richtungsänderung verboten, und mit ihr alle sorbischen Vereine und Institutionen. Der Gebrauch der sorbischen Sprache in der Öffentlichkeit wurde nicht geduldet, weitere Verhaftungen und Umsiedlungen von Lehrern und Geistlichen folgten.
Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft wurden erneut Forderungen nach nationaler Autonomie bzw. dem Anschluß an die Tschechoslowakei laut. Nicht zuletzt wegen der Bevölkerungsstruktur der Lausitz - die Sorben machten inzwischen weniger als ein Fünftel der Bevölkerung aus - scheiterten diese abermals.
In den Verfassungen der DDR von 1949, 1968 und 1974 wurde die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Sorben verankert. Das sorbische Schulwesen wurde ausgebaut, die umfangreiche finanzielle Förderung ermöglichte die Gründung zahlreicher Institutionen, von Verlagen, Museen und Theatern. Die Domowina und andere sorbische Organisationen wurden dem SED-Apparat gleichzeitig strikt eingegliedert.
1.2. Eine knappe Skizze der heutigen Situation
Nach der Wende konnte die Domowina nach interner Umstrukturierung und der Annahme eines neuen Programms ihre Führungsrolle bewahren. Der Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR von 1990 sichert den Sorben den Schutz ihrer nationalen Identität zu. In den Landesverfassungen Sachsens und Brandenburgs wird Schutz und Förderung der sorbischen Kultur, Sprache, Tradition und Identität gewährleistet. Die finanzielle Förderung der sorbischen Kultur durch die Länder Sachsen und Brandenburg sowie den Bund beträgt gegenwärtig 32 Millionen DM jährlich, die über die Stiftung für das sorbische Volk vergeben werden.
Heute wird die Zahl der in Sachsen und Brandenburg lebenden Sorben auf ca. 60.000 Personen geschätzt, genaue Zählungen existieren nicht. Dies liegt vor allem daran, daß es keine meßbaren Kriterien dafür gibt, wer zum sorbischen Volk gehört. In Brandenburg, wo ein sogenanntes „Sorbengesetz“ bereits existiert (in Sachsen befindet sich die entsprechende Gesetzgebung zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Entstehen), wird die Zugehörigkeit zum sorbischen Volk allein über das individuelle Bekenntnis definiert:
„Zum sorbischen (wendischen) Volk gehört, wer sich zu ihm bekennt. Das Bekenntnis ist frei und darf weder bestritten noch nachgeprüft werden. Aus diesem Bekenntnis dürfen dem Bürger keine Nachteile erwachsen.“ [3]
Das sorbische Siedlungsgebiet ist in Sachsen und Brandenburg durch Gesetze geographisch definiert. Es ist heute kein zusammenhängendes Gebiet mehr, sondern zerfällt in mehrere „Inseln“ oder Subregionen. Vor allem im katholischen Teil der sächsischen Oberlausitz im Dreieck Bautzen - Kamenz - Hoyerswerda, der in der überwiegend protestantischen Lausitz eine Enklave bildet, wird Sorbisch noch häufig in der Familie gesprochen und auch als Umgangssprache und Liturgiesprache verwendet. In den protestantischen Gebieten ist die sorbische Sprache weniger stark im Alltag verwurzelt, sorbisches Brauchtum ist jedoch besonders in der Gegend um die Orte Schleife und Weißwasser recht ausgeprägt anzutreffen. In der brandenburgischen Niederlausitz sprechen nur noch wenige, zumeist ältere Menschen sorbisch. Allerdings wird auch in der Niederlausitz in vielen Dörfern sorbisches Brauchtum gepflegt[4]. Darüber hinaus gibt es eine Reihe sorbischer Kulturinstitutionen, wie das deutsch-sorbische Volkstheater in Bautzen, das sorbische Nationalensemble, das sorbische Museum Bautzen, das Wendische Museum Cottbus und weitere Heimatmuseen in der Region, den Domowina-Verlag, und eine Anzahl von Vereinen; der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Sorbentum und der sorbischen Sprache widmen sich die sorbischen Institute in Bautzen und Cottbus und das Institut für Sorabistik in Leipzig. In Sachsen und Brandenburg gilt Sorbisch als länderspezifisches Unterrichtsfach und wird in Schulen als Unterrichts- und als Fremdsprache vermittelt. Vor allem in der Oberlausitz gibt es sorbische und zweisprachige Kindertagesstätten. Tages- und Wochenzeitungen in ober- und niedersorbischer Sprache werden herausgegeben. In Sachsen und Brandenburg steht Radiosendezeit für Sendungen in sorbischer Sprache zur Verfügung, in Brandenburg strahlt der ORB darüber hinaus wöchentlich 2 Stunden Fernsehen in sorbischer Sprache aus.
2. Einleitung und Fragestellung
Diese Arbeit setzt sich mit Diskursen sorbischer Ethnizität auseinander. Sie versteht sich jedoch weniger als empirische Arbeit denn als Versuch, unterschiedliche Konzepte von Ethnizität durch die Auseinandersetzung mit einem konkreten Beispiel zu hinterfragen und den Begriff der ethnischen Identität oder Ethnizität als Diskurs am Beispiel der Sorben zu entwickeln.
Am Anfang steht die Entwicklung eines Konzeptes von ethnischer Identität oder Ethnizität, das für die Situation geeignet erscheint. Ethnizität wird dabei als diskursiv begriffen: ethnische Identität wird kontextabhängig unterschiedlich diskursiv konstruiert und etabliert. Verschiedene Kontexte produzieren verschiedene Diskurse. Die kontextabhängige Analyse von Ethnizität in den folgenden Kapiteln nimmt nicht das Konzept der ethnischen Gruppe als Ausgangspunkt, sondern richtet das Augenmerk auf Situationen, in denen ethnische Diskurse formuliert wurden. Dieser Zugang bestimmt auch die Wahl des Materials, das zugrunde gelegt wird.
Die klassische Methode der Ethnologie, die teilnehmende Beobachtung, erzwingt eine bestimmte Sichtweise. Sie legt einen Zugang über das Konzept der Gruppe nahe - der Forscher nimmt Teil am Alltagsleben einer Gruppe, z.B. in einer dörflichen Gemeinschaft - und sie setzt den Schwerpunkt auf die Gegenwart.
Für diese Arbeit habe ich einen anderen Zugang gewählt. Zum einen nehme ich eine historische Perspektive ein, zum anderen stelle ich Diskurse in den Mittelpunkt und verzichte darauf, die Sorben als ethnische Gruppe zu definieren. Es geht in dieser Arbeit nicht darum, die ethnische Identität der Sorben zu erfassen, aufzuzeichnen oder zu definieren. Vielmehr wird sorbische ethnische Identität als Bezugsgröße begriffen, die in unterschiedlichen Situationen aus unterschiedlichen Gründen unterschiedlich besetzt wurde und wird. Das Augenmerk auf Diskurse zu richten bedeutet auch, nicht unbewußten Haltungen und Einstellungen nachzuspüren, Kultur und Identität aus beobachtetem Verhalten zu rekonstruieren (wie es der Zugang der teilnehmenden Beobachtung nahelegen würde), sondern die bewußt vorgenommenen Positionierungen bestimmter Akteure in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen.
Den Anfang der Analyse einzelner Diskurse bildet jene Phase der sorbischen Geschichte, die in die Literatur als sorbische nationale Wiedergeburt eingegangen ist. Zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts kam es unter dem Einfluß von Aufklärung und Romantik - und als Reaktion auf den deutschen Nationalismus - zu einem Aufschwung des sorbischen national-kulturellen Lebens, in dessen Verlauf die sorbische Identität als ethnisch-nationale Identität gedacht und formuliert wurde. In dieser Arbeit sollen einzelne Texte wichtiger Akteure dieser Epoche untersucht werden und die Entstehung der „imaginierten Gemeinschaft“ (Anderson) der Sorben sichtbar gemacht werden.
Eine Umbewertung und Neuinterpretation erfährt die Konzepte „Sorben“ und „Sorbisch“ in der DDR. Die zentralen identitätstragenden Elemente verschieben sich, die Definition von „sorbisch“ wird den ideologischen Bedürfnissen des sozialistischen Staates untergeordnet.
Der dritte Teil der Analyse spielt im Nachwende-Deutschland. Seit der Wende kämpfen die Bewohner des Dorfes Horno in der brandenburgischen Niederlausitz gegen die drohende Umsiedlung. Horno soll dem Braunkohle-Tagebau weichen. Ein zentrales Argument in der Auseinandersetzung um die Zukunft des Dorfes ist dessen Lage im sorbischen Siedlungsgebiet, das den Schutz der brandenburgischen Landesverfassung genießt. Der Konflikt wurde vor Gericht ausgetragen, die Partei der Horno-Befürworter unterlag. Diese Auseinandersetzung war auch ein Ringen um Definitionen und Bedeutungen. Was ist sorbisch, wer ist sorbisch, was bedeutet „Schutz des sorbischen Siedlungsgebietes“?
In jedem dieser Kontexte wurde bzw. wird eine ethnische Identität der Sorben diskursiv etabliert, ein Konzept davon, wer Die Sorben sind, entwickelt. Es handelt sich dabei jeweils um offizielle und öffentliche Diskurse (im Gegensatz zu inoffiziellen und privaten Diskursen). Die Diskursträger wollen bestimmte Wahrheiten etablieren, die diskursiven Äußerungen sind an ein Publikum gerichtet und nicht hinter vorgehaltener Hand geäußert, und sie versuchen, auf den inoffiziellen Alltagsdiskurs einzuwirken und diesen zu lenken. In dieser Hinsicht besteht also zwischen den drei ausgewählten Kontexten eine zumindest grobe Gemeinsamkeit. Unterschiedlich sind die Akteure.
Der Diskurs der sorbischen Wiedergeburt ist einerseits ein sorbischer Diskurs, andererseits ein intellektueller Diskurs, dessen Medium vor allem die Literatur ist.
In der DDR läßt sich der Diskurs sorbischer Ethnizität in gewisser Weise als ein Diskurs von außen charakterisieren. Welchen Platz die Sorben in der Gesellschaft einnehmen sollen, wird in hohem Maße durch den herrschenden politischen Diskurs und dessen Akteure bestimmt.
In der Auseinandersetzung um die Umsiedlung der Hornoer Bürger ist die „Sorben-Frage“ ein Teildiskurs, ein Argument im Kampf um den Erhalt Hornos. Die Träger dieses Diskurses sind alle, die den Erhalt Hornos erreichen wollen, insbesondere die Hornoer Bürger und die Domowina. Das Medium des Diskurses ist vor allem die juristische Auseinandersetzung, in der nicht nur um Recht, sondern auch um die Definitionsmacht gerungen wird, was „sorbisch“ bedeutet.
3. Begriffsbestimmung
3.1. Ethnie, Ethnizität, ethnische Identität
Wie so viele Begriffe der Ethnologie entzieht sich der der Ethnizität einer einheitlichen Definition - ein Umstand, auf den üblicherweise in der Einleitung von Überblicksliteratur zu diesem Thema hingewiesen wird (vgl. Banks 1996, Thompson 1989). Trotzdem ist er, und auch darauf wird gern in einleitenden Kapiteln verwiesen, allgegenwärtig - und erlaubt verführerisch einfache Erklärungen komplexer Phänomene. Mord und Totschlag sind jedem Fernsehzuschauer als ethnische Konflikte nur allzu verständlich geworden - um nur das beliebteste Beispiel anzuführen.
Unter Ethnizität wird das „Bewußtsein, zu einer Ethnie zu gehören“ (Elwert 1989: 26) verstanden. Damit setzt Ethnizität die Existenz einer ethnischen Gruppe, eines Ethnos oder einer Ethnie voraus, auf die das Individuum sein Bewußtsein in Bezug setzen kann.
Zunächst beinhaltet der Begriff Ethnie zwei Dimensionen: sowohl objektive Eigenschaften einer Gruppe, die diese als „ethnische Gruppe“ beschreiben lassen, als auch die subjektive Wahrnehmung der Gruppenmitglieder von sich selbst als einer ethnischen Gruppe zugehörig, also ihre ethnische Identität bzw. Ethnizität. Die Gewichtung der objektiven bzw. subjektiven Dimension unterscheidet sich in verschiedenen Ansätzen erheblich.
Vor allem die Auffassungen, wie Ethnizität und Ethnien zustande kommen und aufrechterhalten werden und wodurch die Zugehörigkeit von Individuen zu einer ethnischen Gruppe definiert wird, weichen voneinander ab. Zwischen primordialen und konstruktivistischen Auffassungen, was unter Ethnie (oder auch Nation) zu verstehen sei, klaffen Welten. Wo primordiale Ansätze Ethnien als quasi-natürliche, gewachsene Einheiten hinnehmen, deren Identität im Verlauf der Geschichte essentiell gewahrt bleibt, arbeitet die konstruktivistische Seite mit Begriffen wie Invention, Konstruktion, imagined community (Hobsbawm/Ranger 1983, Handler 1985, Anderson 1996) und charakterisieren die Wir-Gruppe in Frage als etwas von Menschen geschaffenes, erdachtes oder konstruiertes.
Genauer betrachtet, läßt sich diese deutliche Unterscheidung der verschiedenen Betrachtungsweisen jedoch nur für eine diachrone Perspektive aufrechterhalten. Aus einer synchronen Perspektive hilft alles nichts - ohne eine Gruppe, die man untersuchen kann, kann man auch deren Ethnizität oder ethnische Identität nicht in Frage stellen, dekonstruieren oder beschreiben. Dies führt zu der Notwendigkeit, Ethnie zu definieren.
Barth (1969) beschreibt Gruppen, die in der Ethnologie üblicherweise als ethnische Gruppen bezeichnet werden, anhand von vier Merkmalen, die sowohl die objektive als auch die subjektive Dimension einschließen. Eine ethnische Gruppe
„-is largely biologically self-perpetuating
- shares fundamental cultural values, realized in overt unity in cultural forms
- makes up a field of communication and interaction
- has a membership which identifies itself, and is identified by others, as constituting a category distinguishable from other categories of the same order“ (Barth 1969: 11)
Für Barth ist nun aber „the ethnic boundary that defines the group, not the cultural stuff that ist encloses“ (Barth 1969: 15) der eigentlich bedeutsame „focus of investigation“. Ethnische Gruppen kann es nur in Abgrenzung von anderen ethnischen Gruppen geben. Die Veränderbarkeit und Überschreitbarkeit wie die Mechanismen der Aufrechterhaltung der Grenzen sind zu analysieren. Innerhalb dieser flexiblen Grenzen bleibt die ethnische Gruppe als (wenn auch nicht mehr ganz feste) Größe bestehen:
„The fact of continuing dichotomization between members and outsiders allows us to specify the nature of continuity, and investigate the changing cultural form and content.“ (Barth 1969: 14)
Ohne den Akt der Abgrenzung gibt es keine ethnische Gruppe; diese Grenzen können überschritten und verändert werden; das, was durch die Grenze umschlossen und als Merkmal der spezifischen ethnischen Gruppe definiert wird, unterliegt Veränderungen.
Abgrenzungen, „Wir und die Anderen“ - Dichotomien können jedoch nicht das einzige Merkmal ethnischer Gruppen sein. Auch andere Gruppen grenzen sich ab, ohne deshalb von der Ethnologie als ethnische Gruppen begriffen zu werden, ich denke hier an Religionsgemeinschaften oder Subkulturen. Deshalb liegt der Schritt, eine Gruppe als ethnische Gruppe zu definieren (sozusagen als Arbeitshypothese), vor der Analyse der ethnischen Grenzziehung - auch bei Barth. Ganz entscheidend ist, daß bei Barth das subjektive Kriterium der Selbstwahrnehmung einer ethnischen Gruppe als solche, und ihre Abgrenzung von anderen ethnischen Gruppen als wichtigstes Merkmal den objektiven Merkmalen einer ethnischen Gruppe gegenübergestellt wird. Im Ergebnis heißt das, daß die objektiven Merkmale ihre Bedeutung als ethnische Merkmale erst durch die subjektive Abgrenzung erhalten. Es bedeutet jedoch nicht, daß die subjektive Abgrenzung allein genügt, eine Gruppe als ethnische Gruppe zu begreifen.
Verschiedene Definitionsversuche, was ethnische Gruppen sind, unterscheiden sich in der Gewichtung subjektiver und objektiver Kriterien. Mal werden subjektive (die Selbstwahrnehmung), mal objektive Kriterien in den Vordergrund gestellt; die meisten Definitionsversuche ziehen beide Ebenen heran. Ein Beispiel: Elwert erhebt in seiner Definition der ethnischen Gruppe die subjektive Selbstzuschreibung zum entscheidenden Kriterium (Elwert 1989: 23), fügt jedoch umgehend ein objektives Kriterium seiner Definition hinzu: die Erblichkeit der Zuordnung des Individuums zur Ethnie:
„Nach diesem Kriterium der Selbst- (oder Fremd-)Zuschreibung könnten - wenn man die Barth’sche Definition wörtlich nimmt - auch politische und religiöse Gruppen als Ethnien gesehen werden. Sind das „deutsche Proletariat“/ die „sozialdemokratische Familie“ von 1870 bis 1960, die katholischen Parteien wie Zentrum und CSU oder die „grüne“ Alternativszene, also Ethnien (vgl. Aronson 1976)? Aus diesem Grund erschien es mir notwendig, gegenüber Barth ein neues Definitionskriterium zusätzlich einzuführen: Der Bezug zur Familie. Mit „familienübergreifend und familienerfassend“ ist die Ethnie einerseits vom Verwandtschaftsverband differenziert und andererseits wird implizit auf die Erblichkeit der Zuordnung hingewiesen, unabhängig davon, ob der Vererbende selbst durch Geburt oder durch Beitritt in die Ethnie aufgenommen wurde. Auch die ethnische Konversion schafft eine erbliche Identität. Damit ist die Ethnie z.B. von der politischen Vereinigung abgegrenzt.“ (Elwert 1989: 24) [5].
Um sich mit Ethnizität auseinanderzusetzen, bedarf man - anscheinend - also irgendeiner zumindest teilweise durch objektive Merkmale festgelegte Definition der ethnischen Gruppe. Hier ist es die Erblichkeit ethnischer Identität, es können auch z.B. Endogamie der Gruppe, Sprache und Kultur sein. Wilking/Kroll (1993) fächern ihre Definition von Ethnos in insgesamt 18 Merkmale auf drei Ebenen (der individuellen Ebene, der Ebene der aktuellen Gruppe und der Ebene der historischen (idealisierten) Gruppe) auf, um der im Titel gestellten Frage „Sind die Sorben ein Volk?“ nachzugehen.
Es geht hier darum, daß sich die Definitionen objektiver Merkmale bedienen; das heißt nicht, daß diese Merkmale außerhalb menschlichen Handelns liegen müssen. Im obigen Zitat wird auf die Möglichkeit ethnischer Konversion hingewiesen: nicht jedes Individuum muß also von vornherein jedes Merkmal erfüllen, um Mitglied einer ethnischen Gruppe werden zu können. Wie gesagt, nur solche Merkmale sind bedeutsam, die durch den Akt der Abgrenzung bedeutsam gemacht werden (weshalb sich der Begriff Ethnie von dem der „Rasse“ unterscheidet - physiologische Merkmale entscheiden nur dann über die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, wenn sie zu Abgrenzungskriterien gemacht werden). Wenn ich hier davon spreche, daß Definitionen von Ethnie auf objektiven Merkmalen aufgebaut sind, meine ich damit, daß anhand dieser Kriterien entschieden wird, ob die durch den subjektiven Prozeß der Abgrenzung bedeutsam gemachten Merkmale „ethnisch“ sind oder nicht. Abstammung, Sprache und Kultur können (müssen aber nicht) ethnische Merkmale sein; politische Überzeugung, Angehörigkeit zu einer Berufsgruppe oder die Haarfarbe nicht; Religionszugehörigkeit kann allenfalls eines von mehreren, nicht aber alleiniges Kriterium für ethnische Zugehörigkeit sein.
3.2. Suche nach objektivem Sorbisch-Sein
„Ethnic communities, so easily recognizable from a distance, seem to dissolve before our eyes the closer we come and the more we attempt to pin them down.“ (Smith 1986: 2)
Der Effekt, den Smith beschreibt, charakterisiert treffend meine Erfahrungen in der Annäherung daran, was „Sorbisch-Sein“ bedeutet.
Aus der Ferne betrachtet, ist die Existenz der Sorben nicht von der Hand zu weisen. Daß in der Lausitz die Sorben zu Hause sind, ist ein weithin akzeptierter Fakt: zahlreiche Publikationen zeugen davon, wissenschaftliche ebenso wie Broschüren für Touristen, zweisprachige Beschilderung definiert den geographischen Raum des sorbischen Siedlungsgebietes, zahlreiche Institutionen, die finanzielle Förderung der sorbischen Minderheit, Sorbengesetze und anders mehr sind äußerst realer und greifbarer Ausdruck dieser Existenz. Und all dies bezieht sich eindeutig auf eine Gruppe, die als Volk begriffen wird, die über eine eigene Sprache verfügt, eine Abstammungsgemeinschaft anders als die deutsche darstellt, eine spezifische Kultur besitzt - also auf eine ethnische Gruppe.
Aus größerer Nähe jedoch ergeben sich einige Schwierigkeiten, versucht man die Sorben anhand objektiver Merkmalskataloge wie den vier Punkten von Barth oder den 18 Punkten von Wilking/Kroll (oder jedem anderen Merkmalskatalog) definitorisch zu erfassen.
Die Zugehörigkeit zur Ethnie durch Abstammung, Endogamie der Gruppe durch Heiratsregeln, gemeinsame Kultur und Sprache sind allesamt Kriterien, auf die man durchaus in einzelnen Kontexten stoßen kann, für die aber keine umfassende Gültigkeit beansprucht werden kann[6]. So reicht Abstammung beileibe nicht aus, um wirklich sorbisch zu sein. In der katholischen Oberlausitz war für die weitaus meisten meiner Gesprächspartner, die sich selbst als Sorben bezeichneten, die Beherrschung der sorbischen Sprache wichtiger als die Abstammung, und es wurde häufig Personen so charakterisiert, sie seien deutsch bzw. Deutsche geworden (obwohl die Eltern noch sorbisch waren). Außerdem ist es auch möglich, durch den Erwerb der sorbischen Sprache sorbisch zu werden[7]. Durch die Einteilung der Schulklassen in A- (Sorbisch als Unterrichtssprache) und B- (Sorbisch als Fremdsprache) Klassen war unter den jüngeren Leuten, die ich in der Oberlausitz kennengelernt habe, eine Unterscheidung in A-Sorben und B-Sorben geläufig. Eine Unterscheidung in ½ oder ¼ (bis hin zu 1/8 und 1/16) Sorben entsprechend der Abstammung ist mir wiederum bei Gesprächen in der Niederlausitz begegnet, wo Sprache nicht als vorrangiges Kriterium verwendet wird, und in der Tat nur noch sehr wenige Sorbisch-Sprecher zu finden sind. Ob Abstammung oder Sprache in den Vordergrund gestellt wird: Sorbe zu sein scheint vielmehr eine graduelle denn eine exklusive Identität zu sein. Man ist nicht entweder sorbisch oder nicht, man ist mehr oder weniger sorbisch.
Bei bewußten Sorben[8] in der katholischen Oberlausitz bin ich durchaus auf den Wunsch gestoßen, „später eine sorbische Familie zu haben“ (sagt z.B. Kathleen, 21, und sehr engagiert in sorbischer Jugendarbeit), auch von den Eltern wird mitunter ein gewisser Erwartungsdruck in diese Richtung ausgeübt. Von den meisten jungen Leuten (insoweit sie meine Frage nicht von vornherein als völlig unsinnig zurückgewiesen haben) wird aber die Ansicht vertreten, daß man ja nicht beeinflussen könne, in wen man sich verliebt; und schließlich kann man Kinder auch mit einem deutschen Mann/einer deutschen Frau sorbisch erziehen, oder den Partner dazu bewegen, sorbisch zu lernen bzw. selbst sorbisch zu werden. In der stark katholisch geprägten Oberlausitz könnte man die Suche nach der „Endogamie der Gruppe“ schließlich mit der Frage auf die Spitze treiben, ob ein katholischer Deutscher oder ein evangelischer Sorbe der geeignetere Heiratspartner wäre.
Eine quasi-verwandtschaftliche Organisation als Kriterium für „Ethnie“ zu wählen, wäre ein weiteres denkbares objektives Merkmal. In der katholischen Oberlausitz könnte das sogar „funktionieren“. Dort kennt, wie mir häufig versichert wurde „jeder jeden“ und das Netz von Bekanntschaften, daß sich durch das „Sorbisch-Sein“ erschließt, wurde mir oft als großer Vorteil geschildert, den man als Sorbe gegenüber Deutschen habe. „Als Minderheit hat man auf jeden Fall soziale Vorteile“ sagt z.B. Lydia, die ihrerseits dazugehört, weil sie eine sorbische Mutter hat (also Zutritt zum verwandtschaftlichen Netz), aber weder in der Oberlausitz aufgewachsen ist, noch Sorbisch spricht, sondern erst im Alter von 13 Jahren mit der Mutter, die von dort stammt, in die Bautzener Gegend gezogen ist. Sie bezeichnet sich selbst als „Sonderfall“. Durch ihre Verwandtschaft bekam sie Zutritt zur sorbischen Jugendszene und fühlt sich dazugehörig, obwohl sie immer wieder wegen der fehlenden Sprachkenntnisse „geneckt“ wird und aufgefordert wird, Sorbisch zu lernen. Ein anderes Beispiel ist Istvan, 20, der einen sorbischen Vater und eine ungarische Mutter hat und sich als Halb-Sorbe, Halb-Ungar, „mit deutschem Paß, aber nicht deutsch“ bezeichnet. Er legt sehr viel Wert darauf, zum Erhalt der sorbischen Sprache einen Beitrag zu leisten, und hat im Repertoire seiner Rockband auch einige sorbische Songs. Dadurch, daß er nicht, wie die meisten sorbischen Altersgenossen, auf den Dörfern der Gegend aufgewachsen ist, sondern in Bautzen selbst (und deshalb ein Großstadt-Sorbe ist, wie er sich charakterisiert) gehört er allerdings selbst nicht „so richtig“ dazu in die sozialen Zusammenhänge der sorbischen katholischen Dorfjugend.
Das quasi-verwandtschaftliche Verhältnis, das man in der katholischen Oberlausitz vorfindet, erstreckt sich nicht auf die übrige sorbische Lausitz. Entgegen der offiziell etablierten Definition, die „Sorbisch“ auf das gesamte (in den einschlägigen Gesetzten geographisch genau definierte) sorbische Siedlungsgebiet anwendet, wird in der Oberlausitz oft die Ansicht vertreten, daß „da ja gar keine Sorben mehr sind“[9]. Mitglieder der Jugendgruppe „Pawk e.V.“, die in der Bautzener Gegend aktiv ist, Sportfeste, Filmabende, ein Jugend-Austauschprogramm mit anderen europäischen Minderheiten und andere Aktivitäten für sorbische Jugendliche organisiert, berichteten von Konflikten mit ihrem Geldgeber, der Domowina, weil sie in ihre Arbeit die Jugendlichen der Niederlausitz nicht integrieren. „Was können wir dafür, wenn sich da keiner interessiert!“ ist ihre Position dazu. Kontakte und Bekanntschaften zur Niederlausitz bestehen kaum, und schon gar kein „quasi-verwandtschaftliches“ Beziehungsgeflecht.
Aus diesen individuellen Äußerungen leitet sich nicht etwa ab, daß die Sorben keine „richtige“ ethnische Gruppe sind, weil einzelne Individuen von etablierten ethnischen Kriterien abweichen. Bedeutsam ist, daß die unterschiedlichen Positionierungen - die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen - nicht Abweichungen von einer Norm sind, sondern darauf hinweisen, daß keine solche objektive Norm existiert. Vielmehr gibt es vielfach verschiedene Vorstellungen davon, was den Sorben zum Sorben macht.
Der entscheidende „focus of investigation“ einer ethnischen Gruppe bei Barth war die ethnische Grenze, die „continuing dichotomization“. Bei den oben geschilderten Beispielen wurde bereits deutlich, wie differenziert die Zuordnung zu der Kategorie „Sorbisch“ sein kann. Wenn es diese Kategorie gibt, wer sind „die anderen“?.
Bei meinem ersten Besuch im sorbischen Internat in Dresden (auch in Leipzig und Berlin gibt es sorbische Internate) kreisten die Gespräche hauptsächlich um ein Ereignis. Das sorbische Internat ist auf einem Stockwerk eines Studentenwohnheims der Technischen Universität Dresden untergebracht. Die Anmeldungen für die Wohnheimplätze müssen rechtzeitig abgegeben werden, die Bewohner des Stockwerks haben innerhalb dieser Frist die Möglichkeit, über die Vergabe selbst zu entscheiden. Für das aktuelle Semester war diese Frist versäumt worden und die freien Plätze von der Wohnheimverwaltung zentral vergeben worden. Das hatte zur Folge, daß die sorbischen Bewerber in anderen Wohnheimen untergebracht wurden und die Plätze auf der sorbischen Etage von deutschen Studenten belegt worden waren. Das Problem konnte weitgehend dadurch gelöst werden, daß die Plätze einfach getauscht wurden. Nur einer der deutschen Bewohner weigerte sich, zu tauschen, und es kam zu heftigen Auseinandersetzungen darüber. Am Vorabend hatte es einen Streit gegeben, in dessen Verlauf der betreffende Außenseiter seine Meinung über das in seinen Augen ausgrenzende Verhalten der sorbischen Studenten mit der Äußerung „Euer Isolationismus kotzt mich an!“ auf den Punkt gebracht hatte. Diese Anschuldigung empfanden die sorbischen Studenten offensichtlich als Unverschämtheit und als unzutreffend (und als ziemlich erheiternd). Die Ansichten, die über den „Eindringling“ geäußert wurden, reichten, je nach Temperament, von unverhohlener Aggression bis zu Kopfschütteln über dessen Dummheit und Sturheit. Mir wurde auf meine Fragen hin die Weigerung, den „Fremden“ zu akzeptieren, damit erklärt, daß man sich das Stockwerk über die Jahre hin schön eingerichtet habe und sich das nicht kaputt machen lassen wolle. Auf anderen Stockwerken müsse man die Türen abschließen, im sorbischen Internat sei das anders. Jeder kennt jeden, da würde nicht geklaut usw. Es sei „nicht persönlich“ gemeint, wenn man die Außenseiter nicht haben wolle (obwohl in diesem besonderen Fall der Betreffende von allen Beteiligten als ausgesprochen unsympathisch empfunden wurde), und mit „sorbischem Isolationismus“ habe es auch nichts zu tun.
Bei diesem Konflikt ging es offensichtlich darum, den sozialen Raum, den das 12. Stockwerk des Wohnheims bildet, zu schützen. Die Grenze, wer Zutritt zu diesem Raum erhält, verläuft zwar auf den ersten Blick zwischen sorbisch und deutsch, bei genauerem Hinsehen aber zwischen bekannt und unbekannt. Sorbisch zu sein, bedeutet in den meisten Fällen, aus der selben Gegend zu stammen, mit vielen anderen auf dem Stockwerk schon im sorbischen Gymnasium in Bautzen gewesen zu sein, sich schon aus den einschlägigen Discos der Gegend zu kennen oder mit anderen Bewohnern verwandt zu sein. Die wenigen Ausnahmen, z.B. Studenten, die aus der brandenburgischen Niederlausitz kommen, können problemlos integriert werden, und haben ihren Integrationswillen ja auch bereits mit der Bewerbung um den Platz im sorbischen Internat bekundet. Die Bewohner des 12. Stocks haben das Privileg, sich ihre Mitbewohner auszusuchen und damit dauerhaft für eine vertraute und „sichere“ Atmosphäre zu sorgen. Die Nutzung und Verteidigung dieses Privilegs als „sorbischen Isolationismus“ aufzufassen, lehnten sie ab.
Am selben Tag ging es auch noch in einem anderen Zusammenhang um „sorbischen Isolationismus“. Einige Studentinnen verfaßten gerade einen Artikel für eine Zeitung, die beim jährlichen Treffen aller Absolventen des sorbischen Gymnasiums verteilt wird, in dem sie Kritik an den Organisatoren einer sorbischen Kulturveranstaltung übten. Darin sprachen sie sich dagegen aus, daß keine Übersetzung der Theater- und Kabarettdarbietungen für deutsche Zuschauer angeboten wurde[10]. Gegen dieses „Abschotten“ der Sorben gegenüber den Deutschen nahm der Artikel Stellung.
In diesen beiden Ereignissen ging es offensichtlich um Abgrenzung und Grenzziehung, um die Definition von „Wir“ und „die Anderen“. Aber geht es um die Abgrenzung einer ethnischen Gruppe von anderen ethnischen Gruppen im Sinne Barths? Einmal fand Abgrenzung statt, jedoch die Interpretation, dabei handele es sich um eine ethnische Abgrenzung, zurückgewiesen. Im anderen Fall wurde eine Abgrenzung sorbischer Kultur indem sie für nicht-sorbische Rezipienten unzugänglich präsentiert wird, abgelehnt und gefordert, die Grenze durchlässig zu halten, um nicht dem Vorwurf ausgesetzt zu werden, sich „abzuschotten“.
Ein anderes Beispiel: Kathleen, für die sorbisch zu sein eine große Bedeutung hat, engagiert sich in der Jugendarbeit vor allem im Bereich der Kontaktpflege mit Jugendgruppen anderer Minderheiten und Volksgruppen in Europa. Mit Räto-Romanen, Kärtner Slowenen, Nord- und Westfriesen aus Deutschland und den Niederlanden, Südtirolern, schwedischen Finnen, Ungarn-Deutschen und einer Reihe anderer Gruppen besteht eine regelmäßige Zusammenarbeit in der Organisation JEV (Jugend Europäischer Volksgruppen, eine Unterorganisation der FUEV, der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen). Einer Minderheit anzugehören bildet eine gemeinsame Identität, abgegrenzt von der Identität von Mehrheiten. In dieser europaweiten Identität lösen sich andere Dichotomisierungen auf. Kathleen, die von sich selbst sagt, fast nur sorbische und kaum deutsche Freunde zu haben[11], erzählte mir im selben Gespräch Minuten später von den engen Kontakten zu deutschen Minderheiten im Ausland, insbesondere den Ungarn-Deutschen. Wo einmal „Wir“=„Sorben“ und „die anderen“ = „die Deutschen“ bedeutet, bedeutet es in einem anderen Zusammenhang „Wir“= „die sorbische, deutsche und alle anderen Minderheiten“ und „die anderen“=„alle, die zu einer Mehrheit gehören“. Daß sich da ein gewisser Widerspruch ergibt, fiel uns beiden auf, führte zu einem kurzen Stutzen bei Kathleen, aber nicht zu dem Versuch, den Widerspruch irgendwie aufzulösen[12].
Dieses Stutzen war für mich die charakteristischste Erfahrung in Gesprächen über das „Sorbisch-Sein“. Die anekdotenhafte Wiedergabe einiger solcher Erfahrungen möchte ich hier nicht als wissenschaftlich haltbare empirische Ergebnisse ausgeben, sie sollen nur meine Annäherung an das „Feld“ beschreiben. Daß die meisten Beispiele aus Gesprächen mit Jugendlichen stammen, ist kein Zufall.
Die Begegnungen mit der jüngeren Generation waren wesentlich informeller und persönlicher als Gespräche mit älteren Personen, vor allem als mit offiziellen Vertretern sorbischer Institutionen. Sie boten Zugang eben zu jenen „Uneindeutigkeiten“, die ich oben beschrieben habe. Sie waren für mich Ansichten „aus der Nähe“, während ich bei anderen Begegnungen, z.B. mit sorbischen Funktionsträgern der Domowina oder Hornoer Bürgern ständig auf jene etablierten Wahrheiten verwiesen wurde, die eben „aus der Ferne“ die Sorben und alles was es über sie zu wissen gibt, so klar und deutlich erkennen lassen.
Jugendliche in den Mittelpunkt einer alltagskulturell orientierten Analyse zu stellen, schien zunächst sinnvoll. Aber: Wie sollte ich vorgehen, wenn ich die Einstellung von Sorben der jüngeren Generation als Forschungsinteresse in den Vordergrund stellen wollte? Woher die Kriterien nehmen, wer als Interviewpartner in Frage kommt? Die Jugendgruppe Pawk e.V. war mein erster Ansprechpartner. Ihr erklärtes Ziel ist es, bei Jugendlichen ein sorbisches Selbstbewußtsein zu wecken, Altersgenossen dazu zu ermuntern, sich als Sorben zu bekennen. Sollten nun jene, die sich nicht oder noch nicht oder nicht mehr als Sorben bekennen, auch Gegenstand meines Interesses sein? Das würde jedoch heißen, eigene Kriterien dafür finden zu müssen, wen ich in Abwesenheit der Selbstwahrnehmung, des Bekenntnisses als Sorbe, trotzdem als Sorbe definieren wollte. Welche Kriterien?[13]
Und ergeben meine Fragen überhaupt einen Sinn? Wenn die Grenzen fließend sind, wenn nicht nur jeder einzelne Sorbisch-Sein für sich selbst definiert, sondern auch von jedem einzelnen Sorbisch-Sein in verschiedenen Situationen anders definiert wird, bedeutet danach zu fragen, nicht etwas zu suchen, sondern etwas zu fordern, was es gar nicht gibt, und was es auch nicht geben muß?
Obendrein stülpt eine von mir vorgenommene Klassifikation völlig unterschiedlichen Motivationen, Einstellungen und Lebenshintergründen eine trügerische Gemeinsamkeit auf. Wenn sich ein Student der Sorabistik in Leipzig und ein 16-jähriger Jugendlicher ohne Aussichten auf eine Lehrstelle aus einem Dorf der Niederlausitz jeweils als Sorbe bezeichnen, hat diese Aussage denselben Sinn, dieselbe Bedeutung für die Identität derer, die sie machen?
Hier werden die Schwächen einer subjektivistischen Definition, „Sorbe ist, wer sich als Sorbe bekennt“, deutlich. Mit dieser Definition werden nur jene Individuen erfaßt, die aus bestimmten individuellen Motivationen heraus ein solches Bekenntnis für sich formulieren. Andererseits führt diese Definition zu einer Beliebigkeit, die sich mit der Bedeutung von „sorbisch“ als die Zugehörigkeit des Individuum zu einer Gruppe beschreibend, die als ethnische Gruppe oder als Volk vorgestellt wird, nicht deckt. Ein Artikel in der sorbischen Tageszeitung „Serbske Nowiny“ kritisiert diese Diskrepanz, die die Bekenntnis-Definition für den alltäglichen Umgang unbrauchbar macht:
„(...) „Sorbe ist, wer sich als solcher fühlt“ schwimmt auf hochphilosophischen Wassern: Ich fühle mich, also bin ich! Kehren wir das einmal um: Ich fühle mich nicht, also bin ich nicht! Im evangelischen Gebiet von zum Beispiel Kleinbautzen, Malschwitz, Pließkowitz gibt es viele Sorben, die bis zum Anfang der 50er Jahre noch Sorbisch gesprochen haben, sich aber nicht mehr als Sorben fühlen, „ohne daß sie bekennende Sorben ablehnen würden“. Das alles sind demnach keine Sorben? Demgegenüber kann jeder Deutsche, Türke, Amerikaner..., der sich so fühlt - ohne Kenntnis sorbischer Sprache, Kultur und Verhaltens - per definitionem Sorbe sein.“ (in Tschernokoschewa 1994: 204)[14]
Ethnizität dadurch zu verstehen, indem man den Einstellungen bestimmter Gruppenmitgliedern nachspürt, würde also bedeuten, eine Definition der Gruppe parat haben zu müssen, die über die subjektive Selbstzuschreibung hinaus geht; zumal ja auch Individuen nicht immer in der Lage oder bereit dazu sind, ihre Identität eindeutig zuzuordnen (vgl. Elle 1992b: 6). Wie sonst läßt sich entscheiden, wessen Darstellung für die Untersuchung relevant ist? Wie sonst läßt sich entscheiden, ob Aussagen eine Innen- oder eine Außensicht dokumentieren (eine Unterscheidung, die gerade für die Untersuchung der ethnischen Grenze zentral ist)?
Eine befriedigende objektive Definition der ethnischen Gruppe „Sorben“ ließ sich nicht aufstellen. Behaupten jene, die sich als Sorben bezeichnen, zu einer Gruppe zu gehören, die es objektiv gar nicht gibt?
3.3. Ethnizität ohne ethnische Gruppe?
3.3.1. Das Verschwinden der Sorben - die essentialistische Erklärung
Wenn es aber die Sorben als ethnische Gruppe „nicht gibt“, woher kommt dann die „Sichtbarkeit“ der Sorben aus der Ferne?
Die am verbreitetste Erklärung für dieses Phänomen ist wohl die vom Aussterben der Sorben - heutiges Sorbentum ist deshalb so fragmentiert, weil es nur einen kläglichen Überrest einer einstmals intakten Gemeinschaft darstellt. Die Identität ethnischer Minderheiten[15] wie den Sorben wird häufig mit deren Bedrohung, mit Wörtern wie „Aussterben“ oder „Verschwinden“ assoziiert. Die Gesellschaft für bedrohte Völker widmet den Sorben regelmäßig Artikel in ihrer Zeitschrift „Pogrom“, der Mitteldeutsche Rundfunk betitelt einen Beitrag über die Sorben „Leben gegen die Zeit“. Der sorbische Schriftsteller Jurij Koch schreibt:
„Es liegt im Urinteresse meiner ethnischen Art, daß ich wissen muß, ob in meiner Zeit, vor meinen Augen (damit ich als Zeuge gerufen werden könnte, falls es zum Gerichtstag kommen sollte), ob in meiner Zeit vor meinen Augen etwas zu Ende gekommen ist, was nicht hätte zu Ende kommen sollen.“ (Koch 1992: 41f.)
Unter der Überschrift „Die Schmerzen der endenden Art“ zieht er eine Parallele zwischen den Sorben und der vom Aussterben bedrohten Mandelkrähe. Beider Verschwinden hätte dieselbe Folge:
„Eine Farbe weniger. Zunahme der Grauwerte. Ein Laut weniger, eine Sprache weniger. Zunahme des Schweigens.“(Koch 1992: 45)
Diese Worte scheinen die dominierende Wahrnehmung der sorbischen Minderheit auf den Punkt zu bringen, werden sie doch regelmäßig zitiert, wenn es um die Sorben geht, so in der FAZ (Scherer 1998) , im SPIEGEL (Schöps 1990: 96), in der sächsischen Zeitung (Klempnow 1997).
Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit sorbischer Kultur und Identität geht überwiegend von einem essentiellen Begriff von Kultur und ethnischer Gruppe (häufig wird die Bezeichnung Ethnikum gebraucht) aus. So beschreibt zum Beispiel Koschmal (1995) die Entwicklung der mentalen Kultur der Sorben, die er aus der sorbischen Literatur rekonstruiert, als eine kontinuierliche Entwicklung, die von kultureller Geschlossenheit zu Fragmentierung verläuft.
„Die jahrhundertelang gültigen Ideen und Wertvorstellungen der Sorben unterliegen in der Gegenwart einer ebenso grundlegenden Veränderung wie die Mechanismen ihrer Weitergabe, die sorbische Tradition. Um diesen kulturellen Wechsel darstellen zu können, müssen die bislang dominanten Konstanten sorbischer Kultur zunächst im einzelnen aufgezeigt werden.“ (Koschmal 1995: 18)
Meist werden mit „deutsch“ und „sorbisch“ kulturell klar abgrenzbare Kategorien beschrieben, die sich als einander fremde, in sich geschlossene Bedeutungssysteme gegenüber stehen.
„Die Sorben entwickelten in ihrer Geschichte über Jahrhunderte hin kaum eine wirklich eigenständige soziale und materielle Kultur. Die administrativen und politischen Institutionen zum Beispiel bleiben immer jene der deutschen ‘Herbergskultur’. Damit erscheinen sie aus sorbischer Sicht als fremd.“ (Koschmal 1995: 21)
Elle definiert die ethnische Gemeinschaft der Sorben eingangs seiner Studie „Sorbische Kultur und ihre Rezipienten“ (Elle 1992a) folgendermaßen:
„In der vorliegenden Untersuchung wird davon ausgegangen, daß das sorbische Volk seiner soziokulturellen Struktur nach eine mit der deutschen Nation assoziierte nationale Gemeinschaft (als Synonym in Anlehnung an Nedo auch „kleines Volk“) darstellt. Für diese Charakterisierung spricht, daß die Sorben als eine autochtone Gemeinschaft über einen historisch langen Zeitraum vielfältige und existentielle Wechselbeziehungen mit dem deutschen Volk eingegangen, daß sie mit den sozialen und politischen Strukturen der deutschen Nation unlösbar verbunden (assoziiert) sind.“ (Elle 1992a: 9)
Elle sieht die Notwendigkeit der „Entwicklung und Aktivierung von Ethnizität“, welche bei Angehörigen assoziierter nationaler Gemeinschaften „teilweise nur latent, als unter ganz bestimmten Bedingungen in Erscheinung und gesellschaftliche Wirksamkeit tretende bzw. aktivierbare ethnische Bewußtheit, vorhanden“ ist. (Elle 1992a: 12). Eine solche Aktivierung und Stärkung des Zugehörigkeitsgefühls des Individuums zur ethnischen Gruppe sollte von innen wie von außen, als gezielte Nationalitätenpolitik, erfolgen, andernfalls „stellt vor allem unter den Bedingungen assoziierter kleiner Völker die Übermacht der großen Kultur die kulturelle Identität in Frage, falls nicht ein demokratischer, kulturpolitischer Ausgleich gefunden wird.“ (Elle 1992a: 13).
In diesem Verständnis wird grundsätzlich von einer - bei allen Verflechtungen und Wechselbeziehungen - deutlichen Unterscheidbarkeit der deutschen von der sorbischen Kultur ausgegangen, Einflüsse der deutschen auf die sorbische Kultur als hemmende oder assimilierende Einwirkungen von außen auf einen sorbischen Organismus verstanden. Koschmal spricht davon, daß „die germanische und deutsche Kultur die Entwicklung sorbischer Kultur zu behindern suchte“ (Koschmal 1995: 19).
Die Fragmentierung und Uneindeutigkeit sorbischer ethnischer Identität ist aus einer essentialistischen Perspektive als Zurückweichen, Verschwinden, als der Verlust der ursprünglichen Geschlossenheit und Intaktheit der ethnischen Gruppe und ihrer Kultur, beobachtbar. Besonders deutlich wird dies auch in der Darstellung sorbischer Geschichte, die meist als ein kontinuierlicher Prozeß der Verdrängung bzw. des Verdrängt-Werdens beschrieben wird.
3.3.2. Die konstruktivistische Erklärung
In die entgegengesetzte Richtung weitergedacht, führt die Beobachtung der Ethnizität ohne ethnische Gruppe zu (de-) konstruktivistischen Thesen wie z.B. denen Handlers, der dafür plädiert, in der Ethnographie keine Ethnonyme zu verwenden, da Ethnien und Nationen grundsätzlich konstruiert und nicht als „bounded entities“ oder „actors“ vorhanden seien (Handler 1985). Handler fordert auf, Vorstellungen von „cultural distinctiveness and boundedness“ nicht in die ethnographische Darstellung zu übenehmen, da sie (nur?) „arbitrary constructions“ sind, „products of particular narrative and rhetorical strategies“ (Handler 1985: 181).
Jede historische Darstellung einer Gruppe läuft deshalb nach Handler Gefahr, die Existenz des Nicht - Existenten zu bestätigen: „Thus to begin an ethnographic narrative with historical background becomes a powerful rhetorical device for establishing the reality of the object of one’s study.“ (Handler 1985: 180).
Folgt man Handler, reicht also das individuelle Bewußtsein der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, also Ethnizität, nicht aus, die Existenz einer ethnischen Gruppe akzeptieren zu können. Allerdings - dem „object of one’s study“, um Handlers Wortwahl beizubehalten, Realität abzusprechen, führt zu erhitzten Gemütern, aber nicht unbedingt zum Verständnis des untersuchten Phänomens. Handler weist darauf hin, daß die Ergebnisse seiner Analysen den „representatives of the grouping in question“ als „hostile, offensive or just plain wrong“ (Handler 1985: 181) erscheinen mögen.
Die Zurückweisung von These wie denen Handlers durch Repräsentanten der von ihm untersuchten Gruppe gilt weniger den sozialwissenschaftlichen Einsichten in die Konstruiertheit und den diskursiven Charakter von ethnischer Identität, die Handler anbietet, sondern in der unausweichlichen Schlußfolgerung - den Zweifeln an der Realität, an der Existenz der untersuchten Gruppe.
Die Selbstdarstellung der ethnischen Gruppe, die Handler ausdrücklich zurückweist, beinhaltet die Vorstellung einer essentiellen und ahistorischen Gruppenidentität. Durch alle Wechselfälle der Geschichte hindurch waren die XY eben immer die XY, selbst wenn sie es zeitweise selbst „vergessen“ hatten oder ihre Identität von anderen unterdrückt wurde. Diese Vorstellung der Gruppenidentität als quasi-natürliche, angeborene und außerhalb der Geschichte existierende Eigenschaft ist einerseits das, was die ethnische Identität von anderen Identitäten, wie z.B. Zughörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen, unterscheidet; andererseits der Ansatzpunkt für eine dekonstruierende Analyse, da sie sich durch empirische und historische Studien meist leicht widerlegen läßt. Arbeiten über beispielsweise die „Erfindung“ von Stämmen im kolonialen Afrika oder über die Formation der europäischen Nationalstaaten liefern vielfältige und überzeugende Argumente für die These, die XY seien keineswegs immer schon die XY gewesen.
Eine dekonstruierende Analyse widerlegt also stets genau den Kern der untersuchten Identitäts-Narrationen, die Trumpfkarte der Vertreter der „grouping in question“. Die ethnische Gruppe ist nur dann (in der wirklichen Welt politischer und sozialer Auseinandersetzung) akzeptiert als „echte“ ethnische Gruppe, wenn sie die überzeitliche, essentielle Identität hat, die der Konstruktivismus als Erfindung entlarvt.
Handlers Thesen implizieren einen Gegensatz zwischen „echten“ und „erfundenen“ Gruppen. Obwohl Handler, das nehme ich zumindest an, jede ethnische Gruppe als erfunden dekonstruieren würde, bildet er sie dennoch stets vor dem konstrastierenden Hintergrund der „Echtheit“ ab. Konstruktivistische Auffassungen von Ethnizität kommen meist nicht ohne den zumindest implizierten Gegensatz von „real“ und „konstruiert“ aus, der einer Unterscheidung in „echt“ und „unecht“ gefährlich nahe kommt. So schon bei Max Weber, dem Vordenker des Konstruktivismus:
„Von der „Sippengemeinschaft“ scheidet sich die „ethnische“ Gemeinsamkeit dadurch, daß sie eben an sich nur (geglaubte) „Gemeinsamkeit“, nicht aber „Gemeinschaft“ ist, wie die Sippe, zu deren Wesen ein reales Gemeinschaftsdenken gehört. Die ethnische Gemeinsamkeit (im hier gemeinten Sinn) ist demgegenüber nicht selbst Gemeinschaft, sondern nur ein die Vergemeinschaftung erleichterndes Moment.“ (Weber 1976: 237)
Die Gefahr, die in einer solchen implizierten echt-unecht Dichotomie steckt, ist die der Mißachtung der kollektiven Selbstwahrnehmung. Was nicht „echt“ ist, muß nicht respektiert werden. So kommt Brumlik in seiner Analyse von Webers Ethnizitätsbegriff zu dem Ergebnis:
„Was immer uns die Geschichte von Webers Ethnizitätslehre mit ihrem radikalen Konstruktivismus sonst noch lehren mag, folgendes scheint zu gelten: wer dekonstruiert, möchte auch assimilieren! Das kann man wollen oder nicht!“ (Brumlik 1990: 189f.)
Begriffe wie „Konstruktion“, „Invention“ (z.B. Hobsbawm/Ranger 1983), „Imagination“ (Anderson 1996) haben seit geraumer Zeit Konjunktur in der Ethnologie und erschüttern nicht nur die Auffassungen von Ethnizität, sondern auch von den Konzepten „Tradition“ und „Kultur“. Hansons konstruktivistische Thesen über die Kultur der Maori („The Making of the Maori: Culture Invention and Its Logic“, Hanson 1989) lösten hitzige Debatten aus, in der Fachwelt ebenso wie in der neuseeländischen Presse (vgl. Langdon 1991, Linnekin 1991, Levine 1991, Freeth 1990), und führten zu heftigen Protesten seitens Vertretern der Maori, die ihre politischen Forderungen und ihr Selbstverständnis ihrer Kultur durch Hansons Thesen angegriffen sahen. (De-) Konstruktivistische Thesen wie die Hansons, Handlers und anderer erschüttern etablierte Wahrheiten und liefern eine Interpretation von Kultur, Tradition, Nation oder Ethnizität, die für die tagtägliche Auseinandersetzung um Rechte, Selbstbestimmung und Identität von Minderheiten oder Volksgruppen (seien es auch nur „groupings in question“) nicht taugen und von diesen deshalb zurückgewiesen werden müssen. Ethnologisches Denken in konstruktivistischen Kategorien gerät in Opposition zu denen, deren eigene Vorstellung von sich selbst in der ihre Legitimation durch den Zweifel an ihrer „Echtheit“, ihrer Authentizität, ihrer Ursprünglichkeit zu verlieren drohen.
Andererseits eröffnet eine konstruktivistische Analyse scheinbar essentieller Kategorien den Blick auf die „cultural constructedness of the modern world“ (Sollors 1989: x). Wo Veränderungen von als essentiell aufgefaßter Kultur oder ethnischer Identität nur mit Begriffen wie „Verlust“ und „Verschwinden“ erfaßt werden können, erlauben konstruktivistische Interpretationen „to see culture and identity as something in flux, something negogiated and grasped for, as opposed to acquired and possessed“ (Jackson 1989: 139). Und sie lassen es zu, Nationalismus, ethnische Konflikte, Ausgrenzung als Mittel im Kampf um ökonomische oder politische Ressourcen zu interpretieren und ihre Ideologiehaftigkeit zu analysieren. Nicht zuletzt hinterfragen sie die Rolle der Sozialwissenschaft in der Konstruktion von Differenz, Identität, Tradition (vgl. Dittrich/Radtke 1990; Behrend/Meillassoux 1994; Hobsbawm/Ranger 1983).
Mit der Einsicht in die Konstruiertheit von Identität, Kultur und Wissen geht, wie Schiffauer behauptet, eine „Angst vor der Differenz“ (Schiffauer 1996) einher: die Erkenntnis, daß diese Kategorien konstruiert sind, führt zu einer Verantwortung desjenigen, der an ihrer Konstruktion beteiligt ist. Der Ethnologe, der den anderen als den „Anderen“ beschreibt, konstruiert ihn dabei auch als den Anderen. Damit ist die ethnologische Beschreibung nicht mehr bloße Beschreibung, sondern wird selbst zu einem Akt des Erschaffens von Kategorien und Identitäten; sie ist nicht mehr neutrale Beschreibung von außen, sondern ist Bestandteil des Prozesses, den sie zu beschreiben sucht.
Diese spezifische Problematik ist es, aufgrund derer Handler dazu auffordert, in der Ethnographie Kategorisierungen zu vermeiden. Damit ist das Problem jedoch keineswegs gelöst, denn der Sozialwissenschaftler, der die objektive Existenz einer Gruppe in der realen Welt anzweifelt, indem er sie als erfunden und konstruiert „entlarvt“, ist ebenso an der Konstruktion dieser Gruppe beteiligt, wie der, der diese Existenz behauptet - nur ins Negative verkehrt. Daher Brumliks oben zitierter Vorwurf: „Wer dekonstruiert, möchte auch assimilieren!“ Obwohl man Handler und Hanson sicher glauben kann, daß keine solche Assimilierungsabsicht hinter ihren Arbeiten steckt und Brumliks Vorwurf damit zu weit geht, haben ihre Analysen die unausweichliche Konsequenz, die Selbstdarstellung der Gruppe zu widerlegen (sobald ihre Arbeiten außerhalb der Fachwelt wahrgenommen werden, wie im Falle der Arbeiten Hansons über die Maori geschehen). Denn diese Selbstdarstellung ist immer eine primordialistische, sie muß die objektive, essentielle Existenz der Gruppe behaupten, um überhaupt einen Sinn zu haben. Um dies zu verdeutlichen, möchte ich hier kurz die Ebene des theoretischen sozialwissenschaftlichen Diskurses verlassen und mich kurz zwei Schauplätzen zuwenden, in denen die ethnische Gruppe als feste Größe eine Rolle spielt - und in denen sie nur als feste Größe eine Rolle spielen kann, während sie als konstruierte oder erfundene Kategorie nach den Spielregeln dieser Diskurse sofort aus dem Spiel „ausscheiden“ müßte.
3.3.3. Ethnizität als essentielle Qualität
3.3.2.1. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.[16]
Dieses Selbstbestimmungsrecht, das von der internationalen Gemeinschaft als „fundamentales Menschenrecht anerkannt worden“ (Zayas 1997: 147) ist, hat in der jüngeren Vergangenheit neue, blutige Brisanz erhalten. Jugoslawien, Ruanda, Tschetschenien - obwohl sich die Schauplätze und Hintergründe der Kriege und Massaker, für die diese Namen beinahe Synonyme geworden sind, in wohl fast jeder Hinsicht unterscheiden, werden sie alle von der internationalen Öffentlichkeit als ethnische Konflikte wahrgenommen, als Ringen von Völkern (oder im Falle ethnischer Konflikte in Afrika, von „Stämmen“) um ihr Recht auf Selbstbestimmung oder die Befreiung von der Vorherrschaft durch eine andere ethnische Gruppe.
In Ermangelung einer Definition von „Volk“ (vgl. Zayas 1997: 152) entsteht die Frage, wer genau Träger und Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker sein kann. Denn:
„Völker und nicht Staaten sind Träger des Selbstbestimmungsrechts, das gerade das Recht umschließt, ein eigenes Staatswesen zu gründen. Insgesamt hat das Denken in Kategorien von Rechten der Völker doch seine Berechtigung, wo ein Volk den Weg zur Staatlichkeit noch nicht hat beschreiten können und es damit im völkerrechtlichen Sinn nur dann geschützt werden kann, wenn man es selbst in seiner unorganisierten Gestalt als Rechtsträger anerkennt.“ (Tomuschat in Zayas: 152)[17]
Daraus ergibt sich weiterhin das Problem, Völker von Minderheiten unterscheiden zu müssen, denn „Völker sind Träger des Selbstbestimmungsrechts und Minderheiten Subjekte des Minderheitenschutzes“ (Mohr 1997: 124). In der völkerrechtlichen Praxis werden Völker „als ‘Staatsvölker’ - solche, die vorhanden oder die im Werden begriffen sind“ (Mohr 197: 126) verstanden, während „Solidaritätswillen und Selbstidentifikation (von Minderheiten, Anm.) nicht auf Schaffung bzw. Unterhaltung eines eigenen Staates gerichtet“ (ebd.) sind und sie deshalb keine Völker vorstellen, die das Recht auf Selbstbestimmung und damit ultimativ das Recht auf Sezession und Bildung eines eigenen Staatswesens in Anspruch nehmen können.
Daß Gruppen, die Anerkennung ihrer Eigenständigkeit als Volk mit den dazugehörigen Rechten (und ein Aspekt davon ist auch die Kontrolle von Ressourcen) fordern, mit konstruktivistischen Thesen über ihre nicht-wirklich-wahre-und-ewige Existenz nicht viel anfangen können, ist nicht verwunderlich. Betrachtet man die völkerrechtliche Situation durch die konstruktivistische Brille, wird das Problem drohender ethnischer Auseinandersetzungen schier unüberblickbar. Obwohl keine unumstritten gültige Definition von „Volk“ zur Verfügung steht, besteht das Recht auf Selbstbestimmung. Durch die Ausübung dieses Rechts können immer neue Staaten entstehen, auf deren Territorien immer neue Minderheiten entstehen, deren Solidaritätswillen sich sehr wohl eines Tages auf Schaffung und Unterhaltung eines eigenen Staates oder die Vereinigung mit einem anderen bestehenden Staat richten mag. Hinter den heute schon als „ethnische Gruppen“ identifizierten Akteuren steht obendrein die Vielzahl von Gruppen, deren „process of coming to be“ (Lonsdale 1977: 132) noch nicht abgeschlossen ist, oder noch nicht angefangen hat.
So gesehen, erscheint das Recht auf Selbstbestimmung wie ein Instrument zur Erschaffung von „Wir und die anderen“ - Dichotomien. Diese Sicht der Dinge wird der Bedeutung des Rechts auf Selbstbestimmung der Völker aber offensichtlich nicht gerecht. Denn schließlich entspringt es tatsächlichen Erfahrungen von Unterdrückung, Verfolgung und Fremdherrschaft. Diese Erfahrungen, die mittels der Einforderung der Rechte der Unterdrückten als Völker verarbeitet und überwunden werden - so sehr dies auch als „ethnic identity politics“ im Gegensatz zu einer essentiellen ethnischen Identität, die sich unaufhaltsam Bahn bricht, analysiert werden kann - lassen sich nicht dekonstruieren.
Dieser Problematik möchte ich hier nicht weiter nachgehen, auch nicht den verschiedenen Lösungsstrategien für dieses hinreichend bekannte Problem, die hier außen vor geblieben sind - entscheidend ist der Hinweis, daß der internationale Diskurs über das Selbstbestimmungsrecht der Völker tendenziell nach klaren Grenzen und eindeutigen Identitäten verlangt. Die Eigendarstellung von Gruppen (besser gesagt ihrer Repräsentanten) die sich aus welchen Gründen auch immer innerhalb dieses Diskurses behaupten müssen, muß sich entlang dieser Vorgaben artikulieren.
3.3.2.2. Multikulturalismus
Wo auf der Ebene der Staatengemeinschaft Selbstbestimmungsrechte und Minderheitenschutz die Rechte der Gruppen auf Entfaltung ihrer ethnischen und kulturellen Eigenart sichern, ist es innerhalb der Gesellschaft der Multikulturalismus, der den Angehörigen bestimmter Gruppen die Entfaltung ihrer ethnischen und kulturellen Identität sichern soll. Beide Konzepte sind in den westlichen Gesellschaften weitgehend normativ abgesichert, es sind politisch korrekte Vorstellungen davon, wie das Zusammenleben von „uns und den anderen“ aussehen soll.
Multikulturalismus als politische Forderung nach Gleichberechtigung der Kulturen und ethnischen Gruppen in einer Gesellschaft[18] braucht als Basis und Ausgangspunkt die Akzeptanz von Differenz: „Der Multikulturalismus definiert Pluralität und Vielfalt der Lebensstile und -formen als soziale Normalität“ (Radtke 1991: 91). Im Hinblick auf die Konstruktion von Ethnizität im Diskurs des Multikulturalismus ist entscheidend, daß hier Kultur, als eine weitgehend essentialistische und simplizistische Kategorie von Kultur als abgegrenztem, geschlossenem System von Bedeutungen (also ein Kulturkonzept, daß die Ethnologie sich zu überwinden bemüht, vgl. Turner 1995: 411), zum entscheidenden Faktor ethnischer Identität erhoben wird.
„As a code word for minority demands for seperate recognition in academic and other cultural institutions, multiculturalism tends to become a form of identity politics in which the concept of culture becomes merged with that of ethnic identity. From an anthropological standpoint, this move, at least in its more simplistic ideological forms, is fraught with theoretical and practical dangers. It risks essentializing the idea of culture as the property of an ethnic group or race; it risks reifying cultures as seperate entities by overemphasizing their boundedness and mutual distinctness; it risks overemphasizing the internal homogeneity of cultures in terms that potentially legitimize repressive demands for communal conformity; and by treating cultures as badges of group identity, it tends to fetishize them in ways that put them beyond the reach of critical analysis - and thus of anthropology. (Turner 1995: 407)
Die Pluralität der Gruppen in der multikulturellen Gesellschaft setzt also - im theoretischen Modell des Multikulturalismus - die Existenz und Abgegrenztheit dieser Gruppen und die eindeutige Zugehörigkeit von Individuen zu diesen Gruppen voraus. Um die Rechte der Angehörigen verschiedener kultureller oder ethnischer Gemeinschaften einfordern zu können, muß die Verschiedenheit der Gruppen unbedingt als real aufgefaßt und das Augenmerk auf Differenz gerichtet werden. Auch hier möchte ich die Problematik nur anreißen, und auch hier kommt es mir darauf an, deutlich zu machen, daß der Diskurs des Multikulturalismus ähnlich dem des Selbstbestimmungsrechts der Völker nur mit essentiellen Konzepten von Kultur und Ethnizität „funktioniert“.
3.4. Diskurs
3.4.1. Ethnische Identität als Diskurs
Die Aufgabe, die ethnische Identität der Sorben aus der empirischen Annäherung an die ethnische Gruppe greifbar zu machen, stand vor dem Problem, daß sich die Sorben gängigen Definitionen, was unter einer ethnischen Gruppe zu verstehen ist, offensichtlich entziehen.
Der widersprüchliche und fragmentarische Charakter der Identitäts-Narrationen, denen man begegnet, wird unterschiedlich erklärt. Der essentialistische Erklärungsansatz, der dies durch Verlust und Verdrängung erklärt, setzt ein Konzept der ethnischen Gruppe als essentielle Größe voraus, das der sozialwissenschaftlichen und historischen Analyse nicht standhält.
Andererseits führt eine Dekonstruktion dieser essentialistischen Narrationen zu einem unauflöslichen Widerspruch. Überall dort, wo ethnische Identität wichtig und relevant ist - ich habe die Beispiele des Selbstbestimmungsrechts und des Multikulturalismus angeführt - werden essentielle Selbstdarstellungen eingefordert und müssen konstruktivistische Darstellung zurückgewiesen werden.
Die beiden Auffassungen[19] werden unvereinbar. Das Problem liegt m.E. darin, daß beide Modelle sich auf die ethnische Gruppe beziehen. Das primordialistische Modell im positiven Sinne: ethnische Identität bzw. Ethnizität sind unmittelbarer Ausdruck der ethnischen Gruppe selbst (weswegen beispielsweise Elle (1992a: 12) fordert, die Ethnizität, bei ihm auch nationales Selbstbewußtsein, der Sorben zu stärken, um den Fortbestand der Sorben selbst zu sichern); das konstruktivistische Modell im negativen Sinne: die Selbstdarstellung entspricht nicht einer objektiven Realität einer ethnischen Gruppe (in der behaupteten Geschlossenheit und Ursprünglichkeit), sondern behauptet (und erschafft) deren Existenz, die Gruppe ist nicht Realität, sondern Konstrukt. Deutlich wird dies bei einer so extremen konstruktivistischen Auslegung wie Handlers, der explizit ablehnt, die „reality of the object of one’s study“ zu akzeptieren. Auch an anderer Stelle findet man solche implizierten Gegensätze. So kritisieren Dittrich/Radtke beispielsweise die Präsentation der „Beobachtung ethnischer Differenzierung“ in sozialwissenschaftlichen Arbeiten „als empirische Realitäten und nicht als kategoriale Konstruktionen“ (Dittrich/Radtke 1990: 29).
[...]
[1] Neben dem eigensprachlichen Ethnonym „Sorben“ existiert auch die deutsche Bezeichnung „Wenden“. Heute hat sich die Bezeichnung „Sorben“ in der Wissenschaft und im alltäglichen Gebrauch in der Oberlausitz durchgesetzt, während in der Niederlausitz die Bezeichnung „Wenden“ weiterhin geläufig ist.
[2] vgl. Elle 1995a, Startitz 1980, Heckmann 1992, Kunze 1997.
[3] Gesetz zur Ausgestaltung der Rechte der Sorben (Wenden) im Land Brandenburg vom 07. Juli 1994 Artikel 1 § 2 Sorbische (Wendische) Volkszugehörigkeit
[4] Eine genaue Darstellung der sorbischen Subregionen, die detailliert auf die Präsenz von sorbischer Sprache, Brauchtum und organisierter Kultur (Vereinen, Musik- und Tanzensembles usw.) findet sich in Tschernokoschewa 1994, S. 66ff.
[5] Aronson, Dan: Ethnicity as a cultural system. In: Henry, Frances (Hrsg.): Ethnicity in the Americas, Den Haag 1976, S. 9-19
[6] Nicht, weil man sie nicht an jedem einzelnen Individuum beobachten kann, sondern weil sie nicht als das gelten, was die Gruppe abgrenzt.
[7] Ein Vertreter der Domowina hat mir beispielsweise versichert, daß auch ich bei entsprechendem Engagement Sorbin werden könnte. Es gibt tatsächlich einige Beispiele für „konvertierte Deutsche“, die auch von meinen Gesprächspartnern, die nicht offizielle Vertreter z.B. der Domowina (von denen Fragen nach der Definition von Sorbisch immer mit dem verfassungsgemäßen „Das Bekenntnis ist frei“ beantwortet wurden) waren, durchaus als Sorben akzeptiert waren, allerdings meistens mit dem Zusatz, daß sie eigentlich Deutsche seien, aber trotzdem sorbisch. Die Definition, wer nun sorbisch ist und wer nicht, bereitete immer Probleme - aber nur auf meine Abfrage hin. Im Alltag scheint sich die Notwendigkeit, jedes Individuum eindeutig zuzuordnen, nicht zu ergeben. Wer wen als wie sorbisch einstuft ist eine sehr individuelle Angelegenheit, und auch die Eigeneinschätzung weicht von der Einschätzung anderer häufig ab.
[8] auch ein Gradmesser des Sorbisch-Seins
[9] Der Slawist Roland Marti stellt gar Antipathien fest: „Es sei aber nicht verhehlt, daß es innerhalb der beiden Teile der Volksgruppe eine rational nicht begründete negative Einstellung gegenüber dem anderen Teil gibt.“ (Marti 1992: 26)
[10] Das deutsch-sorbische Volkstheater hat zum Beispiel eine Anlage mit Kopfhörern, über die die Handlung sorbischer Stücke auf deutsch erzählt wird.
[11] Eine so eindeutige Positionierung ist mir allerdings selten begegnet. Istvan z.B. wies meine Frage, ob er eigentlich auch mit Deutschen zu tun habe, nur mit einem ungläubigen „Soll das jetzt eine ernstgemeinte Frage sein?“ als völlig abwegig zurück.
[12] Innerhalb der JEV laufen außerdem derzeit Diskussionen darüber, wie man mit dem Übergewicht „deutscher“ Minderheiten in der Organisation umgehen soll, da durch das Vorherrschen der Kommunikationssprache Deutsch nichtdeutschsprachige Gruppen marginalisiert werden. Hier sind in der Bezeichnung „deutsch“ wiederum jene Gruppen eingeschlossen, die als Minderheiten in einem deutschsprachigen Staat leben, also Kärntner Slowenen, Nordfriesen, Räto-Romanen, Sorben, neben deutschsprachigen Minderheiten aus einem nichtdeutschsprachigen Staat (Südtiroler, Ungarndeutsche). Diese Beobachtung stammt aus meiner Teilnahme an einem JEV-Seminar 1997 in Bautzen.
[13] Die Unsicherheit, welches Kriterium über die Zugehörigkeit zum sorbischen Volk entscheidet, liegt keineswegs nur beim Beobachter. Elle schreibt über die Auswertung einer ethnosoziologischen Erhebung (Ergebnisse in Elle 1992a) unter 2000 Deutschen und Sorben in der gemischtnationalen Lausitz: „So ist sich ein durchaus nicht unbeträchtlicher Teil der Bewohner seiner nationalen Zugehörigkeit nicht sicher und bestimmt sie in verschiedenen Situationen unterschiedlich.“ (Elle 1992b: 6)
[14] J. Wengler: „Wenn schon schwimmen, dann gegen den Strom“ In: Serbske Nowiny vom 26.8.94, in Tschernokoschewa 1994 in deutscher Übersetzung nachgedruckt.
[15] Mit ethnischer Minderheiten seien hier nur die Minderheiten gemeint, die nicht durch kürzliche Migration entstanden sind (wie z.B. Türken in Deutschland). Die Schwierigkeiten, Minderheitengruppen zu klassifizieren, erläutert Kraas-Schneider 1989, S. 45 ff.
[16] Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966
[17] Quelle dort: C. Tomuschat, Völkerrecht, in: Evangelisches Staatslexikon, Bd. 2, 3. Aufl., Stuttgart 1987, Sp. 3888
[18] Ich meine hier den politischen Multikulturalismus, wie er in den USA entstanden ist und hierzulande vor allem in pädagogische Konzepte Eingang gefunden hat, und nicht die Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft aus Pizzarien und Dönerbuden.
[19] Die Zuspitzung, um des Argumentes willen, auf zwei Extreme ist selbstverständlich vereinfachend.
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