Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Einführung: Frühislamische Geschichtswerke als Quellen heutiger Erkenntnis
2.1.Tabaqāt
2.2. Kontroverse Herangehensweise der „westlichen“ Forschung
3. Islamisches Recht im 2./8. und 3./9. Jahrhundert
3.1. Kontroversen zwischen den Gelehrten
3.2. Abū Hanīfa
3.3. Aš-Šāfi’ī
4. Islamisches Recht ab dem 4./10. Jahrhundert
4.1. Die Herausbildung der hanafītischen Schule
4.2. Die Herausbildung der šāfi'ītischen Schule
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die Entstehung der vier anerkannten sunnitisch-islamischen Rechtsschulen, der Hanafīten, Mālikīten, Hanbalīten und Šāfi'īten, ist in vielerlei Hinsicht bedeutend für die Geschichte als auch die Gegenwart des Nahen Ostens. Daher soll sie in dieser Arbeit nachgezeichnet werden, indem ich exemplarisch die Ausprägung der beiden größten Rechtsschulen, der hanafītischen und der šafi’ītischen, herausgreife und chronologisch darstelle. Ich werde mich hierfür vor allem auf die Zeit zwischen dem 2./8. und dem 5./11. Jh. konzentrieren. Da die kurzzeitig ebenfalls existierenden Schulen der Zāhirīten und der Ğarīrīten nicht bis zum heutigen Tage überlebten, werden sie in dieser Arbeit keine weitere Beachtung finden; sie seien aber der Vollständigkeit halber hier erwähnt.
Die Darstellung, die in dieser Arbeit erfolgen wird, kann grob in zwei Themengebiete unterteilt werden: Einerseits möchte ich mich mit den beiden oben genannten Schulen im Speziellen befassen, andererseits möchte ich mich, basierend auf der entstehenden Abhandlung, auch mit Fragen der Rechts- und der Wissensüberlieferung allgemein auseinandersetzen. So soll die vorliegende Arbeit auch eine Einführung in die Vielfalt der Publikationen leisten, die im Rahmen der frühen islamischen Geschichtswissenschaft entstanden sind und die eine immense Bedeutung und Nutzbarkeit bis zum heutigen Tage bieten. Auch die Biografien der als Gründer bekannt gewordenen Rechtsgelehrten Abū Hanīfa und Imām aš-Šāfi'ī werden Beachtung finden; ebenso wie ich der Frage nachgehe, welche Personen eventuell ebenfalls ihren Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der Schulen geleistet haben und in welcher Form. Dabei möchte ich unter anderem der Frage nachgehen, welchen Einfluss diese Persönlichkeiten sowohl auf die Entwicklung der Rechtsschulen als auch auf die islamische Jurisprudenz allgemein hatten. Neben einer Begriffs- und Namenserklärung sowie einer Gegenüberstellung beider Schulen soll also dargelegt werden, welche Methoden der Überlieferung und Auslegung zur Zeit der Entstehung der Rechtsschulen vorherrschten.
Letztendlich existieren zu diesem Themengebiet wissenschaftliche Quellen unterschiedlichster Herangehensweisen, von denen ich hoffe, dass ich in meiner Arbeit einige ihrer Facetten nutzen kann. Ich stütze mich zwar hauptsächlich auf Werke, die aufgrund von Quellenlektüre die Ursprünge der islamischen Jurisprudenz und ihrer Schulen ergründen wollen; zu beachten sind im allgemeinen Zusammenhang aber ebenso Werke, deren Autoren sich kritisch mit den Quellen und Methoden islamischer Jurisprudenz auseinandersetzen. Zu nennen wäre hier allen voran Joseph Schacht. Auf seine Thesen, die im Rahmen dieser Arbeit von Relevanz sind, möchte ich der Vollständigkeit halber unter Abschnitt 2.2. eingehen.
Als dritten Pfeiler der Quellenliteratur stütze ich mich auf arabische Texte, die von Biografen bzw. Historiographen verfasst wurden und Aufschluss über die Lebensumstände der frühislamischen Zeit und die Ausbreitung der Schulen geben. Eine Einführung in Bezug auf diese Literaturgattung soll der folgende Abschnitt 2 geben.
Bei Zitaten oder Belegen, die ich aus letztgenannten Quellen ziehe, gebe ich diese in der Umschrift gemäß der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft wieder. Alle Jahreszahlen werden, soweit nicht anders angegeben, erst entsprechend islamischer, dann christlicher Zeitrechnung angegeben. Übersetzungen aus dem Arabischen ins Deutsche erfolgten auf Grundlage des Wörterbuchs von Hans Wehr, das im Literaturverzeichnis zu finden ist.
2. Einführung: Frühislamische Geschichtswerke als Quellen heutiger Erkenntnis
Bei der Untersuchung des frühislamischen Rechts lässt sich oberflächlich eine enge Verbundenheit der Entwicklung der Jurisprudenz mit derjenigen der Historiographie ausmachen. Dieser Zusammenhang erscheint logisch, weil er auf einer Notwendigkeit beruht, die sich aus der Entwicklung des islamischen Rechts ergab: Da sich die Jurisprudenz auf Koran und hadīt[1] stützte, musste die Glaubwürdigkeit der ahādīt gewährleistet sein; diese wurde sichergestellt durch die Überliefererkette, den isnād, der fehlerlos bis zum Propheten (oder einem seiner Gefährten) zurückreichen musste, damit der jeweilige Ausspruch als legitime Rechtsquelle anerkannt werden konnte; die Namen der Überlieferer wurden dabei schriftlich festgehalten. Cooperson[2] ist in der Lage, die Entwicklung der verschiedenen Genres auszudifferenzieren und korrigiert die Vermutung, die der oberflächliche Blick aufkommen lässt. Auf seinen Ansatz möchte ich im Folgenden zu sprechen kommen.
2.1. Tabaqāt
Im Rahmen des oben genannten Vorgehens entstanden ausgedehnte, mehrbändige und für die heutige Islamwissenschaft unverzichtbare lexikalische Werke, die unterschiedlich bezeichnet werden, sich im Kern jedoch stark ähneln. Zur Erstellung dieser Arbeit habe ich größtenteils auf Werke zurückgegriffen, die von ihren Schreibern als tabaqāt bezeichnet wurden. Der Begriff, bei dem es sich um die Pluralform des arabischen Wortes tabaqa handelt, bezeichnet im eigentlichen Wortsinn eine „Lage; Schicht (der Erde, Luft, Bevölkerung usw.); (…) Klasse, Kategorie, Generation“[3]. In Zusammenhang mit dem literarischen Genre, das er bezeichnet, verweist dies darauf, dass in tabaqāt-Werken bzw. „Klassenbüchern[4] “ epochenweise Gelehrte gelistet wurden[5]. Cooperson weist darauf hin, dass Werke dieser Art keineswegs zuerst von hadīth-Gelehrten verfasst wurden[6]. Diese hatten zwar ein berechtigtes Interesse an der schriftlichen Fixierung des isnād; zur gleichen Zeit aber war es bereits üblich, biografische Werke zu verfassen, die sich mit ganz anderen Personengruppen beschäftigten, zu Beispiel mit Sängern oder Poeten[7]. Der erste Biograf, der mit der Verzeichnung eines isnād begann und somit die für die Anerkennung des jeweiligen hadīt so essentielle Beziehung zwischen Lehrer und Schüler verschriftlichte, soll Muhammad b. Muslim az-Zuhrī, der 124/741 starb, gewesen sein. Zur selben Zeit entstanden bereits von der Jurisprudenz völlig unabhängige Werke, in denen die „al-ahbarīyūn wa‘l-nassābūn wa-ashābu‘l-siyar wa‘l-ahdāt“[8], wie der Gelehrte Ibn an-Nadīm die Verfasser nannte, Informationen über die jeweiligen Lebensumstände ebenso verzeichneten wie zum Beispiel Geburts- und Sterbedaten. Bezogen auf den isnād und spätere, korrespondierende Werke ließ sich so übrigens prüfen, ob sich bestimmte Persönlichkeiten rein technisch überhaupt gekannt haben konnten[9].
Bei Biografien handelt es sich, beachtet man zudem die zahlreichen Prophetenbiografien[10] dieser Zeit, um das älteste literarische Genre des Islam. Vor dem Hintergrund der großen Popularität, die das Verfassen von Prophetenbiografien genoss, erscheint es also plausibel, dass die Niederschrift anderer biografischer Werke Impulse erhielt, ohne von der Jurisprudenz und dem Schaffen von Rechtsgelehrten abhängig zu sein. Biografische Werke entstanden nicht unter hadīt-Gelehrten, wie man annehmen möchte (und es auch lange in der Wissenschaft getan wurde). Eine beidseitige Beeinflussung ist hier allerdings nicht von der Hand zu weisen.
Aufgrund der Konzentration auf eine gewisse Autorität und Verlässlichkeit[11], die die Überlieferer-Biografien aufwiesen, werden Verzeichnisse dieser Art auch riğāl[12] -Werke genannt. Das Genre tabaqāt ist von ihnen nur dahingehend zu unterscheiden, dass es hinsichtlich seiner Form bzw. Kategorisierung vergleichsweise flexibel war; tabaqāt-Werke lassen sich in vier Formen unterteilen: die chronologische, die moralisch-chronologische, die Anordnung entsprechend der Beziehung zum Propheten sowie letztlich die alphabetische Anordnung[13]. Ein weiterer Unterschied der ansonsten nahezu deckungsgleichen Begriffe ist, dass tabaqāt-Werke sich nicht nur auf Gelehrte konzentrierten, sondern wie bereits erwähnt im Laufe der Zeit auf verschiedenste Gruppierungen ausgedehnt wurden, so zum Beispiel auch Astronomen oder Sklavinnen[14].
Die eigentliche arabische Bezeichnung für „Geschichte“ im Sinne von Historiographie lautet ta’rīh. Das Wort bezeichnet gerade im Zusammenhang mit frühislamischen Aufzeichnungen aber auch Werke, die sich mit den „Männern“ (riğāl) der Überlieferung auseinandersetzten im Hinblick auf Fehler oder Schwächen im isnād[15]. Diese Definition von Juynboll ergänzt Cooperson, indem er darauf hinweist, dass ta’rīh-Werke nach Sterbedaten organisiert sind/sein können[16].
Abschließend möchte ich Juynbolls Feststellung anführen, dass alle hier vorgestellten Begriffe äußerst deckungsgleich sind und viele Werke mehrere oder alle Herangehensweisen kombinieren[17].
[...]
[1] Hadīt, Pl. ahādīt: Überlieferungen über Aussagen des Propheten, seine Taten und sein Leben.
[2] COOPERSON, 2000: 1f.
[3] WEHR, 1976: 501.
[4] ‘ABBĀDĪ, 1964: 1.
[5] Gilliot, Cl.: Tabakāt, Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Zuletzt aufgerufen am: 04.09.2010, http://www.brillonline.nl/subscriber/entry?entry=islam_COM-1132.
Rosenthal weist aufgrund der zeitlichen Gebundenheit darauf hin, dass tabaqāt hier auch mit „Generationen“ übersetzt werden kann. Siehe ROSENTHAL, 1968: 93.
[6] COOPERSON, 2000: 1. Willi Heffening war demnach der erste Wissenschaftler, der diese – mittlerweile überprüfte und für richtig befundene – Vermutung anstellte.
[7] Ebd.
[8] „Die Sammler von Nachrichten, Genealogen und Autoren von Biografien und [dem Hergang von] Ereignissen“. Diese Persönlichkeiten gewannen am Hofe des umayyadischen Kalifen Mu‘āwiya (regierte 41-60/661-80) erstmals an Bedeutung. Siehe ebd: 2.
[9] Juynboll, G.H.A.: Rid ̲ j ̲ āl, Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Zuletzt aufgerufen am: 04.09.2010, http://www.brillonline.nl/subscriber/entry?entry=islam_COM-0921.
[10] Diese literarische Form wird maġāzī (Pl., „Feldzüge“) oder sīra genannt.
[11] Ein guter Überlieferer musste tiqah (vetrauenswürdig) und ma’mūn (zuverlässig) sein. Siehe dazu MELCHERT, 1997: 5.
[12] Wörtlich: Plural von rağul, „Mann“.
[13] Gilliot, Cl.: Tabakāt, Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Zuletzt aufgerufen am: 04.09.2010, http://www.brillonline.nl/subscriber/entry?entry=islam_COM-1132.
[14] COOPERSON, 2000: xi.
[15] Der arabische Terminus lautet‘illa, Plural‘ilal, was übersetzt wird mit „versteckter Mangel/Fehler“. Siehe Juynboll, G.H.A.: Ridjāl, Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Zuletzt aufgerufen am: 04.09.2010, http://www.brillonline.nl/subscriber/entry?entry=islam_COM-0921.
[16] COOPERSON, 2000: xxi.
[17] Juynboll, G.H.A.: Ridjāl, Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Zuletzt aufgerufen am: 04.09.2010, http://www.brillonline.nl/subscriber/entry?entry=islam_COM-0921.