Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Die Wanderarbeitnehmerverordnung
III. Räumlicher Geltungsbereich
IV. Personeller Geltungsbereich
V. Sachlicher Geltungsbereich
VI. Das Spannungsverhältnis zwischen Grundfreiheiten und Sozialrecht
(1) Verletzung der passiven Dienstleistungsfreiheit durch Sozialversicherungszwang
(2) Die Inanspruchnahme von Gütern und Dienstleistungen durch Sozialversicherte im Ausland
(3) Aktive Dienstleistungsfreiheit von Leistungserbringern
VII. Die Hauptgrundsätze der Verordnung 1408/71
(1) Grundsatz der Koordination der nationalen Sozialversicherungssysteme
(2) Gleichbehandlungsgrundsatz
(3) Grundsatz der Zusammenrechnung von Zeiten
(4) Verbot der Doppelleistungen bzw. Kumulierungsverbot
(5) Einheitsprinzip und Territorialitätsprinzip
(6) Grundsatz der Exportierbarkeit von Leistungen
VIII. Schlussfolgerungen und Ausblick
IX. Literaturverzeichnis
(1) Monographien
(2) Rechtsprechung
(3) Internetquellen
I. Einleitung
Ein wichtiges Ziel der Römischen Verträge ist es, die Hindernisse für die Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft zu beseitigen. Um jedoch eine grenzüberschreitende Mobilität zu gewährleisten, müssen Maßnahmen der sozialen Sicherheit erlassen werden, welche ermöglichen, dass die EU-Bürger, die in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Heimatland arbeiten und wohnen, ihre sozialen Rechte nicht teilweise oder vollständig einbüßen Die Kompetenzen im Bereich der Sozialpolitik innerhalb der Europäischen Union sind grundsätzlich den nationalen Gesetzgebern der Mitgliedstaaten vorbehalten, denn das Sozialrecht wurde auf Gemeinschaftsebene bisher noch nicht harmonisiert.1 Gründe hiefür können darin gesehen werden, dass dieser Bereich als hoch sensibel gilt und seine Harmonisierung direkte Auswirkungen auf die Rechtsstellung des Bürgers der Mitgliedsstaaten entfalten würde. Zudem besteht ein Spannungsverhältnis zwischen den Marktfreiheiten und dem Gesundheitsschutz, da die Versorgung von Kranken und Pflegebedürftigen nicht uneingeschränkt nach rein marktwirt- schaftlichen Grundsätzen ausgerichtet werden kann und darf.2 Eine Harmonisierung wäre auch deshalb nur schwer durchführbar, da die Systeme der sozialen Sicherheit innerhalb der Gemein- schaft beträchtlich voneinander abweichen, was auf ihre unterschiedliche historische Entwick- lung zurückzuführen ist Auf Grundlage des Artikels 42 EGV wurden im Bereich der Sozialpolitik Koordinierungs- regeln, wie z.B. die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 ü ber die Anwendung der Systeme der sozia- len Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbst ä ndige sowie deren Familienangeh ö rige, die inner- halb der Gemeinschaft zu- und abwander n, auch „Wanderarbeitnehmerverordnung“ genannt, erlassen, damit die Arbeitnehmerfreizügigkeit nun hindernislos verwirklicht werden konnte. Da der Art. 42 EG-Vertrag nur eine Koordinierung, nicht aber eine Harmonisierung der Rechtsvor- schriften vorsieht, bleiben Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mit- gliedsstaaten und folglich auch bezüglich der Ansprüche der dort Beschäftigten bestehen. Die unterschiedlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten werden weder aneinander angeglichen, d.h. ihre Eigenarten bleiben erhalten, noch werden die Art der Sozialleistung, die Anspruchsvo- raussetzung und die Höhe der gewährten Leistung aneinander angeglichen.3 Die materiellen und verfahrensmäßigen Unterschiede zwischen den Systemen der sozialen Sicherheit der Mitglied- staaten und damit die Ansprüche der dort Beschäftigten werden durch den Art. 42 EG-Vertrag nicht berührt.4 Laut Rechtsprechung des EuGH wird beispielsweise anhand der Verordnung Nr. 1408/71 nur die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen berücksichtigten Zeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen geregelt.5 Die Voraussetzungen, unter denen diese Zeiten entstehen, werden nicht Gegenstand der Wanderarbeitnehmerverordnung, da es nämlich Sache jedes Mitgliedstaates ist, durch den Erlass von Rechtsvorschriften die Voraussetzungen festzule- gen, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit beitreten kann oder muss.6
Die Mitgliedsstaaten haben weiterhin das Recht, die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit zu ändern oder sogar zu verschärfen, sofern diese Voraussetzungen keine offene oder versteckte Diskriminierung bewirken Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, welche ihre Rechtsgrundlage in Artikel 42 EGV und 308 EGV (wegen ergänzender Bestimmungen) hat, wurde durch entsprechende Durchführungsbestimmungen, die in der Verordnung 574/72 festgeschrieben wurden, ergänzt.7
II. Die Wanderarbeitnehmerverordnung
Wie bereits erwähnt, hat diese Verordnung Nr. 1408/71 die Funktion, den Personen in der Gemeinschaft umfassende Freizügigkeit zu gewährleisten, indem sie sozialrechtliche Nachteile beseitigt, die aufgrund der Mobilität innerhalb Europas hervorgerufen werden. Durch die Wanderarbeitnehmerverordnung sollen die innerstaatlichen Regelungen koordiniert und dadurch der Wechsel eines Wanderarbeiters von einem nationalen System der sozialen Sicherheit in ein System eines anderen Mitgliedstaates vereinfacht werden.8
Die Verordnung verdrängt - wie in Artikel 6 der Wanderarbeitnehmerverordnung festge- legt - im Rahmen ihres persönlichen und sachlichen Geltungsbereichs alle zwischen den Mit- gliedstaaten geschlossenen Abkommen über soziale Sicherheit. Dies bedeutet, dass die beste- henden Abkommen nicht vollständig außer Kraft gesetzt, sondern nur in einem bestimmten Um- fang verdrängt werden Die Wanderarbeitnehmerverordnung besteht aus sieben Teilen: Der Titel I (Artikel 1 - 12) behandelt die für alle Zweige der sozialen Sicherheit geltenden allgemeinen Vorschriften, Be- griffsbestimmungen und Regelungen zum persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich. Der Titel II (Artikel 13 - 17a) enthält nur allgemeine intersozialrechtliche Kollisionsregeln, d.h. es wird festgelegt, welche nationale Rechtsordnung bei Vorliegen bestimmter Sachverhalte die an- zuwendende ist. Die Vorschriften in Titel III (Artikel 18 - 79) regeln sozialrechtszweigspezifi- sche Kollisionsnormen für einzelne Leistungsarten, die Titel IV bis VII (Artikel 80 - 98) behan- deln die organschaftlichen und verfahrensrechtlichen Bestimmungen, d.h. Vorschriften über die Errichtung einer Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer, eines beratenden Ausschusses, den Ausgleich der Träger untereinander sowie Übergangs- und Schlussvorschriften
III. Räumlicher Geltungsbereich
Der räumliche Geltungsbereich des europäischen koordinierten Sozialrechts umfasst so- wohl das gesamte Gemeinschaftsgebiet als auch die zum restlichen Europäischen Wirtschafts- raum gehörenden Staaten, das heißt Norwegen, Island und Liechtenstein. Auch die Schweiz ist im Rahmen des Abkommens zwischen der EG und der Schweiz in dieses Netzwerk des europäi- schen Sozialrechts integriert. Auf die Assoziierungs- und Kooperationsabkommen mit Drittstaa- ten (z.B. der Türkei9, Algerien, Marokko, Tunesien), die Europaabkommen (MOEL-Staaten) und die Europa-Mittelmeerabkommen werden nur die Grundprinzipien des europäischen Sozialrechts angewandt.10
IV. Personeller Geltungsbereich
Ursprünglich war die Wanderarbeitnehmerverordnung personell nur auf (Wan- der)Arbeitnehmer beschränkt, wobei eine Person folgende drei Kriterien erfüllen musste, damit sie unter den Begriff des „Arbeitnehmers“ im Sinne des Gemeinschaftsrechts fiel: Sie musste eine echte und tatsächliche Berufstätigkeit unter Anleitung einer Person gegen Bezahlung ausüben. Der Begriff des Arbeitnehmers hatte also eine gemeinschaftsrechtliche Bedeutung und konnte nicht nach innerstaatlichen Kriterien definiert werden.11
Doch dieser Anwendungsbereich wurde in der Folge immer weiter ausgedehnt: Mit Wirkung vom 01. Juli 1982 wurde der personelle Anwendungsbereich durch die Verordnung Nr. 1390/81 auch auf Selbständige, die Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates sind und nach den Rechtsvorschriften eines dieser Staaten versichert sind bzw. waren, und ihre anspruchberechtigten Angehörigen ausgeweitet.12
Außerdem galt die Wanderarbeitnehmerverordnung gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Wander- arbeitnehmerverordnung auch für Familienangehörige und Hinterbliebene der Arbeitnehmer und Selbstständige, d.h. normalerweise diejenigen, die unter ihrem Dach leben und denen gegenüber sie unterhaltspflichtig sind oder waren und zwar unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit. Aber auch auf Staatenlose und Flüchtlinge (sowie deren Familien) war die Verordnung anwendbar, sofern diese Arbeitnehmer sind.13
In der RS Kermaschek grenzte der EuGH den Begriff „Arbeitnehmer“ von dem des „Angehörigen“ ab: Als Arbeitnehmer sind nur diejenigen Staatsangehörigen eines Mitgliedsstaates, Staatenlose und Flüchtlinge anzusehen, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten gelten oder galten. Während Arbeitnehmer Ansprüche auf Leistungen im Sinne der Verordnung aus eigenem Recht geltend machen können, stehen Angehörigen nur abgeleitete Rechte zu, die sie als Familienangehörige und Hinterbliebene eines Arbeitnehmers erworben, also von einer zur ersten Gruppe gehörenden Person, abgeleitet haben.14
In der RS Cabanis-Issarte stellte der EuGH fest, dass die Unterscheidung zwischen eigenen und abgeleiteten Rechten zu einer Beeinträchtigung des für die Gemeinschaftsordnung grundle- genden Gebots der einheitlichen Anwendung der Gemeinschaftsvorschriften führt, da deren An- wendbarkeit auf den einzelnen davon abhinge, ob der Anspruch auf die betreffenden Leistungen nach nationalem Recht je nach den Besonderheiten des einzelstaatlichen Systems der sozialen Sicherheit als eigenes oder abgeleitetes Recht qualifiziert werden würde. Dies würde zudem zu einer Verletzung des in Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 normierten Gleichbehandlungsgebots führen, was auch ein Grund für deren Miteinbeziehung war.15
Selbst Hinterbliebene von Arbeitnehmern, die der Voraussetzung der Staatsangehörigkeit nicht entsprechen, genossen die Vorzüge der Wanderarbeitnehmerverordnung unter der Bedingung, dass sie selbst Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates sind Durch die Verordnung des Rates vom 29. Juni 1998 wurden auch Beamte hinsichtlich der allgemeinen im jeweiligen Mitgliedstaat geltenden Ansprüche auf eine Rente den anderen Wanderarbeitnehmern gleichgestellt Der Judikatur des EuGH zufolge, die den Begriff „Arbeitnehmer“ sehr extensiv auslegte, umfassen die Begriffe Arbeitnehmer und Selbständige insbesondere alle Personen, die gegen ein Risiko oder gegen mehrere Risiken von den Zweigen eines Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer oder Selbständige oder einem Sondersystem für Beamte erfasst werden, also pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert sind (Artikel 1). Sondersysteme für Beamte und ihnen gleichgestellte Personen wurden aufgrund der Rechtsprechung des EuGH in den Anwen- dungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung 1408/71 und der Verordnung 574/72 einbezo- gen, da diese Personen laut 3. Begründungspunkt der Präambel zur Verordnung 1606/98 gleich- zeitig selbständig sein können. Der Begriff „Beamter“ in Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 bezieht sich nicht nur auf die Beamten, für die die Ausnahmeregelung des Artikels 39 Absatz 4 des Vertrages gemäß der Auslegung durch den Gerichtshof gilt, sondern auf alle in einer öffentlichen Verwaltung beschäftigten Beamten und ihnen Gleichgestellte. Für die Qualifi- zierung als „Sondersystem“ im Sinne von Artikel 4 Absatz 4 der Verordnung Nr. 1408/71 genügt es, dass sich das betreffende System der sozialen Sicherheit vom allgemeinen System der sozia- len Sicherheit unterscheidet, das auf die Arbeitnehmer des Mitgliedsstaates anwendbar ist, zu dem es gehört, und dass es für alle Beamte oder für bestimmte Beamtengruppen unmittelbar gilt oder auf ein in diesem Mitgliedsstaat bereits bestehendes System der sozialen Sicherheit für Be- amte verweist, ohne dass dabei andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen wären.16
Durch die Verordnung 307/1999 vom 08. Februar 1999 wurde der Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerverordnung auf sämtliche Versicherte, insbesondere auf Studierende, Nichterwerbstätige oder ihnen gleichgestellte Personen, ausgedehnt, soweit sie Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates (der EU und des EWR) sind oder als Staatenlose oder Flüchtlinge im Ge- biet eines Mitgliedsstaates wohnen, sowie für deren Familienangehörige und Hinterbliebene.17
Auch Ruhegehaltsempfänger, die Staatsangehörige eines EU-Mitgliedsstaates sind, fielen nun unter die Wanderarbeitnehmerverordnung, selbst wenn sie schon im Ruhestand waren, bevor ihr Land der Europäischen Union bzw. dem Europäischen Wirtschaftsraum beigetreten ist, sowie deren Familienangehörigen und Hinterbliebene. So entschied der EuGH in der RS Walsh, dass eine Person, welche nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates aufgrund der Beiträge, die sie früher zu leisten hatte, Anspruch auf die unter die Verordnung 1408/71 fallenden Leis- tungen hat, die Eigenschaft eines „Arbeitnehmers“ im Sinne der Verordnungen 1408/71 und 574/72 nicht allein deshalb verliert, weil sie zum Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles keine Beträge leistete und dazu auch nicht verpflichtet war.18 In der RS Pierik stellt der EuGH nochmals ausdrücklich fest, dass der Begriff „Arbeitnehmer“ auch jene Person mit umfasst, die, ob sie nun Erwerbstätigkeit ausübt oder nicht, die Versicherteneigenschaft nach den für die sozi- ale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besitzt. Daraus folgt, dass die Rentner, die nach den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten zum Bezug von Rente berechtigt sind, auch wenn sie keine Erwerbstätigkeit ausüben, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einem System der sozialen Sicherheit unter die Bestimmungen der Verordnung über die „Arbeitnehmer“ fallen, soweit auf sie keine besonderen, für sie erlassenen Bestimmungen anzuwenden sind.19
Die Verordnung des Rates 895/2003 vom 14. Mai 2003 weitete den Anwendungsbereich der Verordnung auf Staatsangehörige von Drittstaaten aus, soweit sich diese rechtmäßig in der Europäischen Union aufhalten.20 Da die Wanderarbeitnehmerverordnung nun schon auf Perso- nen Anwendung fand, die nicht mehr Wanderarbeitnehmer im ursprünglichen Sinne waren, dehnte man mit 1.6. 2003 den Geltungsbereich der Verordnung 1408/71 samt ihrer Durchfüh- rungsverordnung (EWG) Nr. 574/72 auch auf Drittstaatsangehörige (z.B. auf türkische Gastar- beiter) aus. Dabei mussten die Drittstaatsangehörigen den rechtmäßigen Wohnsitz in einem Mit- gliedsstaat haben und rechtmäßig innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern.21
Die Ausweitung des personellen Anwendungsbereichs der Verordnung 1408/71 führte dazu, dass der Arbeitnehmerbegriff der Verordnung 1408/71 nicht mehr mit dem des Artikels 39 EGV identisch ist, denn nach Artikel 39 EGV ist für die Arbeitnehmereigenschaft eine tatsächli- che und echte Erwerbstätigkeit, unabhängig von einem Mindestumfang, unter Umständen auch eine nicht wirtschaftlich motivierte Beschäftigung von Relevanz.22 Die Verordnung 1408/71 definiert den Arbeitnehmerbegriff hingegen spezifisch sozialrechtlich unter Bezug auf nationales Sozialrecht: Arbeitnehmer ist, wer in einem nationalen sozialen Sicherungssystem für Arbeit- nehmer versichert ist. Darüber hinaus muss auch ein Gemeinschaftsbezug vorhanden sein, d.h. die Wanderarbeitnehmerverordnung ist dann nicht anwendbar, wenn es sich um einen rein natio- nalen Fall handelt, die Situation also in keiner Weise über die Grenzen eines Mitgliedsstaates hinausgeht.23
Der personelle Anwendungsbereich gilt somit zusammenfassend für alle EU-Bürger, die sich in einem Mitgliedsstaat bewegen, und zwar unabhängig vom Grund und der Dauer ihres Aufenthaltes.24
V. Sachlicher Geltungsbereich
In Artikel 4 Absatz 1 der Wanderarbeitnehmerverordnung werden jeweils die erfassten gesetzlichen Leistungen bei Krankheit und Mutterschaft bzw. Vaterschaft (Geld- und Sachleistungen), bei Invalidität einschließlich der Leistungen zur Erhaltung oder Besserung der Erwerbsfähigkeit, Leistungen bei Alter und an Hinterbliebene, Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, Sterbegeld, Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Familienleistungen (z.B. Familienzulagen) aufgelistet, welche zu den „Leistungen der sozialen Sicherheit“ gezählt werden.25 Es sind somit die Zweige Kranken-, Unfall-, Pensions- und Arbeitslosenversicherung sowie die Familienbeihilfe erfasst. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Leistungen beitragsabhängig sind oder nicht oder ob sie der Arbeitgeber gewähren muss Eine gesetzliche Regelung ist jedenfalls dann unter den Begriff „soziale Sicherheit“ im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 zu subsumieren und somit exportierbar, wenn sie jedenfalls einen Bezug zu einem der in Artikel 4 Absatz 1 der Wanderarbeitnehmerverordnung ausdrück- lich aufgezählten Risiken hat. So wird beispielsweise die Pflegeversicherung unter die Leistun- gen bei Krankheit subsumiert.26 Doch auch Familienleistungen wie Kindergeld, Erziehungsgeld sowie die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall fallen in den Anwendungsbereich dieser Verord- nung.27 Die Aufzählung in Artikel 4 Absatz 1 dieser Verordnung ist taxativ, d.h. ein Zweig der sozialen Sicherheit, der in dieser Bestimmung nicht aufscheint, wird nicht als solcher qualifiziert, auch wenn er dem Begünstigten einen Rechtsanspruch auf die Leistung einräumt.28
Eine ausdrückliche Ausnahme vom Anwendungsbereich der Wanderarbeitnehmerverord- nung besteht gemäß Artikel 4 Absatz 4 bezüglich der Sozialhilfe. Denn wenn eine soziale Leis- tung den notwendigen Lebensunterhalt sicherstellen soll, so kann sie nicht unter einen in Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71 aufgezählten Zweig der sozialen Sicherheit eingeordnet werden und stellt damit keine Leistung der sozialen Sicherheit im Sinne dieser Verordnung dar.29 Weiters sind auch Leistungssysteme für Opfer des Krieges und seiner Folgen (Kriegsop-ferversorgung, Leistungen an Kriegsversehrte und deren Hinterbliebenen) und die Beamtenver-sorgung gemäß Artikel 4 Absatz 4 der Wanderarbeitnehmerverordnung ausdrücklich ausge-schlossen.30
Vor der Einführung des Artikel 4 Absatz 2a und 10a wurde in der Verordnung 1408/71 nur zwischen Leistungen der sozialen Sicherheit im engeren Sinne (Artikel 4 Absatz 1), die im We- sentlichen beitragsfinanzierte Versicherungsleistungen sind und somit vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst waren, und Fälle der Sozialhilfe (Artikel 4 Absatz 4), die steuerfinanziert sind und von der Verordnung nicht erfasst waren, unterschieden. Demgemäß konnten nur Fälle der sozialen Sicherheit, nicht aber Fälle der Sozialhilfe gemäß Artikel 10 Absatz 1 der Wander- arbeitnehmerverordnung in andere Mitgliedsstaaten exportiert werden. Das Problem bestand jedoch darin, dass die Regelung die beiden Begriffe „Leistung der sozialen Sicherheit“ und „So- zialhilfe“ nicht definierte Zuerst versuchte der EuGH, den Begriff der Sozialhilfe, der von dem in den nationalen Rechtsordnungen verwendeten Begriff abweicht, möglichst genau zu umreißen und legte diesen im Vergleich zu den nationalen Rechtsordnungen sehr eng aus: Dabei stellte er zuerst auf den Rechtsanspruch auf Leistung ab.31 Problematisch beim Abstellen auf dieses Merkmal war, dass die Gewährung der Leistung, die im bloßen Ermessen des Mitgliedsstaates lagen, somit nicht mehr erfasst waren.32 In der Praxis stieß man auf die Schwierigkeit, dass in den meisten Mit- gliedsstaaten ein Rechtsanspruch auch auf Sozialhilfeleistungen bestand und es deshalb kein geeignetes Abgrenzungskriterium zwischen sozialer Sicherheit und Sozialhilfe war. Darüber hinaus musste die Leistung einen Bezug zu den in Absatz 1 genannten Bereichen haben: Der EuGH stellte dabei auf die Funktion und den Zweck der Sozialleistung ab.33 Die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeschlossen sind, und solche, die darunter fallen, hängt im Wesentlichen von den Wesensmerkmalen der ein- zelnen Leistung ab, insbesondere von ihrer Zielsetzung und den Voraussetzungen der Gewäh- rung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird.34 Wenn die Sozialleistung nur ergänzenden Charakter hat, z.B. als zusätzliches Einkommen zu einer Versicherungsleistung, dann fällt sie unter das „System der sozialen Sicherheit“ iSd Verordnung (EWG) Nr. 1408/71.35
[...]
1 EuGH, RS C-39/86, Laire, Slg. 1988,I- 3161; EuGH, RS C-159/91UND C-160/91, Poucet und Pistre, Slg. 1993, I-
2 Lafrenz, Die Pflegeversicherung als Teil der Krankenversicherung im Sozialrecht der Europäischen Union, ZERPDiskussionspapier 2/2002
3 EuGH, RS 41/84, Pinna, Slg. 1986, 1; EuGH, RS 313/86, Lenoir, Slg. 1988,
Dr. Picout Sabine J ä nner 2007
4 EuGH, RS 41/84, Pinna, Slg. 1986, 1; EuGH, RS C- 160/96, Molenaar, Slg. 1998, I-843
5 EuGH, RS 388/87, Warmerdam-Steggarda, Slg. 1989, 1203; EuGH, RS 29/88, Schmitt, Slg. 1989,
6 EuGH, RS 29/88, Schmitt, Slg. 1989,
7 http://www.europarl.europa.eu/facts/4_8_4_de.htm
8 Wechselberger, Europa ohne Grenzen - Arbeitnehmerfreizügigkeit im vereinten Europa Dr. Picout Sabine J ä nner 2007
9 Anm.: Was das Assoziierungsabkommen mit der Türkei anbelangt, so ist hier anzumerken, dass das System sozialer Sicherheit der Mitgliedsstaaten der EU nicht mit demjenigen der Türkei koordiniert werden soll, d.h. aus der Assoziierung entsteht z.B. keine Verpflichtung für die Mitgliedsstaaten, die in der Türkei zurückgelegten Versicherungszeiten bei ihren Berechnungen mit einzubeziehen
10 Egger, Das Arbeits- und Sozialrecht der EU und die österreichische Rechtsordnung 307f
11 EuGH, RS C-275/96, Kuusijärvi, Slg. 1998, I-3419; EuGH, RS C-85/96, Sala, Slg. 1998, I-2691
12 Egger, Das Arbeits- und Sozialrecht der EU und die österreichische Rechtsordnung 297; Kaffl, Die Altersversorgung für Wanderarbeitnehmer im Europäischen Wirtschaftsraum und in der EU 6; http://www.europarl.europa.eu/facts/4_8_4_de.htm Dr. Picout Sabine J ä nner 2007
13 EuGH, RS 238/83, Meade, Slg. 1984, 2631; EuGH, RS C-243/91, Taghavi, Slg. 1992, I-4401; EuGH, RS C- 94/84, Deak, Slg. 1985, 1881; EuGH, RS 40/76, Kermaschek, Slg. 1976, 1669; EuGH, RS C-189/00 Ruhr, Slg. 2001, I-08225; EuGH, RS C-249/94, Hoever und Zachow, Slg. 1996, I-4895; EuGH, RS 10/78, Belbouab, Slg. 1978, 1915; EuGH, RS C-95-98/99, Khalil, Slg. 1001, I-7413
14 EuGH, RS C-40/76, Kermaschek, Slg. 1976,
15 EuGH C-308/93 Cabanis-Issarte, Slg. 1996, 2097; Egger, Das Arbeits- und Sozialrecht der EU und die österreichische Rechtsordnung 297f Dr. Picout Sabine J ä nner 2007
16 EuGH, RS C-443/93, Ioannis Vougioukas v. Idryma Koinonikon Asfalisseion - IKA, Slg. 1995, 4033; Egger, Das Arbeits- und Sozialrecht der EU und die österreichische Rechtsordnung
17 EuGH, RS C-194/96, Kulzer, Slg. 1998, I-895; EuGH, RS 66/77, Kuyken, Slg. 1977,
18 EuGH, RS C-143/79, Walsh, Slg. 1980, Dr. Picout Sabine J ä nner 2007
19 EuGH, RS C-182/78, Pierik, Slg. 1979, 1977; EuGH, RS C- 156/01, van der Duin und Anoz Zorgverzekeringen, Slg. 2003,
20 Wechselberger, Europa ohne Grenzen - Arbeitnehmerfreizügigkeit im vereinten Europa 75; Schulte/Barwig, Freizügigkeit und Soziale Sicherheit,
21 Egger, Das Arbeits- und Sozialrecht der EU und die österreichische Rechtsordnung 298f
22 Fuchs, Europäisches Sozialrecht 2005, Art. 39 Rn 2f
23 EuGH, RS C-153/91, Petit, Slg. I-4973 ; EuGH, RS C-95-98/99, Khalil, Slg. 1001, I-7413
24 http://ec.europa.eu/youreurope/nav/de/citizens/living/social-security/objectives/index_de.html; EuGH, RS C- 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, wonach damals entschieden wurde, dass ein britischer Tourist, der in der Pariser Metro tätlich angegriffen wurde, aufgrund der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit Anspruch auf die gleiche Entschädigung wie ein eigener Staatsangehöriger hatte. Heute könnte dieser Fall wohl direkt in den personellen Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, welcher damals jedoch noch nicht so extensiv ausgelegt wurde Dr. Picout Sabine J ä nner 2007
25 Rabanser, Der Anwendungsbereich der EWG-Verordnung 1408/71 in der Rechtsprechung des Gerichtshofes der europäischen Gemeinschaften und ihre daraus folgende Anwendbarkeit im österreichischen Sozialrecht im Falle eines EG-Beitritts Österreichs 46ff.; Wechselberger, Europa ohne Grenzen - Arbeitnehmerfreizügigkeit im vereinten Europa 76; Schulte/Barwig, Freizügigkeit und Soziale Sicherheit
26 EuGH, RS C-160/96, Molenaar, Slg. 1998, I-
27 EuGH, RS C-45/90, Paletta, Slg. 1992, I-3458
28 EuGH, RS 249/83, Hoeckx v. Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Wlzijn Kalmthout, Slg. 1985, 973; EuGH, RS C-122/84, Scrivner und Cole, Slg. 1985,
29 EuGH, RS 249/83, Hoeckx v. Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Wlzijn Kalmthout, Slg. 1985,
30 EuGH, RS 249/83, Hoeckx v. Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Wlzijn Kalmthout, Slg. 1985, 973; EuGH, RS 122/84, Scrivener & Cole v. Centre public d’aide sociale Chastre, Slg. 1985, 1027; EuGH, RS C 443/93, Dr. Picout Sabine J ä nner 2007
31 EuGH, RS 1/72, Frilli, Slg. 1972,
32 Egger, Das Arbeits- und Sozialrecht der EU und die österreichische Rechtsordnung 300f
33 EuGH, RS 249/83, Hoeckx, Slg. 1985,
34 EuGH, RS 249/83, Hoeckx v. Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Wlzijn Kalmthout, Slg. 1985,
35 EuGH, RS C-139/82, Piscitello, Slg. 1983, Dr. Picout Sabine J ä nner 2007