Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Stricker-Mären in der Forschungsliteratur
2.1 Die Ordnungsdiskussion
2.2 Die Funktion der Stricker-Mären
2.3 Die Epimythia
3. Eine Untersuchung anhand des Märe „Das heiße Eisen“
3.1. Die gottgewollte Ordnung und der Ordnungsverstoß
3.1.1 Die Typisierung
3.1.2 Der Ordnungsverstoß
3.1.3 Die Restitution der Ordnung
3.2 Die Intention
3.3 Das Epimythion
4. Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
In der folgenden Arbeit soll die gottgewollte Ordnung in den Stricker-Mären betrachtet werden. In einem Großteil der Forschungsliteratur wird die Propagierung einer gottgewollten Ordnung durch den Stricker diskutiert. Dieses geschieht durchaus auch kontrovers. Im ersten Teil der Arbeit soll also diese Diskussion in der Forschung zusammenfassend dargestellt werden. Hierbei wird zunächst untersucht werden, ob und wie sich die gottgewollte Ordnung gemäß der Forschung in den Stricker-Mären darstellt. Anschließend soll betrachtet werden, ob die Funktion der Stricker-Mären mit der Propagierung dieser Ordnung übereinstimmt und ob die Epimythia diese Funktion aufnehmen und unterstützen.
Im zweiten Teil wird die konkrete Literaturanalyse unter der Berücksichtigung der Zusammenfassung der Forschungsliteratur Gegenstand sein. Hierbei soll anhand der Struktur des ersten Teils überprüft werden, inwiefern sich die Ergebnisse der Forschung in dem Märe „Das heiße Eisen“ wiederfinden. Die abschließende Diskussion soll die Ergebnisse der Untersuchung in Bezug zur Literatur zusammenfassend darstellen.
2. Die Stricker-Mären in der Forschungsliteratur
Vielfach wurde in der Forschung versucht, den Typus des Stricker-Märe genauer zu definieren bzw. die Merkmale der Stricker-Mären herauszuarbeiten, diese zu kategorisieren und ihre Funktion zu bestimmen. Inwiefern die Beiträge zu diesem Forschungsbereich übereinstimmen und welche Kontroversen die Debatte mit sich bringt, soll Gegenstand des folgenden Abschnitts sein.
2.1 Die Ordnungsdiskussion
Hanns Fischer formulierte 1968 in seinen Studien zur deutschen Märendichtung Übereinstimmung in den Merkmalen des gesamten Korpus der deutschen Märendichtung. Hierbei unterscheidet er gemäß der Merkmale der Texte drei Grundtypen, die er „das schwankhafte, das höfisch-galante und das moralisch-exemplarische Märe“ (Fischer 1968:101) nennt. Die Mären des Strickers ordnet er hauptsächlich den schwankhaften Mären und zu einem geringeren Teil den moralisch-exemplarischen Mären zu (vgl. Fischer 1968:145). Über diese grobe Kategorisierung der Grundtypen hinaus spricht Fischer (1968:125) außerdem bereits von normierten Figuren sowie auch von „typisierten Standesvorstellungen“, die auch immer wieder in den späteren Forschungsbeiträgen Thema sind.
Die erste Monographie, die sich mit dem Gesamtwerk des Strickers befasst und die den Fortgang der Forschungsdebatte wesentlich prägte, erschien 1981 von Hedda Ragotzky. Ragotzky (1981:85) fasst das Konzept der Stricker-Mären unter dem Begriff der „gevüegiu kündikeit“ zusammen. Der Begriff kündikeit tauchte in diesem Sinne zum ersten und auch zum einzigen Mal im Epimythion des klugen Knechts auf. Als Merkmal der Stricker-Mären - wie bereits bei Fischer angedeutet - erkennt auch Ragotzky (1981:89) eine exemplarische, normierte Figurenkonstellation, die „ständisch fixiert“ sei und auf der die Handlung des Märes aufbaue. Weiterhin sei typisierend, dass eine Verhaltensnorm, die sich aus den Rollen der Figuren ergebe, durch einen der Akteure verletzt werde, woraufhin das Recht wiederhergestellt werden müsse. Hier setzt das von Ragotzky entwickelte Konzept der gevüegiu kündikeit an. Auch wenn kündikeit im ursprünglichen Sinne in der Spruchdichtung negativ verstanden werden müsse, nämlich als „die Fähigkeit, falsche Absichten und Handlungsweisen so geschickt zu tarnen, daß die Umwelt in ihrem Urteil fehlgeleitet wird“ (Ragotzky 1981:83-84), beobachtet Ragotzky eine Umdeutung des Begriffs durch den Stricker. Durch die Kopplung mit den Begriffen vriuntlich und rehte vuoge (vgl. Ragotzky 1981:88) erhalte der Begriff im klugen Knecht eine neue positive Bedeutung. Im umgedeuteten Sinn bezeichne er vielmehr ein „Interpretations- und Handlungsvermögen, das die eigene Rolle im Netz der Sozialbeziehung, in das sie einbezogen ist, in der richtigen Weise realisiert“ (Ragotzky 1981:88). Der von der Normverletzung Betroffene solle also der eigenen sozialen Rolle entsprechend aktiv werden und das Recht innerhalb der Grenzen seiner Rolle wiederherstellen (vgl. Ragotzky 1981:90). Dieses könne auch anhand eines Negativbeispiels demonstriert werden, nämlich anhand der ungevüegiu kündikeit, wie es z.B. in „Der begrabene Ehemann“ der Fall sei (vgl. Ragotzky 1981:90). Die Opfer der üngevüegiu kündikeit hätten keine „Erkenntnisfähigkeit und damit kein situationsspezifisches Interpretations- und Handlungsvermögen“ (Ragotzky 1981:90), sondern würden vielmehr dem „wân“ (Ragotzky 1981:90) erliegen. Sie würden also ihrer Situation unangemessene Mittel verwenden, um die Restitution der Ordnung zu erlangen.
Das ideologische Konzept, das Ragotzky als konstitutiv für den Typus des Stricker-Märe beschreibt, sei also, so Haug (2006:18), „die Stabilisierung der bestehenden Ordnung […], der Eheordnung, der Ständeordnung, der Weltordnung“.
Dass diese Ordnung nicht lediglich eine rein weltliche Ordnung darstellt, sondern vielmehr einen gottgewollten Ordo bezeichnet, klingt bereits bei Ragotzky an. Sabine Böhm (1995) betrachtet dieses in ihrer Monographie „Der Stricker – Ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerkes“ tiefergehend. Die mittelalterlichen Autoren waren, so Böhm (1995:38), häufig der Ansicht, dass ein harmonisches Zusammenleben nur durch die Beachtung der Ordnung gewährleistet sei, sodass Verstöße gegen diese, insbesondere bei Dichtern des Frühmittelalters, als Sünde angesehen wurden. Aber warum wurde diese Ordnung als gottgewollt betrachtet? Böhm (1995:38) erklärt dieses Phänomen mit der Ansicht des Mittelalters, nach der „natur und art“ gottgewollte Bereiche darstellten. Betrachte man das Gesamtwerk des Strickers, erkenne man, dass der Stricker der Auffassung war, dass niemand „seine angeborene (=von Gott bestimmte) Natur“ (Böhm 1995:38) verleugnen könne. Diese umfasse somit unter anderem auch die Position im Ständesystem. Böhm (1995:38) erkennt in diesem Zusammenhang eine „fast radikal konservative Haltung des Strickers“ da Verstöße gegen die göttliche Ordnung, z.B. gegen Standesschranken, in seinem Gesamtwerk immer wieder mit „Erziehung oder Niederlage korregiert“ (Böhm 1995:37) oder sogar mit Schande geahndet würden. Hier erkennt man Parallelen zu Ragotzky, die, wie bereits erwähnt, auch eine Restitution der Ordnung durch Anwendung der gevüegen kündikeit/ungevüegen kündikeit als charakterisierendes Merkmal der Stricker-Mären erkennt. Böhm (1995:79) zweifelt jedoch an der tatsächlichen Bedeutung des Begriffs kündikeit, da dieser in der Kleindichtung des Strickers so selten auftauche, dass er nicht als Gattungsmerkmal verwendet werden könne. Dennoch sieht Böhm (1995:79) eine Berechtigung der Thesen von Ragotzky, da die Stricker-Mären durchaus das Konzept, das der kündikeit übergeordnet sei, oder auch lediglich die Verstandesleistung als Prämisse für ein „gutes gesellschaftliches Zusammenleben“ propagieren würden.
Auch Haug (2006:19f.) zweifelt an Ragotzkys positiviertem Gebrauch der kündikeit, da unter anderem eine semantische Analyse von Elfriede Stutz diesen widerlege und außerdem, wie bereits von Böhm erwähnt, der Begriff zu selten in den Stricker-Mären auftauche, um diese positivierte Bedeutung zu belegen. Dennoch prüft auch Haug, ob das Konzept der kündikeit trotzdem Geltung haben kann und kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis als Böhm. Er belegt anhand seiner Ergebnisse, dass eine Ordnung nur ausnahmsweise wiederhergestellt wird. Nur selten, so Haug (2006:23), gebe es eine Lösung, die „nicht nur äußerlich rehabilitier[e] und straf[e], sondern auch innerlich die Situation in Ordnung“ bringe. Zudem finde eine vollständige Restitution nur dann statt, wenn die Ordnungsverstöße relativ harmlos seien. Tatsächlich versöhnliche Lösungen sieht Haug (2006:23) ansonsten „so gut wie nie“.
Inwiefern die Ordnungsdiskussion und der Stellenwert, der der göttlichen Ordnung in dieser zugschrieben wurde, Gültigkeit hat, untersuchte auch Egerding bereits 1998. Hierzu betrachtet er fünf Texte des Strickers, darunter drei Mären „Der kluge Knecht“, „Das heiße Eisen“ und „Der Richter und der Teufel“. Anhand seiner Textanalysen entwickelt Egerding (1998:140) eine Gegenthese, die besagt, dass in den Texten des Strickers eben gerade nicht die Bewahrung oder Restitution der Ordnung im Vordergrund stehe, sondern der Stricker eine Welt vorführe, die eben nicht zu ordnen sei.
Grubmüller (2006) ignorierte diese Kritik an der ordnungsorientierten Lesart der Stricker-Texte und formulierte den Typus des Stricker-Märe, indem er wiederum den Ordnungsverstoß und die Replik als entscheidendes Charakteristikum der Stricker-Mären anführte. Die Figurenkonstellation sei modellhaft, die Figuren selbst seien typisiert und würden als „Vertreter einer gesellschaftlichen Gruppe“ (2006a:81) auftreten. Sie seien somit, wie auch bei Fischer, Ragotzky und Böhm bereits erwähnt, ständisch fixiert. Wie schon Ragotzky 1981 formulierte, sieht auch Grubmüller (2006a:83) als Auslöser der Handlung einen Ordnungsverstoß gegen das zu erwartende Verhalten der Figuren, bzw. ein Verhalten wider der „nach Gottes Willen eingerichteten Welt“. Das Ziel sei es, den „göttlichen Ordo“ (Grubmüller 2006a:83) wiederherzustellen. In der Regel geschehe dieses durch „die schrittweise Hinführung zur ‚Vernunft‘ durch listige Arrangements“ (Grubmüller 2006a:84). Diese Formulierung legt nahe, dass Grubmüller das Konzept der gevüegiu kündikeit dieser Aussage zugrunde legt, er spart jedoch dieses Thema komplett aus. Als weitere Möglichkeiten der Restitution der Ordnung nennt Grubmüller (2006a:85) außerdem noch die Erkenntnis, dass gar keine tatsächliche Störung vorlag, und die Verspottung des Störers. Blamage und Schande würden sich außerdem mehrfach in den Mären als Bestrafung wiederfinden.
Deutlich wird, dass die Ordnungsdiskussion in der Forschung seit Fischer (1968) immer wieder auf die Typisierung der beschriebenen Welt und eine fest bestehende Ordnung in den Stricker-Mären rekurriert. Seitdem Ragotzky (1981) ihr Konzept der gevüegiu kündikeit vorstellte, scheint der Ordnungsverstoß und die standesgemäße Restitution der Ordnung als Charakteristikum der Stricker-Texte aus der Forschungsdiskussion nicht mehr wegzudenken, auch wenn einige Kritiker dieses versucht haben zu widerlegen.
2.2 Die Funktion der Stricker-Mären
Nachdem die Ordnungsdiskussion in der Forschung dargestellt wurde, soll im Folgenden kurz zusammengefasst werden, wie sich die Debatte zur Funktion der Stricker-Mären in der Forschung darstellt und wie auch hier die Propagierung einer gottgewollten Ordnung thematisiert wird.
Ragotzky (1981:133) beschreibt die Strickerschen Märe als „Medium der Erkenntnis von wârheit“. Hierbei unterscheidet sie zwischen dem „rehte[n] maere“ und dem „gelogen maere“ (Rgotzky 1981:134) . Beim rehten maere bestehe die Leistung der Rezipienten darin, diese wârheit zu erkennen und auf die eigene Situation zu übertragen. Das Ziel des Märe sei also erreicht, wenn sich die Erkenntnis von wârheit in einem „situationsgerechte[n] bzw. rechtmäßige[n] Verhalten“ (Ragotzky 1981:134) konkretisiere. Das gelogen maere jedoch, möchte den Rezipienten von der Realität entfernen (vgl. Ragotzky 1981:134). Beide Typen von Mären würden allerdings eine Deutungsaktivität des Rezipienten fordern und seien erkenntnisstiftend.
Böhm (1995:78) betrachtet die Definition des Märe als ein wahrheitsvermittelndes Medium als problematisch. Vielmehr erkennt sie in den Mären die Anlage, ambivalente Reaktionen hervorzurufen. Die Moral der Mären müsse der Rezipient eigenständig herauslesen und die Deutung sei zwar auch von den „idealen Normvorstellungen“ (Böm 1995:78) eines göttlichen Ordos abhängig, aber auch von persönlichen Erfahrungswerten und Normvorstellungen des Rezipienten. Folglich sieht Böhm (1995:85) die Funktion der Märe darin, Ratschläge zu vermitteln, die sich jedoch die Rezipienten kritisch und durch eigene Erfahrungen gelenkt, erschließen sollen. Der Stricker vermeide es, die Rezipienten abhängig von seinem Urteil zu machen (vgl. Böhm 1995:78).
Ragotzky geht nicht auf diese Kritik Böhms ein, beschreibt jedoch auch 2001 noch einmal, dass das erkenntnisstiftende Moment der Stricker-Mären vordergründig der Pragmatismus sei, also die Anleitung zu einer Übertragung auf die eigene Situation. Ziel der Mären sei nicht, wie Grubmüller behaupte, die „didaktische Instrumentalisierung der Geschichten“ (Ragotzky 2001:63), die meist in den Epimythia die Folgen eines ordnungswidrigen Verhaltens und die Nutzen eines ordnungsgemäßen Verhaltens demonstrieren würden. Vielmehr gehe es um das „Wie des Handelns“ (Ragotzky 2001:63), in Situationen, in denen man nicht problemlos die Ordo-Regeln befolgen könne. Dieser Pragmatismus sei mit einer rein exempelhaften Funktion nicht gleichzusetzen. Nach Ragotzky (2001:186-187) stünden also nicht rein „lehrhafte Ambitionen“ im Vordergrund, sondern vielmehr die „Klugheit der Praxis“.
Grubmüller (2006a:89) stimmt Ragotzkys Kritik zu und sieht auch die Beschreibung des „Wie des Handelns“ in bestimmten Situationen als Hauptinteresse der Stricker-Mären. Es gehe nicht darum, die Regeln der gottgewollten Ordnung als „Handlungsmaxime[…]“ zu statuieren, aber „sehr wohl um ihr richtiges Erfassen und kluges Umsetzen, um richtiges Verhalten in konkreten Situationen“ (Grubmüller 2006a:89).
Dass die Stricker-Mären eine gottgewollte Ordnung propagieren und Handlungsfähigkeit vermitteln sollen, bezweifelt jedoch Egerding. Die Funktion der Strickerschen Mären sei es vielmehr, dem Rezipienten zu vermitteln, dass „die Welt problematisch ist und vorgegebene Handlungsmuster versagen“ (Egerding 1998:140). So würde der Rezipient dazu angeregt werden, eigene Lösungen zu finden. Der Rezipient solle also durch den Text lernen, eigenständig zu deuten und verschiedene Interpretationsperspektiven zuzulassen (vgl. Egerding 1998:138).
Haug (2006:23) bezeichnet die Schlüsse der Stricker-Märe als meist „deprimierend oder zumindest unbefriedigend“. Die einzige Intention, die er darin erkennen kann, ähnelt der von Egerding. Eventuell, so Haug (2006:24), wolle der Stricker zeigen, dass eine gebrochene Ordnung zwar repariert werden könne, jedoch immer Risse sichtbar bleiben würden. Doch auch für diese Intention fehle es an unterstützenden Argumenten.
Es wird also deutlich, dass es durchaus unterschiedliche Ansichten über die Intention des Strickers gibt, insbesondere im Hinblick auf die Ordnungsdiskussion. Ob tatsächlich eine gottgewollte Ordnung propagiert werden soll und ob diese pragmatisch angelegt ist, wird nicht übereinstimmend festgestellt.
2.3 Die Epimythia
Auch die Frage, welche Funktion die Epimythia, die zwei Drittel der Stricker-Mären aufweisen, einnehmen, wird in der Forschung kontrovers diskutiert und soll im folgenden Abschnitt kurz skizziert werden.
Bereits Fischer (1968:107) beschrieb die Gestalt der Epimythia der Märe als Fazits, die nicht moralisierend sein müssen, sondern auch „urteilsfrei konstatierende[…]“Gestalt haben können. In diesem neuen literarischen Feld habe sich laut Fischer (1968:107) eine „typusgerechte Abwandlung der Moralisierungspraxis“ entwickelt. Die Beibehaltung der zum Teil überflüssig erscheinenden Epimythia/Fazits erklärt er (1968:107) mit der jahrhundertelangen Tradition der Epimythia, die die Dichter vermutlich nicht bereit oder fähig waren aufzugeben und die so eine abgewandelte Form in den Mären annahmen.
Auch Böhm (1995:123) spricht sich dafür aus, dass die Epimythia häufig zum Verständnis nicht notwendig seien, aber eine Art Epilog darstellen würden und distanziert sich somit also auch begrifflich von dem moralisierenden Epimythion. Es scheine, als wolle der Stricker in den Epimythia gar keine genauen Aussagen treffen, sondern eine „beabsichtigte Vieldeutigkeit“ (Böhm 1995:125) verfolgen. Somit könnten die Epimythia „ambivalent sein und mehrere Verständnisebenen anbieten und damit auch mehrere implizite Lehren“ enthalten (Böhm 1995:127).
Auch Egerding (1998:137) vermutet hinter den Spannungen zwischen „narratio“ und Epimythion die Absicht des Strickers, den Rezipienten den problematischen Charakter der Geschichte erkennen zu lassen, da sich diese „jeder eindeutigen Lehre“ (Egerding 1998:139) entziehe. So sollten mehreren Interpretationsperspektiven zugelassen und der Rezipient zu eigenen Deutungen angeregt werden (vgl. Egerding 1998:138).
Etwas genauer betrachtet Ragotzky (2001:57) die Funktion und Form der Epimythia und kommt auch zu dem Ergebnis, dass Epimythia „nicht primär konstitutiv für die Erkenntnisleistung“ (2001:52) eines Märe seien und eher als Fazits, als als moralisierende Epimythia angesehen werden sollten. Sie sieht jedoch in ihnen eine Art Gebrauchsanweisung für die vorangegangene Geschichte (Ragotzky 2006:57). Außerdem erkennt auch Ragotzky (2001:62) das Spannungsverhältnis zwischen narratio und Epimythion und die vielfältige Nutzung dieser Spannung durch unter anderem verschiedene didaktische Interessen, die sich in den Epimythia widerspiegeln können. Zusammenfassend ist laut Ragotzky (2001:62) das,
was im Epimythion geschieht, immer selektiv, aber das Epimythion kanalisiert gewissermaßen den diskursiven Kontext, den die erzählten Geschichten um sich bilden; es bietet ein Verweisgefüge auf andere didaktische Reflexionsmöglickeiten.
Grubmüller (2006a:175), stimmt der Debatte um die Funktion der Epimythia insofern zu, als das auch er die Epimythia für verzichtbar hält. Er stellt die Geschichte mit ihrer „Mechanik aus Aktion und Ergebnis“, also die Handlungspointe, für die Deutung des Textes in den Vordergrund.
Der bisher dargestellten Diskussion steht jedoch Haug kritisch gegenüber. Er wirft die Frage auf, ob dem Spannungsverhältnis zwischen erzählter Geschichte und Epimythion, tatsächlich eine Intention des Strickers zugrunde liege oder ob diese Spannung auf das mangelnde dichterische Können des Strickers zurückzuführen sei. Durch das Spannungsverhältnis entstehe laut Haug (2006:13) ein Mangel an „narrative[r] Stringenz“ und die Polyfunktionalität, die von den bereits erwähnten Forschungsbeiträgen hervorgehoben wurde, scheint Haug (2006:27) beim Stricker „recht beliebig“ zu sein. Wenn der Stricker eine Intention verfolgte, so sei sie noch nicht vollends durchschaut.
Es wird deutlich, dass in der Forschung eine relative Einigkeit darüber besteht, dass die Epimythia nicht zwingend notwendig für die Deutung des Textes sind und vielmehr als Fazits denn als moralisierende Epimythia auftreten. Welche Funktionen diese Fazits jedoch haben können, wird unterschiedlich interpretiert und soll anhand von „Das heiße Eisen“ genauer betrachtet werden.
3. Eine Untersuchung anhand des Märe „Das heiße Eisen“
Im vorigen Teil wurde die Forschung zu den Stricker-Mären auszugsweise dargestellt. Der folgende Teil soll nun die Ergebnisse der Forschung anhand des konkreten Märe „Das heiße Eisen“ überprüfen. Hierbei wird die Struktur des vorangegangen Teils übernommen. Zunächst einmal wird also das Märe auf die gottgewollte Ordnung und anschließend auf die Intention hin untersucht, um abschließend außerdem zu überprüfen ob und in inwiefern sich das Fehlen bzw. die Ergänzung eines Epimythions auf die Lesart des Textes auswirkt.
3.1. Die gottgewollte Ordnung und der Ordnungsverstoß
Zunächst einmal ist es wichtig, die inhaltlichen Rahmen des Märe näher zu betrachten. Hierbei soll geprüft werden, ob eine für Stricker-Mären als charakterisierend betrachtete Typisierung der Figuren stattfindet.
3.1.1 Die Typisierung
Das Märe beginnt lediglich mit der Aussage „Ein wîp sprach wider ir man“ (V.1). Den Figuren werden weder Namen zugeordnet, noch wird der Schauplatz des Märe näher eingeführt. Dadurch, dass der Beginn des Märe jeglicher Deiktika entlastet ist, entsteht schnell der Eindruck, dass hier eine eher modellhafte Situation beschrieben werden soll. Jegliche Bezugspunkte zu einem tatsächlichen Ereignis werden ausgespart. Wir nehmen also den man und das wîp als typisierte Vertreter ihres Geschlechts wahr, die in ihrer Rolle als Ehemann und Ehefrau mit gewissen Normvorstellungen behaftet sind. Hinsichtlich ihres Standes gibt es jedoch keine genaueren Hinweise, was zunächst einmal gegen eine ständische Fixierung sprechen könnte, wie sie so häufig in der Forschungsdebatte beschrieben wurde. Betrachtet man das Märe jedoch genauer, erkennt man, dass ein höfischer Bezug auszuschließen ist. Mären, die in einem höfischen Kontext spielen, wurden beim Stricker üblicherweise mit konkreten Bezeichnungen des Ranges der Figuren eingeführt, z.B. „Zwêne künige wâren ze einer zît“ („Der arme und der reiche König“), „Ein ritter quam an eine vart“ („Der nackte Ritter“) (vgl. Grubmüller 2006a:81-82). Eine solche Bezeichnung findet man in „Das heiße Eisen“ nicht. Hinzu kommt, dass die Frau im zweiten Abschnitt des Märe zwar immer wieder Gebrauch von Ausdrücken der höfischen Minne macht, diese jedoch laut Grubmüller (1996:1040) unangemessen verwende und sich somit von einem höfischen Kontext noch weiter entferne. Man finde zum Beispiel Begriffe wie „dienen, triuwe, staete bis hin zur herzenliebe[n] vriuntschaft“ (Grubmüller 1996:1040) (vgl. V115ff.). Auch Ziegler (2004:168) erkennt eine ständische Einordnung des Ehepaars in die „lower orders“.
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