Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Theorieaspekte der Kurzgeschichte
1. Definition, Charakteristika und Geschichte der amerikanischen Short Story
2. Theoretische Schwerpunkte der Kurzgeschichtenforschung: Gattungsmerkmale von A nfang bis Z eitstruktur
3. Die deutsche Kurzgeschichte der Nachkriegszeit (ca. 1945-1950/52)
a) Die literarische 'Stunde Null'
b) Die Rezeption der Short Story nach dem Krieg
c) Formentypen und Themenvielfalt der Kurzgeschichte
III. „Nachts schlafen die Ratten doch“ und „01d Man at the Bridge“ Ein Vergleich
IV. Die amerikanische Short Story als Vorbild fur die Nachkriegskurzgeschichte in Deutschland?
V. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Spricht man uber das Thema Kurzgeschichte, so ist es nicht verwunderlich ohne Zogern von seinem Gegenuber Begriffe wie Trummerliteratur, Wolfgang Borchert oder gar Titel seiner Kurzgeschichten wie „Das Brot“, „Nachts schlafen die Ratten doch“ oder „Die Kuchenuhr44 genannt zu bekommen. Doch gleichermaBen ist es Ernest Hemingway, der charakteristische Amerikaner und Nobelpreistrager, der in solchem Kontext angesprochen wird. Titel wie „Snows of Kilimanjaro44, „The short happy life of Francis Macomber44 oder ,,The Nick Adams Stories44 sind vielgelesen und weltberuhmt. Doch stellt sich die Frage, warum ausgerechnet diese beiden Schriftsteller- als nur kleiner Teil einer schier riesigen Auswahl an Autoren und Autorinnen- immer und immer wieder im Themenbereich Kurzgeschichte bzw. Short Story als exemplarisch dargestellt und genannt werden.
Diese Arbeit beschaftigt sich mit der Leitfrage, ob die amerikanische Short Story Vorbild fur die deutsche Kurzgeschichte der Nachkriegszeit war und beabsichtigt dabei deren Charakteristika, Geschichte und Entwicklung in ihren Grundzugen zu erfassen. Die theoretischen Schwerpunkte der (deutschen) Kurzgeschichtenforschung sollen dabei ebenso erarbeitet werden. Es sei darauf hingewiesen, dass sich dieser kleine und begrenzte Forschungsbeitrag ausschliefilich auf amerikanische Kurzgeschichten bezieht und andere englischsprachige Lander und Texte nicht miteinbezogen werden. Im Bereich der Anfange der Short Story soll sich der Zeitrahmen auf Mitte bis ca. Ende des 19. Jahrhunderts beschranken. Fur Vergleiche in spaterer Zeit sollen die Geschichten Hemingways als exemplarische Texte dienen. Die Nachkriegskurzgeschichte in Deutschland wird auf deren Blutezeit zwischen 1945 und 1950/52- also den unmittelbaren Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg- hin behandelt werden. Hier sollen die Texte oder besser genannt Zeitzeugnisse Borcherts als Beispiele im Vordergrund stehen.
Was macht diese beiden Schriftsteller so besonders? Eine Frage, die sicher nicht einfach zu beantworten ist. Auf dem Theorieteil[1] basierend soll der Versuch eines kurzen, skizzenhaften Vergleichs anhand Borcherts „Nachts schlafen die Ratten doch“
und Hemingways „01d man at the bridge“ gewagt werden. Hierbei sollen auch die wesentlichen Aspekte ihres jeweiligen Gesamtwerkes angesprochen werden, um eine mogliche Antwort darauf zu finden, weshalb sie eine solch starke Faszination auf den Leser ausuben, der in unserer heutigen Zeit kaum etwas vom Krieg, der uber sechzig Jahre zuruckliegt, weifi oder gar versteht.
II. Theorieaspekte der Kurzgeschichte
1. Definition, Charakteristika und Geschichte der amerikanischen Short Story
In Uberblicksdarstellungen finden sich meist Definitionen der Short Story wie folgendes mogliches Beispiel: Sie ist eine epische Kurzform und bildete sich vor allem in den USA im 19. Jahrhundert heraus. Als ihre Begrunder gelten insbesondere Washington Irving, Nathaniel Hawthorne und Edgar Allan Poe. Die Beliebtheit der Short Story grundete hauptsachlich in den Abdrucken der damaligen Zeitschriften. Die erste theoretische Abhandlung dazu stammt von Poe selbst.[2] Dies ist jedoch naturlich nur die Grundskizze der Gattung Kurzgeschichte, die als Textform zwar klein und unbedeutend erscheinen mag, jedoch eine ungeahnte Bandbreite in sich birgt und definitionstheoretisch nicht so einfach zu erfassen ist, wie oft angenommen. Hierzu gibt es zahlreiche Forschungsbeitrage, die sich in folgenden Punkten aber grundsatzlich entsprechen.
Dietlinde Giloi spricht gleich zu Anfang ihrer Arbeit von Definitionsproblemen der Short Story und insbesondere ihrer Abgrenzung zur deutschen Kurzgeschichte. Die Begriffe seien auf keinen Fall Deckungsgleich und entsprachen sich nicht zwingend in ihren Punkten, wie haufig dargestellt. Hervorzuheben sei, dass es die amerikanische Kurzgeschichte deutlich leichter hatte, sich dem Leserpublikum gegenuber durchzusetzen, da sie nur zwischen drei weiteren Kurzprosaformen gestanden habe. Diese seien 'tale', 'sketch' und 'essay'. Die deutsche Kurzgeschichte hingegen hatte sich gegen bereits sehr etablierte und beliebte Gattungen wie 'Anekdote', 'Skizze', 'Schwank', 'Parabel', 'Fabel', 'Idylle', 'Humoreske' und ganz besonders die 'Novelle' durchzusetzen.[3]
Da Gilois Definition sich vornehmlich auf den Vergleich stutzt und sie insbesondere die Gattungen 'tale' und 'essay' nicht weiter erlauterte, ist es wichtig diese knapp von der Short Story abzugrenzen. Im allgemeinen waren diese Begriffe statt 'Kurzgeschichte' im 19. Jahrhundert ublich; erst gegen Ende setzte sich die Benennung (Short) Story durch. Dennoch ist auch die 'tale' nicht deckungsgleich mit ihr; sie bezeichnete damals Erzahltes im allgemeinen Sinne. Das 'essay' hingegen war keine wirklich poetische Prosaform, sondern ein aufsatzahnliches Konstrukt mit einem bestimmten gesellschaftlichen Personen- bzw. Rezipientenkreis. Typisch fur jene neue Gattung seien alltagliche Erlebnisse. Es gehe fast immer um die Darstellung der Menschen, ihrer Probleme, Sorgen, Note und Angste. Tendentiell neige die Short Story dazu gewohnliche Figuren mit gewohnlichen Psychen darzustellen. Im Mittelpunkt hierbei stehe das vermeintlich banale Problem. Die Raume jener Stories blieben dabei oft reines Konstrukt. Ausserdem zeigen die amerikanischen Kurzgeschichten eine starke Verankerung im Regionalen. Bezuglich der Realitat sei in der amerikanischen Kurzgeschichte besonders in der Anfangszeit bei Poe und Hawthorne mit Extremen zu rechnen. Zweiterer erzahle haufig Geschichten uber die fruhe Kolonialzeit, wahrend Poes Erzahlungen sich oft weitab der pragmatischen Realitat befanden, wie beispielsweise „tales oft the arabesque“.[4]
Eine weitere Erganzung hierzu liefert Gunther Ahrends. Seiner Hauptthese nach ist die Kurzgeschichte mafigeblich durch Komplexitat und Funktionalitat gekennzeichnet, was sich durch Selektion, Reduktion und Komprimierung auf die Darstellung des Raumes, der Zeit, der Figuren und der Handlung auswirkt. Die Beschreibung langerer Zeitverlaufe werde vermieden; ebenso tendiere die Figurendarstellung zur Beschreibung von Bewusstseinsveranderung statt zur Charakterentwicklung. Die Darlegung von Geschehensverlaufen wird ebenso meist ausgespart und beschrankt sich auf Episoden mit enthullendem oder exemplarischem Charakter. Die Erzahlsituation sei meist nicht multiperspektivisch und die Thematik neige zur Behandlung existentieller Fragen. Symbole haben in der Regel einen grofien Stellenwert inne. Dabei wird aber betont, dass all diese Kriterien Tendenzen und keine Regeln seien, die eine amerikanische Kurzgeschichte ausmachen.[5] Genau diese Punkte Ahrends scheinen die Komplexitat jener auf den ersten Blick so einfachen Textform auszumachen. Ihre inneren Kriterien bestimmen ihre knappe Form und lassen oft voreilig auf eine einfach gestrickte nette kleine Geschichte schliefien, die sich nur dem genauer hinsehenden und aufmerksamen Leser erschliefien konnen.
Doch sollen an dieser Stelle auch die genaueren Anfange der Short Story skizziert werden. Ganz offenbar entwickelte sich die Kurzgeschichte in den USA im 19. Jahrhundert aufgrund der Folgen der Industrialisierung. Durch die technischen Errungenschaften begann das Leben der Menschen Stuck fur Stuck an Dynamik zu gewinnen und Erleichterungen mit sich zu bringen. Auch die dadurch bedingte Informationsfulle stieg betrachtlich an. Sie hatten nun schnellere Transport- und Reisemittel wie die Eisenbahn und zunehmend weniger Zeit in Beruf und Freizeit. So kam die Forderung nach Kurze in allen Bereichen und Lebenslagen auf - auch in der Literatur. Die Short Story ist demnach ein Resultat der Zeit und in besonderem Mafie ein Produkt des damaligen schon sehr ausgepragten Zeitungswesens; also eine feuilletonistische Variante.[6]
Als Wegbereiter fur diese neue Gattung gilt vor allem Edgar Allan Poe, der, in erster Linie selbst Schriftsteller, unter anderem auch als Redakteur von diversen Zeitschriften und Literaturtheoretiker bekannt war.[7] Seine Abhandlung uber Nathaniel Hawthornes „Twice-told Tales“[8] sollte den Grundstein fur die gattungstheoretische Kurzgeschichtenforschung bis heute legen. Darin erlautert er, dass diese stories all ihre Details einem bestimmten im Mittelpunkt stehenden „effect“ unterordnen.
We need only here say, upon this topic, that, in almost all classes of composition, the unity of effect or impression is a point of the greatest importance.[9]
Auch die begrenzte Zeit spielte hier schon eine wichtige Rolle; eine solche Geschichte musse in einem Zuge gelesen werden konnen, um eben diese Wirkung zu entfalten. Demnach habe die Lesedauer in einem Bereich von etwa dreifiig Minuten bis ca. zwei Stunden zu liegen und durfe diesen Rahmen auch nicht uberschreiten. Somit manipuliere der Autor seinen Rezipienten und habe ihn unter seiner Kontrolle.
Die Vorzuge dieser Gattung lagen vor allem in der relativen Kurze und der nahezu unbeschrankten Moglichkeit andere beschranktere Kompositionen wie z. B. Lyrik damit auszustechen. Diese Kurzgeschichten nannte er zunachst „tale proper“[10] oder „tale of effect”[11]. Dabei sei es ihm aber nicht um die Herausarbeitung der gattungsspezifischen Merkmale gegangen oder eine neue Gattung zu etablieren, sondern darum ein dichtungstheoretisches Ideal zu propagieren.[12]
Der Poe Bewunderer Brander Matthews gab diesen neuartigen Geschichten in seinem Aufsatz ,,The Philosophy of the Short-Story“[13] von 1885 schlieBlich endgultig ihren Namen.
[...]
[1] MaBgebliche Forschungsliteratur zum Theorieteil:
Marx, Leonie: Die deutsche Kurzgeschichte. Metzler. Stuttgart u. Weimar 20053.
Ahrends, Gunther: Die amerikanische Kurzgeschichte. Theorie und Entwicklung. Kohlhammer.
Stuttgart 1980.
[2] Der Brockhaus. Literatur. Schriftsteller, Werke, Epochen, Sachbegriffe. Brockhaus. Mannheim u. Leipzig 20042.
[3] Giloi, Dietlinde: Short Story und Kurzgeschichte. Ein Vergleich mit deutschen Autoren nach 1945. Stauffenberg. Tubingen 1983. S. 11-22.
[4] Lubbers, Klaus. Typologie der short story. WBG. Darmstadt 19892. S. 43-59.
[5] Ahrends, Gunther: Die amerikanische Kurzgeschichte. S. 51-52.
[6] Marx, Leonie: Die deutsche Kurzgeschichte. S. 12-28.
[7] Der Brockhaus. Literatur. S. 642.
[8] Poe, E. A.: Nathaniel Hawthorne. Twice-Told Tales. Literary Criticism (1842). in: Bungert, Hans (Hrsg.): Die amerikanische Short Story. Theorie und Entwicklung. WBG. Darmstadt 1972. S. 1-8.
[9] Ebd. S. 2.
[10] Ebd. S. 2.
[11] Ebd. S. 5.
[12] Ahrends, Gunther: Die amerikanische Short Story. S. 14-20.
[13] Matthews, Brander: The Philosophy of the Short-story (1885). In: Bungert, Hans (Hrsg.): Die amerikanische Short Story. Theorie und Entwicklung. WBG. Darmstadt 1972. S. 9-31.