Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Die Semantik des `Lebens´ und der Abschied in Stefan Zweigs „Die Frau und die Landschaft“
1. Begriffsdefinition von `Leben´ und Lebensraum in der Frühen Moderne
2. Die Krise
3. Normbruch und Erotik als Pfad zu emphatischem Leben
4. „Die Frau und die Landschaft“
a) Die Funktion der Landschaft und ihre Einordnung in die Lebenssemantik
b) Die Beziehung der Figuren zueinander und deren `lebensideologische´ Konzeption
c) Bedeutung von Erotik und Normbruch
5. Die Geschichte einer metaphorischen Widergeburt?
III. Zusammenfassung
IV. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
Jeder Abschied ist wie ein kleiner Tod sagt man. Jeder kennt Abschiede der verschiedensten Formen, Intensitäten und Stimmungen, jeder hat selbst schon häufig Abschied genommen, sei es von Freunden, vom ersten Auto, der ersten Wohnung, von einem Urlaubsland, der Schule oder einem geliebten Menschen. Die Subjekte und Objekte, von denen man sich dabei verabschiedet sind von völliger Beliebigkeit und vor allem von subjektiv geprägter Wichtigkeit, d. h. sie können einerseits durchaus profan und unwichtig erscheinen, andererseits von enormer Bedeutung sein.
Die Abschiede in der Literatur sind wohl genauso alt, wie die Erfindung der Schrift selbst: Der Abschied Hektors von Andromache, Orpheus´ von Euridike, Jesus´ von seinen Jüngern, Siegfrieds von Krimhild, Julias von Romeo usw. legen Zeugnis darüber ab, auf welche Weise sich Figuren voneinander verabschieden. Doch was genau ist ein Abschied? Im Zusammenhang mit dieser Arbeit ist er sicherlich ein Motiv, doch ist er auch eine Reflexionsfigur als notwendig ästhetische Größe, die nicht als narrativ-dramaturgisches Strukturelement betrachtet werden muss.1
Ein „Leb wohl“ ist ebenso eine Formel des Abschieds wie ein „Auf Wiedersehen“, doch steht im Fokus von Abschieden wohl meist das Endgültige, das Ende, der Tod. Viele Menschen assoziieren etwas dauerhaftes und trauriges mit einem Abschied und verbinden nicht unbedingt etwas positives, das daraus entsteht oder entstehen kann. Ziel dieser Arbeit ist es Stefan Zweigs Novelle „Die Frau und die Landschaft“2 aus dem Zeitverständnis der Frühen Moderne heraus auf deren Motivik des Abschieds und des emphatischen Lebens zu interpretieren. Dazu ist es zunächst wichtig, sich über die besondere Auffassung des Lebens in dieser Epoche bzw. der speziellen `Lebensideologie´ überhaupt erst klar zu werden; ebenso wie über den dazu gehörenden `metaphorischen´ Tod. Erst durch diese Herangehensweise kann über die Art des Abschieds bzw. über den Vollzug des Abschieds ein Urteil gebildet werden. Die besondere Schwierigkeit ergibt sich aus dem Stand der Forschung, der bezüglich dieser Novelle Zweigs nahezu bei Null steht, weshalb zunächst in einem ersten Schritt der Zugang über die Epoche und ihre `Lebensideologie´ erfolgen soll. Der Schlüsselbegriff `Leben´ soll dabei besondere Beachtung finden; nicht nur, weil er das Zentrum des damaligen Denkens darstellt, sondern auch aufgrund seiner strukturellen Komplexität. Die hierfür maßgebende Untersuchung Martin Lindners3 bezieht sich dabei auf die Neue Sachlichkeit, der „Die Frau und die Landschaft“ dem Stil nach zwar nicht zugeordnet werden kann4, dennoch eben jener `Lebensideologie´ durchaus angehört.
Demnach sollen zunächst die Begriffe `Leben´ und Lebensraum, die Krise und der Normbruch genauer dargestellt und eingebettet werden. Danach erfolgt die Darstellung der Funktion und Beziehungen der Figuren untereinander, die konstituierend auf den Abschied des Erzählers von seinem alten Leben wirken. Die Frage, ob dieser Abschied ein echter ist, oder doch nur ein Selbstbetrug, soll dabei im Vordergrund der Untersuchung stehen.
II. Die Semantik des `Lebens´ und der Abschied in Stefan Zweigs „Die Frau) und die Landschaft“
1. Begriffsdefinition von `Leben´ und Lebensraum in der Frühen Moderne
`Leben´ in der Frühen Moderne ist wohl der zentrale Begriff der Epoche schlechthin. Die semantische Einheit umfasst hierbei das Modell von `Leben´, `Krise´ und `Wiedergeburt´, das die damalige intellektuelle Mentalität- im folgenden Lebensideologie genannt- prägte und in den zwanziger Jahren bereits voll durchgesetzt war.
Dieser Begriff ist demnach differenziert zu betrachten, da er eine Vielzahl von korrelierenden Bedeutungen mit sich bringt. So wird menschliches Leben zunächst durch eine grundsätzliche Polarität bestimmt: die starre `Form´ und die dynamische `Ganzheit´. Dabei ist dies im lebensideologischen Raum in sich in semantischen Achsen darstellbar. Die äußere Oberfläche beinhaltet die Assoziation mit der Form und der Verhärtung, die innere Tiefe hingegen den strömenden Inhalt. Leben ist demnach durch Bewegung, der metaphorische- ebenso wie der tatsächliche- Tod durch Starre gekennzeichnet5.
Die wichtigste Grundvoraussetzung jeglichen Lebens ist der Raum, in dem es stattfindet. „Die Landschaft, in der ein Mensch lebt, […] geht in ihn hinein und wird ihm Wesen“6. Demnach wird das Seelenleben durch die Umwelt unweigerlich beeinflusst, wenn nicht gar determiniert. Die Lebensräume der dargestellten Figuren in der Literatur zeigen meist zwei Grundtypen landschaftlicher Prägung auf, die wiederum deren Seelenlandschaft widerspiegeln. Zum einen sind dies die kleinräumigen, fruchtbaren, topographisch gegliederten und zum anderen die klimatisch `extremeren´ Gebiete, wie beispielsweise Wälder, das Meer oder Gebirge. Wichtig festzuhalten ist, dass es im Lebensraum kein Stillstehen geben kann, da das Leben selbst durch Bewegung definiert ist7.
2. Die Krise
Das Zentrum des lebensideologischen Denkens bildet zweifellos die Krise.
Diese entsteht genau dann, wenn das betroffene Individuum die Unvereinbarkeit seines kulturellen Lebens in der Gesellschaft mit seinem tatsächlichen Lebensinhalten erkennt. Das heißt, die Krise findet genau an der Bruchstelle von Form und Inhalt, beziehungsweise von Starre und Bewegung statt. Mit den Worten der Lava-Metaphorik ausgedrückt, bedeutet dies ein Aufbrechen der verkrusteten, abgestorbenen Oberfläche durch den nachdrängenden Strom des inhaltlichen Lebens. Dies stellt den entscheidenden Augenblick zwischen `Leben´ und `Tod´ dar, in dem die Figur ein gesteigertes Leben erfährt8.
Die psychische Krise wird in der Literatur meist als emphatischer Tod dargestellt, auf den meist die Wiedergeburt zu neuem Leben folgt. Die tatsächliche innere Struktur dieser Krise aber ist sehr komplex; sie kann beispielsweise in mehrere Sub- Krisen zerfallen, aber auch als Ganzes wiederholt werden. Ihre Bewältigung bedeutet für das Individuum die Selbstfindung, wobei diese stets reversibel ist. Meist stellt sich die Krise in einer Folge von bestimmten Phasen dar. Sie beginnt mit der Latenzphase, die der eigentlichen Krise vorausgeht. Sie ist eben jene Phase der Spannung zwischen dem `Lebensstrom´ und den starren `Formen´, die sich beständig erhöht und dem Subjekt vorerst nicht bewusst ist. Darauf folgt der emphatische Tod, der den Höhepunkt der Krise bildet, das heißt, dass das Subjekt sein Leben nun als `Nicht-Leben´ im emphatischen Sinne erkennt und sich davon bewusst verabschiedet. Daraufhin kommt es zu einer unvermeidbaren Kettenreaktion, die entweder mit dem biologischen Tod oder aber mit der emphatischen, metaphorischen Widergeburt endet. In der Literatur geht mit diesem psychischen Phänomen der Krise beinahe schon obligatorisch eine physische Krise einher. Dies ist im wörtlichen Sinne der Höhepunkt der Krankheit, die sich meist durch fiebrige Symptome äußert und von psychosomatischen Merkmalen begleitet wird. Der nächste Schritt beinhaltet die Erfahrung des überindividuellen Lebens durch Transzendenz. Oftmals ist damit der Austritt aus Raum und Zeit verknüpft, was sich durch Traum,
Bewusstlosigkeit oder ähnlichem darstellt. Anschließend geht die Überwindung der Krise meist mit einem gravierenden Normverstoß9 oder einer Schulderkennung einher, woraufhin die Wiedergeburt folgt. Nach der Überwindung der Krise beginnt das Individuum ein völlig neues Leben und geht ganz und gar darin auf10.
3. Normbruch und Erotik als Pfad zu emphatischem Leben
Um zu begreifen, weshalb Normbruch und v. a. das intensive Motiv der Erotik in der Frühen Moderne so exzessiv dargestellt und für eine Figur nun konstituierend wird, muss dabei die Vorgängerepoche des Realismus mit einem völlig anderen Normensystem herangezogen werden.
Im Realismus hatten Normverstöße eine automatische Sanktion und eine zusätzliche negative Bewertung der Figur zur Folge. Dabei gab es für jene Normen aber keine rationale Erklärung, obwohl die Bestrafung eine ganz selbstverständliche war. Mit dem Übergang zur Frühen Moderne ist nun tendentiell die Transformation des Systems der moralisch-sozialen Normen verknüpft. Von nun an beginnt nur noch die Figur, die mindestens eine Norm verletzt, erzählenswert und vor allem potentiell positiv zu erscheinen. Ein besonders dominantes Beispiel jener Normverletzungen spielt sich im Bereich der Sexualität ab; diese Neuartigkeit der Erotik in der Frühen Moderne geht fast immer mit Verletzungen der Normen des Realismus einher, welche in den verschiedensten Varianten auftreten können. Das Konzept der leidenschaftlichen, bedingungslosen Liebe wird nun theoretisch und praktisch tatsächlich anerkannt und sogenannte `perverse´ Verhaltensweisen werden häufiger dargestellt und auch legitimiert; insbesondere der Ehebruch. Besonders typisch für die Moderne ist eben jene Ansicht, dass Leben im emphatischen Sinne nur durch einen Mehrwert dessen, was als Norm gilt oder zuvor galt, erreicht werden kann11. Demnach beinhaltet einzig und allein die Verletzung jener gesellschaftlichen Regeln die Möglichkeit eines Abschieds davon und der metaphorischen Wiedergeburt zu einem gesteigerten Leben, wobei zu beachten ist, dass eben jenes nur durch eine spezielle Objektklasse erfahrbar ist und daran gebunden bleibt. Die häufigste Variante ist dabei wiederum die erotisch-partnerbezogene12.
Um jene Figuren und deren Betragen psychologisch sinnvoll darstellen zu können verändert sich auch der Darstellungsmodus; selten aber der Fokus.
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1 Siehe dazu: Bohrer, Karl Heinz: Abschied - Eine Reflexionsfigur des je schon gewesenen. (Goethe, Nietzsche, Baudelaire). In: Stierle, Karlheinz u. Warming, Rainer (Hrsg.): Das Ende. Figuren einer Denkform. München, Fink 1996, S. 59-80, hier: S. 59.
2 Zweig, Stefan: Amok. Novellen einer Leidenschaft. Leipzig, Insel 1922.
3 Lindner, Martin: Leben in der Krise. Zeitromane der neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne. Stuttgart u. Weimar, Metzler 1994.
4 Hierbei ist eher von einem (spät)expressionistischen, pathetischen Stil zu sprechen. Zur Neuen Sachlichkeit s.: Becker, Sabina: Die literarische Mderne der zwanziger Jahre. Theorie und Ästhetik der Neuen Sachlichkeit. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (2002) 27,1, S. 73-95.
5 Lindner: Leben in der Krise, S. 1-7.
6 Zit. Nach Ebd. S. 74.
7 Ebd. S. 73-76.
8 Ebd. S. 7-11.
9 Eben jene Normverstöße sind für die Gesellschaft im Umfeld der Figur ganz erheblich und nicht akzeptabel, wie z. B. Ehebruch oder Mord. Doch eben jener enorm bewusste Verstoß des Individuums gegen die starren und einengenden Normen unterstreicht den Abschied von dessen alten Leben und den Aufbruch zu einem neuen und freien Leben in dessen Sinne noch deutlicher und nachhaltiger.
10 Ebd. S. 25-39.
11 Wünsch, Marianne: Vom späten Realismus zur Frühen Moderne. In: Dies.: Realismus (1850-1890). Zugänge zu einer literarischen Epoche. Kiel, Ludwig 2007, S. 187-196.
12 Wünsch, Marianne: Das Modell der `Wiedergeburt´ zu `neuem Leben´ in erzählender Literatur 1890-1930. In: Richter, Karl u. Schönert, Jörg (Hrsg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß (Walter Müller Seidel zum 65. Geburtstag). Stuttgart, o. V. 1983, S. 379-408, hier: S. 386.