Leseprobe
Gliederung
Wiederfinden
Einleitung
Unerwartetes Wiedersehen - 1.Strophe
Der erste Schöpfungsakt, das Wort - 2.Strophe
Wilde, rasende Expansion - 3.Strophe
Der zweite Schöpfungsakt, die Morgenröte - 4.Strophe
Eiliges Zueinanderstreben, das Lieben - 5.Strophe
Erkennen und Musterhaftigkeit - 6.Strophe
Zum Anlaß des Gedichts...
Literaturverzeichnis
Wiederfinden
Ist es möglich! Stern der Sterne,
Drück’ ich wieder dich ans Herz!
Ach, was ist die Nacht der Ferne
Für ein Abgrund, für ein Schmerz!
Ja, du bist es! Meiner Freuden
Süßer, lieber Widerpart;
Schaudr’ ich vor der Gegenwart
Als die Welt im tiefsten Grunde
Lag an Gottes ew’ger Brust,
Ordnet’ er die erste Stunde
Mit erhabner Schöpfungslust,
Und er sprach das Wort: ,Es werde!’
Da erklang ein schmerzlich Ach!
Als das All mit Machtgebärde
In die Wirklichkeiten brach.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Kolorierte Fassung des als Silberstift-zeichnung ausgeführten Goethe-Bildnisses von Karl August Schwerdgeburt. Quelle: Goethe I. Die großen Klassiker. Literatur der Welt in Bildern, Texten, Daten (S.161)
Auf tat sich das Licht! So trennte
Scheu sich Finsternis von ihm,
Und sogleich die Elemente
Scheidend auseinander fliehn.
Rasch, in wilden, wüsten Träumen
Jedes nach der Weite rang,
Starr, in ungemeßnen Räumen,
Ohne Sehnsucht, ohne Klang.
Stumm war alles, still und öde,
Einsam Gott zum erstenmal!
Da erschuf er Morgenröte,
Die erbarmte sich der Qual;
Sie entwickelte dem Trüben
Ein erklingend Farbenspiel,
Und nun konnte wieder lieben
Was erst auseinanderfiel.
Und mit eiligem Bestreben
Sucht sich, was sich angehört,
Und zu ungemeßnem Leben
Ist Gefühl und Blick gekehrt.
Sei’s Ergreifen, sei es Raffen,
Wenn es nur sich faßt und hält!
Allah braucht nicht mehr zu schaffen,
Wir erschaffen seine Welt.
So, mit morgenroten Flügeln,
Riß es mich an deinen Mund,
Und die Nacht mit tausend Siegeln
Kräftigt sternenhell den Bund.
Beide sind wir auf der Erde
Musterhaft in Freud’ und Qual,
Und ein zweites Wort: Es werde!
Trennt uns nicht zum zweitenmal.
(HA, Bd. 2, S.83)
Einleitung
Goethes Gedicht „Wiederfinden“ wird in der Fachliteratur oft als eines der Bedeutendsten des West-östlichen Divans angesehen. „Das Gedicht ist eines der meistinterpretierten und emphatisch gepriesenen unter den Gedichten des West-östlichen Divan.“ (Böhler, S.422), „glänzendstes Beispiel der Liebesphysik und –metaphysik“. (Staiger, Bd. 3, S.52) Dafür spricht auch, daß „Wiederfinden“ in der Musik gleich mehrfach vertont wurde. (Böhler, S.423)
Goethe entwickelt in seinem Gedicht „Wiederfinden“ in lyrisch-knapper Form einen eigenen Schöpfungsmythos, der einer konkreten umrahmenden Liebessituation als Sinn, Erklärung und letztlich auch als Trost gebend verstanden werden kann.
Was zunächst nur das Wiedersehen zweier Liebender zu bedeuten scheint, wird später tiefer verständlich als „Vereinigung alles im Kosmos polar Getrenntem“.(HA, Bd.2, S.643) Dem makrokosmischen Geschehen nach der Weltschöpfung steht der Mikrokosmos einer persönlichen und individuellen Liebe „musterhaft“ gleich.
„Die Verbindung von Liebe, religiösen Bildern und Naturschau gibt dem Gedicht die Tiefe und Weite.“ (Ebd.)
Für die Interpretation bietet es sich an, die einzelnen Strophen in chronologischer Reihenfolge zu behandeln, da das Gedicht nicht eine Momentaufnahme ist, sondern von einer Grundsituation ausgehend einen komplexen Verlauf darstellt, dessen Entwicklungsstufen schon vom Dichter in Form der Strophen genau unterteilt wurden. Deswegen möchte ich mit der ersten Strophe beginnen:
Unerwartetes Wiedersehen - 1.Strophe
Die erste Strophe beginnt mit dem Ausruf „Ist es möglich!“ und der darauf folgenden Anrede „Stern der Sterne“.
Diese Anrede drückt nicht bloß Leidenschaft durch den Intensitäts-genitiv aus. Der Begriff „Stern“ entstammt einem Wortfeld, welches schon eindeutig auf die Kosmogonie der nächsten Strophe hinführt. Dadurch wird der sonst etwas unmittelbar wirkende Sprung aus der Situation der Liebenden zum dargestellten Schöpfungsmythos der zweiten Strophe abgeschwächt.
Der Ausruf „Ist es möglich!“ hebt den Ausdruck der Überraschung stark an. Der Satzbau entspricht dem einer Frage, wodurch sich zeigt, wie unfaßbar die Wirklichkeit ist. Die Frankfurter Ausgabe zitiert in ihrem Kommentar das neunte Kapitel von Aristoteles Poetik: „Nun glauben wir von dem, was nicht wirklich geschehen ist, nicht ohne weiteres, daß es möglich sei, während im Falle des wirklichen Geschehenen offenkundig ist, daß es möglich ist – es wäre ja nicht geschehen, wenn es unmöglich wäre.“ (FA I, 3.2, S.1280) Daß der Dichter hier die Realität hinterfragt und ihre Möglichkeit anzweifelt, verstärkt also die Intensität des Erstaunens, zumal die Unerreichbarkeit eines Wiedersehens „nach des Schicksals hartem Lose“ in dem im Buch Suleika kurz vorher platzierten Gedicht „Hochbild“ verneint wird. Als Gegenargument hierzu könnte man allerdings zwei Verse des Suleika-gedichts unmittelbar vor „Wiederfinden“ anführen: „Ach, für Leid müßt’ ich vergehen, / Hofft’ ich nicht zu sehn ihn wieder.“ Eine Hoffnung beinhaltet immer zumindest die Möglichkeit. In jedem Fall bleibt die zentrale Empfindung aber die durch das „Wiederfinden“ ausgelöste tiefe Ergriffenheit.
Daß die nächsten zwei Verse wie die ersten beiden im Präsenz verfaßt sind, wird in der Fachliteratur teilweise so gedeutet, daß sich Trennung und Wiederfinden gleichzeitig vollziehen. Ihekweazu schreibt: „der Stern der Sterne erscheint in der Nacht der Ferne. Der Schmerz der Trennung ist zugleich vorhanden mit dem Glück der Vereinigung. Das Wiederfinden ereignet sich nicht nach, sondern in der Trennung.“ (Ihekweazu, S.306). Auch Felix Tebbe ist der Ansicht,
daß das Wiederfinden der Liebenden in der ersten Strophe „durch eine bewußte Gleichzeitigkeit von Leiden und Freuden im gegenwärtigen Augenblick“ (Tebbe, S.195) charakterisiert sei. Ich selbst möchte mich dem aber nicht anschließen. Ich denke, daß es sich bei dem Präsenz lediglich um eine Form handelt, die dem Ausspruch Allgemeingültigkeit verleihen soll, so wie auch Sprüche und Lebensweisheiten meist im Präsens geschrieben stehen. (Beispiel: Ein Indianer kennt keinen Schmerz!)
[...]